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Ein Knall und doch kein Fall

Das Leben legt manchmal Fallstricke aus, doch nicht jeder Mensch, der von ihnen zu Fall gebracht wird, fällt tief.
Eine Frau zum Beispiel, die von ihrem Liebhaber schwanger wird, daraufhin ihren Ehemann verlässt und fortan glücklich mit Freund und Nachwuchs lebt, ist, wie man sagt, auf die Butterseite gefallen.
Ein Politiker oder Manager, der, damit er nicht noch mehr Schaden anrichten kann, weggelobt wird, indem er Minister oder Aufsichtsrat wird, fällt definitiv nach oben.
Man sieht: Nicht in allen Fällen muss ein in eine Falle Gefallener seine Felle davonschwimmen sehen oder gar an einen Strick denken.

Karl, ein Österreicher von vierzig Jahren, hat noch nie an einen Strick gedacht, und Felle sieht er nur dann nass werden, wenn er den Bisamratten dabei zusieht, wie sie im Bach schwimmen.
Er denkt stets in großen Dimensionen, denn um Kleines schert er sich überhaupt nicht. Es wäre auch unwirtschaftlich, würde er in seiner liebsten Wirkungsstätte, dem Wirtshaus, kleine Biere konsumieren, denn wie jeder Biertrinker weiß, rentiert sich das nicht. Die große Weiße Mischung, die Karl gelegentlich zu sich nimmt, kostet zwar das selbe wie zwei kleine Spritzer, doch da er nun einmal gerne aus großen Gebinden trinkt, hält er es auch mit dem Spritzwein so. Beim Schnaps dürfen es ruhig kleine Gläser sein, denn diese zeichnen sich durch hohe Stabilität aus. Die ist vor allem dann essenziell, wenn Karl zur Bekräftigung des eben Gesagten mit der Faust auf den Tresen haut und zuvor vergessen hat, das Stamperl auf der Theke abzustellen.

Das Gasthaus ist Karls Lieblingsort, wenngleich es dort Fallen gibt, die er besser meidet. Er verhält sich Menschen, die er nicht kennt, gegenüber zurückhaltend, beinahe maulfaul, denn er sucht tunlichst zu vermeiden, dass sie herausfinden, wie er denkt.
Befindet er sich jedoch im Kreise seiner Trinkkumpane, nimmt er schnell Fahrt auf. Er erklärt, was in der Welt schiefläuft, macht bald die daran Schuldigen aus und gerät derart in Harnisch, dass seine Trinkgesellen ängstlich um sich blicken, ob ein Polizist im Raum ist, wenn Karl seine Lösungsvorschläge unterbreitet, was er oft brüllend macht. Dann denkt er manchmal an seinen Großvater, den er bloß aus Erzählungen kennt und von dem Foto, auf dem sein Ahn die gut sitzende schwarze Uniform eines Standartenführers trägt, und seine Augen werden feucht. Er verlässt das Gasthaus und nimmt auf dem Heimweg aus gesundheitlichen Gründen einen Melissengeist ein.

Am nächsten Morgen duscht er und rasiert sich, dann legt er Tracht an und blättert in der größten kleinformatigen Tageszeitung des Landes. Karl liest erst den Politikteil, dann, um sich wieder abzuregen, die Seiten mit den Gebrauchtwagenanzeigen. Er hätte gerne einen Sportwagen, am besten einen deutschen, doch da ihm das Geld für eine solche Anschaffung fehlt, träumt er einfach weiter davon.
Er geht in den Stall und füttert die Kühe und die Schweine. Eine Magd wäre ihm hierbei eine große Hilfe, doch kann er sich nicht vorstellen, mit einer Frau zu arbeiten. Karl hat Probleme mit Frauen, seit ihm seine davongelaufen ist. Sie konnte seine rustikale Wesensart weder schätzen noch verstehen.
Nach der Versorgung seines Viehs trinkt er ein großes Glas Most, und danach ein weiteres. Hierauf pflegt er in sein Schlafzimmer zu gehen und sein Arsenal an Jagdwaffen zu inspizieren. Die Gewehre liegen unter seinem Bett. Sie sind geölt, in Decken eingeschlagen und stets geladen, denn Karl weiß nur zu gut, dass man nie wissen kann.

Ein tragischer Unfall mit einer Schusswaffe hatte das Leben seines Vaters vorzeitig beendet. Dem Alten hatte es gar nicht gefallen, von seinem Sohn im Jagdrevier um Geld angebettelt zu werden, also hatte er Karls Ansinnen schroff zurückgewiesen. Dieser geriet in Rage, und nachdem sich zwei Schüsse aus seiner einläufigen Flinte gelöst hatten, war er sich sicher, dass er das Geld erhalten würde.
Der Kommissar, der den Unfall bearbeitete, versuchte Karl eine Falle zu stellen, doch dieser fiel nicht hinein. Nach dem Tod seines Vaters fuhr er mit allen zweiundzwanzig Gewehren in den Wald und gab Schüsse aus ihnen ab, sodass es der Polizei unmöglich war festzustellen, durch welche Waffe der Alte zu Tode gekommen war.

Mit Menschen fremdländischer Herkunft hat es Karl nicht so. Sie passen einfach nicht in das Bild, das er vor seinem geistigen Auge hat. Im Zentrum dieses Bildes befindet sich sein Stammlokal, in welches Ausländer niemals einkehren, und das soll, wenn es nach Karl geht, auch so bleiben. Schließlich wird der Boden dieses schönen Ortes jeden Tag von der ungarischen Raumpflegerin aufs Penibelste gekehrt.

Karl liest keine Bücher, aber er weiß dass es Schriftsteller gibt und dass diese schreiben. Gelegentlich nimmt er an kulturellen Veranstaltungen teil, zum Beispiel wenn der Kameradschaftsbund, der Karl selbstverständlich zu seinen Mitgliedern zählen darf, die Einweihung einer neuen Fahne zelebriert. Dann gibt es zu essen und auch zu trinken, und endlich tragen alle Anwesenden ihre Fahnen zu dem Tisch, auf dem die neue Fahne liegt, beugen sich über diese und loben mit schweren Zungen die Kunstfertigkeit, mit welcher das Ritterkreuz gestickt wurde. Da Karl im Gasthaus oft gesagt wird, dass er eine laute und schöne Stimme hat, lässt er diese gerne erklingen und bleibt im Vereinshaus, bis die Fahne weggeräumt ist und der gesellige, der musikalische Teil des Abends beginnt. Dann werden die schweren und blickdichten Vorhänge, die keinen Ton nach draußen dringen lassen und keinen Blick nach drinnen, zugezogen und Karl stimmt ein paar aus der Mode gekommene Lieder über geschlossene Reihen, die Untreue aller und die Insel Kreta an.

Er hat oft Zeit, großen Gedanken nachzuhängen. Er sinniert gerne über eine generelle Neuordnung des Staates Österreich unter der Führung von Generälen. So würde wieder Zucht getrieben und Ordnung einkehren. Wehrdienstverweigerer könnten, an den Pranger gekettet, beschimpft werden und die Grenzen würden dichtgemacht. Karl würde liebend gerne Dienst an der Grenze versehen, doch da er seinen Präsenzdienst nicht ableisten durfte, bleibt ihm diese hehre Aufgabe verwehrt.
Er wurde für untauglich erklärt, nie durfte er sich als Soldat fühlen. Seine Augen wären zu schlecht, hatte er seinen Eltern erzählt.
Die Jagdprüfung legte er mit Bravour ab, womit er das vernichtende Urteil der Militärpsychologin ad absurdum führte, dass er keinesfalls eine Schusswaffe in Händen halten sollte.

Karl ist ein guter Jäger. Jedes Mal, wenn er in sein Revier fährt, kommt er mit Beute zurück. Am liebsten erlegt er Habichte, doch da diese Raubvögel selten und außerdem schwer zu erwischen sind, muss er sich oft mit einem Falken oder Bussard zufriedengeben. Da er darauf achtet, dass nicht zu viele Beutegreifer, wie Füchse oder Dachse, in seinem Wald ihr Unwesen treiben, hat er zahlreiche Fallen ausgelegt, welche ihm einen schönen Ertrag an Fellen einbringen. So besitzt Karl acht Fuchskappen für die kalte Jahreszeit, welche seinen Kopf warmhalten, während eines seiner fünf Katzenfelle seinem Wanst wohlige Wärme spendet.

Karl isst für sein Leben gerne Schweinsbraten aus Bauchfleisch. Das Brechen der im Backrohr kross gegrillten Schwarte ist ihm Lebenselixier und Daseinsbestätigung gleichermaßen. Der austretende Saft lässt ihn auf Beilagen wie Reis oder Salat vergessen, und er bestellt sich oft eine zweite Portion Bauchbraten. Dieses Gericht lässt ihn die Mühe vergessen, die ihm das Streichen von kühlschrankkaltem Grammelschmalz auf sein Frühstücksbrot bereitet hat, und macht ihn zugleich sicher, sich eine solide Unterlage für den Abend zuzuführen. Hin und wieder isst Karl Gemüse, vor allem Essiggurken, die er auf ein Brot mit Hartwurst legt, oder Silberzwiebel, die er neben dieses legt. In der Zeitung liest er gerne die Reklame von Supermärkten, weil er weiß, dass seine bevorzugten Gemüsesorten oft verbilligt sind.

Karl ist kein begnadeter Sportler, dafür aber begeistertes Mitglied des Turnerbundes. Es bereitet ihm Freude zu sehen, dass sich bereits kleine Kinder für die Ideale des Turnvaters begeistern lassen. Sein Herz macht Freudensprünge, wenn seine Augen Knirpse beobachten, wie sie sich an den Geräten versuchen, ganz in weiß gekleidet, mit lediglich drei Buchstaben in Frakturschrift als Farbtupfer. Einmal im Jahr, beim Bergturnfest, feiern sich die Turner und Karl feiert mit. Nach dem Ende der Wettkämpfe, wenn die Sportlichen keine roten Wangen mehr haben, und die Backen von Karl und den übrigen Zuschauern immer roter werden, wenn die Sonne ihre letzten warmen Stahlen auf die Szenerie fallen lässt und die Polizisten weg sind, gefällt es allen, dass er seine Stimme ertönen lässt und die Lieder, die er beim Kameradschaftsbund so gerne singt, anstimmt, und alle stimmen sie ein.

In seinem Umfeld ist Karl ein geachteter Mann. Er wird für die Art, wie er sein Leben lebt, bewundert. Etwaige kritische Bemerkungen diesbezüglich wischt er weg wie Bier auf dem Tresen, das einem überschäumenden Glas entkommen konnte. Seine Überzeugungen sind kein Fels in der Brandung, vielmehr sind sie so stark in seinem Leben verankert wie eine hunderte Jahre alte Eiche auf einem Hügel, und wer sich daran reibt, gilt Karl als Borstenvieh. Es wäre sinnlos, Karl eine Falle zu stellen, er würde nicht hineinfallen, bloß hineintappen. Beim Inspizieren der Falle würde lediglich sein Fußabdruck auffallen. Karl wird auffällig, wenn er glaubt, er selbst sein zu dürfen, doch das fällt nicht auf.
Karl ist Österreicher.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 16105

Von Steinen und Bräuten

Seit dem Tag seiner Geburt war Alois Möstl seinem Nachbarn Franz Mierz in Feindschaft verbunden. Diese hatte familiäre Gründe, denn die Väter von Alois und Franz hassten einander mit einer Inbrunst, wie es sie im kleinen Dorf Gratwein, welches im Steirischen liegt, nie zuvor gegeben hatte und wie sie dort wohl auch nie wieder ihre Flammen lodern lassen wird.

Die Verwerfungen zwischen den Großbauernfamilien Möstl und Mierz haben ihren Ursprung in der Versetzung der Steine, die die Grenzen der weitläufigen Latifundien beider Sippschaften hätten markieren sollen, jedoch immer weiter in den Grund der Möstls wanderten. Dies taten die Grenzsteine vorzugsweise bei Nacht und von den Möstls unbemerkt, denn Wilfried Möstl, der Großvater von Alois, der für die Wahrung des Besitzstandes der Seinen verantwortlich war, verbrachte die Abende und ersten Nachthälften aus Prinzip im Gasthaus Zur Zunft, wo er sich mit großen Mengen Wein und Schwarzgebranntem von den Strapazen seiner Tage erholte.

Kam er durch Zufall dahinter, dass sein Grundstück kleiner und das seines Nachbarn wieder einmal größer geworden war, ohne dass er Geld dafür erhalten hatte, stattete er Josef Mierz, seinem direkten Widersacher, einen Besuch ab und teilte diesem in unflätigen Worten mit, dass es so aber nicht gehen konnte, und vergaß auch nicht zu erwähnen, dass ein paar seiner Maulschellen zwar rasch verabreicht wären, aber lange Zeit brennen würden.
Wilfrieds Sohn Heinrich brannten in der Tat oft die Wangen, was ihn dazu brachte, seinen Unmut über die rustikale Wesensart seines Vaters in eine bestimmte Bahn zu lenken, nämlich Gustav Mierz, den Vater von Franz, aus ganzem Herzen zu hassen, denn diesen machte er für das Unglück im Umgang seines Vaters mit ihm verantwortlich.

Als Heinrich und Gustav das Erwachsenenalter erreichten, ging es nicht mehr um das Versetzen von Grenzsteinen, denn dieses Thema war durch den allgemeinen technischen Fortschritt obsolet geworden. Das steirische Amt für Vermessung hatte nämlich nicht bloß elektrisches Licht in seinen Räumen erhalten, sondern auch einige Apparate, mit welchen die Außendienstmitarbeiter des Amtes, allerdings nur von den Strahlen der Sonne illuminiert, auf den Dezimeter genau ermitteln konnten, wie viel Grund und Boden jedem Gratweiner Bauern tatsächlich gehörte.

Der Streit zwischen den beiden Männern fußte auf den Folgen des in der Steiermark üblichen Brautraubes während einer Hochzeitsfeier, welcher einen prinzipiell humoristischen Charakter haben sollte und auch hat, nur eben nicht im Fall Möstl gegen Mierz.
Da der Großbauer Mierz nämlich der Ansicht war, dass die Braut seines Nachbarn und Standesgenossen Möstl genau der Stein war, der ihm zum ordnungsgemäßen Leben auf seinem Hof fehlte, gab er sie weder zurück noch frei, nachdem er sie geraubt hatte, und ehelichte sie drei Wochen nach ihrer Scheidung von Heinrich Möstl, welche vier Wochen nach der Eheschließung vollzogen wurde.

Mit dieser Handlung war die Feindschaft zementiert, da half es auch nichts, dass Heinrich doch noch eine Frau fand, nämlich Helga Schinagl. Diese war in Gratwein allseits bekannt, doch wurde sie bloß von den männlichen Dorfbewohnern geschätzt. Die Ehefrauen der Männer hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu ihr, und das aus einem einfachen Grund. Waren sie einerseits froh über die Tatsache, dass Helga ihnen die Mühen des ehelichen Vollzugs gerne abnahm, so hatten sie gar keine Freude damit, dass ihre Gatten sich penetrant nach Helgas Mandelölduschbad duftend neben sie legten und beim Einschlafen von Gratweins bester Matratze murmelten, ohne näher darauf einzugehen, ob sie diejenige meinten, auf der sie gerade lagen.

Alois Möstl und Franz Mierz wiederum lagen sich aus einem gänzlich anderen Grund in den Haaren. Als Gratweiner Bauern waren sie große Jäger, und wie auf ihren Höfen waren sie auch in ihren Jagdrevieren Nachbarn.
Alois fiel auf, dass der Bestand an schönen Rehböcken und kapitalen Keilern stetig abnahm, und insgeheim wusste er, wer dafür verantwortlich sein musste, doch fehlten ihm die Beweise, um Franz Mierz zur Rede stellen zu können.

Eines Tages saß er auf seinem Hochsitz und legte auf einen schönen Rehbock an, als dieser, von einem Blattschuss tödlich getroffen, zusammenbrach. Da das Projektil nicht aus seiner Büchse ausgetreten war, wusste er sofort, wer das Stück zur Strecke gebracht hatte. Alois lief zum Bock und wartete auf das Eintreffen von Franz Mierz.
Als der kam, wurde er von Alois äußerst ungehalten darauf aufmerksam gemacht, dass er gewildert hatte, denn er hatte ja keinen Jagdschein mehr.
Mierz klärte Möstl über die Tatsache auf, dass er zwar im Gefängnis in Graz gesessen hatte, doch da er seinen Vater lediglich erschlagen hatte, wofür nicht einmal nach dem steirischen Jagdrecht ein Jagdschein vonnöten war, hatte er seinen Schein beim Verlassen des Zuchthauses von dessen Direktor zurückbekommen.
Dass der Rehbock nicht in seinem Revier gefallen war, sondern knapp über dessen Grenze, konzedierte Franz Mierz zwar, doch sein wissender Blick auf den streng geschützten Habicht, den Alois Möstl auf der untersten Sprosse der auf den Hochsitz führenden Leiter abgelegt hatte, entschärfte die Situation.
Sie einigten sich dahingehend, dass Alois den Bock und Franz den Vogel bekam und über die Sache Stillschweigen bewahrt werden sollte.

Zwei Wochen nach diesem Vorfall fand eine revierübergreifende Treibjagd statt. Im Zuge dieses Ereignisses, und nachdem er mit Franz Mierz mit einem doppelten Schwarzgebrannten angestoßen hatte, wie es in Gratwein Brauch ist, sah Alois Möstl seine Chance gekommen, den jahrzehntelangen Streit seiner Familie mit den Mierz‘schen endlich zu begraben.

Nachdem er, als guter Weidmann, Franz Mierz einen Tannenzweig als letzte Äsung in den Mund geschoben hatte und bevor er sich entfernte, denn er wollte seinen Nachbarn nicht als seinen Abschuss deklarieren, sagte er: „Eigentlich habe ich dich gar nicht gekannt.”

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 16087

Der Jagderfolg

Ich saß vor dem Häuschen meiner Eltern und las eine Kurzgeschichte, die in einer Literaturzeitschrift erschienen war. Ich war so vertieft in die Erzählung, dass ich auf den Mann, der an unserem Gartentor lehnte, erst aufmerksam wurde, als er mir höhnisch zurief: „Ist ja klar: Der Schreiberling sitzt in der Sonne und lässt den Herrgott einen guten Mann sein!”
Ich blickte zum Tor und sah, dass ich von Alois Pöllhammer in meiner Lektüre gestört worden war. Ich legte das Magazin behutsam auf den Boden, dann sprang ich auf und und stürmte auf Pöllhammer zu.
„Was passt dir denn schon wieder nicht, Alois?”, rief ich. Heiß fühlte ich die Zornesröte auf meinem Antlitz.
„Mir passt alles, Michael”, sagte er mit ruhiger Stimme. „Ich habe mir gedacht, dass ich mal durch Gratwein radeln sollte, damit alle Eingeborenen mein neues Mountainbike bewundern können.”

Die Arroganz, die in seinen Worten lag, trieb mich zur Weißglut, doch unwillkürlich warf ich einen Blick auf den Drahtesel. Ich bin wahrlich kein Experte, was geländetaugliche Räder betrifft, doch erkenne ich ein teures Rad, und das von Pöllhammer war definitiv das teuerste, das ich je gesehen hatte.
„Na, Timoschek, was sagst du dazu?”, fragte er und sah mich herausfordernd an.
Ich sagte nichts.
Er begann zu sticheln.
„Mein Bike ist wohl besser als dein klappriges Puch Spezial, das du von deinem Vater übernommen hast, oder? Na ja, als erfolgloser Autor kann man sich eben nicht viel leisten.”
Damit hatte er recht, doch das störte mich nicht. Was mich jedoch störte, war der Knutschfleck, den er auf dem Hals hatte. Dieses Mal stammte nämlich von Sonja Schwaighofer, die Pöllhammer mir zwei Wochen zuvor ausgespannt hatte.
„Na, dann fahre ich wieder heim in mein schönes Haus zu meiner Sonja”, sagte er süffisant und fuhr davon.
Erst wollte ich beschließen, mich nicht aufzuregen, doch dann beschloss ich, es Pöllhammer heimzuzahlen, so erregt war ich.

Der Zufall wollte es, dass sechs Tage nach diesem Vorfall das jährliche Fest der Freiwilligen Feuerwehr in der Gratweiner Mehrzweckhalle stattfand.
Viele Menschen waren gekommen, auch Pöllhammer, und an seiner Seite Sonja Schwaighofer. Sie sah mich, kam auf mich zu und küsste mich zur Begrüßung auf die Wange. Er streckte mir seine Hand herablassend entgegen, und ich schüttelte sie mit meiner.
Ich stellte mich an die Bar und trank ein paar Biere mit meinen Freunden, und es hätte ein angenehmer Abend werden können, wäre Pöllhammer nicht auf die Idee gekommen, mich vor allen Anwesenden demütigen zu wollen.

„Da steht er, der Timoschek, unser Schreiberling!”, grölte er, trunken vom Obstler.
Ich war nicht mehr nüchtern, und da Steirerblut nun einmal kein Himbeersaft ist, geriet ich in Harnisch.
„Und da wankt er, unser Pöllhammer!”, gab ich nicht eben leise zurück. „Er befindet sich in dem Zustand, in dem wir alle ihn nur zu gut kennen.”
„Was willst du damit sagen?”, zischte er.

Die Marktmusikkapelle hatte aufgehört zu spielen, und so kamen immer mehr Menschen von der Tanzfläche an die Bar und wurden Zeugen unserer Konversation.
„Dass du ein Trinker bist, das will ich sagen!”
„Besser ein Säufer als ein armer Schlucker, der sich das Saufen nur zweimal im Monat leisten kann!”, rief er.
Ich errötete, ging aber dennoch auf seine Worte ein.
„Ja, ich bin arm. Aber du, Pöllhammer, bist auch nur durch den frühen Tod deines Vaters zu Geld gekommen”, gab ich zu bedenken.

Schlagartig war es still in der Halle, bloß das Geräusch der Bierzapfanlage war zu hören.
Sonja Schwaighofer hatte sich zu ihren Eltern gesellt und beobachtete Alois und mich aus angemessener Distanz.
„Das ist richtig, Timoschek, ich habe viel Geld geerbt - und weiter?”
„Du führst ein Leben in Saus und Braus, trägst die teuersten Anzüge, fährst die schnellsten Autos - doch am Anfang deines Reichtums steht ein Mord!”, rief ich.

Die Zapfanlage verstummte.
„Was sagst du da, du Gauner?”, rief er.
„Die Wahrheit, du Halunke!”, brüllte ich. „Wie war das denn mit dem Tod deines Alten?”, fuhr ich fort. „Ihr wart doch an diesem Tag, als er seinen Jagdunfall gehabt hat, zu zweit in eurem Revier!”
„Woher willst du das wissen, Timoschek?”
„Ich habe euch beobachtet.”
„Was?”, schrie er.
„Ich war Schwammerl suchen und habe gehört und gesehen, wie du mit deinem Vater wegen Geld gestritten hast. Und dann ist er gestorben.”
„Ich habe oft mit meinem Alten gestritten, das stimmt schon, aber nie wegen Geld!”
„Natürlich wegen Geld, Pöllhammer!”, brüllte ich. „Ein paar Tage, bevor du deinen Alten um die Ecke gebracht hast, hat er deine Saufschulden in sämtlichen Wirtshäusern bezahlt und den Wirtsleuten aufgetragen, dich nie wieder anschreiben zu lassen. Er hat auch zu jedem einzelnen Wirt gesagt, dass er dir kein Geld mehr geben wird, weil du immer alles, was er dir gibt, gleich versäufst oder nach Graz zu den Huren trägst!”
„Das ist eine Lüge, Timoschek!”
„Nein, das stimmt schon! Viele hier in der Mehrzweckhalle könnten das bezeugen, denn sie sitzen ständig im Gasthaus! Jedenfalls, nachdem du deinen Vater in eurem Jagdrevier erlegt hast, hast du sein Sägewerk schnell zu Geld gemacht und lebst nun in Saus und Braus.”
„Das war ein Unfall!”, schrie er.
„Dass sich zwei Schüsse aus deiner Flinte gelöst haben? Nein, mein Böser, das war bei Gott kein Unfall! Ich habe es ja gesehen: Dein Vater hat dir gesagt, dass er am nächsten Tag sein Testament ändern würde, und da musstest du eben handeln!”, rief ich.

Dann fühlte ich, dass es an der Zeit war, die doch etwas bedrückte Stimmung in der Halle aufzulockern, also stellte ich Alois eine Frage, um ihn daraufhin abzuklopfen, ob er ein guter Jäger war.
„Sag, Pöllhammer, hast du deinem Alten wenigstens die letzte Äsung zuteilwerden lassen? Hast du ihm einen Zweig in den Mund gesteckt? Ich bin nämlich davongelaufen, nachdem du ihn erlegt hast.”
„Ich habe ihn nicht erlegt, du Falott! Zwei Schüsse haben sich aus meiner Flinte gelöst, und er wurde das Opfer eines Unglücks!”
„Zwei Schüsse aus einer einläufigen Flinte”, stellte ich fest und blickte die Umstehenden an.
„Ein technisches Versagen, sonst nichts!”, zischte Pöllhammer.
„Natürlich handelt es sich um ein solches. Vor allem, wenn man eine Kipplaufflinte in der Hand hält!”

Ich musste unwillkürlich lachen.
„Die Polizei hat auch festgestellt, dass es ein Unfall war”, sagte er und sah mich triumphierend an.
„Natürlich hat sie das, Alois. War der damalige Postenkommandant nicht der Bruder des Vorarbeiters im Sägewerk deines Alten? Und konnten sich die beiden Herren nach diesem Unglück nicht ihre Häuser bauen, das eine mit einem Schwimmteich, und das andere sogar mit einer riesigen Voliere für Graupapageien?”
„Warum hast du mich nicht angezeigt, Timoschek?”
„Das hätte doch nichts gebracht, Pöllhammer. Es gibt in jedem Dorf die Gleichen, und es gibt die Gleicheren. Außerdem ist es um deinen Alten nicht schade.”
Alois Pöllhammer kam auf mich zu, verabreichte mir eine Ohrfeige, dann drehte er sich um, rief: „Ein Schreiberling eben - so einer erfindet gerne Geschichten!” und stürmte aus der Halle.

Ich rieb meine Backe und sagte zu den Festbesuchern: „Es tut mir leid. Ich wollte euch den Abend nicht verderben, aber das musste gesagt werden.”
Der Bürgermeister kam zu mir, klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Es ist, wie es ist.”

Dann kam Sonja Schwaighofer, küsste mich auf die nicht schmerzende Wange und flüsterte: „Pöllhammer wird bald kein Geld mehr haben, wenn er es weiterhin mit beiden Händen rauswirft. Dass er seinen Vater umgebracht hat, habe ich gar nicht gewusst, ehrlich. Na ja, ich wollte ihn morgen ohnehin verlassen und zu dir zurückkommen.”
Ich lächelte wissend und nahm sie zurück.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 16088

Aufgedeckt

Mitte der Woche im Café Bräunerhof. „Junger Mann“, fragte Carl Hofbauer den Kellner, „wo ist denn der Franz heute? Dienstfrei, oder was?“ Der Kellner kam langsam näher, mit einem Geschirrtuch ein Weinglas polierend. „Ja, wissen Sie nicht?“, fragte dieser mit ernster Miene. „Was ist passiert?“, Carl richtete sich neugierig auf. Der Kellner schluckte und räusperte sich, beinahe wie ein Prüfling, dann begann er stockend: „Am vergangenen Freitag – es war schon spät, da ist er gestürzt. Dort, beim Abgang – über die Treppe. Er hat noch gelacht. Zuerst haben wir geglaubt, es ist eh nichts. Aber dann – der Hofrat Meier war noch da – wir haben ihm aufhelfen wollen, aber er hat so gejammert, dass der Meier gesagt hat, da kann man nichts machen, und ich soll die Rettung anrufen. Das hab ich auch gemacht. Die sind gleich da gewesen – Oberschenkelhalsbruch, hat der Arzt gemeint. Sie haben ihn ins AKH gebracht.“ „Aber!“, sagte Carl und schüttelte mitleidig seinen Kopf. „Gestern früh – hat seine Nichte angerufen. Der Herr Franz – ist in der Nacht auf Sonntag – verstorben. Lungenentzündung dazubekommen und ...“
„Was?“ Carl erhob sich ganz langsam von seinem Sitz. „Was sagen S’?“ Carl starrte ins Leere. „Unser - Ober - Franz?“, flüsterte er, und setzte sich ebenso langsam wieder, so, als wäre er plötzlich um Jahrzehnte gealtert. Der Kellner trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Bringen Sie mir bitte – einen Kognak, Herr Rudolf!“, bat Hofbauer sanft, und starrte vor sich hin. „Sehr wohl“, antwortete der Ober und eilte davon, sichtlich erleichtert, von seiner unangenehmen Aufgabe entbunden zu sein.

Zwei Tage später. Josefstädterstraße, Ecke Stozzigasse. „Na alsdann! Jetzt hammas!“, rief Trafikant Hofer aufgeregt, als einer seiner Kunden eben um die Ecke bog, geradewegs auf Hofer zu.
Der konnte gerade noch ausweichen. „Na hallo, hallo!“, rief dieser erschrocken, „Sie rennen mich ja glatt über den Haufen, lieber Herr! Bleiben S’ ruhig! Wie is’ Ihna denn? Regn S’ Ihna net so auf!“
„Na hören Sie, jetzt, wo vielleicht die Russen wieder kommen, soll ich mich nicht aufregen?“
„Wer sagt denn, dass die Russen gleich kommen? Sie, übertreiben S’ nicht! Nur weil sich einer von denen nach Retzbach verflogen hat“, lachte Herr Huber.
„Also Ihren Humor möcht’ ich haben! Damals, im Sechsundfuffziger, da hat’s auch so begonnen. Und schon waren wir an der Grenze. Wissen Sie, was ich meine? Mobil gemacht haben wir. Heute Morgen – die aktive Truppe ist sofort in Alarmbereitschaft gesetzt, haben S’ das nicht gelesen? In den Kasernen ist alles abmarschbereit!“
„Ja, schon – aber, schau’n Sie, wir müssen uns ja ein bisserl wichtigmachen, sonst glauben die womöglich, es ist uns eh alles gleichgültig, wir sind ja ohnehin neutral, nicht? Natürlich müssen wir ein bisserl mit dem Säbel rasseln, aber doch nur zum Schein. Was wolln S’ denn mit unsere paar Mandln? Die Rettung können S’ hin schicken. Vielleicht gibt es ein paar Verletzte oder so. Aber glauben Sie mir, Herr Hofer, bei unserem Status, international gesehen versteht sich, traut sich kein Russ ungestraft über den Zaun spucken. Darauf können S’ Gift nehmen!“

Über diese unverschämte Relativierung blieb Hofer beinahe die Luft weg vor Empörung. „Ja sind Sie noch bei Trost? Ah, Sie glauben, wir haben unser Heer nur zum Spaß, was? Da oben ein bisserl die Geräte durchlüften fahren, oder? Schauen, dass uns der Kader nicht verrostet, wie? Sie möcht ich sehen, wenn Sie alles zusammenpacken müssten, warten Sie nur! Wie damals, im Vierundvierziger! Unsere Bundesregierung weiß sehr gut, was zu tun ist, glauben Sie mir! Das war ganz richtig, dass man die Soldaten hinschickt. Und nicht nur zum Repräsentieren! Merken Sie sich das!“

Huber musste schmunzeln. Er wollte den Hofer ja nicht unnötig strapazieren, also lenkte er reuig ein: „Sie haben ja Recht. Es ist empörend, was sich die Russen da wieder geleistet haben. Die Welt hat über Nacht ihr Gesicht verändert, wirklich! Unter diesem Eindruck - dieser, dieser Invasion - kann man nur erstarren. Ein Überfall ist das!“, sagte er. „Ein Überfall, sehr richtig!“, bestätigte Hofer.
„Wer hätte das gedacht?“, fragte sich Herr Huber, „jetzt haben sie uns den Zeiger der Geschichte wieder um zwölf Jahre zurückgedreht, könnte man meinen.“
„So is’ es!“, sagte Hofer und presste resigniert seine Lippen aufeinander, wobei sein stacheliges Kinn, mit den weißen Bartstoppeln, ein wenig zitterte.

„Wieso hat denn der Breschnew jetzt auf einmal so die Panik?“, fragte der Trafikant, „ich denk, durch wen will er denn den Dubcek und den Svoboda ersetzen?“
„Weiß nicht“, sagte Herr Huber, „das alles hat so den Modergeruch einer Scheinheiligkeit, dem Einmarsch eine gewisse Legalität verleihen zu wollen. Das kennen wir ja zur Genüge aus Moskau. Wir zwei sind ja lange genug auf dieser Welt, gell, Hofer?“
„Ja, ja! Und ich hab gedacht, dass der Kommunismus in den letzten Jahren vielleicht ein bisserl menschlicher und liberaler geworden ist. Einen Schmarren, lieber Herr Huber! Denen ihre Schwäche stützt sich immer noch auf Panzer und Kalaschnikows! Stimmt’s oder hab ich Recht, Herr Huber?“ Huber wiegte nachdenklich sein Haupt und beobachtete einen Hund, der soeben auf dem Gehsteig sein Geschäft verrichtete, während sein Frauerl völlig unbekümmert in die Luft blickte.

„Und wer wird die Sauerei da wegräumen?“, schrie  Huber sie völlig unerwartet an.
Die Hundebesitzerin zuckte erst zusammen, fasste sich aber sofort und konterte: „Kümmern Sie sich gefälligst um ihre eigenen Sachen, Sie Wichtigtuer!“, und zog mit ihrem Hund ab.
„Also Leut’ gibt’s!“, empörte sich nun auch der Trafikant.

Huber war fassungslos. „Unerhört, was?“, meinte er zu Hofer, „und unsereins steigt dann hinein! Die Josefstadt – total verschissen, Hofer! Ein einziges Hundeklo! Und die Politiker schau’n nur blöd. Machen tun sie nichts dagegen. So was! Aber – ich hab gehört, in Prag und Pressburg schießt man auf Zivilisten. Jetzt kommt’s natürlich darauf an. Sie haben ganz Recht gehabt vorhin, ich seh das ja auch so. Wir müssen jetzt eine entschlossene, besonnene und auf die Bewahrung der Unabhängigkeit und Neutralität ausgerichtete Haltung einnehmen. Ganz klar! Dass die alles vorbereiten, was zur Tradition unseres neutralen Landes gehört, damit alles gewahrt bleibt, Sie verstehen, auf dem Gebiet des Asylrechtes und der Hilfsbereitschaft, ist ja in Ordnung. Das wird immer allzu leicht vergessen, wissen Sie? Und einigen ist das überhaupt egal! Gott sei Dank gibt’s noch Grenzen und Zäune, was?“

Hofer nickte. „Natürlich erwarten wir, dass unsere Leute drüben in Sicherheit sind. Oder dass man ihnen ihre Ausreise ungehindert gewährleisten muss, nicht? Und wir mischen uns dafür eben nicht in die Angelegenheiten anderer Staaten. So ist das!“
„Ja“, sagte Hofer, „wir schauen nur zu.“ Huber sah ihn für kurze Zeit verständnislos an. „Na, was wollen Sie denn dagegen machen?“, fragte er. „Ja, eh!“, meinte Hofer.
Sie gingen langsam in Richtung Trafik. „Ich muss wieder. Mein Herr Sohn da drinnen wird schon nervös sein, weil ich so lange weg bin“, lachte Hofer. „ Ja? Na, hoffentlich hat der sowjetische Hubschrauberpilot wieder zurückgefunden, sonst wird er ein paar Schwierigkeiten kriegen“, meinte Herr Huber abschließend, „und es geht ihm so wie den verschleppten Reformkommunisten – ab nach Sibirien!“, lachte er, „in guter alter Kommunistenmanier! Ha ha!“

Vor dem Verteidigungsministerium am Franz-Josefs-Kai hielt eine schwarze Mercedes-Limousine. Der Chauffeur, in Heeresuniform, niedrigere Charge, kaum dreißig, war bemüht, so rasch er konnte auszusteigen, um das Fahrzeug herum zu eilen und blitzschnell die rückwärtige rechte Türe aufzureißen. Haltung angenommen, mit der Rechten zackig salutierend. Aus stieg ein graumelierter Mittfünfziger im Range eines Oberst, der lässig dankte, indem er mit zwei Fingern an den Rand seines Kappenschildes tippte und, eine schwarze Ledermappe unter den Arm geklemmt, die Treppen zum Ministerium hinaufschritt. Der Chauffeur war inzwischen längst wieder eingestiegen und um die Ecke in Richtung hauseigener Garage abgebogen.

Der Oberst bestieg den Paternoster und fuhr in den dritten Stock, die Ebene des Ministerbüros. Zwei Ordonanzen schlugen die Hacken zusammen. „Geh’n S’, melden S’ mich dem General“, nasalierte der Oberst gelangweilt einem von beiden zu. „Jawoll, Herr Oberst!“ Er machte kehrt und klopfte an die hohe Zweiflügeltür. „Herrrein!“, hörte man von drinnen. Der Gefreite trat ein. Hörbares kurzes Gemurmel. Der Gefreite kam wieder heraus auf den Flur. „Der General lässt bitten, Herr Oberst!“, schnarrte er, Nase nach oben, Blick gerade aus, Kopf in den Nacken geworfen. „Is’ scho’ recht, junger Mann“, antwortete der Oberst und trat ein.
Man hörte Absätze aneinanderknallen. Drinnen: „Servus Ferdinand! Was ist? Wo brennt’s?“, fragte der General seinen alten Freund. „Servus. Wie geht’s dir? Hast was g’hört vom Schorschi? Der Gute ist angeblich geschieden, hab ich gehört. So eine liebe Frau, die Hanni. Na, ich sag’s ja, so eine Ehe ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.“ „Na, das kannst laut sagen. Und du, sag einmal, wo warst du denn am Samstag? Warum bist nicht nach Baden gekommen? Die Partie war doch lange ausg’macht?“ „Weißt, Fritz, ich war ein bisserl derangiert, vom Freitag noch. Roulette mit dem Oberstleutnant Langstein, du weißt schon, der von der Sophie“, antwortete der Oberst. „Die hübsche Blonde? Die Tochter vom Konsul Müller?“
„Ja, genau die! Siehst du, das merkst du dir“, lachte der Oberst und sah sich im Zimmer ein wenig um. „Noch ist ja nicht alles verloren mit dir, ha ha! Willst mir nichts anbieten, Fritz? Ich hab so eine Migräne! Den ganzen Tag über schon.“
„Verzeih bitte meine Unaufmerksamkeit. Aber hier herinnen - da vergisst sehr schnell deine gute Kinderstube, verstehst? Was willst denn haben? Ich kann die Ordonanz um ein Sekterl in die Kantine schicken, wenn’s d‘ magst?“ „Geh, das wär lieb von dir. Bitte, ja?“

Der General klingelte. Es klopfte. „Herein!“ Der Gefreite von vorhin nahm Haltung an, Kopf nach hinten, in Erwartungshaltung. „Sind S’ lieb, und gehen S’ mir in die Kantine zur Frau Prihoda. Ich lass um einen Pommery bitten, brut, wenn sie hat. Und - lieber Freund, nehmen Sie bitte zwei Sektglasl mit, ich hab ja gar nichts da derzeit!“ Der Gefreite krächzte sein „Jawoll“ und eilte davon.

„Setz dich doch, Ferdi. Erzähl! Was ist? Wenn du schon einmal da aufkreuzt, gibt es sicher einen besonderen Anlass, stimmt’s?“, forderte ihn der General auf. „Da hast auch wieder Recht. Pass auf, es gibt da eine unangenehme Sache, mit so einem Zeitungsreporter. Hat sich mit internen wehrpolitischen Angelegenheiten befasst. Kein Mensch weiß, woher er die Informationen hat. Jetzt ist die Sache nun einmal draußen und der Minister hat Wind davon bekommen. Ich will ja nix sagen, aber wenn’s d ’ mich fragst, steckt der mitten drinnen in dem Schlamassel“, erklärte der Oberst. „Was du nicht sagst?“, tat der General erstaunt. „Und worum geht’s eigentlich? Hat er sich was zu Schulden kommen lassen?“, fragte er. „Bis jetzt noch nicht. Aber wer weiß? Rein vom Gefühl her würd’ ich sagen, es riecht nach Landesverrat.“
„Für den Minister?“
„Nein, für den Journalisten“, betonte der Oberst.

Es klopfte. Die Ordonanz brachte Sekt und Gläser auf einem silbernen Tablett. „Bitte sehr, Herr General. Und die Frau Prihoda lässt schön grüßen und schickt eine paar Sachen zum Knabbern mit!“, sagte der Gefreite und stellte Getränke, Gläser und ein Schüsselchen mit Salzgebäck artig auf einen kleinen Tisch vor der alten Ledercouch. „Jö, dös is’ aber lieb von ihr. Na, ich geh dann eh noch rüber. Zigaretten sind mir auch ausgegangen. Ich dank schön, junger Mann. Können S’ wegtreten“, sagte der General. „Jawoll, wegtreten!“, wiederholte der Soldat zackig, und war zur Tür hinaus.

„Schau, Ferdi! Is’ sie nicht lieb, die Prihoda? Die mag mich ein bisserl, das hab ich eh schon lang bemerkt. Hübsch is’ sie auch noch. Nicht mehr ganz jung, aber knackig! Was, Ferdi?“ Der General kicherte. Der Oberst zündete sich eine Zigarette an.
In der Zwischenzeit machte sich der General am Korken des Pommery zu schaffen. Es knallte. Vorsichtig füllte er beide Gläser, ein jedes nur bis zum ersten Drittel. „Prost Ferdi!“ „Prost Fritz!“ Das erste Glas tranken sie ex. Dann wurde nachgeschenkt. „Also, was is’ jetzt mit dem Journalisten?“, wollte der General weiter wissen. Der Oberst blies den Rauch lässig aus seinem Mundwinkel in die Luft. „Schau, Fritz. Im Arsenal wollen sie die alten amerikanischen Geschütze loswerden. Du weißt schon, die alten SM 43iger. Das hab ich auch schon länger gewusst.“ „Wer tritt als Verkäufer auf?“, fragte der General. „Das is’ es ja eben. Ich weiß es nicht, und das Mil-Kommando weiß auch von nix. Mir kann das ja gleich sein wie nur was. Trotzdem! Blöd is’ nur, dass irgendein Informant aus unseren Reihen die G’schichte an die Journaille weitergegeben hat. Und ich soll das untersuchen. Als ob unsereins sonst nichts zu tun hätte.“ „Also wirklich! Wozu haben wir denn den Abwehrdienst? Sollen die sich doch damit die Finger verbrennen.“

Der General sah eine kurze Zeit zum Donaukanal hinunter und beobachtete ein vorbeifahrendes Ausflugsschiff. „Dort an Deck, in der Sonne liegen, Ferdi, das wär jetzt fein, wie?“, sagte er. „Fahrt eins vorbei?“, fragte der Oberst. „Ja! Die Vindobona. Kann man halt nix machen. Prost, Ferdi! Um halb vier geh ich, dass steht fest. Was willst du jetzt machen?“ Der Oberst ließ sich den Champagner schmecken und meinte dann schließlich: „Na ja, ich werd einmal im Planungsstab fragen, wer ihrer Meinung nach eventuell infrage kommen könnte, tät ich einmal sagen.“ „Sehr richtig!“, bestärkte ihn der General, „ich glaub, das ist das G’scheiteste. Und die sollen das an das Kommando melden und der Rest, Ferdi, der wird sich schon finden, nicht wahr?“ „Hoffentlich ist das so einfach, wie du dir das vorstellst. Wenn der Minister drinnensteckt, dann möchte ich nicht in seiner Haut ...“ Der Oberst stockte. „Hört man uns da draußen?“, fragte er. „Geh! Wie kommst denn da drauf? Sind ja alte Türen. Die halten dicht!“, lachte der General.

Es konnten drei Wochen vergangen sein, auch vier. Dienstagvormittag. Sollten die Blicke zufällig auf den Parkettboden vor Hans Kleins Bett in dessen Schlafzimmer gefallen sein, ließen sich hier ganz leicht offensichtlich hastig ausgezogene, weibliche Kleidungsstücke erkennen, wie etwa eine eilig hinabgerollte Strumpfhose, in Manier einer Schlangenhäutung, mit dazugehörigem Slip samt Einlage, eingebettet in ausgewaschene Jeans, einem friedlichen Nest gleich, aus dem soeben geschlüpft worden war, wobei sich das Küken offensichtlich direkt in das geräumige Doppelbett des Herrn Klein verirrt hatte. Daneben kleinnummrige Tennisschuhe, nicht mehr so ganz blütenweiß, aus Leinen, nebst einem knallgelben T-Shirt mit Mick-Jagger-Kopf -Aufdruck, unter dem die Worte standen „Make Love, Not War!“
Über dem Bett hing ein vielversprechendes Plakat mit einer spärlich angezogenen jungen Dame darauf, auf dem gleichfalls ein Spruch stand, allerdings etwas länger als jener auf dem T-Shirt: Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment! Daneben hing ein Plakat mit der Silhouette des Kopfes von Che Guevara. „Sag mir, dass du mich liebst!“, säuselte eine verschlafene Stimme neben Hans Kleins Ohr. Klein zog die Bettdecke über seinen und den Kopf des jungen Mädchens. „Jaaa! Total, echt!“, seufzte er, woraufhin seine Hände offensichtlich erfolgreich, im Schutz der Daune, nach ganz bestimmten Stellen ihres verführerischen Körpers zu suchen begonnen hatten, wie mühelos den anfangs noch hysterisch quietschenden, schon bald aber sich eher lustvoll steigernden Seufzern der jungen Dame zu entnehmen war, die sich nach und nach unter Kleins infernalisches Bariton-Geächze zu mischen begonnen hatten.

In der Folge entstand bald darauf ein Gewühl, welches in scheinbar qualvoll ansteigender, dann auch wieder abfallender Intensität Ekstase signalisierte, die wohl eine gute dreiviertel Stunde oder auch länger gedauert haben mochte, als plötzlich die Türglocke schrillte. „Wer is’n das?“, wunderte sich Klein und hielt in einer eben erst heftig ausgeführten Bewegung jäh inne. „Bitteee!“, hauchte die Stimme unter dem Bettzeug flehend, „nicht aufhören – jeeetzt!“ Hans wurde unruhig. Es läutete abermals. Diesmal länger. „Verdammt!“ Hans kroch aus dem Bett, raffte seinen Schlafrock zusammen, schlüpfte ungeschickt hinein und eilte ins Bad. Draußen läutete es wie verrückt. „Aufmachen! Herr Klein? Sind Sie zuhause? Machen Sie auf! Staatspolizei! Öffnen Sie!“
Dann wurde an die Tür gepocht. Wieder schrillte die Glocke. Hans wurde mulmig in der Magengegend. Was wollte die Staatspolizei bei ihm? Weswegen? Falschparken konnte es nicht sein. Ausgeschlossen! Hans eilte zur Tür. Die Polizisten trommelten wie verrückt. „Ja, ja! Ich komm ja schon. Sie schlagen ja die Tür ein!“, rief Hans und öffnete. „Sind Sie Johann Klein?“, fragte ein Staatspolizist in Zivil. „Ja, ja. Bitte?“ „Zieh’n Sie sich an! Es liegt ein Haftbefehl gegen Sie vor!“ „Was?“ „Fragen S’ nicht lang, zieh’n sie sich an und kommen S’ mit!“, sagte der Beamte forsch. „Sofort, gleich“, antwortete Hans leise und lief ins Schlafzimmer. „Annemarie! Ich bin verhaftet!“, keuchte er und zog sich hastig die Hose an. „Spinnst du, oder was?“, fragte das Mädchen, wobei sie Hans ungläubig ansah. „Los! Aufstehen. Komm, komm, komm! Du musst weg!“

Hans hatte nicht bemerkt, dass die Beamten längst im Flur standen. Es klopfte an der Schlafzimmertüre. Die beiden fuhren erschrocken zusammen. „Hausdurchsuchung! Wer sind Sie denn?“, fragte der mit der Igelfrisur. „Annemarie ...“„Sind Sie die Gattin?“ „Äh, nein ...“, „Aha! Dann raus, aber ein bisschen dalli, ja?“ „Ich geh ja schon“, sagte Annemarie verstört und zog sich hinter dem Kleiderschrank an. „Darf man fragen, wie alt Sie sind, Fräulein?“, fragte derselbe noch einmal. „Neunzehn“, antwortete Annemarie. „Da schau her! Haben wir einen Ausweis dabei?“ „Ja, ja, sicherlich. Studentenausweis. Hier!“ Sie reichte dem Polizisten den gelben, leicht zerknitterten Karton. Dieser warf einen Blick drauf. „Na, zum Studieren kommen Sie wohl nicht so viel, was?“, bemerkte der Beamte zynisch, und gab ihr den Ausweis zurück. Sie verabschiedete sich von Hans und schlug die Tür hinter sich zu. „Fertig, Herr Klein?“, fragte der mit der Igelfrisur. „Ja.“ „Dann setzen Sie sich einen Augenblick hier hin. Wir machen jetzt eine Hausdurchsuchung“, sagte er und zeigte Hans den schriftlichen Befehl. „Das können Sie nicht machen! Das ist ja unerhört!“, rief Hans und sprang auf. „Sitzenbleiben, sonst lernen S’ mich kennen! Wir können auch ganz anders, verstehen Sie, lieber Herr?“, drohte der Polizist.

Gleichzeitig begannen vier Beamte, Kleins Wohnung von unten nach oben zu durchwühlen. Schubladen wurden herausgezogen, Papiere durchforstet, Schränke geöffnet und untersucht. Hin und wieder landete ein Schriftstück in einem mitgebrachten Karton. „Ah, da schau her! Der Herr Redakteur liest Playboy und solche Sachen!“, lachte einer von ihnen. „Seit wann kann man denn das lesen?“, scherzte ein anderer. Hans kochte innerlich vor Wut. Aber es half nichts. Da musste er durch. Nach einer halben Stunde waren sie offensichtlich fertig. „Nichts zur Sache gefunden, Herr Major!“, meldete einer der Polizisten. „Gut. Herr Klein, wir können gehen!“

Sie versperrten die Türe, und verklebten sie mit einem Siegel. Vis-à-vis steckte die Nachbarin neugierig den Kopf zur Türe heraus. Hans schnitt ihr eine Grimasse. Dann gingen sie die Treppen hinunter zu den Fahrzeugen, die am Gehsteigrand parkten. Hans Klein wurde auf einen Rücksitz geschubst, links und rechts je ein Beamter, wie bei einem Schwerverbrecher. „Vielleicht legen Sie mir noch Handschellen an, was?“, ärgerte er sich. „Können S’ haben, wenn Sie wollen“, sagte einer von ihnen ruppig, „ich hab rein zufällig welche dabei!“ Dann fuhren sie ab.

Etwa zur selben Zeit in einer Kaserne im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Ein VW-Variant Kombi der Militärstreife näherte sich dem Wachposten. Ohne besondere Formalitäten ging der Balken hoch. Der diensthabende Wachsoldat stand stramm und salutierte. Das Fahrzeug führ in den rückwärtigen Hof der Kaserne und hielt an jenem Platz, wo zwei militärgraue Blechbaracken standen. Zwei Polizisten stiegen aus. Weiße Schirmmützen, weiße Lederriemen und Pistolentaschen, Armbinden der Militärstreife - und gingen in die zweite Baracke. Der dort sitzende Korporal vom Dienst sprang wie von einer Tarantel gestochen auf. Eine Kaffeeschale auf seinem kleinen Tischchen kippte um. Der Kaffee ergoss sich auf die Standesliste und tränkte sie gelbbraun. „Melde – Wehrmann Dunst als KVT – 2. Kompanie, 1. Zug“, stotterte der junge Waldviertler, dem allein schon beim Anblick der Militärpolizisten die Luft weggeblieben war, ganz zu schweigen von den Geschichten, die sich um die Militärstreife rankten, und von denen er gehört hatte. „Alle auf ihren Dienststellen – bis auf den diensthabenden Unteroffizier!“, fügte er hinzu, kreidebleich.

Einer der beiden Polizisten grinste. „Jetzt können S’ die Listen noch einmal schreiben, was?“ Der Rekrut war verunsichert. Sollte er lächeln? Oder gar schon bequem stehen? Nein, er blieb bei seiner starren Haltung. Man konnte ja nicht wissen. „Wo ist der Spieß?“, erkundigte sich der andere. „Hinten, in der Kanzlei“, verwies ihn der Soldat, schon etwas erleichtert. Der Polizist bedankte sich. Sie gingen nach hinten. Offizierstellvertreter Weiß hatte sie kommen hören und stand schon auf dem asphaltierten Flur. Auch er grüßte sofort militärisch, etwas verunsichert vielleicht, und nicht ganz so zackig wie der Jungmann hinter seinem Tisch, aber immerhin. „Kommt’s ihr zu uns?“, fragte er auch gleich, um ihnen zuvorzukommen. „Servus, Weiß“, grüßte der eine, „ist der Oberleutnant Kosazky anwesend?“ „Ach der, nein. Soviel ich weiß, müsste er in seiner Dienststelle sein. Aber wart einmal, der hat heute OVT. Die Übergabe ist jetzt um halb. Eigentlich sollte er schon da sein. Ich schau gleich.“

Weiß lief zum letzten Zimmer der Baracke, drehte aber gleich wieder um, denn plötzlich war ihm eingefallen: „Er war ja im Ministerium heute, das weiß ich bestimmt!“, teilte er ihnen mit, völlig außer Atem. „Danke“, sagte der eine, „warten wir eben hier bei dir auf ihn. Gibt’s einen Kaffee?“ „Kaffee? In der Küche. Ordonanz!“, brüllte er auf den Gang hinaus, „Dunst, Sie Depp! Holen S’ zwei Kaffee aus der Kantine. Und ja nichts ausschütten! Verstanden?“ „Jawoll!“ Der junge Mann eilte über den Kasernenhof in Richtung Küchengebäude. „Was? Den aus der Blechkanne? Habt’s ihr keine Espressomaschine da?“, fragte der Oberwachtmeister enttäuscht. „Tut mir leid! Ist nicht bewilligt worden. Unser Chef hat eine beantragt. Aber – ist leider nicht bewilligt worden.“ „Vielleicht ist er nicht gut angeschrieben beim Wirtschaftler?“, lachte der Polizist, „euer Oberstleutnant? Wundern tät’s mich nicht, was, Eder?“ Der andere nickte verständnisvoll und grinste.

Offizierstellvertreter Weiß hob nur seine Schultern und machte eine Miene, als ob er überhaupt nicht wüsste, was die beiden meinten. In diesem Augenblick ging die Türe zur Baracke auf. Oberleutnant Kosazky eilte in Richtung Dienstzimmer den Gang entlang. Als er an der Kanzlei vorbeikam, verstellten ihm plötzlich die zwei Militärpolizisten den Weg. „Oberleutnant Kosazky?“, fragte der eine. „Ja?“ „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie ...“, der Vizeleutnant stockte, er räusperte sich, „verzeih’n Sie, Herr Oberleutnant, wir haben Befehl, Sie mitzunehmen.“ Kosazky zog die Brauen hoch. „Was sagen S’ da?“ „Wir müssen Sie – äh, in Gewahrsam nehmen und dem Generalmajor Hohenegg vorführen.“ „Und darf ich auch erfahren, worum’s geht?“, fragte der Oberleutnant, sichtlich nervös. „Tut mir Leid. Das wollen Ihnen die Herren selber sagen. Ersuche höflich, dass Sie Ihre Sachen gleich mitnehmen. Und ...“, er griff nach Kosazkys Aktentasche, „die muss ich leider beschlagnahmen. Vorschrift!“

Offizierstellvertreter Weiß stand hinter den beiden Militärstreifenpolizisten und hob und senkte in einem fort seine Schultern, so, als wollte er bedauern und zeigen, und dass er nichts dafür konnte, und dass alles so plötzlich gekommen war. Kosazky warf seinen Kopf stolz in den Nacken und wollte seinen Weg in Richtung Dienstzimmer fortsetzen. Die beiden Polizisten folgten ihm. „Sie warten hier!“, befahl er streng, „das wär ja noch schöner.“ Die beiden schreckten zurück. „Komm, Eder, wir trinken derweil den Kaffee“, sagte der Vizeleutnant gedämpft. Sie kehrten um. Soeben brachte Wehrmann Dunst zwei Tassen Kaffee. „Bitte sehr!“, sagte er und stellte sie auf den Schreibtisch. Weiß wollte protestieren, da saßen die Polizisten bereits am Tisch und bedienten sich. „Dankeschön, junger Mann!“, sagte Oberwachtmeister Eder. Der KVT kehrte zufrieden wieder an sein Tischchen zurück, und versuchte umständlich, das durchtränkte Standesführungsblatt zu trocknen. Schließlich war Kosazky zum Abmarsch bereit. „Gehen wir!“, sagte er trocken.

Die Militärstreifen-Männer hatten ausgetrunken und erhoben sich. Gemeinsam gingen sie nach draußen, wo das Fahrzeug stand. Eder schaltete das Blaulicht ein. „Drehn S’ das ab!“, befahl Kosazky, „wir sind ja hier nicht in Chicago!“
Nachdem die Wohnung Oberleutnant Kosazkys ebenso durchsucht worden war wie die des Redakteurs Hans Klein, kam es einige Wochen später im Straflandesgericht bereits zu ersten Verhandlungen. Verteidiger Wolfgang Braun ging mit den Anklägern ziemlich hart ins Gericht. Unter der Anwesenheit Kleins, Kosazkys und dessen Verteidiger, wie auch von zahlreichen Angehörigen von Militär und Presse sagte er: „Und ich meine, verehrte Anwesende, das, was hier passiert, ist ein schwerwiegender Eingriff in die Freiheit der journalistischen Berufsausübung seitens der Behörden! Faktum ist nun eines: Ein Journalist hat sich ganz offensichtlich mit wehrpolitischen Angelegenheiten beschäftigt und äh - einen brisanten Artikel verfasst. Daraufhin wurden Pressepolizei, Staatspolizei, Staatsanwaltschaft und sogar der militärische Abwehrdienst auf ihn angesetzt.

Man hat den Informanten ausfindig gemacht. Auch gut. Das hat dem Militär intern sehr geschadet. Das sehe ich auch ein. Was ich nicht einsehe, ist, dass man beiden Herren in einer Art zugesetzt hat, die, kann ich nur sagen, menschenunwürdig ist! Jawohl! Menschenunwürdig! Man hat sie aus ihren Dienststellen geholt ...“, „Ja, aus dem Bett!“, rief einer der Zeugen, ein Staatspolizist. „Ruhe!“, schnitt ihm der Richter das Wort ab. „... sie in ein Einsatzfahrzeug verfrachtet und dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Das soll doch wohl ein Witz sein?“ Der Verteidiger war noch lauter geworden. „Je sechs Mann haben die Wohnungen der beiden Angeklagten durchsucht. Auch den Landsitz des Herrn Oberleutnant! Und die Wohnung von Herrn Kleins Eltern. Peinlich, sowas, finden Sie nicht?“ Der Verteidiger schnäuzte sich.

Die Anwesenden unterhielten sich leise. „Ruhe!“, forderte sie der Richter auf, „Herr Verteidiger, fahren Sie fort!“ „Zwei Tage später hat man die beiden fünf Stunden lang verhört. Klein hat man nicht einmal gestattet, in seiner Dienststelle anzurufen, damit er sich entschuldigen konnte. Herr Oberleutnant Kosazky unterliegt in seinem Vorgehen als Informant selbstverständlich der Dienstaufsichtsbehörde, das ist mir schon klar. Ich finde es nur kurios, verehrte Anwesende, dass die wahren Urheber dieser Angelegenheit heute nicht zu unserer Verfügung stehen können. Das sind – nämlich der Herr Verteidigungsminister und noch ein paar sehr prominente Persönlichkeiten!“, donnerte der Verteidiger.

Im Saal wurde es laut. „Ruhe!“, rief der Richter abermals und griff zum Hammer. Der Verteidiger ergriff abermals das Wort. „Wir sind ein neutrales Land. Oder etwa nicht? Wie kommt es, dass sich Politiker und Militärs dieses Landes am Waffengesetz vergehen? Wo sind hier die wahren Schuldigen, die in dieser Sache zur Verantwortung gezogen werden müssten, Herr Rat?“, er blickte den Richter fragend an. „Ich teile vollkommen Ihre Ansicht“, sagte der Richter. „Nun verstehe ich auch die Übereifrigkeit des Verteidigungsministeriums“, sagte der Verteidiger etwas gemäßigter als vorhin, „ damit wollte man einer bereits geahnten Vorverurteilung wohl zuvorkommen, wie? Da hat man Herrn Klein ganz einfach der Ausspähung bezichtigt! So einfach ist das. Ihn hat man stundenlang verhört, unter erschwerten Bedingungen. Es ist an der Zeit, und ich bin längst dafür, sich in dieser Angelegenheit dringend an die Öffentlichkeit zu wenden, meine Herren von der Presse!“, sagte er zu den Reportern gewandt.
„Die Vorgangsweise der Behörden, die sich vor allem gegen das grundlegende Recht der Wahrung des Redaktionsgeheimnisses und den Schutz der journalistischen Informationsquelle gerichtet hat, ist hiermit entschieden zurückzuweisen! Handelt es sich dabei doch immerhin um die Grundsäulen der journalistischen Arbeit! Wer an ihnen rüttelt, öffnet Türen für die Farce einer Rechtsprechung, die in einer Demokratie nichts zu suchen hat! In diesem Sinne schlage ich daher vor, in erster Linie den Paragraphen über die Ausspähung als nicht geeignetes Mittel im Sinne der Pressefreiheit zu behandeln und plädiere in logischer Konsequenz seiner Unanwendbarkeit für die Entlastung meines Klienten. Ich danke Ihnen, meine Herren!“, schloss der Verteidiger und setzte sich erschöpft, Schweißperlen auf der Stirn.

Das Gericht zog sich zur Beratung zurück. Nach einer halben Stunde war man zurück und verkündete das Urteil. Oberleutnant Kosazky und Hans Klein wurden beide freigesprochen. Die Justizbehörden stellten das Verfahren ein. Kosazky fasste seitens seiner Dienststelle ein Disziplinarverfahren wegen unerlaubter Einsichtnahme eines Aktes aus, wurde jedoch nicht degradiert. Hans Klein wechselte bald danach zu den „Nachrichten“, und entging so dem jämmerlichen Ende der „Kleinen Österreichischen“.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 16078

Bamboo

Was hat die Schlacht bei Mogersdorf mit Bambus zu tun, könnte man fragen. So direkt gesehen – eigentlich nichts. Und doch – ich werde versuchen, ob ich nicht doch eine gewisse Chronologie in die ganze Sache bringen kann.

Man schrieb das Jahr, nicht 1664, nein, sondern 2008, als ein lieber Freund auf Drängen seiner geliebten Gattin, der besten Ehefrau von allen (dieser Begriff dürfte von Ephraim Kishon rechtlich geschützt sein, aber mein Freund verwendete ihn trotzdem, es könnte doch durchaus sein, dass es mehrere beste Ehefrauen von allen gab) sich dazu überreden ließ, einen Tagesausflug nach St. Gotthard, genauer gesagt nach Szentgotthárd in Ungarn, einer Kleinstadt mit etwa 9000 Einwohnern, nahe dem burgenländischen Mogersdorf zu unternehmen.
Der liebe gute Freund willigte also ein, und so fuhren die beiden in diesen für sie bis dato völlig unbekannten Ort, dessen Geschichte überdies äußerst bemerkenswert ist. Warum? Nun, weil in dieser Gegend eine der berühmtesten Schlachten zwischen Orient und Okzident ausgetragen worden ist, nämlich die Schlacht bei Szentgotthárd, die nach individueller neuerer Geschichtsschreibung eigentlich stets die Schlacht bei Mogersdorf genannt wurde. Und dieses Mogersdorf liegt nun einmal im heutigen Burgenland.

Warum jedoch diese Uneinigkeit wegen einer Schlacht, könnte man nun wiederum fragen? Das kommt daher, weil 1664 offensichtlich Mogersdorf der Mittelpunkt dieses Gemetzels zwischen Muselmanen und Christen gewesen sein soll. Irgendwann hat man dann den Ort der Schlacht von ursprünglich Szentgotthárd Mogersdorf zugeschrieben, um dort ungestört eine eigene Gedenkstätte errichten zu können, so wie es bei uns ja auch nichts Besonderes ist, dass manche Bundesländer sogar ihren Schutzheiligen auswechseln, wenn sie seiner überdrüssig geworden sind.

Außerhalb Österreichs ist die Auseinandersetzung von 1664 immer noch als Schlacht von St. Gotthard bekannt, was den Eindruck verstärkt, dass der Erinnerung an sie, vor allem im Burgenland, vermehrt identitätsstiftende Wirkung zukommen sollte.
Aber darum geht’s eigentlich gar nicht in dieser Geschichte. Es geht vielmehr darum, dass mein lieber Freund und dessen Gattin nach Besichtigung des Ortes und dessen ebensoberühmter und schönster Barockkirche Ungarns, die wegen ihrer hervorragenden Akustik ein idealer Platz für Orgelkonzerte ist, unter anderem auch eine Gärtnerei entdeckt hatten.

Nachdem sie die zahlreichen Pflänzchen und Bäumchen und Sträuchlein gebührend bewundert hatten, wurden sie im hintersten Winkel des Glashauses eines Stöckchens mit: jö, ein Bambus!, genau, eines Bambus‘, in der Größenordnung eines Bonsai gewahr, aus dem drei, vier blassgrüne Hälmchen in etwas trockener Erde ihr trauriges Dasein in einem winzigen Tongeschirr fristeten.
Diesen am Fensterbrett in der Stadtwohnung zu hegen und zu pflegen durfte nicht viel Arbeit in Anspruch nehmen, überlegten die beiden und kauften das arme Ding für ein paar Forint, in der Absicht, ihm daheim ein besseres Leben als hier bieten zu wollen. So weit, so gut.

Wäre da nicht auch noch das Wochenendhaus meiner lieben Freunde gewesen, mit einem wunderschönen wilden Garten und einer ebenso wilden Terrasse, von wo aus man die ganze Wildheit seiner Natur von einem wackeligen Kaffeetischchen aus gut überblicken konnte. So weit, so gut.
Der Bonsai durfte sozusagen vom Schoß der Hausherrin aus also gleich einmal diesen Blick ausreichend genießen, sobald man hier angekommen war und den obligaten Kaffee genommen hatte. Wer von den beiden hätte gedacht, dass das der Moment einer folgenschweren Entscheidung war? Ob man das arme Ding, die Rede war vom Bonsai, nicht am oberen Ende des Gartens einfach in die Erde setzen wolle, vielleicht erholte er sich dort oben schneller, und wenn aus ihm ein richtiger Bambus geworden war, könne man ihn ja immer noch in einen größeren Topf umsetzen und dann mit in die Stadt nehmen.

Gesagt getan. Der Bonsai kriegte einen Ehrenplatz inmitten von Flieder und Pfingstrosen, zwischen Trauerweide und Apfelbaum. Was wollte er mehr? Aber er wollte mehr. Schon nach einem knappen Jahr hatte er mindestens zwanzig süße kleine grüne Triebe rund um sich verteilt geboren und mein lieber guter Freund und dessen teuerste Gattin hatten ihre große Freude an dem vermehrungsfreudigen Gesträuch. Und da er demnach in der Genesungsphase war, einer Art Pflanzenrehab, ließ man ihn in Ruhe und ihn und seinen Trieben selbständig überlassen.

Ein weiteres Jahr verging. Mein lieber Freund hatte beim wöchentlichen Rasenmähen zwar bereits bemerkt, dass er rund um den Bonsai so manch einen seiner triebhaften Auswüchse mitmähte und sich herzlich wenig darum gekümmert, wie viele neue Triebe dabei gewesen waren. Doch langsam wurde er stutzig, als er diese zu zählen begann und auf die Zahl fünfundsechzig kam. Er überlegte, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehen konnte.
Also sagte er zur besten Ehefrau von allen, du Hasi, ich glaub, man muss unseren kleinen Bambus da oben ein wenig in die Schranken weisen, denn der glaubt, dass ihm der Garten hier allein gehört.
Mach nur, sagte die Hasi, und daraufhin begann mein lieber guter Freund, einen im Radius etwa zwei Meter großen Kreis um den Bambus zu mähen.
So, sagte er zufrieden, als er sein Werk betrachtete, und von nun an bist du hier eingezäunt und hast dich nicht über die Demarkationslinie zu bewegen. Was er aber nicht wusste, war, dass sich der Bonsai herzlich ins Wurzelchen lachte und dachte, mein lieber Guter, du kannst mich mal, denn ich wachse dorthin, wohin es mir passt, und damit Schluss!

Wieder war ein Jahr vergangen. Der störrische Bonsai hatte die gedachte und sinnvoll gemähte Linie bereits zum hundertsten Mal übertreten und mein lieber guter Freund kam gar nicht mehr nach, dessen ausufernde Triebe abzumähen und umzuschneiden.
So, aber irgendwann reicht’s, hatte er zu seiner Hasi gesagt, nämlich jetzt! Was meinst du? Der Kerl schert sich einen Dreck um die Grenzen, die ich ihm gesetzt habe. Und das bedeutet Krieg!
Naja, wenn du meinst, antwortete die beste Ehefrau von allen, tu halt was, aber tu ihm nix!

Und mein lieber Freund tat etwas. Also holte er Krampen und Spitzhacke und begann, einen dieser Triebe bis hin zum Wurzelstock auszugraben. Unglaublich, aber er legte eine sieben Meter lange und fingerdicke Wurzel frei, die sich wie ein Tentakel, gleich einer Riesenkrake, ziemlich knapp unter der Rasenoberfläche dahingeschlängelt hatte und am Ende mit ihrem borstigen Pinsel hämisch „sprießend“ aus dem Rasen ragte.
Das ist ein Rhizom, hatte ihn der Nachbar belehrt und argwöhnisch über den Zaun geblickt.
Mein lieber guter Freund hatte damals nicht verstanden, was diesen denn sein Bonsai anginge. Aber er kriegte bald heraus, warum jener so skeptisch auf das Unkraut geäugt hatte, dann nämlich, als er bemerkte, wie munter sich Bonsais Triebchen frech unter dem Zaun hindurchgegraben hatten und sich in Nachbars Garten an der warmen Frühlingssonne erfreuten.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war meinem lieben guten Freund klar geworden, man musste Schluss machen mit seinem Kommando! Schluss machen, wiederholte er, wie Captain Willard in Apokalypse Now, mit dem Kommando des im Dschungel von Vietnam verrückt gewordenen Colonels Walter E. Kurtz.
Mein lieber guter Freund fasste also den offiziellen Entschluss, den abtrünnigen Bonsai zu liquidieren. Dieser hatte sich von der guten Absicht, ihm optisch das Leben zu verschönen, völlig distanziert und ließ sich nun nicht mehr kontrollieren. Im Dschungel des im Gartenkrieg bisher neutralen Nachbarlandes hatte er sich ein eigenes „Reich“ aus desertierten Rhizomen aufgebaut, über das er nun vereinnahmend und gebieterisch herrschte.

An Ausgraben und in einem Blumentopf mit in die Stadt nehmen war von jetzt an nicht mehr zu denken. Es gab nur eine Lösung, vorerst einen Graben drumherum anlegen und die Auswüchse dort abfangen, wo sie aus dem Boden schossen. Das war Plan A. Sobald die Fangarme diesen überragen würden, konnte man sie bequem kappen, dachte mein lieber guter Freund.
Plan B sah vor, alle Triebe, die über die gegrabene Rinne wucherten, in Bodenniveau abzuschneiden, und zu warten, bis sich neue Triebe bildeten. Dann käme Agent Orange zum Einsatz, oder noch besser – Napalm! Nein, dann also irgendein Pflanzenvernichtungsmittel, ehe es noch verboten würde. Im Schuppen würde sich so etwas ja wohl finden lassen, dachte er. Auch würde er die neuen Triebe außerhalb des Grabens mit dem Spaten durchtrennen und die kleineren Wurzelstöcke zerteilen.

Aber zuvor musste man alle sternförmig ausgehenden Triebe im Boden ausgraben. Keine leichte Arbeit. Mein lieber guter Freund grub und grub und zerrte und zog und fluchte, bis ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht rann. Ich krieg dich, keuchte er dabei völlig außer Atem, und wenn du dich bis in den Nachbarort vermehrst. Ich mach dir den Garaus! Ich werde dich an den Wurzeln packen und dich ausreißen, du Aas, schrie er vor Zorn und hieb mit dem Krampen wie besessen auf die Stellen im Boden ein, unter denen er weitere Verzweigungen seiner krakenarmähnlichen Fangarme mit diesen widerlichen Büscheln an ihren Enden, an denen nur noch die Augen fehlten, um sie zu einem tierischen Monster werden zu lassen, vermutete.
Da! Und da! Ich werd’s dir geben! Und nimm diesen! Und ich geb dir den Rest! Dieses Spiel trieb er so lange, bis er atemlos zusammenbrach.

Völlig erschöpft fand ihn die beste Ehefrau von allen nach Stunden auf dem Rücken liegend und nach Luft japsend im oberen Teil des Gartens. Wasser, stöhnte er, indem er den Kopf geschwächt ein wenig hob, um ihn danach wie leblos ins Gras sinken zu lassen. Die beste Ehefrau von allen wusste zunächst nicht, was sie tun sollte. Wasser, oder gleich die Ambulanz holen. Sie entschied sich für die Ambulanz. Zwanzig Minuten später war das Tatütata des Notarztwagens zu hören. Die Wagenbesatzung stürmte den Garten hinauf und erreichte in Sekundenschnelle das bewusstlose Opfer.
Der Sanitätsarzt kniete nieder, fühlte den Puls, legte das Blutdruckgerät an und hieß den Sanitäter, eine Kanüle in die Vene des linken Unterarms zu setzen. Flugs hing eine Infusionsflasche dran, als gleichzeitig auch schon das Knattern des Rettungshubschraubers zu hören war.

Der Helikopter kreiste zunächst unschlüssig über dem Hause und suchte nach einem geeigneten Landeplatz, wie ein großer Vogel, der nach seiner Beute Ausschau hielt. Die Beute sollte mein lieber guter Freund sein, der im Koma lag. Schließlich setzte er sich behutsam wie eine Krähe auf die benachbarte Wiese. Die Besatzung wartete auf weitere Befehle des Rettungskommandos.
Doch da erhob sich der Arzt schwerfällig aus seiner Hocke, winkte hinüber und rief dem Piloten zu, zu spät! Es ist zu spät. Da ist nichts zu machen, sagte er resignierend und entfernte die diversen Instrumente, um sie bedächtig wieder in seiner Tasche zu verstauen. Er zog die Kanüle aus dem Arm meines Freundes und reichte sie seiner Gattin, sie möge sie entsorgen und fügte ein leises „mein Beileid“ dran. Die beste Ehefrau von allen heulte und rang die Hände. Sie stürzte über ihren toten Gatten und küsste seine heißen Wangen. Die Umstehenden wichen betroffen zurück.

Nein! Also so geht das wirklich nicht. Nein nein! Zurück! Alles zurück! Noch einmal. Das Ganze von vorn. Wo kommen wir denn da hin, bei so einem Ende? Wie soll denn das weitergehen? Jetzt aber: … und hieb mit dem Krampen wie besessen auf die Stellen im Boden ein, unter denen er weitere Verzweigungen seiner krakenarmähnlichen Fangarme mit diesen widerlichen Büscheln an ihren Enden, an denen nur Augen fehlten ... und so weiter. Aber da kam ihm plötzlich eine Idee. Er ließ das Werkzeug fallen und eilte zum Haus hinunter, um zu telefonieren.

Monate vergingen. Mein lieber guter Freund und dessen Gattin, die beste Ehefrau von allen, lagen, sonnenbeschienen, behaglich in ihren Luxusteakholzliegestühlen in ihrem Garten, von denen aus sie bequem all die putzigen Pandabären beobachten konnten, die sich in den Ästen der alten Apfel- und Kirschbäume vergnügten. Manch einer von ihnen kletterte gar die hohe Trauerweide hinauf, deren Äste oft schon brüchig geworden waren. Aus schlanken Gläsern schlürften meine beiden Freunde kühle Drinks über lange Strohhalme.
Ab und zu kletterte einer der Bären herunter und labte sich an den sattgrünen Blättern des üppigen Bambuswaldes, der mittlerweile mehr als die Hälfte des Grundstückes für sich vereinnahmt hatte. In Fünfminutenabständen kamen Besucher, warfen Zwei-Euro-Münzen in einen dafür vorgesehen Karton und bestaunten dieses außergewöhnliche Schauspiel, um, nach Ablauf der Betrachtungsfrist, anderen Zaungästen Platz zu machen, denn so groß war der Garten nun wiederum auch nicht. Mein lieber guter Freund und seine Gattin lächelten sich gelangweilt an, nickten sich gegenseitig wohlwollend zu und genossen ihr neues unternehmerisches Dasein in vollen Zügen, wie jeder, der die Situation beurteilen wollte, unschwer festzustellen vermochte.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 16076

Beginning

(inspired by Criminal Minds)

„Der Pittsburg-Fall ist abgeschlossen. Die Gruppe fliegt gleich weiter zum nächsten Fall. Sie sind morgen um acht Uhr früh dort“, erklärte Garcia. Donia blickte auf die Uhr an der Wand, es war zehn Uhr abends.
„Wir haben heute 14 Stunden durchgearbeitet. Du kannst nach Hause gehen und schlafen. Die Verschlüsselungsprogramme laufen von alleine. Ich mache alles fertig und lege mich dann im Bereitschaftszimmer aufs Ohr“, schlug Donia vor und nahm einen Schluck Kaffee.
„Normalerweise mache ich immer alles fertig. Aber ...“ - sie gähnte - „die letzten Tage waren heftig. Meine Augen brennen und mein Kopf explodiert bald“, stellte Garcia fest und sah Donia an. Die lächelte und prostete ihr mit der Kaffeetasse zu.
„Na dann ... Du gehst nach Hause und ich erledige alles. Glaub mir, ich schaff das schon“, beruhigte Donia ihre Kollegin. Garcia grinste und klopfte Donia mit der Hand aufs Knie. „Weiß ich doch. Danke, Süße“, antwortete sie, stand auf und schnappte sie ihre Tasche. Dann deutete sie eine Verbeugung an.
„Ich bin eine Wolke. Gute Nacht. Ich bin um sieben wieder hier“, erklärte Garcia müde und ging. Donia legte die Füße auf den Tisch und sah den Buchstaben und Zahlen auf den Monitoren zu, wie sie langsam von oben nach unten prasselten.

Recht bald starrte Donia ins Leere, das Verschlüsselungsprogramm verfrachtete sie in einen Trancezustand. Sie musste an Sonntagnachmittag denken. Es war ein sommerlicher Tag, und sie hatte es sich an einem der kleinen Seen in der Stadt mit einer Decke gemütlich gemacht.
Triangle war nur einen Steinwurf vom Büro entfernt, sie fuhr mit dem Rad zur BAU. Das kleine Apartment, das sie gefunden hatte, war ein Glücksgriff. Sowohl von der Lage als auch vom Preis. Es gefiel ihr hier.
Sie hatte ihr Buch zur Seite gelegt, lag mit geschlossenen Augen auf der Decke und ließ die warmen Sonnenstrahlen ihre Haut erwärmen. Mit tiefen Atemzügen genoss sie den Duft der umliegenden Bäume und der Blumen, die auf der Wiese wuchsen. Kindergeschrei und das Gelächter der Eltern vernahm sie nur leise.

Dann registrierte sie Schritte im Gras und die Anwesenheit einer Person, die sich aber nicht bemerkbar machte. Donia blieb ruhig und wartete ab. Die Person stellte sich in die Sonne, sodass Donias Gesicht im Schatten lag. Dann hörte sie ein Räuspern.
„Was treibt dich in meine Gegend, Reid?“, fragte sie und öffnete die Augen. Vor ihr stand Spencer Reid. In den letzten Wochen hatte sie ihn und die anderen näher kennengelernt. Sie war fasziniert von seinem Wissen und seiner Intelligenz. Diese Eigenschaften machten ihn für sie anziehend.
„Ich war mit Agent Griffin unterwegs, Andy wohnt gleich da hinten“, deutete Reid kurz hinter sich. „Ich war mir nicht sicher, ob ich dich richtig erkannt habe“, sprach er weiter und sah Donia an. Er mochte sie. Sie hatte sich in die Gruppe eingeordnet und ihren Platz gefunden. Sie war intelligent und hatte eine schnelle Auffassungsgabe.
Ihre Aufgaben erledigte sie mit hoher Präzision. Und sie war hübsch. Hatte tiefgründige, grüne Augen und ein süßes Lächeln.

„Dr. Reid, du bist nicht durchsichtig. Geh mir aus der Sonne und setz dich her“, schlug Donia lachend vor. Er setzte sich zu ihr und beobachtete sie, während sie sich aufsetzte und ihm Platz machte. Sie trug ein Neckholder-Top und eine kurze Jeans. Ihre Muskeln bewegten sich unter ihrer gleichmäßig gebräunten Haut. Im Büro trug sie stets eine lange Hose, Bluse und/oder Blazer. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, schon längere Zeit.
Er erkannte ein Tattoo unterhalb ihres rechten Knöchels. Zwei chinesische Schriftzeichen. „Was bedeutet das?“, fragte er und deutete mit dem Kopf auf das Tattoo. Donia strich zärtlich darüber. „Die Zeichen stehen für Gottesgeschenk. Donia bedeutet so viel wie die von Gott Geschenkte“, erklärte sie.
„Du bist gläubig?“, hakte Reid nach. Donia schüttelte den Kopf. „Nicht im herkömmlichen Sinn. Ich glaube nicht, dass ein alter Mann mit Rauschebart die Erde in sechs Tagen erschaffen hat. Ich gehe nicht in die Kirche. Ich glaube, dass es Dinge gibt, die man durch Logik und Wissenschaft nicht erklären kann. Zwischenmenschliches, das Wesen des Menschen. Eine spirituelle Ebene, schwer zu beschreiben. Andere beschreiben das mit dem Wort Gott.“

„Warum haben dich deine Eltern Donia genannt?“ Reid war wie ein kleines Kind. Wenn er etwas wissen wollte, fragte er einfach. Sie fand das amüsant und sah ihn an. „Wird das hier jetzt ein Verhör?“, grinste sie. „Überhaupt nicht. Ich wollte nicht ...“, begann Reid sofort und hob entschuldigend die Hand. Donia winkte ab.
„Schon OK. Die Schwangerschaft war nicht einfach. Phasenweise war nicht klar, ob wir beide es überleben würden. Ich kam sechs Wochen zu früh auf die Welt. Anfangs schwach, aber ich hab's überlebt. Und meine Mutter auch“, schloss sie ihren Monolog und nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche.

Reid hörte ihr gerne zu. Ihre Stimme hatte eine angenehme Tonlage. Auch Donia gefiel jedes Gespräch mit Reid, sie freute sich, dass er sich für andere interessierte. Dass er sich für sie interessierte. Donia strich ihre langen braunen Haare aus dem Gesicht und wickelte sie in einen lockeren Zopf.
Sie saßen sich gegenüber, sahen sich aber nicht in die Augen. „Das ist schön“, sagte Reid leise. Er blickte umher und spielte mit seinen Fingerspitzen an dem Flaschenverschluss herum. Er war nervös. Das hatte Donia durch die Handbewegung erraten. Es gefiel ihr, sie war es nämlich auch. Sie mochte ihn. Seine Ausstrahlung hatte sie eingenommen, obwohl er rein äußerlich keiner ihrer bisherigen Männerbekanntschaften entsprach.
Donia beschloss, die Initiative zu ergreifen. Sie beugte sich leicht vor und stützte ihre Hände an ihrer Wasserflasche ab. „Du bist nervös, kann das sein?“, fragte sie leise. Ein leichtes Lächeln umspielte ihren Mund. Er sah sie an und runzelte kurz die Stirn. „Wir profilen uns nicht in der Gruppe“, meinte er trocken und hörte auf, mit dem Flaschenverschluss zu spielen. „Ich frage dich ja. Also?“, blieb Donia hartnäckig.
Er beugte sich nun ebenfalls vor und sah ihr in die Augen. „Scheinbar nicht nervöser als du. Stimmt's?“, grinste er und hob die Augenbrauen. Donia brach den Augenkontakt ab und schloss die Augen. Ihr Blinzeln hatte sie wieder verraten. Sie fingen beide an zu lachen. „Warum bist du nervös?“, fragte er und sah sie wieder an.
Donia seufzte. „Weil ich gerade mit dir hier sitze. Alleine“, sagte sie leise und sah ihn an. „Warum, was heißt gerade mit mir?“, hakte er nach. Sie schüttelte den Kopf und lachte leise. „Spencer Reid, du bist ein Genie der Wissenschaften, aber ein Kleinkind in Sozialverhalten.“
„Hey, ich bin aufgeschlossen. Erklär es mir. Ich lerne immer wieder gerne dazu“, sagte er charmant. Eine zarte Röte erschien auf ihren Wangen. Sie kicherte schüchtern. Dann räusperte sie sich und sah ihn wieder an. „Ich mag dich. Und ich fände es schön, wenn wir uns besser kennenlernen würden“, sagte sie tapfer.

Reid mochte ihre direkte Art. Er konnte ihr ansehen, dass es sie Überwindung gekostet hatte, es laut auszusprechen. Ihre Wangen waren immer noch gerötet, ihre Augen blinzelten im Sekundentakt. Ein angenehmes, warmes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit. Dieses Gefühl hatte er noch nicht oft erlebt. Aber er wusste, was sich daraus entwickeln konnte.
Er nahm seinen ganzen Mut zusammen. Im Umgang mit Frauen war er nicht sehr erfahren. Aber wenn sie ihm schon offenbart hatte, dass sie ihn mochte, konnte er nicht falsch liegen. Er stützte sich mit einer Hand neben Donia ab und kam langsam näher. Gleichzeitig griff er mit der anderen Hand nach ihrem Gesicht und streichelte zärtlich ihre Wange.
Donia stockte der Atem. Sie spürte seine warme Hand an ihrem Gesicht. Es fühlte sich gut an. Je näher er kam, desto mehr verlor sich Donia in seinen dunkelbraunen Augen. Wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht hielt er inne. Er konnte ihre Anspannung spüren, ihm ging es nicht anders. „Kennenlernen ist eine tolle Idee“, murmelte er und lächelte leicht.
Sie lächelte ebenfalls kurz, dann kam sie ihm die letzten Zentimeter entgegen. Sie schloss die Augen. Ihre Lippen trafen sich für einen Sekundenbruchteil. Sie konnte die Wärme seines Körpers erahnen und schmiegte sich in seine Hand, die immer noch ihre Wange streichelte.
Er konnte spüren, wie sie durch die Nase ausatmete. Der Luftzug ihres warmen Atems streifte seine Wange und ließ ihm einen wohltuenden Schauer über den Rücken laufen. Reid küsste sie nochmal, diesmal länger. Er genoss ihre zarten Lippen, die leicht nach Beeren schmeckten. Donia hatte einen Arm um seine Schulter gelegt und fuhr zärtlich über seinen Hinterkopf.
Sie trennten sich mit einem Lächeln voneinander. „Eine ganz tolle Idee“, sagte Donia. „Morgen? Abendessen? 8 Uhr?“, fragte Reid und wartete auf eine Antwort. Donia blinzelte kurz und räusperte sich. „Äh ... ja ... klar ... gerne“, stammelte sie vor sich hin.

Zu dem Abendessen war es aber nicht gekommen, Sonntagabend war der Pittsburgh-Fall angelaufen, dessen Unterlagen gerade über Donias Monitor liefen. Seit dem Briefing zum Fall hatte sie Reid nicht mehr gesehen.
Es war eine seltsame Situation, ihre Beziehung vor den anderen zu verbergen. Wobei, von Beziehung konnte keine Rede sein. Aber es war etwas zwischen ihnen, das sie beide herausfinden mussten. Ob mehr dahinter steckte als ein Kuss und vielleicht noch ein Abendessen.
Donia setzte sich wieder normal hin. Die letzten Datensätze waren gleich abgelegt, dann konnte sie sich auch noch hinlegen. Doch das Timing meinte es anders. Hotchner rief an. Donia setzte das Headset auf und stellte die Verbindung inklusive Webcam her.

„Einen wunderschönen guten Abend, Chief“, sagte sie freundlich und bereitete auf Garcias Rechner ein paar Eingabemasken vor. „Hallo Donia, du bist auf laut geschaltet. Wir sitzen im Flieger und gehen gerade die neue Fallakte durch. Kannst du uns noch Input liefern?“, sagte Hotchner. Sie sah auf dem Webcam-Fenster Hotchner, Rossi und JJ. Sie sahen alle müde aus.
„Bereit, wenn ihr es seid“, grinste Donia in die Webcam. „Ich habe mich aber in den Fall noch nicht einlesen können“, gab Donia zu bedenken und wartete auf Instruktionen. „Kein Problem. JJ, zähl kurz die Fakten auf, bitte“, meinte Hotchner und nahm einen Schluck Kaffee.
JJ las aus der Akte vor. „Frauenleiche. Gefunden vor zwei Tagen, im Sheyenne National Grassland, North Dakota. Tod durch Erwürgen, vermutlicher Todeszeitpunkt 2. Juni.“ Donia hob überrascht die Augenbrauen, sie kam aus North Dakota. Während sie die Parameter in die Suchmaske eintrug, sang sie leise „North Dakota, North Dakota, in our hearts forever long“.
„Wie war das?“, fragte JJ irritiert nach. „Das waren die letzten Zeilen aus der Landeshymne von North Dakota. Ich bin dort aufgewachsen. Heimvorteil“, erklärte Donia grinsend. JJ lächelte in die Kamera und nickte. Im Hintergrund hörte Donia plötzlich Morgan. „Ich verstehe immer noch nicht, warum wir dorthin müssen. Es handelt sich um eine einzelne Leiche, keine Serie“, war sein gerechtfertigter Einwand.
„Wisconsin und Ohio meldeten ähnliche Mordfälle in den letzten Monaten. Ebenfalls erwürgte Frauen. Daher müssen wir davon ausgehen, dass es sich hier um einen beginnenden Serienmörder handeln könnte“, klärte Hotchner die Runde auf. „Was haben diese Bundesstaaten gemeinsam?“, fragte Rossi.
„Den North Country Trail“, antworteten Donia und Reid gleichzeitig auf die Frage. Donia sah überrascht auf das Übertragungsbild, aber Reid war nicht zu sehen. Rossi sah zuerst in die Webcam, und dann dahinter. „Na Reid, macht dir da etwa jemand deine Genialität streitig?“, meinte er süffisant.
„Das ist bei mir nur der geografische Vorteil“, sagte Donia schnell. Reid hielt den Augenkontakt mit Rossi im Flugzeug und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Es reizte ihn, zu JJ und den anderen zu gehen und Donia über die Webcam zu sehen. Aber er hielt sich zurück. Stattdessen zuckte er nur mit den Schultern und las weiter in seinem Tablet. „Dann hast du vielleicht Insiderwissen, mit dem Reid nicht mithalten kann. Was weißt du noch, Donia?“, fragte Hotchner sachlich nach.
„Dieser Fernwanderweg verläuft unter anderem durch die drei genannten Bundesstaaten. Wenn die anderen Fundorte mit Abschnitten des Trails übereinstimmen, können wir annehmen, dass der Täter sich an diesen Wanderweg hält. Ich suche mal in den anderen Bundesstaaten, ob es ähnliche Leichenfunde gibt.“

Kurze Zeit später erschienen ein paar Ergebnisse auf ihrem Monitor. „Bingo“, rief Donia und sah kurz zur Webcam. „In allen Bundesstaaten des North Country Trails gab es in den letzten Wochen ungeklärte Mordfälle. Alle entlang des Trails. Der erste war in New York Anfang März. Ich schicke euch gleich die Daten“, sagte Donia konzentriert und tippte eifrig in die Tasten.
Nachdem die Datenübermittlung abgeschlossen war, wartete sie auf weitere Überlegungen des Teams. Irgendwie fand sie es schade, dass sich Reid nicht blicken ließ. Andererseits war es besser, dann konnte sie sich konzentrieren.
Sie hatte bereits einen weiteren Fakt aus den Daten herauslesen können, wartete aber noch damit, ihn den anderen zu berichten. Die Leitung war kurz ruhig, als sich das Team die übermittelten Daten durchlas.

„Warum denkst du, dass die Fälle zusammenhängen?“, fragte Rossi bei Donia nach. Sie räusperte sich. „Start in New York. Frau. Erwürgt. Zwei Wochen später: Pennsylvania. Mann. Erstochen. Zwei Wochen später: Ohio. Frau. Erwürgt. Zwei Wochen später: Michigan. Mann. Erstochen. Das geht dann noch so weiter. Wisconsin, Minnesota, North Dakota. Immer derselbe Rhythmus. Immer entlang des Trails. Das ist dieselbe Person.“
Rossi nickte bestätigend und las weiter in den Akten. „Was hat es mit dem Rhythmus auf sich?“, fragte Morgan laut. Donia hatte wieder eine Vermutung, wollte jedoch den anderen auch die Möglichkeit lassen, ihre Überlegungen einzubringen.
„Die Mondphasen“, antwortete Reid sofort auf die Frage. Donia musste lächeln. Wer, wenn nicht er. „Die Frauen werden bei Vollmond getötet, die Männer bei Neumond“, erklärte Reid. Donia nickte in die Webcam. „Das ist korrekt. Die pathologischen Befunde grenzen die Todeszeitpunkte auf die Zeiten rund um Voll- und Neumond ein“, bestätigte sie Reids Aussage.
Rossi sah wieder in die Webcam und anschließend direkt zu Reid. „Ihr zwei seid ja schon sehr gut eingespielt. Schön langsam komme ich mir ziemlich unnötig vor“, stellte er zynisch fest. Allgemeines Gelächter war die Antwort. Auch Donia musste lachen und war froh, dass ihre Gesichtsfarbe diesmal im Normbereich blieb.

„Kann ich sonst noch was tun?“, fragte sie in die Kamera. Hotchner schüttelte den Kopf. „Nein. Danke, Donia. Wir melden uns dann morgen früh, wenn wir das Briefing im Büro vor Ort hatten. Gute Nacht“, sagte er ruhig und nickte in die Kamera, bevor er das Gespräch beendete.
Donia speicherte noch einige Suchergebnisse von Optionen, die ihr einfielen. Anschließend ging sie in den Bereitschaftsraum. Ihre Tasche stand noch von gestern Abend hier, eine Garnitur Frischwäsche hatte sie noch dabei. Sie schmiss sich auf das Bett und schloss die Augen. Jetzt überkam sie ebenfalls die Müdigkeit.

Reid ging durch die Reihen des Flugzeuges. Alle seine Kollegen schliefen oder hatten Kopfhörer auf. Sie waren jetzt seit knapp drei Stunden unterwegs. Er konnte nicht schlafen. Donia ging ihm nicht aus dem Kopf. Er beschloss, sich in die hinterste Ecke des Jets zu setzen, um sie anzurufen.
Das Vibrieren ihres Smartphones weckte Donia wieder auf. Sie blinzelte auf das Display. Es war Reid. Überrascht hob sie ab. „Hi. Was brauchst du?“, fragte sie murmelnd und setzte sich auf. Ihre verschlafene Stimme bewirkte bei Reid einen kurzen Atemaussetzer. In seinen Gedanken lag er neben ihr und hielt sie fest. Er dachte an ihre weiche Haut, die er vor ein paar Tagen bei ihrem ersten Kuss berühren durfte.
„Nichts Dienstliches“, flüsterte er und beobachtete weiter die anderen im Flieger. Aber es war alles ruhig. „Sondern?“, fragte Donia nach. Sie war irritiert. „Alles OK?“ „Denke schon“, erwiderte Reid. „Ich habe dich aufgeweckt, stimmt‘s?“ Seine Stimme klang bedauernd. „Ja. Aber ich werde es überleben. Ganz bestimmt“, neckte Donia ihn und lächelte.
„Das hoffe ich. Unser Abendessen ist noch ausständig“, meinte er leise und sah aus dem Fenster. Das Flugzeug war gerade irgendwo über Iowa. „Das habe ich nicht vergessen“, entgegnete Donia leise und legte sich wieder hin. „Und ich freue mich nach wie vor darauf. Sehr sogar“, sagte sie leise und sah an die Zimmerdecke.
„Ich mich auch“, antwortete er. In den Augenwinkeln bemerkte er, wie Rossi aufstand und in seine Richtung kam. „Ich muss aufhören“, sagte er rasch und setzte sich gerade hin. „Es war schön, deine Stimme zu hören. Gute Nacht, Spencer“, flüsterte Donia und beendete das Gespräch. Sie legte das Smartphone auf den Tisch und schloss wieder die Augen. Sofort überkam sie wieder der Schlaf, der sie von einem wunderschönen, romantischen Abendessen träumen ließ.

Reid hatte sein Smartphone noch in der Hand und beobachtete Rossi, der ihm entgegenkam. Er lächelte ihm höflich zu und nickte. Rossi blieb kurz bei ihm stehen und klopfte ihm grinsend auf die Schulter. „Ihr könnt mir nichts vormachen. Sie ist ein nettes Mädchen. Passt zu dir. Mach was draus, Reid!“, sagte er freundschaftlich und zwinkerte ihm zu. Dann ging er weiter auf die Toilette.
Perplex blieb Reid sitzen. Wie hatte Rossi das herausbekommen? Seine jahrzehntelange Erfahrung durfte man wirklich nicht unterschätzen. Er sah auf das Display seines Smartphones. Oder er konnte einfach nur eins und eins zusammenzählen - am Display war der Gesprächspartner des letzten Anrufs noch sichtbar.
Reid seufzte und lehnte sich zurück. Er mochte es, wenn Donia ihn mit seinem Vornamen ansprach, wie gerade eben. Trotz seiner Gedankenräder, die sich sowohl um den Fall als auch um Donia drehten, konnte er bald einschlafen.

Der nächste Tag war geprägt von hoher Konzentration und Teamwork. Die Gruppe lieferte neue Informationen aus dem Sheriff-Büro vor Ort. Donia konnte aufgrund ihrer Kontakte im zuständigen FBI-Büro in Fargo zusätzliche Insider-Informationen beschaffen.
Nachdem sie mit Garcia die Informationen geprüft hatte, kontaktierte sie sofort Hotchner. „Hallo?“, ertönte nach kurzem Läuten seine autoritäre Stimme. „Hallo, Chief. Wir haben neue Infos“, begann Donia. „Warte, ich stelle dich auf laut. Es hören mit Rossi, Morgan, Reid, JJ und Sheriff Bauer“, erklärte Hotchner.
Donia hielt kurz die Luft an. „Sheriff Michael Bauer?“, fragte sie vorsichtig nach. Das BAU-Team blickte synchron auf den Sheriff, der mit hochgezogenen Augenbrauen vor dem Telefon stand. „Ja, Ma‘am. Kennen wir uns?“ „Kann man so sagen. Hallo, Onkel Mike. Gratuliere, hab nicht gewusst, dass du mittlerweile Sheriff bist“, sagte Donia in einem höflichen Tonfall.
„Donia?“, sagte Sheriff Bauer ungläubig und sah in die Runde. „Donia Bauer arbeitet bei euch?“, fragte er Hotchner, der nur nickte. „Du kannst mich auch direkt ansprechen, ich bin nicht mein Vater“, erklärte Donia kurz angebunden. Ihr Vater und sein Bruder waren zerstritten, der Kontakt abgebrochen.

Hotchner und die anderen hörten den gestressten Tonfall in Donias Stimme. Auch Reid war es aufgefallen. Er kannte die familiären Hintergründe nicht, aber der Sheriff war ihm seit ihrer ersten Begegnung nicht sehr sympathisch gewesen.
„Wie auch immer“, sagte Donia und räusperte sich, „Ich habe meine Kontakte im FBI-Büro in Fargo angezapft.“ „Ich habe die Infos geprüft, sehen allesamt valide aus“, meldete Garcia. „Die da wären?“, fragte Morgan.
Donia sprach weiter. „Ende Februar hat im Bundesstaat New York ein Mann seine Frau erstochen. Das Kind hat alles mitangesehen. Die Tochter ist 23 Jahre alt und leidet unter hebephrener Schizophrenie. Die Mutter hatte Kehlkopfkrebs, konnte nicht mehr sprechen. Der Vater gilt als gewalttätig und hat Frau und Kind misshandelt. Der Vater ist in Haft, die Tochter seit Anfang März abgängig.“
„Das könnte der Auslöser gewesen sein“, sagte Rossi. „Moment mal, Leute. Eine Frau? Ein Mädchen, gerade mal Anfang 20? Das glaubt ihr doch wohl selbst nicht! Kleine, ich glaube, du liegst falsch!“, platzte Sheriff Bauer heraus und schüttelte den Kopf.

Donia sah zu Garcia, die mit offenem Mund in ihre Richtung blickte. In ihr wuchs Ärger über ihren Onkel, sie musste sich zusammenreißen, ihn nicht anzuschreien. Hotchner kam ihr zuvor. „Sheriff Bauer, ich ersuche Sie, meine Agents mit dem nötigen Respekt zu behandeln. SSA Donia Bauer ist bereits seit mehreren Jahren im FBI-Dienst und eine erfahrene Datenanalystin. Sie können sicher sein, dass wir nur die besten Leute in unserem Team haben.“
„Vielleicht ist sie gut als Tippse, aber sonst nicht viel. Bei dem Elternhaus“, murmelte Sheriff Bauer gehässig und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Das konnte Donia nicht auf sich sitzenlassen. JJ sah entgeistert zu Hotchner, der ihr mit einer kleinen Handbewegung deutete, ruhig zu bleiben.
„Onkel Mike, es wäre als angesehener Leiter einer Polizeibehörde, der du sicherlich bist, professioneller, wenn du deine persönlichen Aversionen gegen mich und meine Eltern für diesen Fall hintanstellen könntest. Ich will hier meinen Job machen. Und ich will ihn gut machen. Also werde nicht persönlich und stelle Vermutungen an. Du kennst mich nicht ... mehr“, stellte Donia klar. Sie blieb höflich, ihre Stimme klang ruhig, aber bestimmt.

Reid, Morgan, JJ und Rossi warfen sich vielsagende Blicke zu und unterdrücken ein Schmunzeln. Diese taktvolle Spitze hatte gesessen. Selbst bei Hotchner konnte man für einen Sekundenbruchteil ein Zucken um den Mund erkennen. Reid räusperte sich und warf noch ein Schäuflein nach.
„Bei uns arbeiten nur hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. SSA Bauer hat einen Master in Psychologie und einen Bachelor in Informatik, falls Sie das nicht wussten. Sie haben wohl die Sponsionsfeiern versäumt. Unser Team schätzt ihr Wissen und ihre Person. Sie sollten ebenfalls froh sein, dass wir sie zu unserem Team zählen dürfen. Und stolz, dass Sie mit ihr verwandt sind!“
Er lehnte ruhig an einem Schreibtisch und fixierte den Sheriff mit seinem Blick. Hotchner runzelte kurz die Stirn und wies den Sheriff zurecht. „Ich kann Ihrer Nichte nur zustimmen, Sheriff Bauer. Wenn Sie nicht professionell mit uns zusammenarbeiten können, stellen Sie uns einen kompetenten Ersatz zur Verfügung, der es kann.“ Diese Aussage war scharf und eindeutig.

In der Leitung war es für einige Sekunden auf beiden Seiten ruhig. Garcia zwinkerte Donia grinsend zu und hob einen Daumen. Donia freute sich über die Loyalitätsbekundungen ihres Chefs. Und auch über die von Reid. Er hatte Recht, ihr Onkel war nicht zu ihren Sponsionsfeiern erschienen, obwohl sie ihn eingeladen hatte.
Garcia drückte kurz die Mute-Taste am Telefon. „Soll ich weitermachen?“, fragte sie und verdrehte die Augen. Donia musste lachen. „Bitte. Ich brauch ‘ne Pause“, schnaufte sie und lehnte sich zurück. Garcia nickte und drückte nochmals die Mute-Taste.
Der Sheriff hob abwehrend die Hände und zuckte ergeben mit den Schultern. „Tut mir leid. Sie haben Recht. Sagen Sie, was Sie brauchen. Sie bekommen es“, meinte er leise und trat einen Schritt zurück. Er merkte, dass er mit seinen Aussagen zu weit gegangen war. Die ablehnende Haltung jedes einzelnen Agents baute sich vor ihm auf wie eine unüberwindbare Mauer.

„Also dann, liebe Leute. Meine überaus kompetente Kollegin hat weiters herausgefunden, dass die Familie früher entlang des North Country Trail in den Ferien gecampt hat. Die Tochter kennt also die Strecke. Sie ist, wie gesagt, seit Anfang März abgängig. Die Kreditkarte des Vaters wurde jedoch in den letzten Wochen drei Mal verwendet. Zwar nicht direkt am Trail, aber in der näheren Umgebung. Foto und Personendaten der Tochter sind auf euren Tablets und im Postfach des Sheriff-Büros.“
„Warum tötet sie auch Frauen? Warum tötet sie unterschiedlich?“, fragte JJ in die Runde. Es war diesmal Reid, der seine Überlegungen laut aussprach. „Die Mutter war aufgrund ihrer Krankheit stumm. Die Frauen daher zu erwürgen versinnbildlicht die fehlende Stimme. Eventuell hat die Mutter ihre Tochter vor dem Vater nicht beschützt.“
„Einen Menschen zu erwürgen erfordert Kraft. Eine Frau kann das aber bei einer Frau schaffen. Bei einem Mann nicht“, überlegte Morgan laut weiter. Er tippte auf das Tablet, das vor ihm auf dem Tisch lag. „Die Männer wurden alle von hinten erstochen. Überraschungsangriff. Wenn der Stich sitzt, ist das Opfer wehrlos.“
„Genau“, schaltete sich Donia wieder ein. „Alle Männer wurden mit einem gezielten Stich in die Lunge getötet. Das Opfer kann dadurch nicht mehr laut schreien, es wird ihm die Luft zum Atmen genommen“, erklärte sie weiter.
„Dass sie die Männer bei Neumond tötet, hilft beim Überraschungsangriff. Sie kann sich besser verstecken. Das Erwürgen der Frauen bei Vollmond ist persönlicher. Sie sieht ihnen im Mondschein beim Sterben zu“, dachte Morgan laut und sah zu Hotchner.
„Sheriff, machen Sie sich auf die Suche nach der jungen Frau. Die Daten haben Sie soeben bekommen. Dringender Mordverdacht in sieben Fällen. Danke.“ Hotchner sah den Sheriff auffordernd an, der nur kurz nickte und dann den Raum verließ.

„Er ist weg, Donia“, sagte JJ erleichtert. Donia seufzte kurz auf. „Entschuldigt, dass ihr das mitbekommen habt. Ich habe nicht gewusst, dass er der Sheriff ist. Aber ich musste etwas sagen, nachdem er meine Eltern beleidigt hatte.“
Hotchner beugte sich zum Telefon. „Da gibt es nichts zu entschuldigen. Ich bin mir sicher, dass jeder von uns so gehandelt hätte. Außerdem warst du ja noch recht höflich“, sagte er in einem fast väterlichen Tonfall.
„OK ... und ... danke“, murmelte Donia ins Telefon. „Wofür denn?“, fragte JJ nach. „Dass ihr mich in Schutz genommen habt ...“, entgegnete Donia leise. „Du bist Teil des Teams, Donia“, erklärte Morgan. „Wer dich angreift, greift uns alle an“, stellte er klar.
Donia konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Also dann, Leute. Eine für alle, alle für einen. Wenn ihr noch was braucht, klingelt einfach durch!“, sagte sie. „Alles klar, over and out, little girl“, verabschiedete sich Morgan und legte auf.

Garcia und Donia sahen sich überrascht an. „Hat er gerade little girl zu mir gesagt?“, fragte Donia bei ihrer Kollegin nach. Garcia machte ein überraschtes Gesicht. „Scheint so! Aber sein baby girl bleibe immer noch ich!“, rief sie gespielt beleidigt. Dann tippte Garcia Donia mit ihrem Stift an die Schulter. „Du bist das baby girl von jemand anderem, wie mir scheint“, sagte sie verheißungsvoll und riss die Augen auf.
„Wen meinst du?“, sagte Donia abwesend und konzentrierte sich auf ihren Monitor. „Unser kleines Genie natürlich! Ihr könnt keinem was vormachen! Ihr beobachtet euch dauernd gegenseitig. Und er hat dich gerade verteidigt! Diese zwischenmenschliche - wohlgemerkt positive - Spannung kriegt man auch mit, wenn ihr nicht direkt miteinander kommuniziert“, stellte Garcia fest. Donia schüttelte den Kopf. „Da ist nichts“, sagte sie wahrheitsgemäß. „Noch nicht“, konnte sich Garcia als Schlusswort nicht verkneifen. Doch Donia lächelte nur und arbeitete weiter.

Zwei Tage später war auch dieser Fall erledigt. Die Behörde vor Ort konnte die Frau ausfindig machen und in Gewahrsam nehmen. Das Team war mittlerweile wieder in Quantico eingetroffen und führte eine gemeinsame Abschlussbesprechung durch. Reid saß Donia gegenüber, beide lächelten still vor sich hin, ihre Blicke trafen sich ungewöhnlich oft und blieben aneinander hängen.

„Donia“, begann Hotchner und richtete das Wort an sie. Sie blinzelte und sah ihn erwartungsvoll an. „Ja, Chief?“, antwortete sie. „Deine Recherchen, Überlegungen und Kontakte haben uns in diesem Fall schnell weitergeholfen. Im Namen des Teams danke ich dir für deinen Einsatz“, lobte Hotchner das jüngste Teammitglied.
Er war froh, die Entscheidung getroffen zu haben, sie einzustellen. Sie bereicherte das Team und hatte sich auch in die Gruppe gut integriert. „Ich wünsche euch allen zwei schöne freie Tage!“ Er nickte der Runde zu und beendete die Sitzung. Nach und nach standen alle auf und verließen den Raum.

Reid hielt Donia zurück, als sie im Begriff war, den Raum zu verlassen. Sie waren die Letzten. „Hey“, sagte er leise und strich sanft über ihren Oberarm. Sie drehte sich um und lächelte ihn an. „Hallo Spencer“, erwiderte sie. Für einen Moment sahen sie sich nur an. Dann fingen beide an, schüchtern zu grinsen.
„Heute Abend? 8 Uhr? Bei mir zu Hause?“, fragte Reid nach einem neuen Date. Donia sah ihn überrascht an. „Lieferservice?“, fragte sie ungläubig. Er lachte. „Natürlich nicht! Die Vermengung einzelner Zutaten in zeitlicher Reihenfolge unter Zuhilfestellung verschiedener technischer Geräte zur Veränderung ihres Aggregatszustandes ist einfach. Wie Mathematik!“
Donia lachte kurz laut auf. „Spencer, du überraschst mich immer wieder!“ Dann wurde sie wieder still und sah ihn an. „Ich bin da. Um 8. Soll ich etwas mitbringen?“, fragte sie leise. Er schüttelte den Kopf. „Nur dich“, antwortete er lächelnd. Sie nickte leicht und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. „Bis dann, Spencer. Ich freu mich!“, sagte sie und ging schließlich hinaus ins Großraumbüro.
Reid sah ihr nach und grinste. Es würde ein schöner Abend werden. Er musste sich nur noch ein Abendessen überlegen und einkaufen. Und kochen. Aber das war einfach. Wie Mathematik.

Petra Hechenberger

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Es

...genauso ist mein Hiersein eigentlich völlig unmöglich, ist es ebenfalls ein Nachleben eines nicht mehr existenten Lebensmodells. Denkt Langmut - und weiter:
Sich hier hinzu zu stellen zu den Kulturbergen, das ist ja der Aberwitz am Wolfgangsee! -

Die Idee mit dem größenwahnsinnigen Namen „Strobler Literaturgespräche“ war ja nur möglich, meine Idee, ein Kulturopfer zu bringen, mich diesen Testamentsjägern auszuliefern, mich in ihr Hospiz einsperren zu lassen, um hier mit meinen fünfundsiebzig Jahren „literarische Gespräche“ zu führen, was immer das auch sein mag, konnte ja nur entstehen und gleichzeitig scheitern, an diesen ganzen sommerfrischelnden Jahrhundertwende-Geistern: dem Altenberg, dem Alban Berg, dem Broch, dem Mann, Nietzsche und Schönberg! Hofmannsthal! - an diesen ganzen Denk-Alpinisten, die mir immer nur Geröll auf den Kopf werfen, die befinden sich ja schon alle als reisende Literaten, als Denker-Größen auf dem Gipfel ihrer Anerkennung. Ich dagegen am Wolfgangseerand, wohnhaft in der Bürglburg, den Bürglberg zu Füßen, verursache mit größter Mühe bloß ein Schilfrohrrascheln im Seerandsumpf und nenne das Ganze dann „Strobler Literaturgespräche“.
Er steht vom Bett auf, reibt sich den schmerzenden Nacken.
Matratze zu weich!
Denkt er und zieht sich an und denkt weiter:
Dabei könnte es bestenfalls „Strobler Gespräche“ heißen, da unter uns sich weder echte Literaten noch echte Literatur befinden, noch wurde hier eine solche Letztere je geschrieben, gelesen oder gar verstanden.
Genaugenommen dürfte es nicht einmal „Strobler“ heißen, diese „Strobler Literaturgespräche“, wie sie jetzt überall angekündigt werden, finden ja außerhalb Strobls statt! Aber das hätte ich wissen müssen! Das hat man mir wieder vorenthalten! Aus lauter dummem Eigendünkel haben die Bürglburger sich hier gedacht: Das braucht der Langmut nicht zu wissen, das kränkt ihn dann nur. Womöglich sucht er sich sogar ein anderes Heim, wenn er hört, dass die Bürglburg nicht in Strobl ist, dass er seine „literarischen Gespräche“ nicht „Strobler Literaturgespräche“ nennen kann, das ersparen wir ihm.
Das ist sie, denkt Langmut, diese Provinzhybris mit ihrer giergetriebenen Liebenswürdigkeit, die einem das Leben kosten kann!
Und schon bei der Ankunft sah ich es ja sofort! Sofort sah ich es an der Ortstafel, dass die Bürglburg nicht zu Strobl gehört, dass also das Einflussgebiet meiner Literaturgespräche schon vor der Strobler Ortstafel endet.
Meine Gespräche finden jetzt also in einem Unland statt, das weder zu Strobl gehört, noch erhebt ein anderer Ort oder Markt Ansprüche auf die Bürglburg nebst dazugehörigem Grund. Wie ich erfahren musste, gehört die Bürglburg sich selber an, oder der Vergangenheit, oder dem Staat, was ja alles aufs selbe hinausläuft.

Langmut legt sich angezogen wieder auf das Bett und stößt sich dabei am Holzrahmen.
Viel zu hoch!, denkt Langmut, für diese rückgratlose Matratze. Rückgratlos wie eine Sumpfwiese, wie alles hier. Wie alles und alle hier. Wie das gebaut ist! Man bräuchte diesen aufgequollenen Matratzenschwamm nur herauszunehmen und schon hat man einen fertigen Sarg!
Langmut klettert aus dem Bett, legt sich auf den Boden und denkt:

Aber die Literaturgespräche machten nur Sinn, wenn sie das literarische Erbe dieses Ortes aufgreifen und antreten könnten, das nun einmal mit dem Namen dieses Ortes zusammenhängt: Strobl, es ist und heißt immer noch Strobl! Und denkt: unweigerlich!
Das literarische Erbe fordert, noch einmal rücksichtslos ausgelebt zu werden, noch einmal sich tief in der Erde festzukrallen! In eine mit Namen verortete und vollkommen verrottete Erde!
Lächerlich, sie „Bürglburger Gespräche“ nennen zu wollen!
Langmut lacht laut auf. Und kichert weiter, ohne es zu merken und denkt:
Was für ein deplatzierter Vorschlag, meine lieben Kollegen!
Und denkt, dass er das jetzt laut gerufen hat und weiß nicht mehr, ob er das laut gerufen hat oder nicht und hört auf zu kichern. Er stellt fest, eine ganz trockene Kehle zu haben und befiehlt sich, ein Glas Wasser zu trinken. Seit Tagen trinkst du zu wenig, sagt er zu sich, sie sagen immer: „Sie müssen mehr trinken Herr Langmut, Ihr Körper braucht Flüssigkeit, Sie sind ja schon wieder ganz dehydriert! Langmut bleibt liegen. Kann ich die Literaturgespräche nicht Strobler nennen, ist alles sinn- und wirkungslos, denkt er.
Keine Verortung - keine Wirkung. So ist das!, denkt Langmut. Und setzt noch hinzu:
unweigerlich!

Richtig, denkt er weiter, müsste es einfach nur heißen, nachdem die Strobler Literaturgespräche weder mit Literatur noch mit Strobl etwas zu tun haben: „Gespräche“.
Stellten wir uns der Wahrheit, bliebe übrig: „Gespräche“.
„Vom vierten bis zehnten August zweitausendundfünfzehn finden in der Bürglburg die ‚Gespräche’ statt.“
Besser: „...finden die ‚Bürglburger Gespräche’ statt“, denkt Langmut und kichert wieder.
„Vom vierten bis zehnten August zweitausendundfünfzehn finden in der Bürglburg die ‚Bürglburger Gespräche’ statt.“ Langmut lacht laut auf und kichert dann weiter und denkt:
Suchte jemand die Bürglburg, um uns beim Sprechen über etwas anderes als Literatur zuzuhören, also den „Bürglburger Gesprächen“ beizuwohnen, müssten wir ihm sagen, die Bürglburg befindet sich auf einem Unort und ist daher für Besucher der Veranstaltung unerreichbar; stellte diese Auskunft nicht zufrieden, müssten wir ehrlicherweise sagen: Es ist heiß hier, es ist sumpfig, wir sind literarische Emigranten - also suchen Sie uns am besten in Florida!

In Florida... - wiederholt Langmut leise und bemerkt, dass er schon seit längerer Zeit vor sich hin kichert. Wie ein kindischer Greis!, flüstert er erschrocken, steht rasch auf, geht in den Speisesaal, nimmt ein Tablett und legt eine Semmel aus dem bereitgestellten Korb darauf. Zu weich, denkt er und steckt die Semmel in die Jackentasche, „Trinken Sie, Herr Langmut! Sie müssen mehr trinken!“, ruft ihm eine der Schwestern zu und stellt ein Glas Wasser auf sein Tablett. Langmut setzt sich an einen Tisch mit Blick aus dem Fenster, nimmt das Glas Wasser in die Hand, sieht es unverwandt an und stellt es zurück auf den Tisch.
Ich bin ja ganz alleine hier!, stellt Langmut fest. Die schlafen ja alle noch! Und sieht aus dem Fenster.
In Florida, denkt Langmut, sitzen wir am Bürglberghang, gut verpflegt in der sicheren Bürglburg und fallen über den Strobler Ort her. Jeden Tag fallen wir schon am Morgen über den Ort her. Noch mit unverdautem Kaffee im Bauch zerreden wir den Ort, zerdenken wir den Ort, versuchen wir alles zu sehen und zu denken, was dieser Ort hergibt, und wenn er nichts hergeben will, es dem Ort zu entreißen, was natürlich völlig unmöglich ist. Tatsächlich ist es so, dass dieser Ort über uns hereinbricht, bis wir begraben und betäubt sind, durch nichts mehr zu erreichen. Wir glauben, wir können den Ort überraschen, dabei werden wir vom Ort überrascht, angefallen wie von einer hungrigen Raubkatze, bevor wir noch überrascht sein können, liegen wir schon am Boden, in Fetzen gerissen.
Die Leute hier in Strobl glauben, wir fallen über den Ort her, dabei fällt der Ort über uns her, erschlägt, begräbt und erdrückt uns, unter seiner historischen Last.

Wenn ich aber Schutz brauche, denkt Langmut, flüchte ich mich hinter so eine Bleckwand, nehme ich so ein Buch und stelle eine Bleckwand hin.
Aber immer stehe ich letztendlich an derselben Stelle, ob ich sie umrunde oder vor mich hinstelle, diese Bleckwände, Sparbers und Rinnkogels. Am besten, ich gehe eine Runde um den See.
Langmut steht von seinem Tisch auf und verlässt die Bürglburg Richtung See.

„Bleckwand, Sparber und Rinnkogel markieren zaunpfostenähnlich die Grenze nach Norden; Beweis einer Nord-Süd Überwerfung infolge des aus dem Süden wirkenden plattentektonischen Drucks.“
So liest es Langmut auf einer Tafel am Wegrand. Wie alle Seen hier, denkt Langmut, ist der Wolfgangsee einer, der nicht sich zufrieden gab mit seinem Wasserfluss-Dasein, der vom Wasserfluss irgendwann zum See zu werden, sich in den Kopf setzte, die Transformation vom gewöhnlichen Wasserfluss zum respektablen See geschafft hat, rücksichtslos jeden auch noch so kleinen Vorteil ausnutzend, der ihm im Zuge der Plattenverschiebungen in der jüngeren Erdgeschichte entstand, alles, was vorher da war, unter sich begrabend, infolgedessen als See bedingungslos anerkannt von den ihm nachkommenden Menschen. Langmut nimmt die Semmel aus der Jackentasche. Zu weich, denkt er, und:
unmöglich, ihn zu umrunden! Und beschleunigt seinen Schritt und denkt weiter:
Erstmal Abersee geheißen, erscheint er jeder neuen sich hier an ihn und um ihn drängenden Menschenhäufung als neu. Er beißt in die Semmel.

So ein See stirbt nicht, und so wie ich ihn mir hier als persönliche Neuerscheinung aneigne, taten das vor mir die Kelten, die jetzt überall hier im Salzkammergut als Dreck auf meinen Schuhen kleben, völlig ausgeerzt, so wie ich irgendwann auf irgendjemandes Schuhen kleben werde.
Langmut kann den Bissen kaum schlucken und merkt, dass er keinen Speichel hat, dass er großen Durst hat. Du musst trinken! Sofort! Dein Körper hält das nicht aus! Er legt sich mühsam auf den Bauch und versucht, aus dem See zu trinken. Spuckt aber den ersten Schluck wieder aus. Alles verseucht!, denkt er und: Ich hätte das Glas Wasser doch trinken sollen und lässt den Rest der Semmel aus seiner vorgestreckten Hand in den See fallen. Er beobachtet, wie der Rest der Semmel im Seewasser aufquillt, sich auflöst und seine festeren Teile absinken und erinnert sich: Immer war ich ein begehrter Tänzer!

Immer war ich ein begehrter Tänzer, flüstert Langmut.
Und flüstert weiter: So zeigt sich uns dieser See, so wie auch die anderen hier ortsansässigen Seen, als sein eigenes Denkmal, als eine gewaltsame Transformation zur Größe, geboren aus dem Wunsch nach Veränderung, ermöglicht durch Verschiebungen noch wesentlich größerer Natur, Verschiebungen unterirdischer Art.
Ab einem gewissen Punkt allerdings, tut dieses See-Monster wieder so, als ob nichts gewesen wäre, plätschert dahin als unschuldiges Flüsslein, als Ache oder Ischl, ganz nach Wunsch.

Langmut richtet sich auf, geht weiter, verfällt plötzlich in den Walzerschritt, bricht ab, und eilt auf den Campingplatz zu.
Langmut wird langsamer vor der Terrasse einer Campingplatz-Raststätte.
Langmut steigt neben rohbetonierten Stufen auf die noch zaunlose Terrasse der Campingplatz-Raststätte. Er bestellt noch im Gehen Kaffee „…und ein großes Glas Wasser dazu!“, ruft er der Kellnerin nach und setzt sich mit Blick auf die Bleckwand. So sieht sie aus!, vergewissert er sich, die Bleckwand sieht aus wie eine Riesin in der Sonne kniend, wie eine gierig trinkende dicke Frau, die ihren Kopf ins Wasser steckt, eine Riesin, erstarrt beim gierigen Trinken, eine grüne Riesenfrau, die beim gierigen Trinken ihr gewaltiges Hinterteil frivol gen Himmel reckt - vielleicht, in naher Riesenzukunft, begattet wird, wenn’s der Rinnkogel oder der Rothstein nicht mehr aushält, dieses riesige Riesinnenhinterteil. Und trinkt den Kaffee in einem Zug aus.
Sie hat das Glas Wasser vergessen, denkt Langmut.

So sieht das aus, denkt Langmut, von der Terrasse der Campingplatz-Raststätte her gesehen, sieht das so aus. Ein Campingplatz im Übrigen, der voller Deutscher ist, voller abgezirkelter, dobermannbewachter Miniparzellen, eine fußbreitdichte Anhäufung von Privatgrund. Langmut fühlt das Blut im Mund pochen.
Leitungswasser würde hier leider nicht serviert, das sehe der Chef nicht gern, wird Langmut von der Servierkraft erklärt. Italienischer Akzent!, denkt Langmut. Über die Alpen geworfen, strampelt sich nun mit ihrer Identität ab. Hab Erbarmen mit dir!, denkt Langmut und starrt die Servierkraft beschwörend an.
Ja, wenn er unbedingt Leitungswasser haben wolle, erklärt sie durch sein schweigendes Starren irritiert, könne er sich ja am Campingplatzbrunnen bedienen.
Langmut steht ruckartig auf.

Eine germanische Wohnwagen-Burg zwischen grüner Riesin und St. Wolfgang am Wolfgangsee!, denkt Langmut, während er sich einen Weg zum Trinkwasserbrunnen bahnt, und: Waschechte Kimbern und Teutonen befinden sich hier! – Dieser Kaffee hat mich außerdem furchtbar durstig gemacht! Kaffee dehydriert!
Denkt er - und: wie schrecklich! Und stolpert über Zeltschnüre und Campingstühle, durch die Dobermanns und Schäfers, durch die psychisch völlig zerstörten, privatgrundschützenden Hunde, durch die schneidigen „Guten Morgens!“.

Befestigte Wohnwagensiedlung!
Denkt er.
Und: alles durchdrungen von der verschlagenen Vorsichtigkeit der Niederlassung. Und weiter: ein völlig unwirkliches Nachleben eines längst in dieser Form nicht mehr möglichen Gesellschaftsmodells. Einem Gesellschaftsmodell leben die vorgeblich campierenden Teutonen hier nach, das schon vor zweitausend Jahren von dem römischen Druck, aus dem Süden kommend, besiegt wurde. Und immer wieder besiegt, schlägt das Alemannische, das Teutonische und das Vandalische dann doch in irgendeine Spalte der alpinen Überwerfungen zurück, verschlägt italienische Servierkräfte herüber und seine Zelte auf.

Und weiter: Eine Art Keimzelle ist das hier, und die wird weiterwachsen, so imperial groß wird das hier werden, wie die Wohnwagensiedlungen in Florida. Wohnwagen an Wohnwagen reiht sich dort in Florida. Silbrig glitzernd in der Sonne bis zum Horizont. Neben den „Retires“, den in Wohlstand und Ehren gealterten Gesellschaftsamerikanern, erwarten dort den Tod in der brühwarmen Krokodil- und Stechmückenatmosphäre, die dem Alter so gut tut, wohlhabende Deutsche mit nationalsozialistischer Vergangenheit.
Ausgerechnet in Florida, wo ich das Licht der Welt erblickte – gezwungenermaßen.
Und manchmal kommt daher dem erwarteten Tod ein gewaltsamer zuvor.
Und manchmal ist der Tod noch ein halbes Kind, denkt Langmut. Und: Schrecklich, ich fühle meinen Mund nicht mehr!
Ich muss unbedingt diesen Brunnen finden!

Dann: Das haben sie hier auch vor, denkt Langmut, dieser Campingplatz ist erst der Anfang. Sich ihres Erbes besinnend, das schließlich wieder durchschlägt im Alter, wo nichts zu tun ist als zu sterben, nehmen sie Land. Dieses Erbe fordert, noch einmal rücksichtslos ausgelebt zu werden, noch einmal tief in der Erde sich festkrallen, nie - von hier vertrieben werden. Langmut fällt über eine Zeltschnur.
„Wohnwagen an Wohnwagen reiht sich dort in Florida - bis zum Horizont! Alle glänzen silbern in der Sonne, so dass es das Auge schmerzt!“
Erschrocken bemerkt Langmut, dass er mit diesem Satz gerade einen der Camper anschreit. Langmut presst sich die Hände vor den Mund.
Wie ein Schulkind!, denkt Langmut und reißt die Augen auf. Und sieht, dass er neben dem laufenden Brunnen steht.
Der Camper und Langmut stehen sich gegenüber. Der Campingplatz endet hier in einer Sumpfwiese zum Seeufer hin. Der Trinkwasserhahn rauscht weiter. Der Camper nimmt einen Plastikkanister und hält ihn unter den Trinkwasserhahn.
Langmut lässt die Hände fallen und sieht, dass sie blutig sind.

„Wo, in Florida?“, erkundigt sich plötzlich der Camper, und beiläufig: ob Langmut denn schon mal dort gewesen wäre?
Langmut schüttelt den Kopf und wartet ungeduldig auf das Freiwerden des Wasserhahns.
Der Camper füllt einen weiteren Kanister mit Trinkwasser und bedauert Langmut, noch nicht in Florida gewesen zu sein, denn er selber sei schon in Florida gewesen, traumhaft! Drei Monate im Van unterwegs! Aber im Unterschied zu Langmut wisse er, so der Camper, nichts von solchen Wohnwagensiedlungen, da müsse Langmut sich irren und da müsse man doch was davon gehört oder gesehen haben, von solchen riesigen Siedlungen, bei drei Monaten im Van! Aber er habe, wenn er nachdenke, nichts davon gesehen oder gehört. Nie!

Schlau!, denkt Langmut und reibt sich den Nacken.
Aber das wäre ja auch schon alles so lange her, schwächt der Camper ab, Jahrzehnte sei das alles schon her. Und der Wasserhahn werde bald frei, dass man da schon durstig werden kann bei dieser Hitze, verstehe er gut, lacht der Camper und hält einen neuen Kanister unter den Hahn und der Strahl prasselt in den leeren Behälter.
Und seit er damals dieses traumhafte St. Wolfgang am Wolfgangsee entdeckt habe, käme er nur noch hierher - mit seiner ganzen Familie!
Langmut stammelt die Wörter „Notfall!“ und „Wasser!“
Der Camper, sehr laut, um den Wasserstrahl zu übertönen: „Was?“
Und: Dazu die ganze kulturelle Vergangenheit hier, das glaube man ja gar nicht! Diese ganzen Schriftsteller! Ein Nietzsche! Habe er gehört, sei hier gewesen, ja sogar der Hofmannsthal-Hugo-von! – das wäre ja auch einer von denen gewesen, man wisse ja!

Dann holt der Camper tief Luft und ruft schallend:
„Jedermann!“, und lacht und fragt „Na klingelt‘s?“
„Jedermann!“, ruft der deutsche Camper ein zweites Mal und freut sich am Echo. Dann lacht er: „Das glaubst du ja nicht!“
Langmut lässt die Hände sinken und öffnet den Mund. Jetzt könnte ich trinken!, denkt er und macht eine Bewegung auf den Wasserhahn zu.
Doch der Camper setzt einen dritten Kanister an und fährt fort: „Also am liebsten bliebe ich ja das ganze Jahr hier! Aber Sie wissen ja: die Arbeit, die Arbeit! - Das lässt einen nicht los! Wissen Sie? - Was?“
Ich weiß!, denkt Langmut und hält den Mund fest geschlossen.
„Also es ist ja nicht so, dass ich das ganze Jahr hier sein könnte?“, brüllt der Camper in fragendem Ton.

Langmut beobachtet, wie sich der Kanister füllt, sieht auf zum See, auf die Sumpfwiese.
Ich könnte zum See gehen, denkt er, - aber der Boden dorthin ist viel zu weich!
Er sieht auf seine Füße und die von Wasser satte Erde um den Trinkwasserhahn. Aufgeweicht!, denkt er, alles aufgeweicht!
Der Camper überlegt und befindet: „Also sozusagen nur temporär bin ich hier, bei diesem schönen Wolfgangsee! Sozusagen ein temporärer Wolfgangseer bin ich!“, lacht der Camper und winkt seiner Frau zu, die mit weiteren leeren Kanistern kommt. Er nimmt mit der hohlen Hand einen Schluck Wasser vom Trinkhahn.
Zwei Temporäre sind wir!“, beschließt er, nachdem er geschluckt hat und sieht Langmut erwartungsvoll an. Langmut sieht regungslos auf die feuchten Lippen des Campers. Der Camper spricht mit unvermitteltem Ernst: „Andere bleiben ja das ganze Jahr hier, also sozusagen per-ma-nent! - Das sind dann die Per-ma-nent-en!“
Und meint nachdenklich: „Aber vielleicht ziehe ich auch mal ganz hierher - wegen des gesunden Klimas!“ Seine Frau stellt die weiteren Kanister ab und der Camper freut sich:
„Das ist alles richtig gut organisiert hier - wir kennen uns alle untereinander - kannten uns schon vorher!“ Ich wusste es!, denkt Langmut und lässt den Kopf sinken.

Langmut sieht nur noch das Stück aufgeweichten Boden neben dem Trinkwasserhahn und denkt: einen Schluck Wasser, nur einen Schluck - und:
Er trinkt das ganze Wasser aus! Vielleicht zieht er ganz hierher, ist in Florida gewesen und zieht jetzt ganz hierher und weiß von nichts, nie geseh‘n, nie gehört, nie etwas gewesen. Behaupten alle: von nichts wissen! Das ist alles! Und mehr Kanister kommen! Hierher werden alle kommen und sozusagen Permanente werden und dann... ein Stückchen weiter zur Sumpfwiese hin, zur trinkenden Riesin hin, immer ein Stückchen näher auf den Riesenarsch zukrabbeln, auf die brünftige Riesin zu, die trinkt den Wolfgangsee aus! Die trinken alle den Wolfgangsee aus! Und auftaucht alles aus dem Schlamm!
Die Sumpfwiese, denkt er. Ich muss sie warnen!, denkt er, und denkt: Das ist es! Und dreht sich dorthin, wo er den Camper vermutet, denn er sieht plötzlich nichts, nimmt noch einmal seine letzte Kraft zusammen und brüllt es solange er kann und fällt in den aufgequollenen Boden und merkt, wie er fällt und merkt, wie er es brüllt, in den Boden brüllt, der so weich ist, dass er nicht weiß, ob er noch fällt oder schon in der Erde liegt. Aber er weiß, dass er es schreit, in die Erde hinein schreit, so lange er kann. Es in den Himmel schreit, dieses eine unsägliche Wort.

Der Camper und seine Frau, befragt, ob Langmut noch etwas gesagt hätte, geben nach kurzem Zögern zu Protokoll: Sie hätten wohl den Eindruck gehabt, dass der Herr Langmut noch etwas habe sagen wollen, aber richtig verständlich machen hätte er sich nicht können.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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Eine jagdliche Szene

Eine neoklassizistische Villa im Salzkammergut. Das Haus, umgebaut zur Privatpension, beherbergt eine Reihe illustrer Gäste. Unter ihnen eine attraktive junge Dame mit Namen Sybilla Trinks, in die sich Norman Moll, Kurgast, Individualist und Einzelgänger, spontan verliebt hat. Man nimmt einen Drink zusammen auf der Terrasse des Hauses. Thema eines angeregten Gesprächs ist Bodo Rabitsch, gleichfalls Kurgast, genannt der Lodenbaron, und ein Ekel, das in der Lage ist, Norman Moll mit seiner widerlichen Art in der Öffentlichkeit stets aufs Höchste zu verunsichern.

„Was sagen Sie dazu?“ Moll zuckte mit den Schultern. „Also gut. Ich kann Ihnen versichern, Ihre Paranoia diesem Menschen gegenüber scheint mir völlig unbegründet. Dieser Mann, vor dem Sie so unheimlich Schiss haben, ist im Grunde genommen ein Emporkömmling, ein Parvenü.“ Moll hob die Augenbrauen. „Dieser Mensch hat im Grunde in seinem ganzen Leben noch nichts anderes getan, als auf die Butterseite zu fallen, und das aus Kalkül.“ „Und woher wollen Sie das wissen?“, fragte Moll zweifelnd. „Ich weiß es eben, das muss genügen und tut nichts zur Sache. Dieser Rabitsch hat einfach in eine vermögende Familie eingeheiratet. Loden! Sie verstehen. Das war’s auch schon. Zufällig hat sich die Tochter seines Lehrherren, eines Schneiders, in ihn, den Lehrbuben, verliebt. Romantisch, nicht wahr? Ihre Eltern waren allerdings von Anfang an dagegen, dass sich hier was anbahnt.
Aber da war eben nichts zu machen. Der Herr Schwiegersohn in spe hat daraufhin seine handwerkliche Lehre abgebrochen, hat das Mädel geheiratet und ist sofort zum Prokuristen im schwiegerelterlichen Betrieb aufgestiegen.“ „Ah!“ Hodenlose Lodenhose, erinnerte sich Moll an eine Silbenverdrehung und schmunzelte. „Ein paar Jahre waren dem Betrieb noch Umsatzhochs beschieden, bis man eines Tages Konkurs anmelden musste, weil die Konkurrenz auch nicht geschlafen hat, und aus war‘s.

Tatsache ist, dass eine Menge Geld da war, trotzdem, und dass man in dem Häuschen, das man als Jungvermählte bekommen hatte, weiterhin hervorragend domizilierte, und von der Mitgift, beziehungsweise aus Veräußerungen der betrieblichen Reste unbekümmert leben konnte, auch ohne zu arbeiten.“ „Beneidenswert“, seufzte Moll lächelnd, „und ich hab‘ geglaubt, er ist zumindest Wirtschaftsprofessor oder so etwas Ähnliches. so, wie er stets doziert!“ Beide lachten. „Immerhin haben   S i e   ihn neulich ja selbst geadelt, wenn man bedenkt, wie Sie ihn immer nennen, den Lodenbaron eben“, lachte Sybilla Trinks und nahm ein Schlückchen Sekt zu sich. „Naja, Ökonomieadel! In Deutschland oder in Polen wurden im neunzehnten Jahrhundert ganze Dörfer auf diese Weise zu Baronen gemacht“, bemerkte Moll zynisch.
Die Trinks fuhr fort: „Die Geschichte geht noch weiter. Als die Kinder aus dem Haus waren, fuhr der Herr einmal auf Kur. Das Ergebnis dieser Reise hat sich in Person der Frau Linda Maar niedergeschlagen. Seither tritt sie offiziell als sein Schatten auf. Dort, dort drüben – der Schatten, den Sie ja bereits seit Nachmittag neben ihm nicht übersehen können.“ „Also, ein Schatten ist sie nun wirklich nicht“, lachte Moll, „weder von der Physis her noch vom Charakter. Was ich mir da vorhin anhören musste, war eine ...“.
„Hat sie Ihnen etwa die neue Rolle der modernen Frau als Führungskraft zu vermitteln versucht?“ „So könnte man es ausdrücken, ja!“ „Verstehe! Also, der Baron ist ein Meister der Doppelrolle, wie Sie unschwer erkennen können. Arm ist nur seine Gattin. Ich habe schon einmal angedeutet, dass sie eine ganz liebenswerte Person ist. Sie würde sich nie über ihre Situation beschweren, glauben Sie mir. Eine Frau, die stets versucht hat, nur das Gute in diesem Menschen zu sehen, und niemals seine Fehler.“
„Ach!“, kam es Moll so über die Lippen. „Aus welchen Gründen sie das tut, ist mir noch unklar. Ein wesentlicher Grund aber dürfte sicher der gesellschaftliche Status sein. Das heißt, man lässt sich nicht scheiden in dieser Welt, aus der sie kommt. Die Pracht der Tracht, wenn Sie verstehen!“ „Und so duldet sie still.“ „Wie viele von uns“, sagte Norman Moll nachdenklich. Sybilla Trinks lehnte sich in ihrem Korbsessel zurück, mitleidig lächelnd. Blitzschnell dachte Moll an einen Rückzieher. Zu spät! „Das habe ich erwartet, dass Sie jetzt so etwas sagen würden. Sieht Ihnen ähnlich, wirklich!“

Moll hob erstaunt seinen Kopf. „Wieso?“, fragte er, „was hab‘ ich schon wieder gesagt?“ Und beinahe befürchtete er die Beziehung zu ihr im Kippen, wie auch eine gewisse Nüchternheit sich seiner ihr gegenüber bemächtigen wollte, äußerst unangenehm, bedachte er seine bisherige Situation mit ihr, das Tänzchen vorhin und überhaupt! Es wollte ihm nicht konvenieren, dass sich die Sache nun in eine Art psychotherapeutische Séance zu wandeln begonnen hatte, noch dazu in eine, in der er den Patienten spielen sollte. Unerhört! Da läutete ihr Handy. Moll schreckte hoch. Sybilla Trinks war aufgestanden und spazierte ganz langsam auf der Terrasse auf und ab, telefonierend.
Über dieser höchst störenden Unterbrechung hatte Moll aufgehört, irgendwelche Schlüsse aus ihrer letzten Bemerkung zu ziehen, so echauffierte ihn diese und seine Erinnerung an das Schöne, das Romantische, ja, das Ideal des Menschseins schlechthin, die Leidenschaft der, beinahe hätte er Liebe gedacht, nein, Liebe war es eigentlich nicht, der Neugierde – zerstörte sich mit einem Male ganz von selbst, und er saß da, ein Häuflein Elend, mit runden Schultern, die nach vorne fielen, in der Hand das Sektglas, das leere, der Patient – ausgeliefert, krank in der Seele, unrettbar verloren!
Ein Blick zu Lodenbaron Rabitsch. Man unterhielt sich prächtig dort drüben. Die Trinks telefonierte noch immer.
Jetzt war Rabitsch aufgestanden und die Treppen in den Park hinuntergegangen. Sein helles Lodensakko strahlte im Mondlicht. Wieso geht er in den Park? Die Toiletten waren doch ...? Moll dachte an seine Lendenwirbelsäule und wagte nicht, sich ruckartig zu erheben, und doch zehrte eine unbändige Neugierde an seinen Nerven. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Lehnen und erhob sich ganz langsam. Keine Ahnung, wie lange er hier schon gesessen hatte, auf alle Fälle zu lange! Die Schmerzen in seinem Rücken waren erheblich.

Aber der Drang, dem Trachtenbaron unauffällig zu folgen, war stärker. Wer Moll so sah, den musste unweigerlich tiefes Mitgefühl befallen, ihn so leidend zu sehen, und es gelang ihm erst nach einigen mühevollen Schritten, sich selbstständig aus der weit nach vorn gebückten Haltung vollständig aufzurichten, begleitet von einer seufzenden Interjektion, aahhh, Ausdruck einer spontanen Gefühlsbewegung, leicht ablesbar aus dem Gesichtsausdruck sowie der Stellung seines Mundes, welche Schmerz signalisierte. So begab er sich, unbeobachtet von Trinks, die mit dem Gesicht in jene von ihm aus entgegengesetzte Richtung stand, ganz langsam, scheinbar völlig ohne bestimmtes Ziel, den Baron dabei nicht aus den Augen lassend, in Richtung der Treppen, die in die Parkanlage führten und an denen er nun vorsichtig hinunterstieg.
Zunächst waren seine Augen noch von der Terrassenbeleuchtung geblendet und konnten im Dunkel der Bäume und Büsche nichts ausrichten. So verharrte er vorläufig im Schutze einer mächtigen Thuje. Dort vorne war Rabitsch, ganz deutlich auszunehmen, in strahlend weißer Tracht, und offensichtlich bemüht, authentische Laute der Natur nachzuahmen. Vielleicht jene der Nachtigallen? Rabitsch übte das Modulieren des Klanges, erst hoch, dann etwas tiefer – das klang aber nicht nach Nachtigall – eher wie die Tritonschnecke – das Herakleumrohr – eine Nuance zerbrechlicher und etwas zu leise – aber er machte es geschickt – platzierte den Ruf so, dass zu erwarten war, das Wild würde in den nächsten Minuten zustehen – galt es doch als wahrscheinlich, es vom Rudel wegzulocken, was zwar nur in ganz seltenen Fällen gelang, aber bitte!

Dieser Teil des Rabitsch´schen Reviers, mit seinen Niederungen und Dickungen, beanspruchte den erfahrenen Fährtenleser voll und ganz, wies es doch zumeist kurz geschnittene Rasenflächen auf, dazwischen eingesprengt etliche Blumenbeete, in denen zweiundfünfzig Rosenarten ihr bunt duftendes Dasein fristeten. Doch immerhin gestattete es der kleinkörnige weiße Kies durch tiefere Abdrücke der Hufe, das Abfährten leichter erkennbar zu machen, welche Richtung das Wild letztlich genommen hatte. Moll schlich unauffällig hinter Rabitsch her, auf leisen Sohlen. Vor Rabitsch etwas Helles, das Tier – unvorsichtig und überhaupt nicht darauf bedacht, sich zu tarnen oder gar vor seinem Jäger verstecken zu wollen, nein, es fühlte sich offenbar völlig sicher in seinem dichten, mit trockenen Zweigen übersäten Bestand, ja, verursachte dabei sogar noch heftige Geräusche, derart, als ob es mit einem Mülleimerdeckel spielte.
Aber es stand noch nicht zu, trotz Rabitsch´s heftigster Lockungen. Und dieser war noch zu weit entfernt und musste wohl näher heran. Schwierig, in diesem dichten Unterwuchs, obwohl – der Wind stand günstig, wenn auch schwach – so könnte er es anpacken! Etwas störend dabei schien das helle Trachtensakko. Nicht unbedingt ein Tarnkleid. Doch, was gab es Aufregenderes, als so nahe der Beute zu sein, um sie in ihrem Einstand mit dem Ruf anzugehen? Und selbst wer niemals Jäger war, musste ihn spätestens jetzt empfinden, den Urinstinkt jagdlicher Triebhaftigkeit! So standen sie, hintereinander, in atemberaubender Stille und in unmittelbarer Nähe der geweihten Beute. Da brach es aus dem Unterholz! Fräulein Trixi, die Haushaltshilfe, mit einem Biokübel in der Hand.
„Ach! Jetzt bin ich aber erschrocken!“, rief sie Rabitsch zu, „haben Sie mich aber...“. Moll verschwand blitzschnell hinter einem Rosenstrauch und ging in Deckung. Diese Niedertracht! Moll war empört. Das hier sollte sozusagen zum „Wildbret“ werden! Schau dir an, dachte er, dieser Gauner! „Also, das tut mir jetzt aber leid“, log Rabitsch, „nie im Leben hätte ich daran gedacht, Ihnen Angst einzujagen, ehrlich! Ach, darf ich Ihnen behilflich sein? Geben S‘ her, das Küberl ist ja viel zu schwer für Sie!“, worauf Trixi diesen dem perfekten Gentleman mit zuckersüßem Lächeln übergab. Beide kehrten scherzend zur Villa zurück.

Moll krachten die Knie vom Hinhocken. Ein stechender Schmerz durchfuhr beide Minisken, das musste der Plural sein, schien ihm, sodass er schier aufschreien wollte, als er plötzlich nach hinten umkippte und auf dem Rücken zu liegen kam, wie ein Käfer in der Morgenstarre, das Laufwerk in die Höhe gerichtet. Gott sei Dank hatten sie ihn nicht wahrgenommen. Äußerst peinlich das Ganze! Als er ihre Stimmen kaum mehr hören konnte, drehte er sich in Bauchlage, um sich aus der Stellung „auf allen Vieren“ langsam zu erheben. Gottlob hatte seine Garderobe keinen Schaden genommen.
Also schlenderte er ebenso unauffällig, wie er gekommen war, der belebten Terrasse zu. Er stieg die Treppe hinauf, vorbei am Tisch der übrigen Gäste, die sich immer noch prächtig unterhielten. Vorbei am Lodenbaron, der ihn anlächelte und seinen Platz neben Lindakind wieder eingenommen hatte. Diese hatte, dank ihrer Naivität, natürlich nichts von seinem waidmännischen Ausflug bemerkt. Moll lenkte seine Schritte in Richtung einsame Rattansitzgarnitur am anderen Ende der Terrasse, gleich neben der Music-Band, wo Sybilla Trinks bereits auf ihn zu warten schien.
Bis auf das Getratsche und Gelächter der anderen war nichts zu hören, vielleicht ein wenig Tellerklappern und Gläserklirren aus der Küche, aber die Grillen waren lauter und der Wind säuselte noch immer leise in den Ästen der gewaltigen Bäume rund ums Haus und im rückwärtigen Teil der Parkanlage. Die Musiker bekamen soeben im Salon ihr Nachtmahl serviert.

„Wo sind Sie denn auf einmal hergekommen?“, fragte Sybilla Trinks ganz erstaunt. „Ich war ein wenig auf der Pirsch“, lächelte Moll und setzte sich. Trinks schüttelte ungläubig ihr hübsches Köpfen, während die Wellen ihres luftig leichten Haares das zarte, schmale Gesicht umspielten. Da waren sie wieder, diese Impulse ihrer Haut, die sein körpereigenes Radarsystem bereits mehrfach geortet hatten, wenn er ihr plötzlich wieder so nahe war, und versetzten ihn in einen Schwebezustand unerhörter Selbstverständlichkeit, Besitzender zu sein, Eigentümer ihrer geheimsten Gedanken und gar Wünsche, Momente, an denen man eben an die unglaublichsten Dinge zu denken imstande war, ohne auch nur ein Jota Logik zu gebrauchen.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15118

 

Feind und Helfer

Also pass auf, ich muss dir was erzählen: Ich bin Samstagabend mit meiner Freundin zu Hause gesessen, in meiner Floridsdorfer 35 m²-Wohnung und haben uns, aufgrund des Wetters, mangels anderer Alternativen, „Wetten, dass..?“ im Fernsehen gegeben, während mein temperamentvoller Nachbar in ein emotionsgeladenes Streitgespräch mit seiner Freundin verwickelt war.
„So, meine Damen und Herren… Wir kommen jetzt zur Kinderwette.“
„DU HURE, DU SCHEISS SCHLAMPE, HALT DOCH EINFACH EINMAL DIE GOOOOSCHN, OIDAAAAA“
„Der kleine Maximilian wettet…“
„SCHLEICH DICH VON MIR DU GSCHISSANE DRECKSAU“
„…dass er 400000 Telefonnummern, im Handstand auf dem kleinen Finger, mit verklebtem Mund durch die Nase, gleichzeitig innerhalb von dreißig Sekunden aufsagen kann, und währenddessen mit dem rausrinnenden Rotz einen detailgetreuen Stadtplan von New York im Maßstab 1:10000 zeichnen kann, mit im Centralpark enthaltenen Breakdanceburschen, die optisch nur zwischen zwölf und dreizehn Jahre alt sein dürfen, während seine Oma den türkischen Marsch rückwärts singt und ihm mit einem Kärcher mit voller Kraft auf den Kehlkopf sprüht.“
„ICH WETT MIT DIR, DASS DU MICH NÄCHSTES WOCHENENDE NOCH DREIMAL BETRÜGST, DU SCHEISS SCHLAMPE“
„Topp, die Wette gilt.“

Dann war ein lautes POCK zu hören, wie wenn etwas Schweres auf den Boden gefallen wäre, und danach nur mehr Stille. Meine Freundin hat mich fragend angeschaut. Wir waren einiges gewöhnt aus der Richtung unseres Nachbarn über uns, aber POCK und anschließende Stille war neu.
„Sollen wir nicht doch sicherheitshalber die Polizei rufen?“, fragte mich meine Freundin und schaute mich unsicher an.
Da war durch das gekippte Fenster ein Telefongespräch auf der Straße zu hören: „Ja, da schlagt einer ärgstens seine Freundin, ich hab’s ja grad ganz genau gesehen. Er hat sie gerade an das Fenster gedrückt und dann ist sie auf den Boden gefallen und seitdem sehe ich sie nicht mehr. Ich hab ja wirklich für viele Sachen Verständnis, aber wenn einer Frauen schlägt, dann ist Schluss. Bitte schickt‘s einen Wagen her. Das ist im zweiten Stock…“ Dann gab er die Adresse bekannt.
„Na bitte, da ist uns schon jemand zuvorgekommen. Sonst schimpft man immer, dass sich keiner für irgendjemanden interessiert, aber wenn es hart auf hart kommt, sind ja doch alle füreinander da. Finde ich leiwand. Mir macht nur irgendwie Angst, dass man jetzt die ganze Zeit nichts mehr hört, aber wenn der Typ sie wirklich so geschlagen hat, wie der auf der Straße gesagt hat, dann wird das der Polizei ja auffallen. Naja, werden wir ja sehen, die machen das schon“, habe ich zu meiner Freundin gesagt, und sie hat verunsichert, aber zustimmend genickt.

Fünfzehn Minuten später sahen wir es blau flackern vor dem Fenster, und meine Freundin atmete auf: „Na bitte, jetzt braucht die Arme da oben nicht mehr lange leiden mit dem Wahnsinnigen.“
Ich nickte zustimmend, fühlte mich aber dennoch einfach unwohl und hörte gleichzeitig, wie die Polizisten bei uns im ersten Stock am Gang herumstapften. POKPOKPOK machte es an der Tür und zwar so laut, dass ich glaubte, dass mir die Wohnungstür gleich durch das gesamte Vorzimmer fliegen würde. Meine Freundin öffnete hektisch die Türe und die vor uns stehende Polizistin sah mich mit tiefem Hass in den Augen an und ließ ihren, mich verachtenden, Blick auf meine Freundin schweifen, wo dieser sofort in mütterlich liebevoll umschwenkte: „Ist mit Ihnen eh alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt.
Ich war kurz verwirrt, doch verstand dann gleich, was die Dame glaubte: „Achso, nein. Bei uns ist alles in Ordnung. Ich glaube, dass es da um die Nachbarn über uns geht. Wir haben nämlich von oben einen Streit gehört und haben uns schon Sorgen gemacht und dann durch das gekippte Fenster gehört, wie eh Gott sei Dank gerade jemand die Polizei gerufen hat.“

Meine Freundin nickte angespannt. Die Polizistin sah uns beide noch einmal an und beschloss dann doch, mir zu glauben: „Naja gut. Weil ich bilde mir ein, dass die Leute auf der Straße gesagt haben, im ersten Stock, aber vielleicht habe ich mich auch verhört. Heast Lisa, geh amoi auffe und klopf. Genau die Wohnung über Ihnen haben S‘ g’sagt, gell? DIE WOHNUNG ÜBER IHNEN HABEN S‘ G’SAGT, LISA.“
Und wieder war das unvergleichbar laute Wohnungstürdurchsvorzimmerfliegklopfen zu hören. Stille… Wie aus einem Reflex schaute ich nach oben, in der Hoffnung, durch die Decke durchschauen zu können, und da war schon wieder das laute Klopfen der Polizistin durch das Stiegenhaus zu hören. Stille… und wieder noch lauteres Klopfen: „Polizei, moch’n S‘ de Tia auf, heast, oder wir sind gezwungen, sie aufzubrechen.“ Stille…
Die Polizistin, die vor uns stand, zuckte mit den Schultern: „Ja, wenn das so ist, dann muss wohl die WEGA her. Ich melde das einmal an die Zentrale. Darf ich mir gleich einen Grundriss von Ihrer Wohnung aufzeichnen? Ihre Wohnung ist eh genauso wie die Wohnung über Ihnen, oder?“
Ich rang mit den Händen: „Keine Ahnung, ich glaube schon.“
Während die Polizistin ihre Meldung bei der Zentrale machte, ging sie durch die Wohnung und malte auf einen gelben, kleinen, an der Oberseite verklebbaren Zettel, ich glaube in der Bürofachsprache heißt so was Post-it oder so, den Grundriss der Wohnung auf und ging dann in den zweiten Stock zu ihrer Kollegin.

Unsere Mitte sechzigjährige, aber noch sehr rüstige Nachbarin im selben Stock, die die ganze Zeit fasziniert in ihrer Wohnungstür gestanden war, flüsterte, nachdem die Polizistin weg war: „Die Polizei war ja schon einige Male da und jedes Mal hat er sich heimlich vorher geschlichen, dieser Unmensch. Jedes Mal haben sie angeklopft und keiner war da und sie sind wieder gegangen. Diesmal machen sie hoffentlich endlich einmal was. Ich finde das sowieso komisch, warum sich dieses Mädl, das mit ihm zusammen ist, das überhaupt antut. Die ist hübsch und hätte so was ja gar nicht notwendig. Da hörst du sie tagein tagaus schreien und herumpoltern und am nächsten Tag gehen sie wieder wie ein frisch verliebtes Pärchen durchs Stiegenhaus.“
Ich nickte und machte einen auf kollegial und verständnisvoll, um mehr Informationen von ihr zu bekommen: „Ja, komisch. Warum haben Sie das nicht gleich der Polizei gesagt?“
Sie schüttelte den Kopf wie ein kleines trotziges Kind, dem sein Essen nicht schmeckte und das gerade von den Eltern gefüttert wurde: „Oh nein. Ich rede nichts mit der Polizei, da bekommt man nur Schwierigkeiten, das interessiert mich nicht. Da halte ich mich raus.“
Ich war verwundert: „Na geh, wieso? Die gibt’s ja extra dafür, dass wir uns alle sicher fühlen. Die machen das schon, da mach ich mir keine Sorgen. Man muss ihnen halt nur die Fakten erzählen, für den Rest sind die ja eh ausgebildet.“

Die Nachbarin war nicht zu überzeugen und winkte ab: „Nein, nein. Vertrauen Sie mir, ich habe schon so viel erlebt, es ist besser, man hält den Mund bei so was. Kaum ist bei irgendwelchen Sachen die Polizei dabei, hat man schon Schwierigkeiten.“
Irritiert von der Haltung der Nachbarin, wollte ich wieder dagegen argumentieren, aber da hörte ich schon lautes Getrappel von vielen schweren Stiefeln und da kamen auch schon die Herren von der WEGA in voller Montur angerannt und fragten mich wieder: „Dürfen wir uns kurz Ihre Wohnung anschauen? Ist die eh genauso wie die Wohnung über Ihnen?“
Ich zuckte wieder mit den Schultern und antwortete: „Keine Ahnung, aber ich glaube schon.“

Nachdem alle Leute von der WEGA freudig, wie gesagt in voller Montur, durch meine Wohnung getrappelt waren, schaute ich kurz auf meinen Boden, der ein Gemisch aus leicht feuchtem Straßenstaub und ein paar gatschigen Erdbröckerln geworden war, und dachte bei mir: „Egal. Da geht es um eine Frau, die wahrscheinlich halb erschlagen in der Wohnung liegt und von ihrem geistesgestörten Freund bedroht wird, da ist es wirklich egal, ob die eigene Wohnung dabei dreckig wird, wenn man die Herren, die da gut helfen wollen, noch ein bisschen unterstützen kann, indem man ihnen das Durchschauen der eigenen Wohnung ermöglicht“, und kam mir kurz wie ein Held und ehrenhafter Helfer in wichtigen Staatsangelegenheiten fürs Volk vor und als ich gerade Heldenpose einnehmen wollte, unterbrach meine Selbstbefeierung ganz lautes, schnelles Getrappel aus dem zweiten Stock und BUM.
Das Haus vibrierte. Getrappel… BUM.
Da kam die Polizistin wieder zu uns runter: „Die Kollegen von der WEGA brechen gerade mit dem Rammbock die Türe auf.“
BUM… Getrappel… BUM DOCK. Die Tür schlug gegen die Wand… ganz ganz schnelles Getrappel genau über uns.
Die Polizistin schaute zufrieden: „So, jetzt werden die Kollegen von der WEGA das gleich geklärt haben.“
Stille… dann relativ lange langsames Getrappel, da kamen schon zwei Leute von der WEGA wieder zu uns hinunter: „Da ist niemand in der Wohnung“, und schauten uns vorwurfsvoll an.

Die Polizistin seufzte und wurde zornig: „Wollt‘s ihr uns veroaschen? Was soll das? Wie gibt’s das bitte?“
Ich war überfordert: „Ja ich weiß es nicht. Ich hab ober mir lautes Herumschreien gehört und dann durch das gekippte Fenster, wie jemand die Polizei gerufen hat, ab dann war es ruhig und nach zehn Minuten oder so sind Sie dann gekommen.“
Die Polizistin schaute mich an, mit einem Gesicht wie eine Bürofrau, deren Aktenordner man falsch bezeichnet hat: „Wir waren bereits nach acht Minuten da. Na gut, wenn das so ist, dann werden wir wohl noch einmal ganz genau die Leute auf der Straße fragen, wie das wirklich war.“

Als die Polizistin dann unten war, hörte ich schon: „Ja genau, bei dem Fenster haben wir gesehen, wie er sie dagegen gedrückt hat, ganz sicher“, und dachte mir: „Na endlich, wenigstens ein Zweiter, der das Gleiche sagt wie ich.“
Die Polizistin kam wieder hinauf und schaute mich zornig an: „Die Leute auf der Straße sagen, dass der Vorfall bei Ihrem Fenster zu sehen war. Was haben Sie bitte getan?“
Ich war fassungslos: „Ich hab gar nichts getan. Ich habe mir mit meiner Freundin „Wetten dass..?“ angeschaut im Fernsehen und den Rest habe ich Ihnen schon erzählt.“
Plötzlich bekam die Polizistin einen mütterlichen Blick und sagte ganz ruhig und verständnisvoll: „Seid s‘ beide einfach ehrlich zu mir. Habt s‘ euch einen Spaß erlaubt? Habt s‘ vielleicht ein bissl spaßhalber herumgerangelt und die Leute auf der Straße haben das falsch verstanden?“
Ich konnte immer noch nicht fassen, was da gerade passierte: „Nein, haben wir nicht. Wir sind, wie schon gesagt, die ganze Zeit vorm Fernseher gesessen und den Rest habe ich, wie gesagt, schon erzählt.“
Die Polizistin schüttelte den Kopf: „Hach, das gibt’s ja nicht. Was reden die Leute auf der Straße dann für einen Blödsinn? Ich hol die jetzt rauf, wenn das okay ist, damit wir da endlich Klarheit haben.“

Ich schüttelte bemüht verständnisvoll und kollegial den Kopf und seufzte ein gequältes „Ok“. Fünf Minuten später kam die Polizistin mit den Leuten herauf in meine Wohnung. „So, meine Damen und Herren. Also, waren das jetzt der junge Herr und die junge Dame, die Sie beim Fenster gesehen haben?“
Ein Ende 20-jähriger, ziemlich fertig aussehender Mann sagte: „JA, ganz genau, die zwei sind das gewesen. Ich hab‘s ganz genau gesehen. Das finde ich echt scheiße von dir, was du deiner Freundin da antust. So was ist echt nicht ok.“
Ich schaute drein, als wäre vor mir gerade ein Raumschiff gelandet: „Bitte was soll das jetzt? Ich habe nichts gemacht. NICHTS!!!“
Er nickte ungläubig: „Ja, das hab ich eh gesehen, wie du nichts gemacht hast mit deiner armen Freundin.“
Ein Mann von der WEGA murmelte dazwischen: „Naja gut, also die junge Dame schaut nicht aus, als stünde sie unter Schock und blaue Flecken kann man auch keine erkennen.“
Entrüstet entgegnete der Anschuldigende: „Er braucht ihr ja nur in den Bauch hauen, da sieht man keine blauen Flecken.“

Sehr bemüht meine aufkommende Wut zu unterdrücken, antwortete ich halbwegs ruhig: „Wenn das, was du sagst stimmen sollte, dann müsste man ja beim Fenster irgendwelche Spuren davon sehen, dass ich sie angeblich dagegengedrückt haben soll, abgesehen davon, war nicht die ganze Zeit vom zweiten Stock die Rede?“
Der WEGA Beamte klinkte sich wieder ein: „Siegst, des is a Idee. Helfen S‘ ma bitte, dass wir das Kastl wegstellen vom Fenster, sonst komm ich ja gar nicht zum Fenster hin, dass ich es mir anschauen kann.“
Ich riss mich zusammen und schlug mir nicht vor den Leuten mit der flachen Hand auf die Stirn: „Wenn nicht einmal Sie als ausgebildeter WEGA Beamter ohne fremde Hilfe überhaupt zum Fenster hinkommen, wie kann ich dann meine Freundin dagegengedrückt haben?“ Meiner Freundin wurde es zu viel: „Mich hat niemand irgendwann irgendwohingedrückt. Ich bin vollkommen unverletzt und habe nirgends blaue Flecken noch sonst irgendwas. Wenn Sie wollen, können Sie mich alle gerne untersuchen. Es ist alles ganz genauso gewesen wie mein Freund gesagt hat. Abgesehen davon, wenn er das wirklich getan hätte, warum sollte ich ihn jetzt verteidigen?“

Der Anschuldiger wurde nervös: „Die Leute vom Fenster gegenüber auf der anderen Straßenseite haben es ja auch gesehen. Fragen Sie die doch, wenn sie mir nicht glauben.“
Die Polizistin verdrehte die Augen: „Jetzt gehen S‘ bitte alle einmal raus und wir werden uns um den Rest kümmern. Liebe Kollegen von der WEGA, ihr bleibts bitte da zur Sicherheit und ich geh rüber zu den Leuten von der anderen Straßenseite.“
Als die Polizistin weg war, stellte sich ein Herr von der WEGA breitbeinig vor mich hin und sprach: „So. Wir nehmen jetzt einmal Ihre Daten auf. Haben S‘ einen Ausweis da? Pass?...“
Von meiner Freundin wurden ebenfalls die Daten aufgenommen.

Nach fünfzehn Minuten kam dann die Polizistin wieder mit einem dunkelroten Kopf herein und brüllte meine Freundin an: „JETZT SAGEN SIE MIR ENDLICH DIE WAHRHEIT!!!“
Man konnte meiner Freundin ansehen, wie gleichzeitig Wut und Ärger über ihre Hilflosigkeit in ihr hochstiegen: „Was für eine Wahrheit? Wir haben Ihnen alles schon erzählt.“
Die Polizistin war außer sich: „SIE SIND DIE FREUNDIN VON DEM NACHBARN OBEN UND DER DA (sie zeigte auf mich) IST SEIN BRUDER UND SIE HABEN MIT BEIDEN WAS GEHABT UND DANN IST ES ZUM STREIT GEKOMMEN!!! DESWEGEN STIMMT AUCH DAS MIT DEM ZWEITEN STOCK, WEIL SIE NÄMLICH ZU DEM ZEITPUNKT, WO SIE GESEHEN WURDEN, ALLE OBEN WAREN!!!“

Die ganze Situation war derartig krank, dass ich gar nicht mehr aufgebracht, sondern wieder ganz ruhig war: „Also erstens bin ich ein Einzelkind. Zweitens kenne ich den oberen Nachbarn nicht und habe den vielleicht exakt zwei, drei Mal im Stiegenhaus gesehen, geschweige denn waren meine Freundin oder ich jemals in dessen Wohnung.“
Die Polizistin schaute Richtung Himmel: „Also Sie sagen, dass keiner von Ihnen den oberen Nachbarn kennt und Sie auch nicht mit ihm verwandt sind?“
Ich nickte zustimmend und die Polizistin legte sich selbst ihre Hand flach auf die Stirn: „Tun Sie mir einen Gefallen? Ich werde jetzt noch einmal hinuntergehen zu den Leuten vom gegenüberliegenden Haus, die Sie angeblich auch gesehen haben. Stellen Sie sich daweil zum Fenster und dann schauen wir, ob es sich nicht doch um einen Irrtum handelt.“

Ich nickte wieder bemüht freundlich und stellte mich zum Fenster. Als die Polizistin unten angekommen war, hörte ich sie fragen: „Meine Damen und Herren, Sie sehen dort beim Fenster im ersten Stock jetzt einen jungen Herren und eine junge Dame, waren es die beiden, die Sie gesehen haben?“
Wie wenn die Leute es geübt hätten, antworteten sie quirlig und hektisch: „JA, ganz genau die beiden waren es. Wir haben es ganz genau gesehen.“
Ich spürte wie sich mein Magen zusammenkrampfte, mir eiskalt auf Händen und Füßen wurde und ich zu zittern begann. Mir gingen dauernd Floskeln durch den Kopf wie: „Wenn du dich lang spielst, dann zeig ich dich an“ oder „Soll ich die Polizei holen, oder können wir uns auch ohne offizielle Hilfe weiter normal unterhalten?“
Wer sollte mir jetzt helfen? Zu wem sollte ich gehen? Man ist in fast allen Situationen im Leben gewöhnt, dass es noch einen letzten Rettungsanker gibt, noch eine letzte Möglichkeit, die einen, falls alles nichts mehr hilft, doch noch aus dem Dreck zieht. Was war es diesmal? Alle Leute, mit Ausnahme meiner Freundin, waren gegen mich, inklusive der Polizei und es gab nichts Handfestes, mit dem ich das Gegenteil beweisen konnte.

Da fiel mir wieder meine ältere freundliche Nachbarin ein: „Kaum ist bei irgendwelchen Sachen die Polizei dabei, hat man schon Schwierigkeiten.“ Dabei konnten die in dem Fall gar nichts dafür. Die hatten zwei Seiten, die das exakte Gegenteil voneinander behaupteten, zu einer wahrscheinlich doch sehr ernsten Angelegenheit, die dringend geklärt hätte werden sollen. Die Polizistin kam wieder herauf: „Also ich nehme an, dass Sie gehört haben, was die Leute unten gesagt haben.“
Jetzt meldete sich die Nachbarin doch zu Wort: „Hern S‘, das ist ein netter junger, höflicher Herr. Ich wohne seit vierzig Jahren in dieser Wohnung und habe noch nie einen so netten, zuvorkommenden Nachbarn gehabt. Noch nie hatten wir im Entferntesten ein Problem mit ihm, und ich hab auch noch nie irgendetwas Absonderliches gehört aus seiner Wohnung, also bitte. Da kann es sich wirklich nur um einen Irrtum handeln.“

Die Polizistin nickte mit routiniertem Zuhörgesicht: „Das mag alles sein, aber auch der freundlichste, netteste Mensch kann einmal durchdrehen.“
Sie wandte sich wieder meiner Freundin zu und schaute sie durchdringend an: „Also Ihnen fehlt nichts und Sie sagen, dass nichts von den Anschuldigungen gegen Ihren Freund stimmt?“
Meine Freundin nickte: „Ja, mir geht es gut und es stimmt nichts von den Anschuldigungen.“
Die Polizistin zuckte wieder mit den Schultern: „Gut. Dann werden wir alle wieder zurück aufs Revier fahren und einmal Ihre Daten überprüfen. Es kann sein, dass Sie eine Zeugenaussage machen müssen, aber da werden Sie dann eh schriftlich verständigt und da steht dann auch alles drin, was zu berücksichtigen ist. Guten Abend.“

Nachdem die Tür zu war, legten sich meine Freundin und ich ins Bett und zitterten. Wir waren beide eiskalt und trotzdem rann uns kalter Schweiß runter. Beide hatten wir das Gefühl, als müssten wir uns jeden Moment übergeben, weil unsere Mägen so verkrampft waren und so verbrachten wir die Nacht.

Am nächsten Tag in der Früh hörten wir, wie jemand im Stiegenhaus in den zweiten Stock ging, dann BUM: „OIDAAAAAAAAAAAAAAAA!!! WARUM HABEN DIE HURENKINDER MEINE WOHNUNG AUFGEBROCHEN? ICH BRING DIE UM OIDAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA, AAAAAAAAAAAAAAAAAAH"

Und man hörte, wie in der Wohnung über uns Sachen gegen die Wände flogen. Meine Freundin begann zu weinen: „Bitte, lass uns fahren. Ich mag nicht mehr hier sein. Bitte dürfen wir einfach wegfahren von hier. Ich mag weg. Ich hab Angst. Ich will nicht mehr. BITTE BITTE.“
Obwohl ich genau das Gleiche empfand, stieg Zorn in mir hoch. Wie kam ich dazu, obwohl ich absolut nichts Falsches gemacht hatte, wegen diesem Arschloch, aus Angst meine eigene Wohnung verlassen zu müssen. Der hatte eine schöne Nacht irgendwo anders, und ich hatte meine Nerven weggeschmissen, die ganze Nacht nichts geschlafen, die Polizei inklusive WEGA in der Wohnung, sechs Leute, die mich für etwas beschuldigten, das ich nicht getan hatte, und Angst um mich selbst und meine Freundin, in meiner eigenen Wohnung, und jetzt ging dieser Schwachsinn auch noch weiter mit dem Typen, der schuld an all dem war und gerade wieder einmal über uns durchdrehte.
Als er noch lauter zu schreien begann und man Glas zersplittern hörte, bekam meine Freundin einen Weinkrampf: „BITTE lass uns endlich fahren. Was ist, wenn der Wahnsinnige zu uns runterkommt? Ich will das nicht. Bitte fahren wir endlich.“
Ich konnte ein: „Na der soll sich hertrauen“ nicht zurückhalten, obwohl mir nur beim Gedanken daran, wie das dann tatsächlich wäre, wenn der wirklich herkommen würde, schon schlecht wurde, aber was tut man nicht alles, damit sich die Freundin sicher fühlt.

Nach: „OIDA ICH BRING DEN SO UM, DER DIE POLIZEI GERUFEN HAT. DAS WAR SICHER IRGENDEIN SCHEISS NACHBAAAAAAAAAAAAAAAR“, ließ ich mich dann aber dennoch relativ flott überreden, mit dem Auto durch die Gegend zu fahren.

Nach einigen Wochen und ein paar freundliche Stiegenhausbegrüßungen mit dem geistesgestörten Nachbarn später fühlte ich mich wieder sicher in meiner Wohnung. Im gewohnten Alltagstrott schaute ich in mein Briefkästchen und mir versetzte es gleich wieder einen Stich. Eine Zeugenladung der Polizei zu dem Vorfall am…blablabla. Ich zählte die Tage bis zum Datum der Zeugenladung und mich quälten die Fragen, die mir dauernd durch den Kopf gingen. Was ist, wenn die mich wirklich einsperren? Was ist, wenn das dort so weitergeht wie in der Nacht damals, dass weiterhin alle gegen mich sind und sich einig darin sind, dass ich meine Freundin geschlagen hab? Ich kam mir dabei so blöd vor. Wie in einem billigen Krimi, wobei wenn man darüber einen Film machen würde, würden die Leute sicher sagen: „Geh bitte, so ein Blödsinn, so was gibt’s ja gar nicht, naja denen fällt ja auch nichts mehr zum Verfilmen ein.“
Jetzt war der Tag da. 13:00 Uhr, beim Revier Floridsdorf.

Ich war zwanzig Minuten zu früh dort, also wartete ich mit schweißnassen Händen und wild hüpfendem Herz auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo ich ein Gespräch von einem kleinen Menschengrüppchen mithören durfte: „Und wie lange sperrens dich ein?“ „Naja, die haben gesagt, dass ich schon mindestens drei Jahre rein muss und ich jetzt aber noch auf die Gerichtsverhandlung warten muss. Vielleicht kann man es, wenn ich Glück habe, noch auf ein halbes Jahr verkürzen.“ „Ja super, und was mach ich jetzt? Ich hab zwei Kinder von dir und keinen Job.“ Mir wurde schlecht. Ich beschloss, noch eine Runde spazieren zu gehen, um nicht weiter zuhören zu müssen.
Endlich war es 12:59. Ich ging hinein und hörte von dem sympathischen Kollegen hinter dem Panzerglas: „Tag. Wos gibt’s?“ Ich antwortete mit zittriger Stimme: „Ich komme zur Zeugenladung um 13:00 Uhr.“
Die Tür schnappte auf, ich ging hinein und schaute mich ratlos um, da ich ja nicht wusste, wo ich hingehen sollte, also wandte ich mich wieder zum Panzerglaskollegen, doch bevor ich Luftholen konnte: „Der Kollege kummt glei, woatn S‘ do.“ Nach zwei Minuten kam ein diesmal tatsächlich sympathisch aussehender, Mitte vierzigjähriger Mann in T-Shirt und Jeans und begrüßte mich mit freundlichem Grinsen und einer Stimme, als würde er alle fünf Minuten zwanzig Zigaretten auf einmal rauchen und sich dazwischen fünf Stamperln Whiskey genehmigen. „Kommen S‘ bitte mit in mein Büro, mach ma das dort.“
Ich grüßte freundlich zurück und ging ihm nach wie ein schüchternes Hündchen, dem gerade sein neues Herrchen vorgestellt wurde. Sein Büro sah ganz unspektakulär aus. Nirgends hing eine Pinnwand mit Mordfallbildern noch sonstigen Klischees, die man immer in Fernsehserien zu sehen bekommt. „Nehmen S‘ bitte Platz.“ Dann fragte er mich nach meinen persönlichen Daten und sagte dann: „So, na dann erzähl’n S‘ einmal.“

Ich war so nervös, dass logisches Denken nur schwer möglich war: „Also einfach so von Anfang bis zum Schluss, wie es gewesen ist?“ Er nickte ruhig und routiniert, also begann ich zu erzählen, plötzlich fing er an zu tippen, wodurch ich aufhörte zu reden und fragte: „Achso, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass Sie noch etwas erledigen müssen, oder soll ich eh trotzdem weitererzählen?“
Er nickte: „Jaja, erzählen S‘ nur weiter.“ Erst nach einiger Zeit kapierte ich, dass er einfach eins zu eins abtippte, was ich sprach und er das nicht gleich von sich aus sagte, damit die Leute dann nicht stundenlang herumüberlegen, was sie sagen sollen, also ließ ich mir von erzähltem Satz zu erzähltem Satz, einfach immer mehr Zeit, um auf keinen Fall irgendetwas zu sagen, was man missverstehen hätte können, aber da er andauernd bestätigend nickte und ihm anzusehen war, dass er sich das, was ich erzählte, in etwa so erhofft hatte, machte ich mir keine Sorgen mehr, bis ich mich selbst sagen hörte: „…ja und das wars dann eigentlich.“
Er nickte wieder zustimmend und schaute mir extrem ruhig, aber sehr durchdringend in die Augen: „Und Sie kennen den Herrn, der über Ihnen wohnt, nicht?“ Ich verneinte: „Nein, also halt nur vom Sehen im Stiegenhaus.“ Er nickte wieder: „Haben Sie eine weibliche Stimme bei dem Streit gehört?“ Ich verneinte: „Nein, eigentlich nicht. Ich habe immer nur ihn schreien gehört.“ Er nickte und schaute weiter durchdringend und ruhig: „Hätte es sein können, dass der Streit am Telefon stattgefunden hat?“ Ich hob die Schultern und drehte meine Handflächen nach oben: „Das kann ich nicht sagen.“
Er nickte wieder verständnisvoll: „Ja, das ist eh klar. Gibt es sonst noch etwas, das Sie mir sagen wollen?“ Ich zögerte ein bisschen und entschloss mich dann aber dennoch dazu: „Ich hab mir eigentlich vorgenommen, das nicht zu sagen, aber ich finde es einfach echt nicht lustig, dass ich von allen Seiten beschuldigt wurde, obwohl ich exakt genau nichts gemacht habe. Ich habe nicht einmal einen lauten Schas gelassen in meiner Wohnung.“
Ein mitfühlendes Grinsen war zu erkennen: „Ja, das verstehe ich schon, dass das nicht lustig ist.“ Ich schnaubte Zustimmung einfordernd: „Aber wie gibt es so was?“ Er hob die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern: „Ich glaube, da hat sich einfach wer verschaut. Also danke, dass Sie bei den Ermittlungen geholfen haben. Nach der zweiten Tür links und dann sind S‘ eh schon beim Ausgang. Auf Wiedersehen.“
Er grinste mich freundlich an, ich grinste zurück, wir schüttelten uns die Hände und ich verließ das Revier.

Ich fühlte mich wie Gott, als ich die Straße hinunterging und wusste, dass es endlich geschafft war und gut ausgegangen ist. Die Ereignisse liefen in meinem Kopf noch einmal von Anfang an bis zum Schluss durch und Erleichterung machte sich breit, die sich aber plötzlich zu Ärger umwandelte. Ich habe doch eigentlich nichts gemacht, wie komme ich dazu, jetzt erleichtert sein zu müssen, obwohl ich es gar nicht verdient hatte, mich überhaupt schlecht zu fühlen? Wie gibt es das, dass so viele blöde unnötige Zufälle für so einen riesengroßen Schas sorgen? Das ist wieder einmal typisch mein Leben. Andere Leute fladern bei jedem Supermarkt den halben Einkauf und werden nie erwischt und ich mach gar nichts und werde beschuldigt, meine Freundin zu schlagen und muss als Dank dafür auch noch zu einer Zeugenladung. Andere schauen sich dafür „WEGA – Die Spezialeinheit der Polizei“ auf ATV an, weil sich sonst nichts Spannendes abspielt in deren Leben. Das kann ich bei mir wohl nicht behaupten, wobei es mich noch immer mehr ärgert als ich es unterm Strich lustig finde. Der unvergleichliche, sensationelle und geniale GUNKL hätte an dieser Stelle wohl „Gleichviel“ gesagt, um diese Geschichte mit einem Zitat von einem genialen Menschen zu beenden.

Lukas Lachnit
Kurzgeschichten: fiktiv, enorm, abnorm | Fleischlabel ©2012

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15067

 

Unfair, fair

Vivien durfte sich von dem erbärmlichen Anblick, den Jeremiahs Eltern abgaben, nicht täuschen lassen. Der erste Schock würde bald überwunden sein und sie würden sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass sie einen Sohn hatten. Seine Mutter hatte verheulte Augen und zitterte am ganzen Körper in den Armen ihres Mannes, der offensichtlich seit Tagen nicht geschlafen hatte. Er hob seinen Kopf und starrte Vivien mit leeren Augen an.
Er wusste es. Viviens Herz raste. Sein Blick schien durch sie hindurchzugehen. Er wandte sein Gesicht ab und vergrub es in den zerzausten Haaren seiner Frau. Nein, er konnte es nicht wissen. Dazu war er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Im ganzen Turnsaal der Schule wuselten andere Eltern herum und versuchten, sich gegenseitig in ihrer Anteilnahme zu übertreffen, während sie heilfroh darüber waren, dass nicht das Foto ihres eigenen Kindes als Plakat an der Wand hing.
Seit fünf Tagen wurde Jerry vermisst, mittlerweile beteiligte sich fast die ganze Vorstadt an der Suche. Auch von außen wurde zusätzliche Hilfe angefordert, Helikopter kreisten über den Wäldern und Suchhunde schnüffelten sich durch die Gegend. Jeremiahs Eltern hatten wirklich Talent, Menschen für ihre Sache zu gewinnen, das musste man ihnen lassen.
Aber sie würden ihn nicht finden.

Vivien wusste, dass es falsch war, einen Lieblingsschüler zu haben, aber diesen aufgeweckten Sechsjährigen konnte man nur gern haben. Sie hatte immer versucht, ihn nicht den anderen Kindern vorzuziehen, was ihr manchmal mehr, manchmal weniger gelang. Im Laufe des letzten Jahres war Jerry immer stiller geworden und Vivien musste mit ansehen, wie sich eine gewisse Traurigkeit über seine kindliche Neugier legte und sie zu ersticken drohte.
Sie war in den ersten drei Tagen immer auf den Beinen, stapfte mit den Suchtrupps durch die Landschaft und heuchelte Jerrys Eltern ihre Anteilnahme vor. Mittlerweile musste sie fast nichts mehr vorheucheln, das Mitleid war echt geworden. Das hatte sie nicht erwartet. Eng umschlungen saßen sie in der Mitte des Turnsaales auf einer alten Turnbank, während um sie herum die Suchtrupps koordiniert wurden und Freiwillige deren Verpflegung herbeischafften. Die Turnbank stand tatsächlich fast genau auf der Mittellinie des im Saal aufgezeichneten Fußballfeldes, genau darüber hing eine Natriumdampflampe und leuchtete den Mittelkreis aus. Vivien hatte sich schon gefragt, ob das Zufall war oder wirklich einer absichtlichen Inszenierung zugrunde lag.
Ihr Herz raste noch immer. Sie riss ihren Blick von Jeremiahs Eltern, steuerte mit schnellen Schritten auf den Hinterausgang zu und stürzte atemlos in die kalte Herbstnacht. Sie wollte sich übergeben, aber der Brechreiz blieb aus. Sie musste jetzt stark bleiben, sie hatte das Richtige getan.
Vivien atmete ein paar Mal tief durch und zwang sich, wieder den Turnsaal zu betreten. Barbara, die Direktorin der Schule, legte im Vorbeigehen ihre Hand sanft auf Viviens Schulter und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie musste ziemlich mitgenommen aussehen. Das war ihr nur recht, als Jerrys Lehrerin musste sie natürlich besonders betroffen wirken. Das wäre sie auch wirklich gewesen, wüsste sie nicht, dass er jetzt an einem besseren Ort war.
Den Rest des Abends verbrachte Vivien damit, die sich abwechselnden Suchtrupps mit Essen und warmen Getränken zu versorgen. Sie versuchte dabei, Jeremiahs Eltern so fern wie möglich zu bleiben, weil sie deren Anblick nur schwer ertragen konnte.

Nach einer fast schlaflosen Nacht saß sie mit einer starken Tasse Kaffee an ihrem Küchentisch und dachte an Jeremiah. Ein herzensgutes Kind, von seinen ignoranten Eltern im Stich gelassen. Man weiß etwas erst zu schätzen, wenn man es verloren hat, dachte Vivien. Im Fall der zwei war dieses Etwas ihr Sohn.
Nun war es zu spät.
Viviens Mitleid für Jerrys Eltern schwand wieder, jetzt, wo sie ihnen nicht in die Augen sehen musste. Sie starrte in die dampfende Kaffeetasse. Warum hatte sie überhaupt Kaffee gemacht, sie war viel zu aufgekratzt, um an Schlaf auch nur zu denken.
Sie sprang auf und rannte ins Badezimmer. Als sie sich über die Kloschüssel beugte, blieb der Brechreiz wie am vorigen Abend wieder aus. Die Spannung zerriss sie innerlich, und es gab nur einen Weg, diese Qual etwas zu lindern.

Vivien musste wissen, wie die Dinge standen, auch wenn das bedeutete, die Vereinbarung zu brechen. Sie musste Lisa fragen. Hastig zog sie ihren braunen Parka an und setzte sich die Pelzkapuze und eine große Sonnenbrille auf. Von ihrer Wohnung bis zum Internetcafe waren es mit dem Auto fünfzehn Minuten. Erleichtert kam sie, ohne jemanden von der Polizei gesehen zu haben, dort an. Sie und ein junger Asiate, der sie nicht beachtete, waren die einzigen dort so früh am Morgen. Auch vom Besitzer war keine Spur zu sehen. Leise arabische Musik drang durch die Lautsprecher aus der Decke. Ohne die Kapuze oder ihre Sonnenbrille abzusetzen, ging sie auf den PC in der Ecke zu und bemühte sich, dabei so gelassen wie möglich auszusehen. Sie warf ein paar säuberlich abgewischte Münzen in den Zähler und loggte sich in das E-Mail Postfach ein, das sie für diesen Zweck angelegt hatte.
Eine neue Nachricht. Vivien starrte auf die Meldung.
Nur Lisa kannte diese Mailadresse. Das bedeutete, sie hatte sich auch nicht an die Abmachung gehalten. War etwas passiert?
„Was haben wir getan. Warum habe ich mich von dir dazu überreden lassen? Wir kommen niemals damit durch. Wir müssen es zugeben. Ich drehe hier noch durch ohne dich. - B“
Es wäre gelogen gewesen, wenn Vivien behauptet hätte, nicht dasselbe gedacht zu haben. Sie überlegte kurz. Hoffentlich hatte Lisa noch nichts Unüberlegtes getan.
„Für Reue ist es zu spät. Es ist auch für mich sehr schwer, aber wir müssen stark bleiben. Erinnere dich daran, warum wir es getan haben. Es ist für alle das Beste, das weißt du. Er wird es auch bald verstehen. Bleib stark, es wird alles gut. - A
P.S.: Ich weiß, dass es ihm bei dir gut geht, du musst auch für ihn die Nerven bewahren. Ich werde bei dir sein, sobald es möglich ist.“

Vivien loggte sich aus, wischte mit ihrem Ärmel die Tastatur ab und verließ das Cafe. Der andere Gast hatte nicht ein einziges Mal den Blick von seinem Bildschirm abgewandt.
Auf dem Weg zur Schule fuhr sie an einer Hundestaffel und einer Gruppe Freiwilliger vorbei. Sie blieb am Straßenrand stehen und versuchte durchzuatmen.
Vivien umklammerte fest das Lenkrad und musste an ihr letztes Gespräch mit Jerrys Eltern denken, drei Monate bevor er verschwunden war.
Zu mehreren Anlässen schon hatte sie Jeremiahs Eltern darauf aufmerksam gemacht, dass ein so aufgewecktes und neugieriges Kind besondere Aufmerksamkeit und Zuwendung brauchte und dass sie als seine Lehrerin nur als Unterstützerin in seiner kindlichen Entwicklung dienen könnte. Für seine Erziehung und Förderung waren sie selbst zuständig. Und jedes Mal kam Vivien vor, als würde sie an den beiden vorbeireden. Ihnen war die Entwicklung ihres Sohnes scheißegal.
Sie beteuerten anfangs noch, Jeremiah in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, aber je öfter Vivien mit ihnen redete, desto weniger strengten sie sich an, dieser lästigen Lehrerin auch nur vorzumachen, um die Entwicklung ihres Sohnes besorgt zu sein. Jeremiahs Vater war mittlerweile sichtlich genervt von den Belehrungsversuchen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er mit der Frechheit, die Vivien sich herausnahm, ihm vorzuschreiben, wie er seinen Sohn zu erziehen hatte, nicht wirklich einverstanden war. Er blieb zwar immer höflich, ließ aber keinen Zweifel daran, dass er dieses Gespräch vergessen haben würde, sobald er den Raum verlassen hatte.
Das selbstgefällige Grinsen war im Turnsaal von seinem Gesicht verschwunden. Jeremiahs  Mutter gab sich zwar immer besorgt, war schlussendlich aber die gleiche Ignorantin wie ihr Mann. Was sollte man auch von Eltern, die beide in der Werbung unverschämt viel Geld verdienten, erwarten.

Vivien konnte sich nicht erklären, warum ihr gerade Jerry so am Herzen lag, es gab in ihrer Klasse auch ein paar andere Kinder, denen etwas mehr Aufmerksamkeit guttäte. Er hatte einfach etwas an sich, dem Vivien nicht widerstehen konnte. Warum seine Eltern das nicht so sahen, war ihr rätselhaft. Seine Eltern schlugen ihn nicht, sie ließen ihn nicht ohne Aufsicht allein, sie taten nichts, was eine Intervention von außen rechtfertigte. Sie taten einfach gar nichts.
Wenn er nicht in der Schule war, verbrachte Jerry die meiste Zeit mit den ständig wechselnden Kindermädchen, die sein Vater an- und vermutlich auch abschleppte. Das letzte Gespräch hatte wieder denselben Ausgang genommen. Jerry Eltern versprachen, sich mehr um ihn zu kümmern und schwebten mit ihrem typisch herablassenden Grinsen aus dem Klassenraum. Jerry wäre an der Gleichgültigkeit seiner Eltern noch zugrunde gegangen.

Als sie nach dem Elternabend zuhause ankam, musste sie ihren Frust loswerden. Robert war noch im Büro, also musste sie ihre beste Freundin anrufen.
„Jerry mal wieder, hm?“, wurde sie von Lisa begrüßt.
„Woher wusstest du das?“
„Es ist jetzt kurz nach sechs und wenn ich mich recht erinnere, hattest du heute Elternsprechtag.“
„Es ist einfach nicht fair, die können das arme Kind doch nicht ungestraft so vermurksen.“

Samuel Deisenberger

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