Bamboo

Was hat die Schlacht bei Mogersdorf mit Bambus zu tun, könnte man fragen. So direkt gesehen – eigentlich nichts. Und doch – ich werde versuchen, ob ich nicht doch eine gewisse Chronologie in die ganze Sache bringen kann.

Man schrieb das Jahr, nicht 1664, nein, sondern 2008, als ein lieber Freund auf Drängen seiner geliebten Gattin, der besten Ehefrau von allen (dieser Begriff dürfte von Ephraim Kishon rechtlich geschützt sein, aber mein Freund verwendete ihn trotzdem, es könnte doch durchaus sein, dass es mehrere beste Ehefrauen von allen gab) sich dazu überreden ließ, einen Tagesausflug nach St. Gotthard, genauer gesagt nach Szentgotthárd in Ungarn, einer Kleinstadt mit etwa 9000 Einwohnern, nahe dem burgenländischen Mogersdorf zu unternehmen.
Der liebe gute Freund willigte also ein, und so fuhren die beiden in diesen für sie bis dato völlig unbekannten Ort, dessen Geschichte überdies äußerst bemerkenswert ist. Warum? Nun, weil in dieser Gegend eine der berühmtesten Schlachten zwischen Orient und Okzident ausgetragen worden ist, nämlich die Schlacht bei Szentgotthárd, die nach individueller neuerer Geschichtsschreibung eigentlich stets die Schlacht bei Mogersdorf genannt wurde. Und dieses Mogersdorf liegt nun einmal im heutigen Burgenland.

Warum jedoch diese Uneinigkeit wegen einer Schlacht, könnte man nun wiederum fragen? Das kommt daher, weil 1664 offensichtlich Mogersdorf der Mittelpunkt dieses Gemetzels zwischen Muselmanen und Christen gewesen sein soll. Irgendwann hat man dann den Ort der Schlacht von ursprünglich Szentgotthárd Mogersdorf zugeschrieben, um dort ungestört eine eigene Gedenkstätte errichten zu können, so wie es bei uns ja auch nichts Besonderes ist, dass manche Bundesländer sogar ihren Schutzheiligen auswechseln, wenn sie seiner überdrüssig geworden sind.

Außerhalb Österreichs ist die Auseinandersetzung von 1664 immer noch als Schlacht von St. Gotthard bekannt, was den Eindruck verstärkt, dass der Erinnerung an sie, vor allem im Burgenland, vermehrt identitätsstiftende Wirkung zukommen sollte.
Aber darum geht’s eigentlich gar nicht in dieser Geschichte. Es geht vielmehr darum, dass mein lieber Freund und dessen Gattin nach Besichtigung des Ortes und dessen ebensoberühmter und schönster Barockkirche Ungarns, die wegen ihrer hervorragenden Akustik ein idealer Platz für Orgelkonzerte ist, unter anderem auch eine Gärtnerei entdeckt hatten.

Nachdem sie die zahlreichen Pflänzchen und Bäumchen und Sträuchlein gebührend bewundert hatten, wurden sie im hintersten Winkel des Glashauses eines Stöckchens mit: jö, ein Bambus!, genau, eines Bambus‘, in der Größenordnung eines Bonsai gewahr, aus dem drei, vier blassgrüne Hälmchen in etwas trockener Erde ihr trauriges Dasein in einem winzigen Tongeschirr fristeten.
Diesen am Fensterbrett in der Stadtwohnung zu hegen und zu pflegen durfte nicht viel Arbeit in Anspruch nehmen, überlegten die beiden und kauften das arme Ding für ein paar Forint, in der Absicht, ihm daheim ein besseres Leben als hier bieten zu wollen. So weit, so gut.

Wäre da nicht auch noch das Wochenendhaus meiner lieben Freunde gewesen, mit einem wunderschönen wilden Garten und einer ebenso wilden Terrasse, von wo aus man die ganze Wildheit seiner Natur von einem wackeligen Kaffeetischchen aus gut überblicken konnte. So weit, so gut.
Der Bonsai durfte sozusagen vom Schoß der Hausherrin aus also gleich einmal diesen Blick ausreichend genießen, sobald man hier angekommen war und den obligaten Kaffee genommen hatte. Wer von den beiden hätte gedacht, dass das der Moment einer folgenschweren Entscheidung war? Ob man das arme Ding, die Rede war vom Bonsai, nicht am oberen Ende des Gartens einfach in die Erde setzen wolle, vielleicht erholte er sich dort oben schneller, und wenn aus ihm ein richtiger Bambus geworden war, könne man ihn ja immer noch in einen größeren Topf umsetzen und dann mit in die Stadt nehmen.

Gesagt getan. Der Bonsai kriegte einen Ehrenplatz inmitten von Flieder und Pfingstrosen, zwischen Trauerweide und Apfelbaum. Was wollte er mehr? Aber er wollte mehr. Schon nach einem knappen Jahr hatte er mindestens zwanzig süße kleine grüne Triebe rund um sich verteilt geboren und mein lieber guter Freund und dessen teuerste Gattin hatten ihre große Freude an dem vermehrungsfreudigen Gesträuch. Und da er demnach in der Genesungsphase war, einer Art Pflanzenrehab, ließ man ihn in Ruhe und ihn und seinen Trieben selbständig überlassen.

Ein weiteres Jahr verging. Mein lieber Freund hatte beim wöchentlichen Rasenmähen zwar bereits bemerkt, dass er rund um den Bonsai so manch einen seiner triebhaften Auswüchse mitmähte und sich herzlich wenig darum gekümmert, wie viele neue Triebe dabei gewesen waren. Doch langsam wurde er stutzig, als er diese zu zählen begann und auf die Zahl fünfundsechzig kam. Er überlegte, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehen konnte.
Also sagte er zur besten Ehefrau von allen, du Hasi, ich glaub, man muss unseren kleinen Bambus da oben ein wenig in die Schranken weisen, denn der glaubt, dass ihm der Garten hier allein gehört.
Mach nur, sagte die Hasi, und daraufhin begann mein lieber guter Freund, einen im Radius etwa zwei Meter großen Kreis um den Bambus zu mähen.
So, sagte er zufrieden, als er sein Werk betrachtete, und von nun an bist du hier eingezäunt und hast dich nicht über die Demarkationslinie zu bewegen. Was er aber nicht wusste, war, dass sich der Bonsai herzlich ins Wurzelchen lachte und dachte, mein lieber Guter, du kannst mich mal, denn ich wachse dorthin, wohin es mir passt, und damit Schluss!

Wieder war ein Jahr vergangen. Der störrische Bonsai hatte die gedachte und sinnvoll gemähte Linie bereits zum hundertsten Mal übertreten und mein lieber guter Freund kam gar nicht mehr nach, dessen ausufernde Triebe abzumähen und umzuschneiden.
So, aber irgendwann reicht’s, hatte er zu seiner Hasi gesagt, nämlich jetzt! Was meinst du? Der Kerl schert sich einen Dreck um die Grenzen, die ich ihm gesetzt habe. Und das bedeutet Krieg!
Naja, wenn du meinst, antwortete die beste Ehefrau von allen, tu halt was, aber tu ihm nix!

Und mein lieber Freund tat etwas. Also holte er Krampen und Spitzhacke und begann, einen dieser Triebe bis hin zum Wurzelstock auszugraben. Unglaublich, aber er legte eine sieben Meter lange und fingerdicke Wurzel frei, die sich wie ein Tentakel, gleich einer Riesenkrake, ziemlich knapp unter der Rasenoberfläche dahingeschlängelt hatte und am Ende mit ihrem borstigen Pinsel hämisch „sprießend“ aus dem Rasen ragte.
Das ist ein Rhizom, hatte ihn der Nachbar belehrt und argwöhnisch über den Zaun geblickt.
Mein lieber guter Freund hatte damals nicht verstanden, was diesen denn sein Bonsai anginge. Aber er kriegte bald heraus, warum jener so skeptisch auf das Unkraut geäugt hatte, dann nämlich, als er bemerkte, wie munter sich Bonsais Triebchen frech unter dem Zaun hindurchgegraben hatten und sich in Nachbars Garten an der warmen Frühlingssonne erfreuten.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war meinem lieben guten Freund klar geworden, man musste Schluss machen mit seinem Kommando! Schluss machen, wiederholte er, wie Captain Willard in Apokalypse Now, mit dem Kommando des im Dschungel von Vietnam verrückt gewordenen Colonels Walter E. Kurtz.
Mein lieber guter Freund fasste also den offiziellen Entschluss, den abtrünnigen Bonsai zu liquidieren. Dieser hatte sich von der guten Absicht, ihm optisch das Leben zu verschönen, völlig distanziert und ließ sich nun nicht mehr kontrollieren. Im Dschungel des im Gartenkrieg bisher neutralen Nachbarlandes hatte er sich ein eigenes „Reich“ aus desertierten Rhizomen aufgebaut, über das er nun vereinnahmend und gebieterisch herrschte.

An Ausgraben und in einem Blumentopf mit in die Stadt nehmen war von jetzt an nicht mehr zu denken. Es gab nur eine Lösung, vorerst einen Graben drumherum anlegen und die Auswüchse dort abfangen, wo sie aus dem Boden schossen. Das war Plan A. Sobald die Fangarme diesen überragen würden, konnte man sie bequem kappen, dachte mein lieber guter Freund.
Plan B sah vor, alle Triebe, die über die gegrabene Rinne wucherten, in Bodenniveau abzuschneiden, und zu warten, bis sich neue Triebe bildeten. Dann käme Agent Orange zum Einsatz, oder noch besser – Napalm! Nein, dann also irgendein Pflanzenvernichtungsmittel, ehe es noch verboten würde. Im Schuppen würde sich so etwas ja wohl finden lassen, dachte er. Auch würde er die neuen Triebe außerhalb des Grabens mit dem Spaten durchtrennen und die kleineren Wurzelstöcke zerteilen.

Aber zuvor musste man alle sternförmig ausgehenden Triebe im Boden ausgraben. Keine leichte Arbeit. Mein lieber guter Freund grub und grub und zerrte und zog und fluchte, bis ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht rann. Ich krieg dich, keuchte er dabei völlig außer Atem, und wenn du dich bis in den Nachbarort vermehrst. Ich mach dir den Garaus! Ich werde dich an den Wurzeln packen und dich ausreißen, du Aas, schrie er vor Zorn und hieb mit dem Krampen wie besessen auf die Stellen im Boden ein, unter denen er weitere Verzweigungen seiner krakenarmähnlichen Fangarme mit diesen widerlichen Büscheln an ihren Enden, an denen nur noch die Augen fehlten, um sie zu einem tierischen Monster werden zu lassen, vermutete.
Da! Und da! Ich werd’s dir geben! Und nimm diesen! Und ich geb dir den Rest! Dieses Spiel trieb er so lange, bis er atemlos zusammenbrach.

Völlig erschöpft fand ihn die beste Ehefrau von allen nach Stunden auf dem Rücken liegend und nach Luft japsend im oberen Teil des Gartens. Wasser, stöhnte er, indem er den Kopf geschwächt ein wenig hob, um ihn danach wie leblos ins Gras sinken zu lassen. Die beste Ehefrau von allen wusste zunächst nicht, was sie tun sollte. Wasser, oder gleich die Ambulanz holen. Sie entschied sich für die Ambulanz. Zwanzig Minuten später war das Tatütata des Notarztwagens zu hören. Die Wagenbesatzung stürmte den Garten hinauf und erreichte in Sekundenschnelle das bewusstlose Opfer.
Der Sanitätsarzt kniete nieder, fühlte den Puls, legte das Blutdruckgerät an und hieß den Sanitäter, eine Kanüle in die Vene des linken Unterarms zu setzen. Flugs hing eine Infusionsflasche dran, als gleichzeitig auch schon das Knattern des Rettungshubschraubers zu hören war.

Der Helikopter kreiste zunächst unschlüssig über dem Hause und suchte nach einem geeigneten Landeplatz, wie ein großer Vogel, der nach seiner Beute Ausschau hielt. Die Beute sollte mein lieber guter Freund sein, der im Koma lag. Schließlich setzte er sich behutsam wie eine Krähe auf die benachbarte Wiese. Die Besatzung wartete auf weitere Befehle des Rettungskommandos.
Doch da erhob sich der Arzt schwerfällig aus seiner Hocke, winkte hinüber und rief dem Piloten zu, zu spät! Es ist zu spät. Da ist nichts zu machen, sagte er resignierend und entfernte die diversen Instrumente, um sie bedächtig wieder in seiner Tasche zu verstauen. Er zog die Kanüle aus dem Arm meines Freundes und reichte sie seiner Gattin, sie möge sie entsorgen und fügte ein leises „mein Beileid“ dran. Die beste Ehefrau von allen heulte und rang die Hände. Sie stürzte über ihren toten Gatten und küsste seine heißen Wangen. Die Umstehenden wichen betroffen zurück.

Nein! Also so geht das wirklich nicht. Nein nein! Zurück! Alles zurück! Noch einmal. Das Ganze von vorn. Wo kommen wir denn da hin, bei so einem Ende? Wie soll denn das weitergehen? Jetzt aber: … und hieb mit dem Krampen wie besessen auf die Stellen im Boden ein, unter denen er weitere Verzweigungen seiner krakenarmähnlichen Fangarme mit diesen widerlichen Büscheln an ihren Enden, an denen nur Augen fehlten ... und so weiter. Aber da kam ihm plötzlich eine Idee. Er ließ das Werkzeug fallen und eilte zum Haus hinunter, um zu telefonieren.

Monate vergingen. Mein lieber guter Freund und dessen Gattin, die beste Ehefrau von allen, lagen, sonnenbeschienen, behaglich in ihren Luxusteakholzliegestühlen in ihrem Garten, von denen aus sie bequem all die putzigen Pandabären beobachten konnten, die sich in den Ästen der alten Apfel- und Kirschbäume vergnügten. Manch einer von ihnen kletterte gar die hohe Trauerweide hinauf, deren Äste oft schon brüchig geworden waren. Aus schlanken Gläsern schlürften meine beiden Freunde kühle Drinks über lange Strohhalme.
Ab und zu kletterte einer der Bären herunter und labte sich an den sattgrünen Blättern des üppigen Bambuswaldes, der mittlerweile mehr als die Hälfte des Grundstückes für sich vereinnahmt hatte. In Fünfminutenabständen kamen Besucher, warfen Zwei-Euro-Münzen in einen dafür vorgesehen Karton und bestaunten dieses außergewöhnliche Schauspiel, um, nach Ablauf der Betrachtungsfrist, anderen Zaungästen Platz zu machen, denn so groß war der Garten nun wiederum auch nicht. Mein lieber guter Freund und seine Gattin lächelten sich gelangweilt an, nickten sich gegenseitig wohlwollend zu und genossen ihr neues unternehmerisches Dasein in vollen Zügen, wie jeder, der die Situation beurteilen wollte, unschwer festzustellen vermochte.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 16076

image_print

Ein Gedanke zu „Bamboo

  1. Eva Schragner

    Wie wunderbar beschrieben der Krieg zwischen Bambus und Mensch, den auch ich mit mehr und weniger enthusiastischer Leidenschaft führe und dessen Beschreibung mir ein beinahe kapitulierendes Lächeln entlockt. Der Traum den bambunalen Krieg zu gewinnen scheint langsam zu verblassen

    Antworten

Schreibe einen Kommentar zu Eva Schragner Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert