Schlagwort-Archiv: schräg & abgedreht

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Geschichten, die das Leben speit II – Der Herr Nachbar

„Komm heraus, Du Wolf! Heraus mit Dir!“ schrie der mit Anabolika bis oben hin vollgepumpte Türstehernachbar und klopfte dabei mit beiden Hammerfäusten wie rasend an die dünne Genossenschaftswohnungsaußentür der zarten rothaarigen Physiotherapeutin Dorli. Dabei pumperte er wie ein Besessener völlig irr hämmernd an die dünne Spanplattentür mit weißen Plastikfurnieren. „Heraus, Du Wolf!“ Dorli war schockiert und stand wie in Schockstarre im Gang, während der Irre draußen brüllte wie am Spieß. Plötzlich krachte es, die Türe splitterte und seine dicke gedopte Kraftsportlerfaust steckte mitten im Türblatt. Unvermittelt griff dieser abgefahrene Henker dann nach innen und öffnete dabei die Türverriegelung und verschaffte sich gewaltsam Einlaß zur 32-m²-Single-Wohnung der Kärntner Landesbediensteten, die schon so manchen Falott das Flüchten gelehrt hatte.

Dorli nach dem Geschehnis im Originalton: „Anabolika – Du wirst zum Stier und kannst Di nimmer kontrollieren!“

Als er wutschnaubend auf Dorli loszugehen drohte, faßte sich diese ein Herz und erinnerte sich an ihre Nahkampfausbildung als Hauptschullehrerin in Klagenfurt-Viktring: Sie packte den Strolch fest an den Eiern, zwickte ordentlich zusammen und sah ihm schnürlgerade in die Augen: „Laß mich in Frieden, Du Beidl, hörst Du?“ Da wurde Mr. Anabolika plötzlich munter und erwachte aus seinem Tablettendelirium, machte kehrt und sagte: „Und des ane sog i Dir: De Tür ersetz i Da!“

Elmar Mayer-Baldasseroni
https://elmarmayerbaldasseroni.wordpress.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 20047

(Auf Wunsch des Autors wurde bei diesem Text auf manche Lektoratskorrektur verzichtet und der Text großteils im Original belassen.)

Geschichten, die das Leben speit I – Wiener Altweibersommer

Esmeralda trug nicht nur einen extravagant famosen Namen, sondern nannte auch einen betörend schönen Mädchenkörper und ebenso formidable Formen ihr Eigen. Es gebrach ihr nicht an atemberaubender Schönheit, ihre dunklen Locken fielen in wundersamen Wellen von ihrem Haupte herab. Esmeralda studierte in Wien und fand eine günstige Bleibe in der Inneren Stadt in der Basiliskengasse, wo der Sage nach eine teuflische Echse ihr Unwesen getrieben hatte. Ihre Vermieterin war freundlich und voll der Wienerischen Aufrichtigkeit, Herzlichkeit und Höflichkeit gewesen, sie trug das sogenannte Goldene Wienerherz sicher am rechten Fleck.

Eines Tages kam sie nach den Vorlesungen in ihr Neun-Quadratmeter-Zimmer heim und mußte entdecken, daß ihr Bettchen absolut von oben bis unten klitschnaß vollgepißt war, jemand mußte ihre Bettstatt systematisch von oben bis unten vollgebrunzt haben wie aus Kübeln und Kanistern, wieder und wieder, kein normaler Mensch konnte so viel Urin in seiner Blase halten, das mußte schon der riesenhafte Basilisk selber gewesen sein, ein wahres Monstrum.

Als Esmeralda damit ihre gutkatholische Vermietersfrau konfrontierte, lief diese zunächst rot an, unterdrückte ein Grinsen und meinte schließlich, dies konnte nur ihr böser Kater Emil verbrochen haben, dieser pelzige Lauser, es tue ihr recht leid. Esmeralda nahm die Entschuldigung an und kam insgeheim ins Grübeln – wie konnte diese Handvoll eines süßen Kätzchens, der siebenwöchige kleine weiße Kater Emil, Gallonen von nach Whisky stinkender Pisse fabriziert haben, wo doch die Türe stets verschlossen gewesen war und alle Welt wußte, daß Madame Basilisk einen Hang zu alten schottischen Destillaten hatte?

Seltsam, aber so stand es geschpieben.

Elmar Mayer-Baldasseroni
https://elmarmayerbaldasseroni.wordpress.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 20046

(Auf Wunsch des Autors wurde bei diesem Text auf manche Lektoratskorrektur verzichtet und der Text großteils im Original belassen.)

Kollege Werner

Kollege Werner kommt mit einem riesigen Hufeisenmagneten ins Gemeinschaftsbüro. Der Magnet ist so groß, dass ich mich wundere, dass Werner ihn tragen kann. Werner und ich waren noch nie Freunde. Nun kommt er auf meinen Arbeitsplatz zu und schreit: „Bühring, du Kollegenschwein, jetzt wirst du sehen, was du davon hast!“ Er versucht, den Hufeisenmagneten gegen meinen Desktop-Computer zu halten. So ganz gelingt ihm das nicht, der Magnet steht schief gegenüber dem Computergehäuse, dennoch wird der Bildschirm schwarz. So wie es aussieht, sind alle Daten futsch. Na ja, so schlimm ist das auch nicht. Es sind ja nur Firmendaten. Außerdem gibt es ein Backup. Gibt es ein Backup? Welchen Datums?

Der leere Bürostuhl im beleuchteten Fenster

Der leere Bürostuhl im beleuchteten Fenster

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 20031

Unschärfe

Die Welt erklärt sich mir in mehr oder weniger großen farbigen Flecken.
Der Himmel als zentrales Element, eine blassblaue, unregelmäßig runde große Fläche im Zentrum, mit weißen Schlieren; beim Blick von unten flankiert von bewegten Arealen in verschiedenen Grüntönen.

Ich rühre mich nicht vom Fleck. In der Abendsonne hab ich mich so weit weggedöst. Mein Umfeld sieht aus wie eine Landschaft von Paula Modersohn-Becker.

Ein Blick zur Seite, und es fügt sich eine Kombination aus anderen Farbfeldern zu einem neuen expressionistischen Bild: Es bewegt sich stärker und öfter als das vorige Motiv über mir. Kleine und größere Figuren, bunte Farbpatzer und -kleckse und immer wieder Grün dazwischen. Im Hintergrund ein waberndes fernes reizvolles kühles Blau. Ich richte mich kurzzeitig ein bisschen auf: eine geometrische Tiefebene in Blau, weiße Lichtspritzer auf der Oberfläche.

Ich komme nicht vom Fleck. Eigentlich wollte ich lesen, doch kann ich kaum die Augen offenhalten. Das macht nichts, denn da sind noch die Lautmalereien, mehr oder weniger vernehmliche Geräusche. Spitzes Kindergekreische und weiches Plätschern, Gesprächsfetzen.

Einen blauen Fleck riskieren. Freiwilliger Konturverzicht, ein Wagnis? Ich kann meinen Mut gar nicht hoch genug einschätzen! Versuche halbherzig, mich wachzudenken, doch bleibe ich matt und müde. Ich grinse kraftlos in mich hinein und verweigere träge der Welt meine Aufmerksamkeit; einen Fleck auf der weißen Weste haben.

„Bitte beachten Sie: Das Strandbad wird in fünfzehn Minuten geschlossen.“

Allmählich sollte ich doch die Badesachen zusammenpacken und vor allem endlich meine Brille wieder aufsetzen. Vom Fleck weg. Sozusagen.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 19093

„Weird aktuell“

„Auf einer Skala von 1 bis 10, als wie seltsam würden Sie sich einschätzen?“, fragt die Beamtin in der Amtsstube. „10 ist am höchsten“, setzt sie nach. „Ich würde mir eine Vier geben“, sagt der Mann mittleren Alters. „Na, dann lassen Sie mal hören, was Sie so tun!“, fordert ihn die Beamtin auf. „Wissen Sie, es ist nämlich so“, beginnt der Mann ein wenig vorsichtig, „dass ich fliegen kann. Ich bin ein Vogel, ein Star. Wer, während ich in der Luft bin, auf dem Boden verbleibt, ist nur ein Automat, der funktioniert, wie er funktionieren soll, aber nicht mehr.“
Er blickt auf den Wandkalender, dann fährt er fort: „Wir haben heute den 7. Februar, in Wirklichkeit bin ich ja noch in Südafrika. Vor Ihnen sitzt bloß jener Automat, der Alfred Binder heißt.“ „Gut, Herr Binder, ich denke, ich werde Sie sogar auf eine Fünf hochstufen“, sagt die Beamtin, „was meinen Sie dazu?“ „Alfred Binder, Alfred Binder, Alfred Binder“, sagt die Figur, die kerzengerade vor ihr sitzt, „Alfred Binder, Alfred Binder, Alfred Binder.“ Aus ihren Augen strahlt gebündeltes Licht.

Lego-Roboter

Lego-Roboter

„Huch“, sagt die Beamtin. „Danke für den Besuch, Herr Binder, Sie können jetzt gehen.“ Nachdem die Figur weiterhin „Alfred Binder“ vor sich hinspricht und sie mit ihren Augen anleuchtet, ruft die Beamtin den Sicherheitsdienst. Zwei Uniformierte erscheinen und tragen Alfred Binder hinaus. Ein interessanter Fall, überlegt sie, Herr Doktor Krinkenmöller wird sich freuen. Dieser Herr Binder kann natürlich an einer zerrütteten Persönlichkeit leiden, aber vielleicht stimmt, was er behauptet, dass seine menschliche Gestalt tatsächlich nur ein Automat sei und er wirklich ein Vogel. Man kann nie wissen, man kann nie wissen, denkt die Beamtin, je länger ich diese Tätigkeit ausübe, desto weniger sicher bin ich mir, was der Wirklichkeit entspricht. Sie füllt das Formular fertig aus. „Ein satter Fünfer“, sagt sie sich, „das ist schon einmal gut.“ Doch weil sie sich nicht sicher ist, setzt sie ein Fragezeichen in Klammern neben die Ziffer. Dann legt sie das Formular in das rote Fach mit der Aufschrift „Weird aktuell“.

Jetzt klopft es an die Tür. „Herein!“, ruft die Beamtin. Eine schmale Frau, zirka Mitte dreißig, tritt etwas zögerlich ein. „Nehmen Sie bitte Platz, Frau ..?“ „Bittmann“, sagte die schmale Frau, die aschblonde kurze Haare hat und blaue Augen. „Frau Bittmann, ja“, sagt die Beamtin, „und der Vorname?“ „Kerstin“, sagt die Frau. Für sich nennt die Beamtin sie Mausfrau, Kerstin Mausfrau. Sie legt ein neues Formular vor sich und beschriftet es mit dem Datum und „Kerstin Bittmann“.
„Was haben Sie anzubieten, Frau Bittmann?“, fragt die Beamtin. „Anzubieten?“ „Ja, Frau Bittmann, Sie wissen ja, wir untersuchen hier Menschen, die Phänomene hervorrufen können, Zustände, die landläufig als nicht normal bezeichnet werden würden. Sie sagten mir telefonisch, Sie wären ein derartiger Mensch. Also, auf der Seltsamkeitsskala von 1 bis 10, 10 ist das Maximum, wo würden Sie sich einreihen, und was beherrschen Sie?“ „Ich würde mich in der Mitte sehen, demnach auf Fünf“, sagt Frau Bittmann. „Meine spezielle Fähigkeit besteht darin, dass ich mich unsichtbar machen kann, wenn ich will.“ „Gut, Frau Bittmann, dann zeigen Sie das mal!“, fordert die Beamtin sie auf. Plötzlich ist der Stuhl vor ihr leer.

Pink Child

Pink Child

„Umwerfend“, sagt sie, „das ist toll! Sie können sich mit allem, was Sie an sich tragen, unsichtbar machen, wie ich sehe, beziehungsweise eben nicht sehe“, stellt die Beamtin fest. „So ist es“, erklingt die nun ziemlich feste Stimme von Frau Bittmann. „Sie können jetzt zurückkommen“, sagt die Beamtin. Und Frau Bittmann zeigt sich wieder, auf dem Stuhl sitzend. Sie lächelt leicht. „Sehr beeindruckend, wirklich!“, lobt sie die Beamtin.

Kurz denkt sie nach. Verwenden nicht Illusionisten Spiegel, um eine Person scheinbar unsichtbar zu machen? „Sagen Sie, Frau Bittmann, haben Sie technische Hilfsmittel verwendet?“, fragt die Beamtin. Jetzt ist der Stuhl vor ihr wieder leer, einige Sekunden später sitzt Frau Bittmann wieder vor ihr. „Nein“, sagt sie. „Können Sie sich immer unsichtbar machen, wenn Sie wollen?“, fragt die Beamtin. „Grundsätzlich schon“, sagt Frau Bittmann, „außer wenn ich schwer krank bin.“ „Das ist sehr aufschlussreich“, sagt die Beamtin. „Ich stufe Sie, vorsichtig betrachtet sogar, auf eine Sechs ein.“
Sie notiert diese Zahl im Formular. „Wow!“, sagt Frau Bittmann. „Ja, das kann man so nennen“, sagt die Beamtin. „Wir sind jetzt fertig. Danke, dass Sie hier waren, Frau Bittmann.“ „Es hat mich sehr gefreut“, sagt Frau Bittmann.
Sie steht auf, verschwindet, man hört ihre Schritte, die Bürotür öffnet und schließt sich. Die Beamtin füllt das Formular fertig aus und legt es in das rote Fach mit der Aufschrift „Weird aktuell“. Ein Sechser, super wirklich!, überlegt sie, bislang der erste. Herr Doktor Krinkenmöller wird begeistert sein.

„So, ich werde jetzt schnell einmal eine Pause einlegen“, sagt die Beamtin zu sich selbst. Sie verlässt ihr Büro, sperrt mit dem Schlüssel ab und dreht das Schild an der Tür um, auf dem jetzt „Nicht besetzt“ steht. Draußen sitzt ein dünner junger Mann mit schulterlangen Haaren. Er sieht die Beamtin an. „Wollen Sie zu mir?“, fragt sie. „Ja, genau“, erwidert er. „Bitte gedulden Sie sich noch ein wenig. Ich bin in spätestens einer Viertelstunde zurück“, sagt die Beamtin. „Kein Problem“, sagt der junge Mann lässig. Sie holt sich vom Kaffeautomaten einen Cappuccino im Plastikbecher um 50 Cent und geht ins Freie, lehnt sich dort gegen das Aluminiumgeländer und zündet sich eine Zigarette an. Das tut gut, denkt sie, der einzige Vorteil, den das Rauchen hat, ist ja der, dass, wenn man Pause macht und eine Zigarette raucht, man dadurch wirklich merkt, dass man Pause hat. Leider lässt es aber auch meine Haut altern und pergamentartig wirken. Ich sehe wohl nicht jünger als, als ich bin.

Vandalismus

Vandalismus

Ihr Kollege Walter Kohlweg kommt auf sie zu, ebenso mit einer glimmenden Zigarette, die aber soeben erst angezündet wurde. „Hallo Elena“, sagt er. „Hallo Walter“, sagt sie. „Frau Elena Weber“ steht auf ihrer Bürotür, das ist ihr Name. „Elena, bist du‘s wirklich?“, fragt er. „Ja klar“, sagt sie, „ich bin aus Fleisch und Blut.“ Sie tapst auf seine linke Hand. „Du hast das gespürt, ja?“, fährt sie fort, „das bin ich.“ „Aber Elena, ich verstehe das nicht“, sagt ihr Kollege, „ich war gerade in deinem Büro, um eine Akte zu holen, die bei dir liegt. Du bist an deinem Schreibtisch gesessen, dann bist du aufgestanden und hast sie mir herausgesucht. Schau, hier ist sie.“
Er deutet auf die rote Akte in seiner linken Hand. „Nicht logisch zu erklärende Vorfälle, Teil 1“, steht auf ihr. „Das kann nicht sein, Walter“, sagt die Beamtin, „erstens habe ich die Tür von außen zugesperrt, und zweitens bin ich hier, wie du siehst.“ „Du hast die Tür zu deinem Büro zugesperrt?“, fragt ihr Kollege. „Ja, mit einem Schlüssel, schau, mit diesem hier“, sie fischt ihn aus ihrer Jackentasche. „Da stimmt etwas nicht, da stimmt etwas ganz und gar nicht, Elena. Sag, fühlst du dich gesund“, fragt Walter. „Ja natürlich, ich bin topfit. Was soll nicht stimmen, Walter?“, fragt sie. „Unsere Bürotüren werden nicht mit einem Schlüssel versperrt. Sie fallen im Türrahmen ins Schloss und bleiben zu. Geöffnet werden sie über eine Kamera, welche die Iris scannt. Wir sind schließlich ein fortschrittliches Institut“, erklärt Walter. „Oh“, sagt die Beamtin.

Sie ist verwirrt, aber gleich fängt sie sich wieder. „Das kann nicht sein“, sagt sie. „Doch es ist so“, sagt ihr Kollege, „vielleicht hast du heute nur einen schlechten Tag. Der Schlüssel ist wahrscheinlich für eine Tür bei dir zuhause. Du wirst es ja sehr bald selbst sehen, wenn du nämlich vor deiner Bürotür stehst. Aber das ist ja noch das weit Geringere, Elena, das andere ist, dass es dich doppelt gibt. Ich habe dich in deinem Büro und eineinhalb Minuten später hier draußen gesehen. Deine Zigarette brennt aber bestimmt schon seit mindestens drei Minuten. Ich irre mich ganz bestimmt nicht.“ „Das ist völlig unmöglich“, sagt die Beamtin. Walter hat doch früher ein heftiges Alkoholproblem gehabt, wenn ich mich recht erinnere, denkt sie. Jetzt hat er zwar keine Fahne, aber vielleicht trinkt er Industriealkohol mit Fruchtsaft vermischt, der ist geruchslos, Walter sieht sie skeptisch an. „Schau nicht so!“, würde sie am liebsten sagen, aber sie lässt es bleiben, um nicht einen möglichen Streit vom Zaun zu brechen. Sie raucht ihre Zigarette fertig und tötet sie in einem Aschenbecher aus. Ihr Kollege raucht noch. „Soll ich dich begleiten?“, fragt er. „Wozu denn?“, erwidert die Beamtin. „Gehen kann ich schon selber.“

Sie legt den kurzen Weg bis zu Ihrem Büro zurück. Draußen sitzt der junge Mann, wie zuvor. Aber ihre Bürotür ist nun aus Aluminium und nicht mehr aus Holz. Und es gibt kein Schlüsselloch, sondern eine Kamera. Zum Glück steht „Elena Weber“ noch an der Tür. Sie sieht in die Kamera. Ungefähr zwei Sekunden vergehen. „Zutritt gestattet“ scheint auf einem kleinen Display an der Tür auf. Es macht klack und die Tür öffnet sich von selbst. Die Beamtin tritt in ihr Büro. Sie sieht sich selbst, wie sie am Schreibtisch sitzt und etwas schreibt.

Schwein verkehrt

Schwein verkehrt

Sie hat keine Zwillingsschwester, was eine gängige Erklärung für dieses Ereignis wäre, es ist sie selbst. Es gibt sie, Elena Weber, die Beamtin, zweimal.
Jetzt schaut die Elena am Schreibtisch auf und erblickt die Elena, die im Raum steht und sie ansieht. In diesem Moment verschmelzen die beiden Elenas zu einer Person. Diese Person ist die Elena, die am Schreibtisch sitzt.
Das kann nicht sein, das ist total verrückt. Ich bin doch kein Chromosom. Ich bin ein Mensch, eine Frau, ich kann mich nicht teilen. Hoppla, ich rufe ja einen Fall hervor, wie wir ihn hier in diesem Institut untersuchen. Und dort bin ich ein Zehner. Doktor Krinkenmöller wird begeistert sein, wenn er davon hört, oder er würde begeistert sein, wenn er davon hörte.
Womöglich bilde ich mir doch alles nur ein. Dann würde ich in der Psychiatrie landen, in einer geschlossenen Abteilung, und das für lange Zeit, mit der Diagnose einer astreinen Schizophrenie. Nein, ich weiß wirklich nicht, ob ich das melden soll.
Und nun etwas anders: Nehmen wir an, es gibt mich wirklich doppelt, welche Person ist dann dominant?

Die Beamtin verlässt noch einmal das Büro. Der junge Mann sieht sie fragend an. „Sofort“, sagt sie, „ich bin gleich fertig.“ Sie lässt erneut ihre Iris scannen, klack, die Bürotür öffnet sich. Die zweite Elena sitzt am Schreibtisch. „Grüß Gott, Frau Weber“, begrüßt sie ihr zweites Ich, „falls Sie interessiert sind, ich kann Ihnen eine ganz spezielle Besonderheit vorstellen.“ Sie spricht bewusst laut, und am Schluss klatscht sie in die Hände. Jetzt schaut die am Schreibtisch sitzende Frau Weber auf und sieht die vor ihr stehende Frau Weber, ihre beiden Blicke treffen sich. In diesem Moment verschmelzen die beiden Frauen Weber, diesmal zur im Raum stehenden Frau Weber.
„Aha“, sagt die Beamtin zu sich selbst, „nun bin ich etwas schlauer, aber wie ich jetzt weiter vorgehen soll, weiß ich noch nicht, noch lange nicht. Fürs Erste werde ich weitermachen wie immer.“ Sie dreht sich um und öffnet ihre Bürotür. Sie sieht zu dem jungen Mann und sagt: „Grüß Gott, jetzt bin ich endlich fertig. Wollen Sie bitte eintreten?“

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 19059

The Stars are Falling

Es ist Nacht,
keine Wolken.
Er sieht in den Himmel.
Die Sterne sind näher als sonst.

Fünf Minuten später sind sie noch näher
und darum größer.
Nach weiteren fünf Minuten haben sie sich
noch stärker angenähert,
jetzt sind sie ziemlich groß.

Und in nochmals fünf Minuten fallen sie auf die Erde.
Wie Regen, nur nicht von Wasser, sondern von Sternen.
Überall liegen sie verstreut, unzählig viele,
aber das sieht der Mann erst am kommenden Morgen,
wenn es wieder hell ist,
die Sonne ist zum Glück am Himmel verblieben.

Golden Star

Golden Star

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 19057

Sprung in der Schüssel

Ich habe einen Sprung in der Schüssel,
der Riss sucht einen Ausweg,
kreuzt sich mit einem anderen Sprung,
Sie werden zur tieferen Kerbe,
Tiefer sickert Wasser hinein

Ich habe gehört,
es soll zu faulen beginnen
Dem Warten zu entfliehen,
Alles zu überschwemmen,

Bevor es zu schwer wird,
reiß ich es ab,

Noah war nicht hier

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht| Inventarnummer: 19016

Der Gammlicher Achter

Mein Name ist Dr. Igor Kushkurow und ich bin Jäger. Präzise gesagt bin ich der Schwarzrussische Staatsgroßmeister für die Bejagung von Kreaturen des Bodens und der Luft. Ich kann von dieser Arbeit zwar nicht leben, wenigstens nicht gut, doch ist meine Familie reich. Dieser Umstand, der es mir, nebenbei erwähnt, erlaubt, meinen Passionen nachzugehen und meinen Gedanken nachzuhängen, rührt daher, dass mein Vater der Besitzer der größten Waffenfabrik meines Mutterlandes ist.

Der Hang zur Jagd ist meiner Familie immanent. Mein Großvater, Milorad Kushkurow, war der vermutlich größte Jäger, der die schwarzrussischen Böden und Lüfte von diese bevölkernden Kreaturen befreit hat. Er hatte die sogenannte Gänsefeder erfunden, einen langen Stab aus Bohrstahl, an dessen Spitze eine bruchfeste scharfe Feder aus Blecheisen befestigt war. Die Gänsefeder ist ein überaus geeignetes Instrument, um Wasservögel zur Strecke zu bringen. Man pirscht sich an diese Vögel, wie beispielsweise Schwarzrussische Wasserfischsichler oder Schwarzrussische Karpfenschnäbler, an, idealiter lautlos, und erlegt sie vermittels eines kräftigen und hoffentlich gezielten Vorwärtsstoßes.
Der Erfolg dieser Erfindung meines Ahnen war überwältigend. Die bis zu diesem Zeitpunkt gebräuchliche Finkenfeder geriet alsbald in Vergessenheit.

Nun, mein Großvater war dermaßen überzeugt von seiner Waffe, dass er den Fehler beging, der der erste sein sollte, den er je begangen hatte. Ich muss hinzufügen, dass dieser Fehler gleichzeitig sein letzter war. Großvater Milorad hatte nämlich versucht, ein adultes Exemplar des Schwarzrussischen Krausbartbären mit seiner Gänsefeder zu erlegen. Der Krausbartbär sieht vielleicht ungefährlich, beinahe kann er als komisch kreiert bezeichnet werden, aus, doch täuscht dieser Eindruck. Dieses, in beschneiten Regionen hausende, und auch marodierende, auf zwei Beinen schreitende Wesen meint es nämlich ernst. Seine drei Meter langen Arme sind mit sichelförmigen gezahnten Krallen bewehrt, und die Tatsache, dass mein Großvater eine bloß zwei Meter lange Gänsefeder auf den Brustkorb der Kreatur richtete, darf wohl als Hauptgrund für sein Ableben vor der Zeit angesehen werden. Mein Ahn hatte, wie man bei uns in Schwarzrussland zu sagen pflegt, das Unglück des langsamen Ausweichens gehabt.

Mein Vater, auch er heißt Milorad, litt so grässlich unter diesem Verlust, dass er sämtliche Gänsefedern, die sein Vater hinterlassen hatte, zum Staatlichen Altmetallplatz brachte und eine Fabrik für Schusswaffen gründete. Da sein Bruder Dmitri, also mein Onkel erster Ordnung, zu dieser Zeit das verantwortungsvolle Amt des Ministers für die Geldliche Gebarung Schwarzrusslands bekleidete, stellte die Finanzierung kein Problem dar. Vater Milorad gab seinen Produkten, also den Waffen, den Markennamen Gammlicher. Er hatte sich für diesen hochgermanischen Namen entschieden, denn seine Waffen sind in der Tat von allererster Güte, was ihre Verarbeitung und somit ihre Haltbarkeit betrifft, darüber hinaus entstammt meine Mutter dem sehr alten, aber leider verarmten, hochgermanischen Geschlecht der Gammler.

Das Spitzenprodukt der Waffenschmiede meines Vaters ist der sogenannte Große Gammlicher Achter. Hierbei handelt es sich um ein Gewehr mit, wie der Name vermuten lässt, acht Läufen. Ich darf sagen, dass ich für die Jagd ausschließlich einen Achter verwende. Die drei unteren nebeneinander liegenden Läufe sind für Schrotpatronen vorgesehen, die auf ihnen liegenden drei für Projektilpatronen, und die beiden obersten, ein Lauf ist auf dem linken Kugellauf platziert, der andere auf dem rechten, somit bleibt die Mitte des oberen Drittels frei, können je nach Belieben mit Steinen, Glasmurmeln oder auch Schreibgeräten beladen werden.
Der Große Gammlicher Achter hat jedoch den Nachteil, überaus gewichtsintensiv zu sein. Dieser Umstand macht einen Assistenten unerlässlich, in meinem Fall handelt es sich um Pavel Lickshit, er ist Großexperte für das Dasein im Rudel allgemein, welcher üblicherweise vor dem Schützen kniet, sein Rückgrat somit als Auflagefläche zur Verfügung stellt. Diese Haltung wird im Übrigen als Gammlicher Kauto bezeichnet. Für gewöhnlich nimmt das Rückgrat des Assistenten dabei keinen Schaden. Mit dieser Waffe ist es mir möglich, sämtliche schwarzrussische Kreaturen zu erlegen.

Nun, der Vizeminister für die Gesundheit der Schwarzrussischen Bevölkerung kontaktierte mich ebenso telefonisch wie in Harnisch. Er erregte sich über in letzter Zeit gehäuft auftretende jagdliche Unfälle mit letalem Ausgang. Die schwarzrussischen Jäger, so meinte er, wären nämlich nicht mehr in der Lage, die geeigneten Waffen gegen bestimmte Kreaturen einzusetzen, sodass diese Wesen die Jäger einfach töten würden. Jedenfalls bat er mich, mich dieses Problems anzunehmen und den Jägern zu erläutern, welche Waffe, oder Waffen, für welche gefährliche Kreatur geeignet sei. Bereitwillig versprach ich, mich um diese Angelegenheit zu kümmern.
Ich dachte mir, dass ein Lokalaugenschein bei den Jägern nur hilfreich sein könnte, also fuhr ich einfach in den nächstgelegenen Wald und beobachtete die dort agierenden Jäger. Was ich sehen musste, ich kann es nicht anders formulieren, war hoch grässlich.

Ein Jäger, der Mann war etwa vierzig Jahre alt, versuchte, einen Schwarzrussischen Bäreneber zu erlegen. Als ich erkannte, womit er dies bewerkstelligen wollte, gefror mir das Blut in den Adern: mit einer Gänsefeder. Ich rief dem Mann zu, dass er dies besser unterlassen sollte, doch wollte er wohl nicht auf mich hören. Die Sache ging so aus, dass der Bäreneber den Jäger auf eine Art und Weise zu Tode brachte, die bloß als infam bezeichnet werden kann. Da mein Assistent Pavel Lickshit zu diesem Zeitpunkt noch in seinem Rudel tätig war, konnte ich meinen Großen Gammlicher Achter nicht in Anschlag bringen, um der Kreatur die eben begangene Meuchelei heimzuzahlen.

Etwa einen Kilometer entfernt durfte ich miterleben, wie ein offensichtlich erfahrener Jäger, die Schnäbel und Zähne, die er auf einer schweren Kette um den Hals trug, bewiesen das, versuchte, eine Schwarzrussische Branddrossel zu erlegen. Er feuerte ununterbrochen auf den winzigen Vogel, und das aus einer großkalibrigen Büchse. Da ich keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben dieses Jägers erkennen konnte, unterließ ich es, ihn anzusprechen. Vielmehr ließ ich mich auf dem Boden nieder und beobachtete höchst amüsiert diese Szene. Der Mann verfeuerte alle Patronen, die er bei sich hatte, und warf danach seine Flinte wutentbrannt in die Richtung des Vogels, der, beinahe wie zum Hohn, unablässig zwitschernd über dem Haupt des Jägers kreiste. Das Gewehr verfehlte den Vogel, dafür landete es auf des Jägers Fuß, was dieser mit unzähligen unflätigen Flüchen quittierte. Die Branddrossel defäkierte noch auf den Kopf dieses Mannes, bevor sie davonflog. Schallend lachend lief ich zu meinem Geländewagen und stattete dem Vizeminister einen unangemeldeten Besuch ab.

Er empfing mich sogleich, und ich berichtete ihm von den Eindrücken, die ich gewonnen hatte. Wir sprachen über verschiedene Möglichkeiten, dieses Problems Herr zu werden, kamen jedoch zu keiner befriedigenden Lösung. Ich rief meinen Vater Milorad an und bat ihn, zu uns zu stoßen. Eine halbe Stunde später saß er bei uns am Konferenztisch und wurde von uns in die Problematik eingeführt.
Vater Milorad lauschte interessiert unseren Ausführungen und fand prompt eine Lösung. Dann ging alles Schlag auf Schlag. Der Vizeminister bestellte den ihm nachgeordneten Minister für Jagdliches Verhalten in Schwarzrussland ein und befahl ihm, innerhalb der nächsten zwei Stunden die Weisung zu erteilen, dass Jäger künftig zu zweit ihrer Passion nachzugehen hätten, jedoch bloß eine einzige Schusswaffe mit sich führen dürften, nämlich einen Großen Gammlicher Achter. Der Minister lief aus dem Büro des Vizeministers, um diese Weisung so zeitnah wie möglich zu erteilen.
Mein Vater nahm seine goldene Armbanduhr ab, gab sie dem Vizeminister, der sie sogleich mit zufriedener Miene anlegte, dann küsste er mich auf die Wange, sagte, ich hätte das Richtige gemacht, nämlich ihn anzurufen, und verließ das Büro.

Mir wurde die verantwortungsvolle Aufgabe übertragen, sämtliche schwarzrussische Jäger in der ordnungsgemäßen Handhabung des Großen Gammlicher Achters zu unterweisen. Mit diesem Gewehr, das kann ich versichern, sitzt jeder Schuss.
Das Problem, welches ich als letztes zu lösen hatte, war die Frage, welcher von zwei Jägern, die gemeinsam auf die Pirsch gehen, nun derjenige zu sein hätte, der vor dem anderen niederknien müsste. Ich beschloss, dass es stets den Jüngeren treffen sollte, den Gammlicher Kauto zu vollziehen, und das so lange, bis er selbst einen jüngeren Jagdkameraden finden würde, denn es kann einfach nicht sein, dass ein älterer Mensch vor einem jüngeren kniet. Ich finde so etwas schlicht unästhetisch.
Somit habe ich ganz nebenbei eine neue, aber durchaus schöne schwarzrussische Tradition erschaffen.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht |Inventarnummer: 17120

Ich bin peinlich rein

Ich bin achtundvierzig Jahre alt und Semiakademiker, was impliziert, dass ich mein Studium der Ausbreitungswissenschaften an der Staatlichen Schwarzrussischen Universität nicht zur Gänze, vielmehr zur Hälfte abgeschlossen habe, um präzise zu sein, ich lege nämlich Wert auf Präzision, studierte ich die Ausbreitung der Schwarzrussischen Blaufelleber, eine, wie ich fürwahr sagen darf, grässliche, weil überaus gefährliche Spezies, sowohl für Menschen als auch für Tiere, deren Gebiet, also das der Ausbreitung dieser grässlichen Bestien, sich stetig erweitert; während ich diese Zeilen zu Papier bringe, kann es gut sein, und ich bin mir beinahe sicher, dass es sich bezüglich der Ausbreitung so verhält, dass es größer wird.
Aus diesem Grund darf ich mich bloß D. Sascha Smirnovskaya nennen, und nicht Dr. Sascha Smirnovskaya, aber dies sei bloß nebenbei erwähnt.

Der Schwarzrussische Blaufelleber sieht aus wie ein gewöhnliches Wildschwein mit hellblauen Borsten, doch ist er weitaus gefährlicher, denn die ihm innewohnende naturgegebene, also prinzipielle, Angriffslust lässt das Tier in Harnisch geraten, sobald es anderer Lebewesen, also auch Menschen ansichtig wird (es gibt Erzählungen, allerdings stammen diese von in ruralen Gegenden domizilierten Menschen - aus diesem Grund halte ich sie für frei erfunden -, dass diese Tiere selbst beim Anblick von Blumen und jungen Bäumen in Harnisch geraten). Dann gebärdet sich der Schwarzrussische Blaufelleber in der Tat grässlich, dann meint er es ernst, todernst.

In achtzig Prozent der dokumentierten Fälle mit menschlichen Verlusten, also in welchen Menschen zu Tode kamen, konnte die Identität der Menschen lediglich vermittels DNA-Abgleich ermittelt werden, denn Schwarzrussische Blaufelleber pflegen ihre Opfer, aus der Sicht der Tiere dürfte es sich um Beute handeln, zur Gänze aufzufressen (bis auf das Gelenk des linken Fußes, welches ihnen, aus welchem Grund auch immer, geschmacklich nicht zusagen dürfte - aus diesem Grund ist ein DNA-Abgleich möglich. Üblicherweise wird bei getöteten Haus- oder Nutztieren auf einen DNA-Abgleich verzichtet.).

Wie gesagt studierte ich die Ausbreitung der Schwarzrussischen Blaufelleber hinsichtlich der Möglichkeiten der Verringerung der Gefahren für Menschen, Haus- und Nutztiere, jedoch sah ich mich gezwungen, mein Studium als Semistudium weiterzuführen und als solches zu Ende zu bringen, denn ich brachte es nicht fertig, die für die Erlangung der Doktorwürde unbedingt erforderlichen Beobachtungen und Versuche im Habitat der Schwarzrussischen Blaufelleber, also in der freien Natur zu machen und durchzuführen, denn jedes Mal, wenn ich eines solchen Tieres ansichtig wurde, geriet ICH in Harnisch. Mich ekelte und ekelt noch immer vor der Unreinheit der hellblauen Borsten dieser Bestien.
Ich bin nämlich peinlich rein!

Der Hang, oder besser Drang, oder noch besser, weil präzise, Zwang zur Reinheit ist mir immanent. Meine Großmutter hatte sich verschiedene Arten von Haustieren gehalten, die als klein gelten konnten. Kaninchen, Hühner, Tauben und Meerbachen (eine dem Meerschweinchen nah verwandte Art, welche sich in schwarzrussischen Kochtöpfen höchster Beliebtheit erfreut) - zur Verwendung in der Küche. Ich fand - und finde immer noch - diese Tiere grässlich, da sie mir als nicht rein erschienen und erscheinen. In ihren Käfigen lagen ihre Haare und Federn neben ihren Exkrementen auf dem Boden herum, und die Tiere mittendrin.
Ich nehme an, dass sich mein Zwang zur Reinheit beim Anblick dieser Tiere in ihren Käfigen ausgebildet hat. Ich wollte ja die von meiner Großmutter aus dem Fleisch dieser Tiere zubereiteten Speisen, die, das muss ich zugeben, köstlich ausgesehen und herrlich geduftet hatten, verzehren - allein, ich konnte es nicht. Der Gedanke an die Käfige ließ mich die Nahrungsaufnahme verweigern.

Fisch aß und esse ich immer gerne. Die weiße Farbe des Fleisches des Schwarzrussischen Wespensalmlers, nachdem dieser von seiner schwarz-gelb gestreiften und mit giftigen Stacheln bewehrten Haut befreit wurde, vermittelt mir das Gefühl, etwas Reines zu mir zu nehmen. Ich liebe das Fleisch dieses Fisches, jedoch ungewürzt und bloß in Wasser gekocht. Es ist nicht so, dass ich nicht versucht hätte, ihm mit Pfeffer und anderen Gewürzen zu ein wenig mehr Geschmack zu verhelfen, doch war das Fleisch des Fisches danach nicht mehr reinweiß. Die Pfefferstückchen nahmen sich wie winzige Verunreinigungen aus, die Teilchen der übrigen Gewürze ebenfalls. Ich musste den Fisch wegwerfen.

Es ist nicht so, dass ich mich bloß vom Fleisch des Schwarzrussischen Wespensalmlers ernähre. Ich habe nichts gegen Fleisch einzuwenden. Ich esse gerne ein saftiges Steak, welches ich scharf anbrate, jedoch nicht in Öl, sondern in einer geringen Menge Wasser. Öl würde unter Umständen Rückstände auf dem Fleisch belassen, die farblich unmöglich zu seinem Grundton passen können, also brate ich meine Steaks stets in Wasser an.
Wasser halte ich ohnehin für das wertvollste, weil die Reinheit am wenigsten beeinträchtigende Element in der Küche. Ich koche, gare, frittiere und brate stets mit Wasser, jedoch bloß eine Zutat auf einmal, um die Reinheit nicht zu gefährden.
Verlangt mich beispielsweise nach Steak mit gekochten Fisolen, so brate ich das Fleisch in Wasser an, verzehre es - natürlich ungewürzt -, hernach koche und verzehre ich die Fisolen; dies, um die Reinheit auf dem Teller nicht zu gefährden.

Ich möchte nun nicht den Eindruck erwecken, ich wäre verrückt, gemeingefährlich oder gar pedantisch. Das bin ich nämlich – natürlich – nicht!
Es ist nicht so, dass ich stets blütenreinweiß gewandet durch die Gegend laufe. Ich besitze Kleidung in verschiedenen Farben wie Weiß, Reinweiß, Blütenweiß, aber auch Schwarz, Dunkel- und Hellblau sowie - hierbei handelt es sich um ein Geschenk meines Verwandten Wladimir Suffkopp; er ist Vizesekretär des schwarzrussischen Vizeministers für Fragen der Schwarzrussischen Kleiderordnung - Rosarot.
Wie Sie sich sicherlich vorstellen können (oder denken werden), stehe ich bezüglich Kleidungsstücken in der jeweiligen angeführten Farbe in Vollausstattung, von der Badehose bis zum Skianzug. Ich trage stets Kleidungsstücke von derselben Farbe, denn ich möchte die Reinheit meines Erscheinungsbildes hinsichtlich Farbe nicht durch die Hereinnahme eines anderen Farbtons trüben oder gar vernichten. Besonders grässlich ist es, also besonders großen Graus bereitet es mir, wenn ich, beim Essen beispielsweise, kleckere oder gar fremdbekleckert werde.

Über diese besondere Grässlichkeit habe ich vor etwa zwei Jahren mit meinem Großvetter Dr. Igor Kushkurow, er ist das Genie in meiner Familie, gesprochen. Großvetter Igor forscht zurzeit an der Staatlichen Schwarzrussischen Universität zur Frage (der Studienauftrag ist in diesem Fall als Frage formuliert) “Sinn oder Unsinn? - Die Balzrituale männlicher Schwarzrussischer Zwergkopflemminge und ihre Intention, die ohnehin stets zur geschlechtlichen Vereinigung freudig bereiten weiblichen Genossen dieser Art zur geschlechtlichen Vereinigung zu bewegen.” Großvetter Igor erklärte mir, dass die Anzahl der weiblichen Schwarzrussischen Zwergkopflemminge, die im Laufe ihres Lebens unumkehrbare geschlechtliche Neigungen zu den weiblichen (sic!) Genossen ihrer Art entwickeln, bei mittlerweile neunundachtzig Prozent liegt. Er hat mir das Ergebnis seiner Forschungstätigkeit mitgeteilt, obwohl diese Studio offiziell erst in drei Jahren abgeschlossen sein wird (dem gemächlich tröpfelnden Geldhahn des schwarzrussischen Ministeriums für militärische, polizeiliche und universitäre Angelegenheiten würde Dank gebühren, meinte Dr. Kushkurow bitter): ie weiblichen Schwarzrussischen Zwergkopflemminge entwickeln gleichgeschlechtliche Tendenzen, da sich die männlichen Genossen ihrer Art für gewöhnlich den Großteil ihrer Lebenszeit (fünfundneunzig Prozent der Zeit!) auf der Balz befinden und somit naturgemäß bei Weitem zu wenig Energie haben, sich im dem Fall, dass sie zum Zug kommen, auf eine Art und Weise zu gerieren, die männlichen Genossen ihrer Art nun einmal gut anstünde (Großvetter Igor sprach von ‘libidinös-phallischer Dysfunktion’ - ich weiß nicht, was er damit meinte).

Ich sprach also vor gut zwei Jahren mit Großvetter Igor über die Grässlichkeit eigen- oder - noch schlimmer, da aufgezwungen! - fremdbekleckerter Kleidung. Da mein Großvetter mich gut kennt, wusste er, wie wichtig mir eine Lösung dieses schwerwiegenden Problems war (die erste Variante zur Lösung, die er mir vorschlug, nämlich das bekleckerte Kleidungsstück in die Waschmaschine zu legen und diese in Gang zu setzen, war selbstverständlich von mir abgelehnt worden. Was, wenn an der Stelle des Flecks eine ausgewaschen erscheinende Textilstelle sichtbar würde, also von Rosarot zu ausgewaschenem Hellrosarot zum Beispiel? - Nein! Ein noch viel größerer Graus!), nahm er sich gerne zwei Wochen Zeit, um sich einen Überblick über die Gesamtsituation zu verschaffen. Danke, Igor! Und Nastrovje!
Er teilte mir mit, dass in meinem Fall (er sprach von supranasal und auch irgendwas von Subillumination - ich weiß nicht, was er meinte) wohl der Einsatz der sogenannten ‘Fleckenschere’ die beste Lösung wäre. Seit diesem Tag trage ich eine Fleckenschere mit mir; mit ihr schneide ich Flecken einfach aus meiner Kleidung heraus. So bleibt mein farbliches Erscheinungsbild stets rein.

Sie werden jetzt denken, dass ich mit Löchern in meiner Kleidung, die meine nackte Haut, die naturgemäß weder rosafarben noch schwarz ist, zum Vorschein bringen, durch die Straßen laufe - weit gefehlt! Es ist vielmehr so, dass ich stets mehrere Schichten an Kleidung übereinander trage. Wird beispielsweise meine Hose bekleckert und schneide ich den Fleck dann aus ihr heraus, so ist keine Veränderung in meinem farblichen Erscheinungsbild feststellbar, denn unter meiner Hose trage ich stets eine lange Unterhose. Durch das Tragen mehrerer Schichten übereinander bin ich also stets auf der sicheren Seite.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht |Inventarnummer: 17119