Familiäre Wahrnehmung

Beim jährlichen Familienfest im Wochenendhaus des wohlhabenden Autohändlers Emmerich stehen viele Verwandte mit einem Glas Sekt im Garten oder auf der Terrasse und plaudern in kleinen Gruppen. Es ist ein warmer Frühsommertag. Herbert, der jüngste Sohn des Hausherrn, hat erstmalig seine neue Freundin Gaby mitgenommen, um sie seiner Familie „an kurzer Leine“ vorzuführen. Sie wird freundlich begrüßt und dann von jedem Familienmitglied, je nach Profession und Neigung, beschnuppert und taxiert:

Schwester Susi, Friseurin: „Auf billig geschnittener Bubikopf und vermutlich in Eigenregie nachgebleicht – nicht gerade Klasse.“

Schwägerin Liselotte, Verkäuferin bei einem Juwelier: „Die Halskette ist sehr schön, nicht unter 600 Euro, den Rest kannst vergessen. Aber süße rosige Ohrläppchen hat sie, da würden goldene Sternchen mit Türkis gut dazupassen.“

Norbert, der älteste Bruder, Gynäkologe: „Na ja, ein bisserl eng, das Becken – hoffentlich gibt’s da bei einem größeren Kind kein Problem.“ Und nach einem zweiten Blick: „Aber verhungern wird das Kind sicher nicht!“

Tante Johanna (die „Hansitant“), Inhaberin eines Textilgeschäftes: „Ein billiger und zu kurzer Fetzen! Die grellen Frühjahrsfarben passen überhaupt nicht zu ihrem blassen Teint. Und die schlamperten Nähte werden auch nicht lange halten. Sehr fabriksneu, das Ganze. Ich werd’ ihr halt einmal was G’scheits zeigen, wenn’s beiander bleiben. Bei der Figur kann s’ ja eh alles tragen.“

Cousin Melchior (nach seinem afroamerikanischen Taufpaten „Murli“ genannt), Zahnarzt: „Na endlich einmal feste weiße Beißerchen in dieser kariösen Familie.“

Joschi-Onkel (Orthopäde): „Na ja, ein bisserl Hohlkreuz hat’s, macht aber einen knackigen Hintern. Aber diese grauslich spitzigen Sandalen mit hohem Absatz!! Also in spätestens zehn Jahr’ hat s’ Kreuzweh und Hammerzech’n. Das muss ich dem Herbert gelegentlich sagen. Wo ja die Krankenkassa eh jedes Jahr weniger zahlt!“

Hausherr Emmerich: „Hmhm, Kolarik heißt’s, das Mäderl. Lieb ist’s ja. Also wenn’s aus der Familie vom Schweizerhaus ist, wär’ eine stramme Mitgift denkbar. Unwahrscheinlich, ja, aber wenn’s so wär’ – und der Herbert endlich sein’ Magister schon hätt’ ...?“

Urgroßonkel Ferdinand, 95, pensionierter Bahnhofsvorstand: „Also stundenlang könnt’ ich mir diesen wunderschönen langen schlanken Hals anschauen.“ Warum dieser Blick auf den Hals? Die Gerüchteküche der Familie will wissen, dass sich Onkel Ferdinand in der Hungerzeit nach 1945 ein paar Jahre in Nordafrika als Scharfrichter (wortwörtlich) durchgeschlagen hat.

Auch anatomische Gedanken, aber mütterlicher Art, hat die Großtante Anna, verwitwete Fleischhauerin in Pension („Grammel-Tant“ genannt, weil sie nach dem Krieg ihren hungernden Verwandten immer Pakete frischer Grammeln zusteckte) beim Anblick des Mädchens: „Mein Gott, so ein Henderl. Na ja, wir werden’s schon aufpapperln, wenn s’ erst einmal zu uns g’hört!“

Herbert: „Hoffentlich können wir bald geh’n, jetzt haben s’ die Gaby eh schon alle g’seh‘n!“

 

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 22093

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