Herbstabend

Komm, so setz dich doch her! Ich hole kühles Bier für uns.
Lass uns reden! Ich habe so viele Fragen. Lange warst du nicht mehr hier! Wo bist du denn immer?

So nimm doch Platz. Ich hole uns eine Decke und rücke nahe an dich heran. Es ist ein goldener Herbstabend hier draußen, wir müssen uns ein bisschen gegenseitig wärmen.
Weißt du noch? Als wir uns zuletzt gesehen haben? Ich habe deine Hand lange gestreichelt, dir war so kalt an diesem Abend und du hattest doch nie kalte Hände, so lange ich dich kannte.

Und weißt du noch? Unser Urlaub am Meer, da haben wir unser letztes Karlovacko Bier mitsammen getrunken. Dabei hattest du gar kein Verlangen danach. Ganz erstaunt war ich und ungläubig habe ich dir zugesehen, wie du beim Sonnenuntergang an der kroatischen Küste vor einem Teller mit gegrillten Fischen gesessen bist, appetitlos und hoffnungslos. Warum hab ich die Zeichen nicht erkannt?

Ich hätte ein paar Fragen. Wie würdest du mit der Coronakrise und deren Folgen, die gerade auf uns zurollen, umgehen? Hättest du einen Rat?

Weißt du noch? Lange ist’s her, wie du dich in wirtschaftlich schlechten Zeiten kämpferisch gezeigt hast und mit Ehrgeiz und Euphorie die Ärmel hochgekrempelt hast. Das waren deine besten Jahre. Wie zum Trotz hast du dich nie unterkriegen lassen und bist deines Weges gegangen – mit viel Mut und einer kräftigen Portion Optimismus hast du deine Ziele erreicht.

Du warst so lange weg, machst dich so rar. Komm doch öfter mal vorbei. Du weißt, ich habe immer Bier eingekühlt. Ich besorge uns Brot und Speck und Kren, den du so gerne magst, und viele Sorten Käse.

Und dann lass uns herzhaft lachen über die vergangenen Jahre und all deine Sprüche, die du immer auf Lager hattest für uns Kinder und die Enkelkinder.

Papa? Hörst du mich?

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23071

 

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3 Gedanken zu „Herbstabend

  1. Mag. Robert Müller

    Verdammt gut geschrieben, geht wie eine Rasierklinge in die Seele und lässst doch eine Spur wehmütiger Hoffnung!

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  2. Ingrid Mairinger

    Liebe Manuela,
    wunderschöner Text! Oft ist es so, dass sich unsere Erinnerungen an unsere Lieben, die physisch nicht mehr anwesend sein können, in Zwiegespräche mit ihnen verlaufen. Fast fühlt es sich so an, als könnten wir sie noch riechen in der stillen Zweisamkeit. Beim Lesen hatte ich deinen Papa und dich förmlich vor Augen. Meine Erinnerung an ihn ist wieder sehr präsent geworden.

    Liebe Grüße, Ingrid

    Antworten

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