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Die letzte Fahrt

Er stand am Bug des Schiffes und hielt sich mit einer Hand am Tau der Takelage fest. Der Wind peitschte ihm erbarmungslos die Gischt ins Gesicht, seine dunklen Locken klebten auf der Haut. Seinen Kopf gegen den Himmel gerichtet, flehte er die Götter an, die Meeresbewohner zu beruhigen.
Die Ruderer an Bord kamen schwer voran, manche riefen ihm zu:
„Orpheus, hilf uns doch! Musiziere und beruhige die Götter!“ Mit Mühe kletterte er auf den rutschigen Dielen zu seiner Lyra und begann zu musizieren. Im Rhythmus gab er den Seemännern den Takt vor, besänftigte das wütend gewordene Meer und endlich konnten sie bei ruhiger See durch die Ägäis segeln.
„Das war knapp“, meinte ein Ruderer später und klopfte Orpheus freundschaftlich auf die Schulter. Die Sonne erhellte wieder das Firmament und trocknete die Kleidung der Seefahrer, die bis auf die Haut nass geworden waren. Zum Dank spielte er weiter auf seiner Lyra und bald erreichten sie die Insel Lesbos.

Reges Treiben herrschte im Hafen und nach einem kurzen Marsch kamen sie in eine kleine Stadt. Sie wollten sich stärken nach der anstrengenden Fahrt, und entlang der Stadtmauer wurden die ersten Waren feilgeboten.
Orpheus fiel eine bedrückte Stimmung auf, ganz anders als auf den anderen Inseln, die sie bisher erreicht hatten. Die Landwirte mit ihren Eselskarren, Töpfer und Schmiede, die Frauen an den Ständen, in kümmerliche Kleider gehüllt, hatten alle einen abweisenden Gesichtsausdruck. Oder war es gar Trauer, die Orpheus in ihren Augen sah?
„Was ist den Menschen hier widerfahren?“, wandte er sich fragend an einen Mannschaftskollegen.
„Lesbos ist bekannt dafür, dass die Menschen hier sehr arm und unglücklich sind. Es fehlt ihnen an den schönen Dingen des Lebens. An Musik, Kunst, Vergnügen.“
Sie saßen an einem kleinen, wackeligen Holztisch, verspeisten Oliven und Schafskäse und tranken jeder einen Becher Wein. Die gedämpften Stimmen der Händler im Hintergrund boten Waren feil und wurden nur wenig von den Vorbeimarschierenden beachtet, die alle mit gesenkten Köpfen ihren Blick auf die staubige Straße richteten.

„Meiner Frau Eurydike, die Götter mögen sie selig ins Reich aufgenommen haben, versprach ich am Sterbebett, meine Musik weiterzuführen und Gutes zu tun. Meint ihr, ich könnte hier auf der Insel mit meiner Lyra die Leute wieder fröhlicher stimmen?“
Die Seeleute erhoben ihre Weinbecher und prosteten ihm zu:
„Ja, Orpheus! Wunderbar!“ Ein junger Matrose sprang auf eine kleine Steinmauer und rief den Menschen zu:
„So kommt und hört! Orpheus ist auf eurer Insel und wird euch mit seinem Gesang den Tag erhellen und erträglicher machen. Kommt herbei!“ Euphorisch die Hände schwingend, bedeutete er den Bewohnern, näherzutreten. Orpheus nahm seine neunsaitige Harfe und begann zu musizieren.
Bald drängten Männer, Frauen und Kinder mitsamt Eseln und Ochsen um den kleinen Platz und lauschten seiner Stimme. Manche hatten Tränen in den Augen, andere tanzten zur Musik, wieder andere nahmen ihre Mitbürger bei der Hand oder fielen einander in die Arme. Den ganzen Nachmittag erfreuten sich die Bewohner der Stadt an der Darbietung von Orpheus.
Auch nächsten Tag und übernächsten Tag konnten es die Menschen kaum erwarten, ihn zu hören. Er hatte große Freude daran, die Einwohner glücklich zu sehen, und in Gedanken war er bei seiner verstorbenen Frau Eurydike.
Die Bewohner sprachen mit leiser Stimme:
„Mit seinem Gesang und der Dichtkunst kann er Götter betören, auch Menschen und sogar Tiere, Pflanzen und Steine. Bäume neigen ihm sich zu, wenn er spielt, und die wilden Tiere scharen sich friedlich um ihn.“

Nach einer Woche stand Orpheus im Hafen und verabschiedete sich von seinen Seefahrern.
„Dies war meine letzte Fahrt. Ich werde hier bleiben, es ist wohl meine Bestimmung.“
„Wir werden wiederkommen, Orpheus. Dann lass uns die Weinbecher erheben und uns deiner Gesangskunst lauschen.“ Die Mannschaft bestieg das große Schiff, nahm an den Rudern Platz und verließ den Hafen.

Bei seinem nächsten Auftritt bemerkte Orpheus unter den Zuhörern eine Frau, sie verweilte in der hintersten Reihe und beobachtete das Treiben. In einem ultramarinblauen seidenen Kleid mit aufgestickten fünfzackigen Sternen aus feinsten Goldfäden stand sie reglos in der Menge, mit versteinerter Miene. Ihr blondes langes Haar wehte im Wind und sie wirkte erhaben und elegant. Sie tanzte nicht, lachte nicht und sie sprach auch nicht mit den anderen. Manchmal blickte sie Orpheus tief in die Augen, als wolle sie ihn verführen. Entgegnete er mit einem Lächeln diesen Blick, wandte sie den Kopf ab und verschwand.

Jeden Tag kam sie auf den Vorplatz an der Stadtmauer, und während einer Mittagspause, als es unerträglich heiß wurde, drängte er sich durch die Menge auf die betörend schöne Frau zu. Mit einer leichten Verbeugung stellte er sich vor und fragte nach ihrem Namen.
„Ich heiße Europē“, entgegnete sie mit kräftiger Stimme.
„Nun, Europē, wie kommt es, dass du täglich meiner Darbietung lauschst, obwohl sie dir augenscheinlich nicht gefallen mag?“, fragte er gutmütig. Sie verzog ihren Mund zu einem abscheulichen Lächeln. Schlagartig war ihr Gesichtsausdruck nicht mehr feminin und zart, er glich eher einer Fratze. Mit spitzer Zunge und bebender Stimme antwortete sie:
„Ich bin lediglich hier um zu beobachten. Es interessiert mich nicht, wie du Menschen betörst und ihnen den Kopf verdrehst. Auf mich wirkt das nicht, es ist geheuchelt und ich harre der Dinge, die da kommen mögen!“, fauchte sie ihn an. Bei ihren Worten wich Orpheus jäh zurück und er konnte nicht fassen, was er gehört hatte.
„Aber ist es denn so schlimm, Gutes zu tun? Den Menschen wieder Zuversicht, Freude und Glück zukommen zu lassen? Viele Bewohner hier leiden Hunger und sind von Kriegsfahrten heimgekehrt, haben schreckliches Elend gesehen. Was ist verkehrt daran, ihnen mit ein wenig Gesang, Musik und Dichtkunst den Weg zu ebnen nach den reinen, feingeistigen Freuden und nach der Liebe?“

Lange Zeit starrte sie ihm in die Augen. Der Wind schien stillzustehen und es war, trotz der Mittagshitze, eine frostige Kälte zu spüren. Die Menschen, die vorher den Platz gesäumt hatten, hatten die Worte von Europē gehört und liefen eilig weg aus Angst.

„Liebe, Mitgefühl, Empathie kann man nicht erzwingen, du Narr!“, entgegnete sie giftig und verließ den Platz.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 20111

 

 

 

 

 

 

Das Mikro

Was sagt der Tourmanager zur hübschen Bassistin?
„Weißt du was, Darling? Du kriegst ein Mikro.“
„Wozu denn? Ich kann ja nicht singen“, sagt die Bassistin.
„Das nicht, Mädchen, aber die Leute wollen dich atmen hören.“

Mischanlage im Fluc & Fluc Wanne

Mischanlage im Fluc & Fluc Wanne

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 20032

Aufgeb’m tuat ma an Briaf

Es kummt wohl für jed’n – einmal so a Zeit
Wo einfach nix glatt geht – und di nix mehr g’freut
Z‘erst strampelst und denkst dir – des kann’s ja net sei
Machst halt einmal Pause – und steigst wieder ei

Aber’s geht net, aber’s geht net – es hat ja kein Sinn
Da kannst di am Kopf stell’n – jetzt streikt die Maschin

Da fahrst auf der Autobahn – und bist no guat drauf
Und dann drängen s’ und blinken s’ – und fahr’n dir fast auf
Bis’s vorn wo an Crash gibt – und die Geg’nfahrbahn gafft
Und dei Tank ist bald leer und – im Handy kein’ Saft

Warum geht nix, warum geht nix – was is da vorn g’schehgn
Du hast seit aner Stund
– ka Bewegung mehr g’sehgn

Du baust an dein’ Häusl – am Samstag in Ruah
Da geht der Zement aus – und der Baumarkt hat zua
Jetzt denkst dir, beim Nachbarn – da burgst dir an aus
Aber der ist beim Heurig’n – und es ist niemand z’haus

Jetzt geht nix mehr, und du hast – an hilflos’n Zurn
Du kannst nimmer weiter – und der Tag ist verdurb
m

Es geht wohl bei jed’n – amal etwas schief
Damit dir was einfallt – denk alternativ
Oder drah die G’schicht um – weil des warat ja g’lacht
Und von dera Seit’n – hast es eh noch nie g’macht

Und auf einmal geht alles – du bist wieder guat drauf
Wia die Großmuatter g’sagt hat – nur an Briaf gibt ma auf
Wia die Großmuatter g’sagt hat – nur an Briaf gibt ma auf

Robert Müller

Dieser Text ist auch als Song zu hören, vertont und gesungen von Jimmy Schlager.

www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 19110

Hexenlied

Wir schütteln uns beim Möhrenkochen
Und setzen unsre Röhrenknochen
Tief ins Gemüsebeet

Wir streichen Farbe, bis sie deckt
Dahinter ist der Sinn versteckt
Der sagt was, was kein Mensch versteht

Es liegt ihm doch sehr viel daran
Dass Schimmel weiß und Pferd sein kann
Das hat dem Sinn den Sinn verdreht.

(Schrilles Gelächter)

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 19045

 

Das Gehirn des Dmitrij Schostakowitsch

aus den „Russischen Kuriositäten“ von Veronika Seyr

In den Morgenstunden des 22. Juni 1941 überschritt die deutsche Wehrmacht mit der „Operation Barbarossa“ die sowjetische Grenze – für die Menschen der Sowjetunion der Beginn des Großen Vaterländischen Krieges. Den damals schon weltberühmten Komponisten Dmitri Schostakowitsch erreichte diese Nachricht als Vorsitzenden der Prüfungskommission in der Klavierklasse des Leningrader Konservatoriums. Ohne Unterbrechung wurde der Wettbewerb weitergeführt, obwohl die ganze Stadt sofort massive Verteidigungsmaßnahmen traf. Später nahmen auch die Professoren und Studenten am Barrikadenbau teil. Anfang August erschienen die ersten deutschen Flugzeuge über der Stadt, es begannen die Bombardierungen und der Artilleriebeschuss. Von da an wurde die Stadt 900 Tage und Nächte bis Februar 1944 eingeschlossen und bombardiert, in der Leningrader Blockade starb fast die Hälfte der Bevölkerung, eineinhalb Millionen Menschen, sie wurden von der Artillerie getötet, verbrannten, verhungerten, erfroren oder fielen Seuchen zum Opfer.

Die allgemeine Mobilmachung wurde angeordnet. Jungen von siebzehn bis zu Männern von sechzig wurden einberufen. Schostakowitsch hatte sich zweimal freiwillig gemeldet, aber er wurde nicht eingezogen. Als die deutsche Luftwaffe begann, Brandbomben auf die Stadt zu abzuwerfen, organisierte das Konservatorium eine Art von freiwilliger Feuerwehr, die während der Angriffe auf den Dächern ausharren musste. Ein Augenzeuge berichtet, wie man Schostakowitsch einen Feuerwehrhelm aufgesetzt und ihm gesagt hat, er soll auf das Dach steigen und sich fotografieren lassen. Die ganze Welt kennt dieses Foto. Es sollte aufrütteln, Leningrad zu Hilfe zu kommen. Der international bekannte Komponist wurde als Sympathieträger für die Sowjetunion eingesetzt. Schostakowitsch war keine zehn Minuten auf dem Dach, trotzdem stand er ab jetzt im Mittelpunkt der sowjetischen Propaganda, die Stalin persönlich orchestrierte und dirigierte.

Am 19. Juli 1941, einen Monat nach dem Angriff, begann er mit der Komposition einer neuen Symphonie. „Meine Symphonie Nr. 7 widme ich unserem Kampf gegen den Faschismus, dem Heldentum unseres sowjetischen Volkes, unserem Sieg über den Feind und meiner Heimatstadt Leningrad“, schrieb er auf die Titelseite. Er beging gerade seinen 35. Geburtstag, indem er nicht feierte, sondern fast 24 Stunden ohne Pause an einer neuen Komposition schrieb.
Die Musiksprache dieses Werkes ist stark vereinfacht, was nicht verwunderlich ist, da die Symphonie breiten Zuhörerkreisen die Idee des Kampfes und des Sieges über den Feind vermitteln sollte.

Die Gestalt des Künstlers, der vom Kampf inspiriert, mitten in der Verteidigung eine Symphonie komponiert, war ein großartiges Werkzeug der Kriegsanstrengungen. Außerdem entsprach das nationale Genie ganz und gar der russischen Psyche. Bald schon rankten sich viele Legenden um die Entstehung der 7. Symphonie.
Die abenteuerlichste entstammt aber nicht der sowjetischen Propaganda oder dem russischen Volksmythos, sondern den Forschungen des chinesischen Neurologen Wang Dajue. Er will wissen, dass Schostakowitsch nicht als Feuerwehrmann auf dem Dach verletzt wurde. Als Trümmeraufräumer auf dem Newski-Prospekt soll ihn ein Schrapnell in die Stirn getroffen haben. Die kaum sichtbare Wunde wurde von ihm selbst, der Familie und Freunden als so unbedeutend eingeschätzt, dass sie nicht mehr behandelt wurde als durch einen Kopfverband. Der Splitter blieb aber in der linken Gehirnhälfte, im Cornu inferius des linken Gehirnventrikels, stecken.

Viel später, erst nach dem Krieg, begann er über Kopfschmerzen zu klagen und ließ sich von Ärzten untersuchen. Dr. Wang Dajue pflegte in den 50er-Jahren engen Kontakt mit sowjetischen Neurologen und konnte den Metallsplitter in Schostakowitschs Gehirn mit Röntgenaufnahmen lokalisieren. Wenn er den Kopf nach rechts drehte und leicht abwärts wandte, strömte ihm eine Fülle von Melodien in den Kopf, die er aufschrieb und in seine Kompositionen einwob. Der Fremdkörper habe sein Gehirn stimuliert und mit Gedankenblitzen überflutet, behauptet der Neurologe. Nichts davon ist gesichert außer seine späteren Kopfschmerzen.

Wenn etwas an dieser Legende stimmen sollte, wäre es die unerträglichste Grausamkeit, dass ausgerechnet ein deutscher Bombensplitter verantwortlich sein soll für die besten Stücke der Weltmusikliteratur.

Es bedarf aber gar nicht der Legende des chinesischen Neurologen, um sich von Schostakowitschs ungewöhnlicher Komponierweise zu überzeugen. Es gibt viele Zeugnisse dafür, die meisten und besten vom Komponisten selbst. Es war 1927, also vierzehn Jahre vor der 7. Symphonie, als er beim Verfassen der Oper Die Nase ins Stocken geriet. Er hatte den ersten Akt unglaublich rasch geschrieben, in einem Monat im Sommer. Nach einer kleinen Pause machte er sich an den zweiten Akt, er schrieb ihn in drei Wochen nieder. Der dritte Akt machte ihm jedoch Schwierigkeiten. Gleichzeitig stieg der Druck, denn das Leningrader Maly-Theater hatte beschlossen, das Werk in das Programm der nächsten Spielzeit aufzunehmen.

In dieser Zeit hatte Mitja einen eigenartigen Traum.
„Ihm träumte, dass der Termin der Premiere seiner Oper Die Nase bereits festgelegt ist und er zur Generalprobe gehen muss. Aber es scheint sich alles gegen ihn verschworen haben. Mitja, der immer genau und pünktlich ist, verspätet sich aus unerklärlichen Gründen. Ob in der Straßenbahn oder im Bus, überall wird er aufgehalten. Endlich gelangt er ins Theater, von Weitem hört er schon die Vorwürfe des Dirigenten Samuil Samossud. Eiligst durchquert er das Vestibül und stürzt in den Saal. Das Orchester probt gerade den dritten Akt. Schostakowitsch setzt sich ganz nach hinten und hört zu, klar und deutlich hört er die Musik des dritten Akts, sieht und hört den Chor und die Sänger … Die Oper endet, der Vorhang fällt, Beifall. Das Publikum ruft nach dem Komponisten … Da wacht Schostakowitsch auf, ganz außer sich. Er läuft ins Nebenzimmer, erzählt den Hausgenossen aufgeregt von seinem Traum und der darin gehörten Musik. Er setzt sich hin und schreibt sie auf. Innerhalb von drei Wochen hat er den dritten Akt fertig komponiert und ihn zu Samossud gebracht.“ (M. Dolgopolow, In: Izvestija 13. 9. 1975, zit. nach Krysztof Meyer. Schostakowitsch. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit, S 117f )

Zu den interessantesten Teilen der Oper gehört das Zwischenspiel zum zweiten Bild. Es ist das erste Musikstück, das ausschließlich für Perkussionsinstrumente geschrieben wurde. Das war damals eine absolute Neuheit. Edgar Vareses Ionisation wurde erst drei Jahres später geschrieben. Angeblich wussten die beiden Komponisten nichts voneinander. Ähnlich überraschend, dass einige Stellen im ersten und zweiten Akt verblüffend an Arnold Schönberg und Anton von Webern erinnern, obwohl Schostakowitsch sie nicht gekannt und nie deren Partituren gesehen hat.

Einen Monat nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion begann Schostakowitsch mit der Arbeit an der 7. Symphonie, der Leningrader. Beendet hat er sie am 27. Dezember 1941, nachdem er im Oktober mit der Familie nach Moskau, später nach Kuibyschew evakuiert worden war. Fünf Sätze in fünf Monaten, und zu welcher Zeit!
Am 17. September 1941 notiert Schostakowitschs Jungendfreund Walerian Bogdanow-Beresowski in seinem Tagebuch:
„Auf seine Einladung hin fuhren wir zu ihm hinaus in die Skorokodow-Straße.

Die enormen Partiturseiten, die auf dem Schreibtisch ausgebreitet lagen, machten den Umfang der Besetzung deutlich. Schostakowitsch spielte uns die neue Symphonie nervös und angestrengt vor. Er bemühte sich ersichtlich, alle Farbnuancen des Orchesters wiederzugeben. Der Eindruck war kolossal. Es ist ein erstaunliches Spiegelbild der gegenwärtigen Zeit, ein Widerschein der äußeren Ereignisse, der in eine sehr komplizierte musikalische Form umgesetzt wurde, ohne in irgendeiner Weise die Gattung zu verflachen. Diese Symphonie ist sowohl in ihrem Inhalt als auch in ihrer Form kühn und unerschrocken, vor allem im ersten Satz mit seiner langen Entwicklung nach der Exposition. (...)
Plötzlich drang von der Straße das gellende Heulen der Sirenen zu uns herein. Der Komponist kümmerte sich nach Beendigung des ersten Satzes darum, dass sich seine Frau und die beiden Kinder in den Schutzraum begaben, er selbst jedoch wollte das Spiel nicht unterbrechen. Begleitet von den dumpfen Explosionen der Flugabwehrkanonen, stellte er uns den zweiten Satz vor und zeigte Skizzen zum dritten Satz, schließlich spielte er alles noch einmal.
Als wir aus dem Petrograder Stadtteil zurückkehrten, sahen wir von der Straßenbahn aus den Feuerschein – eine Spur des zerstörerischen Werks dieser Barbaren der Lüfte. Unter dem Eindruck der Musik und des edlen Pathos der Symphonie verspürten wir die Sinnlosigkeit dessen, was um uns geschah, besonders eindringlich.“

Die Siebente wurde am 5. März 1942 in Kuibyschew vom ebenfalls dorthin evakuierten Orchester des Bolschoi Theaters unter Samuil Samossud uraufgeführt.
Am 22. März 1942 kam das Orchester in Moskau zusammen. Inzwischen hatten die deutschen Truppen die Ukraine, Weißrussland, die Moldawische Republik und das Baltikum in ihre Gewalt gebracht. Immer häufiger flogen sie Angriffe auf Moskau. Dennoch war das Konzert ein großes Ereignis, und nur mit Mühe fanden alle Besucher im Saal Platz. Ein Musikkritiker erinnert sich an die Moskauer Erstaufführung: „Vor Beginn des 3. Satzes trat der Leiter der Flugabwehr neben den Dirigenten. Er hob die Hand und meldete in ruhigem Ton, um keine Panik hervorzurufen, das Einsetzen des Fliegeralarms. Trotzdem verließ niemand seinen Platz, die Symphonie wurde zu Ende gespielt. Ihr mächtiges Finale, das den Sieg über den Feind ankündigt, schuf eine unvergessliche, mitreißende Atmosphäre. Die stürmischen Ovationen gingen über in eine leidenschaftliche Manifestation patriotischer Gefühle und in Begeisterung über das Talent unseres großen Zeitgenossen.“

Die Erstaufführung im belagerten Leningrad fand am 9. August 1942 unter der Leitung von Karl Eliasberg in der Philharmonie statt. Die Musiker wurden zum Teil von der Front geholt, andere aus ihren Kellerlöchern im belagerten Leningrad. Sie waren ausgehungert, ausgemergelt, in Uniformen oder Lumpen. Aber sie spielten die „Leningrader“. Auf Befehl des Kommandanten der Leningrader Front setzte man eine umfangreiche Militäroperation in Gang: Am Tag des Konzerts wurden die Deutschen mit einem wahren Sperrfeuer belegt; 3000 großkalibrige Granaten gingen auf sie nieder.

Danach zog die „Leningrader“ in einem unvergleichlichen Siegeszug um die ganze Welt, und ihr Erfolg hält bis heute an.

Dabei haben sowjetische Komponisten während der Leningrader Blockade insgesamt 192 Werke verfasst, darunter neun Symphonien, acht Opern, sechzehn Kantaten und fünf Ballette. Im Gespräch und im Gedächtnis blieb aber nur die Leningrader Symphonie, die Siebente von Schostakowitsch.

22.7.16

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 19009

Lautsprecherdurchsagen - Impressionen aus dem Gänsehäufel

Ein Badesonntag Ende Juli 18, die Marke von 35 Grad ist fast erreicht. Hitzepol wie immer in Hohenau an der March. Ich in den Wochenend-Zeitungen lesend, lagernd im löchrigen Schatten von mageren Pappeln und Erlen. Wenn die Sonne durchs Laub kommt, muss ich mit meinem Tuch in einen anderen Schatten wandern. Herrliche Ruhe, die FKKler sind dezente Leute. Ein leichter Wind, die wirklich blaue Alte Donau in Blickweite, Schwäne und Nil-Gänse schaukeln leicht auf den Wellen, Möwen darüber, eine Entenmutter watschelt mit drei Jungen angstlos durch den Dschungel aus Decken, Taschen und Floaties. Ich muss immer öfter ins Wasser rein und danach lange unter die kalte Dusche. Das Wasser der Alten Donau ist badewannenwarm, 28 Grad. Vom kühlen Nass kann schon lange keine Rede mehr sein. Wann kippt sie? Eine Frage der nächsten Tage. Das Wasser ist schlierig, wirft verdächtige Bläschen, und das Wassergras schwappt einem durch Mund und Zehen.

Danach schreckt mich in der Zeitung eine Kleinmeldung auf:
Die Korallenriffe der Ozeane von Sonnencreme und Kinderlulu zerstört! Ich bin alarmiert. Ähnlich wie die Verdauungspuhs der Kühe. Endlich die größten Feinde erkannt! Kleine Erlösung, nicht das Erdöl und das böse PVC sind‘s. Ein Glück, die Alte Donau hat keine Korallenriffe, aber sicher viel vom anderen. Mehr Idylle als im Gänsehäufel-FKK geht nicht. Für alle Sinne. Wer im Sommer Wien verlässt, ist ein Idiot. Selber schuld.

Da bricht die Realität über uns herein. Gegen zwei Uhr kracht und rauscht es aus dem Lautsprecher:
Ach-tung- Ach-tung (Betonung auf U mit einem K am Ende) - hch- eine Durch-sakee (Betonung auf A- was für eine Sage wird das noch?) - die vierjährige Jolana - sucht- seinen- Papa. Hch. Papa - kommen - bitte - zur Info. Danke! Ihre Info!
Jeweils zweimal hintereinander. Wiederholung nach 10 Minuten. Beim Ausschalten wieder Krachen. Es ist kein Sprechen, sondern ein Zerhacken von Silben, als würde sie einen ihr unverständlichen Text herunterbuchstabieren, so wie wenn ich etwas auf Rumänisch oder sonstwas, das ich nicht kann, vorlesen müsste.

Diese Frauenstimme bömakelt in echt, perfekter, als es sich Fritz Muliar je für Braver Soldat Schwejk antrainiert hat. Dabei dachte ich immer, er ist genial. Er ist genial, aber von der Durchsagefrau hätte er noch etwas lernen können. Sie hat die Funktion einer Kartenabreißerin und Kasterlschlüsselausgeberin am Eingang (ich liebe Wien besonders für solche Posten. Die Badewaschel sind fast alle Ex-Jugos, die Masseurinnen Philippininnen). Ich habe die Info-Frau persönlich gesprochen, als ich einmal bei ihr eine verlorene Sonnenbrille abgegeben habe. Sie ist wirklich eine Tschechin, eine neue Österreicherin.

Im Abstand von 10 Minuten wird die Durchsage je zweimal wiederholt, mit Varianten. Da ist die Jolana einmal dreijährig und sucht ihre Mama. Dann wieder den Papa. Zum Glück irgendwann die ganzen Eltern. Gespickt mit Fehlern und Pausen, in denen man Seufzer und Räusperer hört, warum auch immer. Welche Tragödie sich bei der Info abspielt, mag ich gar nicht wissen. So geht das ungefähr eine Stunde lang. Zweimal dazwischen etwas Neues: Die fünfjährige Lena sucht seinen Papa, Ausgang bitte kommen.

Bei Info. Die sechsjährige Jolana sucht tringent ihren Papa. Bitte melden.
Was sind das für Energieüberschneidungen? Gerade als die Jolana (ein populärer tschechischer Name) lautsprechermäßig gesucht wird, lese ich in Pavel Kohouts genialer Echtzeit-Politsatire Wo der Hund begraben liegt von seiner wilden Nichte Jolana. Ich habe das 500 Seiten starke Buch aus dem Jahr 1988 am Tag davor in einer Wühlkiste am Hohen Markt um 2 Euro erstanden. Geniere mich, dass ich es nicht früher gelesen habe. 30 Jahre Genuss-Verlust. Das Buch ist gespickt mit Schwejk-Zitaten, die ich lese wie einen Kommentar zum Lautsprecher.

Dann sehe ich, dass der vor genau 50 Jahren, zehn Jahre nach der sowjetischen Invasion, von den Neostalinisten nach Österreich ausgebürgerte Tscheche in diesen Tagen 90 geworden ist. Ich habe, hoffe ich, alle seine Stücke in Theatern gesehen, in verschiedenen Ländern, in verschiedenen Sprachen. Dieses Buch kannte ich nicht. Das treibt mir einen Sonnenbrand vor Scham über den Körper.
Hoffentlich hat dem Bundespräsidenten AVDB ein geschichtsbewusster Mitarbeiter eingesagt, dass man Pavel Kohout gratulieren muss. Gelesen habe ich nur einen Artikel in den Salzburger Nachrichten.
Vom jetzigen Bundeskanzler erwarte ich das eher nicht. Der damalige hieß Bruno Kreisky. Er hat die tschechoslowakische Charta 77 offen unterstützt, hat Pavel Kohout und seine Mitstreiter nach Österreich eingeladen.

Bei jeder der Doppeldurchsagen wird die Stimme abgehackter, lauter und dringlicher, fast gehetzt, zuletzt kippt sie ins Hysterische mit einem Hustenanfall der Stimme und des Lautsprechers. Arme Frau, womit kämpft sie mehr, der deutschen Sprache oder leidet sie mit Jolanas Schicksal mit oder geht ihr in der Hitze, so wie uns allen, die Luft aus? Es ist ja heute wirklich sehr heiß. Dann klingt die Lautsprecherdurchsage nur noch wie ein verzweifelter Schluckauf. Bömakeln mit Schnackerl! Gott, wie hätte das den seligen Muliar inspiriert! Jemand hat mir erzählt, dass nicht das legendäre Prager-Deutsch, sondern das Bömaklerische die lingua franca in der k. u. k. Monarchie gewesen sein soll, zumindest in Wien.
Bei Josef Roth beschwert sich ein Feldmeister mit schwerem Pinzgauer Dialekt, dass die alle nit Deutsch kennen.

Ich gehöre nicht zu denen, die über Bucklige lachen und Blinden ein Bein stellen. Aber wer vom Bömakeln seinen Lachreiz gekitzelt fühlt, muss sich dafür nicht genieren (Neudeutsch: fremdschämen), er befindet sich in bester Gesellschaft. Bei Stefan Zweig böhmelt oder serbelt es häufig. Er rät der deutschen Sprache, sich zu rächen, indem sie zurückböhmelt, wobei ich im Moment der Lautsprecherdurchsage nicht weiß, wie das geht. Soll er ein Vorbild sein, wie er das in fast rassistischer Manier macht, zum Beispiel in der Schachnovelle, wo er das verhunzte Dötsch der Ungarn und das Deitsch der Slawen in der Monarchie auf die Schaufel nimmt.
Ich bin gespannt, wie lange es noch dauert, bis der Oberst Bubenic in aufrichtigster Political Correctness aus Ungeduld des Herzens rausgesäubert wird.

Besonders gespenstisch wird es, weil ich da, wo ich im durchlässigen Schatten einer Pappel sitze, den Lautsprecher mit Echo höre. Also ungefähr so: Achtachtuntung, einne Dudurchsaage, didie viervierjährigejährige Jolanana suchtsucht ihrihren Papapapa. Bittebitte meldmelden beibei Ininfo! Dandankeee! Wobei das Bömaklerische das letztendende e besonders in die Länge zieht.
Schwejk mit seinem Seufzer klingt im Ohr: Deitschee Sproch, schweree Sproch.

Apropos Verdoppelung. Vor kurzem im Zug von Wien-Hauptbahnhof nach Bratislava-Petržalka. Kurz nach Gramatneusiedl ertönte aus dem Lautsprecher die kryptische Ansage: Sehr geehrte Damen und Herren! Aufgrund des Verkehrsaufkommens wird in Bruckanderleitha der Zug verdoppelt. Knapp und präzise, diese Information. Ohne Bömakeln, echt Burgendländerisch. Trotzdem hatte ich Schwierigkeiten, mir eine Verdoppelung des Zuges vorzustellen. Und von wegen Verkehrsaufkommen? Was spielt sich da ab? Kommt uns der zweite Zug entgegen, schleicht er sich von hinten an, biegt er in Bruckanderleitha einfach so auf unser Gleis ein und verdoppelt unseren Zug? Und müssen wir den verdoppelten oben auf dem Dach als zweistöckigen Zug bis nach Bratislava-Petržalka mitschleppen? Und überhaupt, was sollen wir mit dieser Information machen? Sitzenbleiben, aussteigen, nachschauen, mithelfen bei der Verdoppelung?

Zurück ins Gänsehäufel. Rund um meinen Platz heben die Lagernden die Köpfe und schauen, so wie ich, fragend und belustigt umher. Vielleicht geht bei ihnen so etwas herum wie in meinem Kopf: Na, was für Eltern sind denn das, die nicht nach ihrer Jolana suchen? Wer mögen der Papa und die Mama sein, denen ihre Jolana so lange nicht abgeht? Die diese Durchsagen nicht hören? Schauen oder hören sie ihr Smartphone mit Stöpseln in den Ohren? Vielleicht verstehen sie die Tschechin am Mikro nicht?
Welche Sprache spricht die drei- oder vierjährige Jolana? Gemeinsame Sprache ist immer etwas Gutes. Oder, oh Gott, sollen sich diese Rabeneltern insgeheim gefreut haben, auf elegante und unauffällige Weise ihre abenteuerlustige Tochter loszuwerden? Eine Kindesentsorgung? Auf so elternlästerliche Gedanken kann man bei solchen Durchsagen kommen.
Und was muss sich erst bei der Info abgespielt haben?
Tränen, Verzweiflung. Vielleicht war die Polizei schon da und suchte mit einer WEGA-Hunde- oder Kickl-Pferdestaffel nach den Jolana-Eltern?

Gegen drei Uhr dürfte die Familie wieder zusammengefunden haben, denn die Tschechin von der Info macht eine neue Durchsage, wieder mit dem wunderbaren Bömakeln, diesmal aber ruhig, mit der Ankündigung des Kasperltheaters. Wie immer an Sonntagen, genau um 15 Uhr. Hoffentlich kann Jolana dieses genießen, und – wiedervereint mit ihren Eltern – den Trennungsschmerz vergessen. Beim Kasperl, seinem Prügel und dem Krokodil. Der Kinderchor der entzückten Angstlustschreie dringt herüber bis zum FKK-Strand. Seid ihr alle daaa? Jaaa! Alles in Ordnung. Kasperl funktioniert noch. Vielleicht war das mit Jolana und ihren Eltern nur ein dramatisches Vorspiel zum Kasperltheater?

Gegen fünf ziehen im Westen dunkle Wolken auf, es grollt immer bedrohlicher, und der Wind raschelt lebhafter mit den Pappel- und Eschenblättern. Meine Zeitungen flattern. Der Himmel in den anderen drei Richtungen ist noch strahlendblau, gesprenkelt mit herzigen Schäfchenwölkchen. Zieht vorbei. Ich bleibe, bin ja nicht aus Zucker. Da rauscht es wieder aus dem Lautsprecher, und eine weibliche Stimme erschallt verdoppelt heraus, diesmal eindeutig auf Donaustädterisch: Aufgrund einer Gewitterwarnung bitten wir um besondere Vorsicht! Ihre Info.
Geheimnisvoll. Vorsicht gut, aber wie? Raus aus dem Wasser, nicht unter die Bäume stellen? Schwierig, im Gänsehäufel sind überall Bäume. Deswegen geht man ja hin. Schnell einpacken und heim? Wenn das alle 25 000 Besucher machen, gibt‘s ein Massaker. Alle Köpfe wenden sich nach oben, dunkelschwarz im Westen. Bald ist genau abgegrenzt der Regenvorhang zu sehen, wie die Silhouetten der Brücken, Türme und Schlote verschwinden und wieder auftauchen – ein schnell ziehendes Gewitter. Der Wind gewinnt Sturmstärke. Ich stehe im Wasser, und eine Frau neben mir fragt, mit Blick in den geteilten Himmel: Kummt‘s oda kummt‘s ned? Das Gewitter.

Gemma oder bleima? Sehr philosophisch. Wie der Roseggerische Regenschirm. Mitnehma oda dolossn. Niminmit, lossindo. Mir wär‘s recht, dann muss ich heute nicht gießen. Ich denke eher praktisch.

Jetzt tragen die Wellen der Alten Donau weiße Kronen, laufen gegeneinander und brechen sich, und das Wasser ist so dunkel wie das Schwarze Meer. Ich frage mich, wo ich bin. Die Schwäne, Enten und Nil-Gänse lagern in der Bucht hinter der Mazzes-Insel. Die Badewaschel laufen gekonnt gelassen die Ufer entlang und pfeifen die Schwimmer immer heftiger aus dem Wasser. Nebenbei: Ich entdecke dabei die erste (1.!) Badewaschlerin, Badewaschelin, Badewaschleurin, ich weiß nicht, wie man sie richtig gendert, auf jeden Fall eine braungebrannte Frau in der weißen Uniform der Wiener Bäder mit der Trillerpfeife um den Hals. Sieg! Wieder eine Bastion erobert! Ah, auf Hochdeutsch Bademeisterin.

Noch einmal dieselbe Durchsage mit dem Aufruf zur Vorsicht aufgrund der Gewitterwarnung. Danke! Ihre Info! Weil ich noch immer nicht weiß, wie man aufgrund der Gewitterwarnung im Gänsehäufel Vorsicht walten lässt, die Blätter der Pappeln und Erlen trotzdem immer lauter rauschen – ich im Kopf: Pappeln – schlechtes Holz, sie biegen sich nicht, sondern splittern oder fallen gleich als Ganzes um. Decken, Handtücher, Pappteller und Nylonsackerl fliegen durch die Gegend, über dem Eskimo-Eis-Stand segelt ein Reklame-Plakat für das heurige Mode-Eis Grande durch die Luft, gleich danach wird der ganze Ständer von einer Böe ausgehoben. Wie die Nackerten jeden Alters und jeder Form ihren Sonnenschirmen und Handtüchern nachjagen, ist ein besonders köstlicher Anblick.

Da fallen die ersten Tropfen auf meine Wochenendbeilage EXTRA der Wiener Zeitung (schlechter, hingeschluderter Artikel über den monarchistischen Widerstand gegen Hitler von dem renommierten österreichischen Historiker M. R.). Wegen meiner Abneigung gegen Pappeln im Sturm entschließe ich mich, wie sehr viele andere auch, zum Aufbruch. Klar, danach Staus allüberall. Im Bäderbus wienerisches Motschgern und Gedrängel.
Die könnten a mea einstönn. Anstatt dankbar zu sein, dass es überhaupt so ein kostenloses Bäderservice gibt. Autos sperren den Bäderbus. Die Eiskäufer beim Italiener ebenfalls. Die U1 übervoll.
Als ich deswegen erst eineinhalb Stunden später daheim aus der U-Bahn steige, stehen die lieblichsten Schäfchenwolken am Himmel über der Favoritenstraße, rosa-goldumrahmt von der untergehenden Sonne, wie zum Hohn. Und der Boden ist staubtrocken. Für mich heißt das eindeutig: Gießen!

Wien, 30.7. 18

Veronika Seyr
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Die Ohrfeige der Tante Fritzi

Sie war die älteste Schwester meines Vaters und meine Taufpatin. Eine Auszeichnung für das ganze Leben. Ich war sehr stolz auf sie, weil sie eine von allen hochgeachtete Person war. Sogar mein Vater hörte auf sie. Und ihr Mann, mein Onkel Franz Puchberger, war nicht nur ein Riese von Gestalt mit einem großen, immer roten Kopf, sondern der respektierte und gefürchtete Herr Direktor, Direktor der einklassigen Volksschule von St. Nikola. Er unterrichtete alle Kinder der acht Klassen in allen Gegenständen. Meinen älteren Geschwistern, die noch in seine Fänge gerieten, war er der Albtraum ihrer Kindheit. Aber davon redeten sie erst viel später, als sie schon nicht mehr in seiner Gewalt waren. Es gab nichts, worum wir nicht konkurrierten, vom Kirschkernweitspucken, vom Skabiosen-Köpfe-Abreißen und -Weitschießen bis zum Sauerrampfer- und Brennnesselschlucken, dem Einsammeln von Kartoffelkäfern, Schwammerln und Beeren aller Art bis zu Zwetschkenknödelessen und dem Weitpinkeln – das betraf natürlich nur die Brüder und Cousins.

Aber wichtiger war die Hierarchie der Taufpaten und -patinnen. Hedwig, zum Beispiel, hatte die Tante Sefi, Vaters jüngste Schwester, das Fräulein von der Post, nicht sonderlich hochgestellt in der Hierarchie, weil sie als Jüngste und Unverheiratete die Dienerin und der Blitzableiter der Großmutter war. Die Kinder entwickeln schnell ein gutes Gefühl dafür, was unter den Erwachsenen läuft, von oben nach unten. Liesl hatte Tante Liesl als Taufpatin, die war abenteuerlich und lieb, aber fast immer weit entfernt. Sie lebte in New York und kam nur einmal im Jahr auf Besuch.
Agnes hatte Tante Paula, mir die allerliebste von allen, aber keine richtige Tante, nur eine Freundin der Familie. Und dazu nur im Lehnstuhl, alt und schrullig. Ich mochte Tante Liesl sehr, aber meine Schwester bedauerte ich. Ähnlich gelagert war der Fall des ältesten Bruders Helmut. Er bekam Franz König als Taufpaten, der später Kardinal wurde, einen Jugendfreund meines Vaters, sicher die höchstgestellte Persönlichkeit unter den Taufpaten.
Am meisten beneidete ich Bernhard. Sein Taufpate war Onkel Klaus. Er war der Chef der Großfamilie, in die ich geboren wurde. Alleinerbe des Bräuhauses und Inhaber der Firma, besaß zwei Lastkraftwagen, viel Grund und Wald, hatte zweieinhalb Angestellte und eine strenge Frau, meine Tante Sofie, die später meine Firmpatin wurde. Wen Franzi zum Taufpaten hatte, ist mir nicht in Erinnerung geblieben. Vielleicht den Sohn von Tante Liesl in New York, von dem ich nur wusste, dass er Franz Kuno hieß und als Brother David ins Kloster Mount Savior ging und später als Jesuit und Buddhist sehr berühmt wurde.

Wir hatten nicht nur eine Regierung der Eltern, sondern eine Unterregierung der Taufpaten. Die Firmpaten rangierten etwas weiter dahinter. Weil im Firmungsalter war man entweder schon ein guter Christ oder es waren Hopfen und Malz verloren. Gab es eine Hierarchie der Sakramente? Konkurrenz? Würde mich in dieser Familie nicht wundern.
Mir kommt vor, dass diese Onkel und Tanten mächtiger waren als die Eltern, weil diese sehr vieles, was sie selbst nicht bewältigen konnten, auf Erstere abschoben und sie in die Pflicht nahmen. Sie hatten ja bei der Taufe ein Gelübde abgelegt, darüber zu wachen, dass wir gute Christenkinder wurden.

Von meiner Tante Fritzi habe ich nur Gutes in Erinnerung. Ich fand sie himmlisch schön und elegant. Ich glaube, dass sie mich mochte, obwohl sie sehr streng zu mir war. Ihre beiden Kinder Inge und Wolf waren um vieles älter und schon aus dem Haus. So nahm sie mich wie ein spätes Kind an. Ich habe mehr frühkindliche Erinnerungen an sie als an meine Mutter. Sie war eine richtige Dame, wohnte in ihrem eigenen Haus, hatte einen Garten und bekam viele vornehme Besuche. Tante Fritzi gab Klavier- und Gesangsunterricht. Wenn ich wie ein Mäuschen von der Küche aus ihren Unterrichtsstunden zuhörte, glaubte ich mich im Himmel, so schön waren ihre Stimme und ihr Spiel. Gestorben und im Himmel zu sein, das waren in meiner Kindheit gute Zustände.

Sie leitete den Kirchenchor und war die Organistin der Kirche des Heiligen Nikolaus. Nur die Stimme von der Kranzer Liesi war noch schöner, engelsgleich. Aber die ließ man nicht immer singen, weil sie sich nicht an die Noten hielt und vor lauter Begeisterung über die eigene Stimme zu improvisieren begann und damit nicht mehr aufhörte. Das fanden nicht alle schön und es störte den streng geregelten Ablauf der Messe doch erheblich.
Auch Tante Fritzis Tochter Inge und Tante Sefi waren mit Engelsorganen gesegnet.
Diese vier machten den Großteil des St. Nikolaer Kirchenchores aus. Das Schönste war aber doch die Orgel der Tante Fritzi. Meine Liebe zur Musik geht sicher auf die Kirchenmusik in der Dorfkirche zurück.
Dieses Brausen, diese Fülle, diese Macht, die Lautstärke und dann wieder die Zärtlichkeit wie von einer einzigen Flöte. Ich lernte als erstes Instrument Flöte.
Vor den Hochämtern ging Tante Fritzi im Pfarrhof aus und ein, hatte Gespräche mit dem Pfarrer, Hochwürden, zu denen ich sie begleiten durfte, natürlich nur bis in den Vorraum. Die Pfarrersköchin Nannerl kümmerte sich währenddessen um mich. Ich bekam Himbeersaft und Kekse. Es roch dort immer nach einer Mischung aus Vanillekipferln, Weihrauch und Mottenpulver. So stellte ich mir das Vorzimmer zum Himmel vor.

Für das Glockenläuten waren die Buben zuständig. Die Seile hingen im Vorhaus der Kirche aus dem Turm herunter.
Sie zogen daran, ließen sich hochziehen, baumelten eine Zeitlang an ihnen und kamen wieder auf den Boden. Stießen sich ab und ließen sich wieder nach oben tragen. Das ging so lange, bis draußen das ganze enge Donautal überschallt war und drinnen in der Kirche das Bimmeln der Ministrantenglöckchen erklang. Das Hochamt konnte beginnen. Der Pfarrer kam in vollem Ornat von rechts aus der Sakristei und bezog seine Position vor dem Altar. Vom Chor die Orgel, Vorspiel, schwoll an und breitete sich aus.
Ich mochte alles in der Kirche und an dem Gottesdienst, der Mesner hielt an einer langen Stange den rotsamtenen Klingelbeutel in die Bankreihen hinein und murmelte immer sein Vagösgod, Godvagöds. Lange Zeit glaubte ich, er sei ein Finne oder Ungar, zurückgeblieben vom Krieg, der war ja noch nicht so lang vorbei, weil ich ihn nicht verstand. In den hölzernen Heiligen Nikolaus auf einem Podest links vom Altar war ich verliebt und wollte ihn später heiraten. Weil er doch der beste Mensch war und die Kinder beschenkte.

Wann genau das war, weiß ich nicht mehr: Vielleicht war ich fünf, höchstens sechs Jahre alt. Nach langem Betteln erlaubte mir Tante Fritzi einmal, den Blasbalg zu bedienen. Treten hieß das. Etwas so Feierliches wie das Hochamt am Ostersonntag. Sie intonierte die Intrada der Schubert-Messe.
Die Orgel war sehr alt. Ihr Blasbalg war eine Art von beweglicher Stufe, die je nach Menge der Luft rauf und runter ging. Man musste das gleichmäßig machen, damit die Orgel nicht ins Stottern kam. Rauf ging es von selbst, die Luft hob die Stufe empor, war man aber oben, musste man Druck ausüben, damit sich die Stufe wieder senkte, damit der Blasbalg zusammengedrückt wurde.

Ich liebte dieses Aufwärtsschweben auf der Luft. Zum Runterdrücken stützte ich mich mit beiden Händen am Rahmen ab, ging in die Knie und drückte mit aller Kraft nach unten. Aber es passierte: Ich weiß nicht mehr, warum, ging mir die Kraft aus, war ich abgelenkt vom Hochamt unten? Der Orgel ging die Luft aus, sie schnaufte, röchelte, krächzte, rasselte und versickerte dann in einem quietschenden Seufzer, die Tonleiter abwärts. Eine Art von langgezogenem Furz, Schas, Boller, Pu, wie auch immer, ziemlich unheilig in einem Hochamt. Jeder in der Kirche dachte an das Gleiche, im Hochamt Gehörte. Dann Stille. Drei Sekunden oder drei Ewigkeiten.
Die Gesichter drehten sich zurück und hinauf zum Chor. Stille, nie war sie tiefer. Füßescharren und Räuspern. In diese Stille hinein klatschte eine Ohrfeige. Eindeutig eine Ohrfeige. So kann nur eine Ohrfeige klingen. Hart, kurz, fett und schmatzend, auch sehr körperlich wie auf ein nacktes Hinterteil. Die zarte, sanfte Tante Fritzi hat ungeahnte Kräfte.

Bei mir klingelte es in den Ohren und vor den Augen tanzten die Sternchen. Ist das jetzt der Himmel? In jeder Kirche ist man ihm immer näher, und dann auch noch auf dem Chor neben der göttlichen Orgel. Ich glaube bis heute, dass mir Tante Fritzi nicht wirklich eine Ohrfeige geben, sondern mich nur aus meiner misslichen Lage oben auf dem Blasbalg befreien wollte. Schnell eilte der Mesner Sepp die Stufen herauf auf den Chor, schubste mich vom Blasbalg weg. Mit neuer Luft aus dem Blasbalg setzte Tante Fritzi ihr Orgelspiel fort bis zum feierlichen Brausen des letzten Stücks, das mir so gut gefiel, dass ich immer weinen musste:
Großer Gott, wir lo-o-ben dich! Herr, wir preisen dei-ei-ne Stärke.Vor dir nei-ei-gt die Erde sich und bewundert deine Werke.

Nur wie sich die Erde – eine Kugel – vor Gott verneigt und ihn gleichzeitig bewundert, dieses Bild konnte ich nie zusammenbringen.
Es war übrigens die einzige Ohrfeige meines Lebens. Bis jetzt.

Wien, 24.3.18

Veronika Seyr
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Klagelied der Kettensäge

Ich Säge, säge, säge
Und liege schwer in deiner Hand
Als ob mir daran läge
trenn ich jeden Holzverband

Du sagst, so sei ich gewollt
Ein Zeug zu einem Zwecke eben
Nichts, dem man weiter Achtung zollt
Ist das ein Leben?

Oh Mensch, du töricht’ Allzerschneider
Ich fühle in mir fein’re Züge
Zum Beispiel nähte ich gern Kleider
Ist dies Wünschen nichts als Lüge?

Ich werde nicht vergeblich hoffen
Kraft der Evolution
Steh’n mir alle Wege offen
Und den meinen kenn ich schon!

Mag sein, mir selbst ist’s nicht vergönnt
In höh’re Sphären vorzudringen
Doch die Glut, die in mir brennt
Werd ich auf meine Kinder bringen

Dort soll sie weiter wachsen, strahlen
Und was in mir den Anfang nahm
Wird in fern’ren Erdenjahren
Laptop, Mischpult, Eisenbahn

(Dafür also leide ich
Und darum vermeide ich
Selbst wenn er mir die Kette strich
Einen jeden Sägerich)

Und siehe, wie das Warten lohnt
Meinen künftig’ Herrn und Meister
Hast du selbst an mich gewohnt
War Wäschetrockner, Eugen heißt er

Du legtest mich schon oft auf ihn
Seit er außer Diensten ist
Ich fleh dich an, tu’s weiterhin
Kann sein, dass er mich sonst vergisst

Hörst du, Mensch, verstehst du nicht?
Ach dieser Lärm! Oh, dieser Schmutz!
Verraten ist, wer zu dir spricht!
Verflucht sei er, dein Ohrenschutz!

Zornig werd ich (‚) Kettensäge
So viele Bretter mir vor’m Hirn
Treff ich, trenn ich mir die Wege
Werd triumphal mich kultivier’n!

Bernd Remsing
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