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Würfel

Er suchte sich,
wie er war,
was er war,

in einem Würfel,
der in der Luft nicht hing,
nicht schwebte, aber sich befand,

dessen Wände durchsichtig waren,
von außen betrachtet,
und schwarz, von innen gesehen.

Nicht den Regen spürte er
und nicht die warme Sonne,
nicht den Wind.

Maschinengefertigter Boden
war unter seinen Füßen
und nichts, nur Luft, in seinen Händen.

Seine Gedanken, dachte er,
würden sich um den Erdball winden,
doch alle blieben sie in dem Würfel gefangen.

Vogel auf Würfel auf Stehern

Vogel auf Würfel auf Stehern

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 19074

Was Marx wirklich sagte

Glücklich nahm ich das Paket in der Portiersloge der österreichischen Botschaft in Empfang und schleppte es in mein Studentenheim an der MGU (Moskovski Gosudarstvenni Universität imeni Lomonossowa), der Staatlichen Universität. Die österreichischen Stipendiaten hatten das Privileg, sich einmal im Monat ein Paket aus der Heimat schicken lassen zu dürfen, maximal 20 Kilogramm, streng überprüft von der Kurierleitung, der diplomatischen Poststelle des Außenministeriums.
Meine Kolleginnen Lisa und Susanne wünschten sich meist Lebensmittel und Hygieneartikel. Ich auch, aber diesmal hatte ich hauptsächlich Bücher bestellt. Meine Freundin Wjeta wünschte sich den in der Sowjetunion verbotenen Philosophen Nikolaj Hartmann, und mein Freund Paschka wollte Marx‘s Kapital I-III im Original lesen. Ich habe es beim Internationalen Buch im Wiener Trattnerhof erstanden, der Buchhandlung der KPÖ. Ich selbst kannte damals weder Nikolaj Hartmann, einen deutsch-russischen Neu-Kantianer, noch hatte ich Marx gelesen.

Ohne zu fragen erfüllte ich ihre Wünsche. Wjeta und Paschka konnten nicht Deutsch, und die Übersetzungsbemühungen gestalteten sich schwierig, waren aber eine gute Übung für mein mangelhaftes Russisch. Wjeta studierte ihren Hartmann nur heimlich, privat, mühsam, mit Wörterbuch. Aber Paschka machte aus seinem Marx eine große Geschichte.
Möglich, dass ich nicht allzu korrekt übersetzt habe. Man muss ja erst einmal den Inhalt verstehen, und davon war ich weit entfernt. Sie erklärten mir das Kapital, so verzerrt und stückweise, wie sie es vorgesetzt bekommen hatten und es angeblich die Sowjetunion umsetzte. Es war ein Dialog zwischen Stummen und Tauben. Paschka sammelte einige vertrauenswürdige Kollegen um sich, und wir hielten in seiner Wohnung Marx-Lese- und Diskussionszirkel ab. Das ging lange Zeit gut, weil seine Mutter als Telefonistin beim KGB arbeitete, also unverdächtig war.

Dabei war „Wohnung“ zu viel gesagt. Ljubow, eine kleine, magere und gekrümmte Frau, hatte ein großes Zimmer in einer Kommunalka mit einer Gemeinschaftsküche und einer Gemeinschaftstoilette. Es wohnten hier acht Familien auf einer ehemals herrschaftlichen Etage mit breiten Korridoren, in denen jetzt Gerümpel stand oder an den Wänden hing und die bis oben hinauf vollgestopft waren mit Vorräten.
Sie verglichen die Marx‘schen Aussagen des Originals mit den Zitaten in ihrem Lehrbuch in den Pflichtvorlesungen über den Dia-Mat. Und natürlich immer noch obligatorisch „Der kurze Lehrgang der Geschichte der KPdSU“, unverändert seit Stalins Zeiten, nur dass dieser nicht mehr vorkam.
Kein sowjetischer Student – und wahrscheinlich auch kein Dozent – bekam jemals ein Original von Marx und Engels in die Hand, sondern nur in die Vorträge eingestreute Schnipsel präsentiert, so wie sie gerade in die Sowjetideologie hineinpassten. Sie mussten den „Kurzen Lehrgang“ auswendig lernen, er wurde wortgenau abgeprüft. Papageien- und Sklavenunterricht.

Genau weiß ich nicht mehr, was Paschka so aufgebracht hat, was genau er an all den Lügen nicht mehr aushalten konnte. Das Auseinanderklaffen von Theorie und Wirklichkeit. Wahrscheinlich die Urlüge über den Marxismus, wie sie Lenin über das ganze Land gebracht hat: der Aufbau des Sozialismus in einem Land. Dass Russland als Agrarland ohne Kapital, Industrie und nennenswertes Proletariat denkbar ungeeignet war für eine proletarische Revolution, dass die Bolschewiki den Marxismus eigentlich erfunden hatten, um in seinem Namen an die Macht zu kommen.
Und die Folgerung, dass der „Rote Oktober“ keine proletarische Revolution war, sondern ein bolschewistischer Putsch einer kleinen Kaderpartei – entgegen ihres Namens in der Minderheit. Der ganze große Mythos vom Roten Oktober – ein einziger Schwindel! Ich verstand damals noch sehr wenig von diesem Furor, der sich aus der Marx-Lektüre entwickelte. Aber diese Studenten diskutierten sehr ernsthaft. Es ging ihnen um vieles, um alles. Das Land, die Welt, den Frieden, das Proletariat, die Intelligenzija. Das waren für mich keine Begriffe, hatte keine Inhalte und riefen keine vergleichbaren Emotionen hervor. Ich fand das nur übertrieben, hysterisch und lächerlich. Falsche Romantik und Wodka-Gedusel.

Als sich Paschka in der Argumentation der Widersprüche und Verdrehungen sicher genug war, trat er damit in einer Vorlesung auf. Ich war dabei, erinnere mich aber nicht mehr, um welche Frage es ging. Er schwenkte den 1. Band und zeigte auf die bunt angestrichenen Zeilen. Es entstand ein Tumult. Bevor er verhaftet wurde, wurde das Kapital verhaftet. Nicht der vortragende Professor, sondern Kollegen stürzten sich aus den Sitzreihen auf ihn, entrissen ihm den blauen Band mit den großen Goldlettern am dunkelblauen Einband. Paschka kam nicht mehr zu Wort und wurde abgeführt. Später bekam er einen Prozess vor dem Studenten-Parteigericht der MGU. Es wurden ihm Disziplinlosigkeit, Insubordination und Rufschädigung der Universität vorgeworfen.
Das klingt bedrohlich, aber der Prozess ging glimpflich für ihn aus. Er wurde nicht von der Universität relegiert, es war 1971, immerhin schon 18 Jahre nach Stalins Tod. Das Urteil – er bekam ein zusätzliches Semester militärische Übungen aufgebrummt, verschärftes Regiment, knapp vor dem Gulag.

Das Buch erhielt er nicht zurück. Vielleicht studierten es die KP-Funktionäre oder es wanderte statt ihm ins Lager. Bei der nächsten Party in Paschkas Wohnung phantasierten wir alle möglichen Strafen für das Kapital: Es wurde in Ketten gelegt, ausgepeitscht, verbrannt, eingestampft, umgeschrieben, mit Psychopharmaka vollgestopft, musste sich selbst widerrufen und abschwören, im Bergwerk arbeiten und wurde nach der Ableistung der Gulag-Strafe für ewig aus allen Städten verbannt.

Wjeta wurde keine Hartmann-Philosophin, schmiss ihr Studium hin und malte Bilder. Paschka schloss das Studium ab, arbeitete aber nie als Psychologe, sondern am Bau. Er wanderte später mit einer Linzerin nach Österreich aus und gründete eine Familie, lernte Deutsch und liest noch immer Karl Marx. Am schönsten dabei finde ich, dass er sich ausgerechnet in Freistadt niedergelassen hat.

1.11.17

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 19042

Die schwarzen Schafe

Raimund stapft durch den Schnee. Fast bis zu den Knien sinkt er ein. Er denkt gar nicht, dass es mühsam ist voranzukommen, denn das ist es doch so oft in diesen Wintern, auf 1400 Metern Seehöhe, bei jetzt bis zu anderthalb Metern hohen Schneedecken und nächtens minus zwanzig Grad Celsius. Nun muss keine Feldarbeit verrichtet, aber die Geräte müssen gewartet werden und die Zäune repariert, zudem stehen manche Baumschlägerungen an. Raimund hält Schafe, die allesamt schwarz sind, einige Lämmer sind dabei, denen er das Fläschchen geben muss. Es ist auch im Winter genug Arbeit.
Im Frühling müssen die Felder vorbereitet werden, im Sommer wird geerntet – dann wird Raimund Knecht Ferdi zur Hand gehen, doch ist es so, dass es im Winter die Arbeit für zwei Menschen ist und im Sommer die für vier.

Es ist eine einsame Gegend, in der Raimunds Landwirtschaft liegt. Wandertouristen sind begeistert von ihrer Schönheit und Urwüchsigkeit. Ist man hier Bewohner, sieht man eher die Mühe. Der Schmerz in den Muskeln ist vorrangig gegenüber einer wundervollen Fernsicht.

Und was bleibt denn, was bleibt denn von mir?, überlegt Raimund, während er durch den tiefen, flockigen Schnee stapft. Am flüchtigsten sind diese meine Fußspuren, die erstarkende Sonne wird sie in wenigen Tagen auslöschen, falls sie nicht der Wind schon früher verwehen wird.

Bestelle ich meine Felder nicht mehr, werden sie von Unkraut und Gras überwuchert werden. Das dauert vielleicht drei Jahre, dann wird die Natur sich wieder durchgesetzt haben.
Und das Haus gebaut aus Stein und Holz? Es dauert länger, bis es zerstört ist, aber dennoch: Nach zehn Jahren kann man nicht mehr darin wohnen, dann wird der Stein brüchig und das Holz morsch – in zwanzig Jahren muss das Haus abgerissen werden.

„Von mir, von mir selbst, was bleibt von mir?“, fragt sich Raimund. Meine Frau heißt Annemarie, unsere Tochter Charlotte ist drei, und unser Sohn Ludwig ist fünfzehn Monate alt. Von mir bleiben meine Kinder. Was noch von mir bleibt, ist die Erinnerung, die Menschen an mich haben. Wenn sie nach meinem Tod sagen: „Ach, der Raimund, der war ein bisserl ein Ernster“, oder: „Weißt noch, der Raimund mit seinen Schafen?“ „Ja natürlich, wie könnte man den vergessen?“

Das schwarze Plüschschaf

Das schwarze Plüschschaf

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 19006

Erinnerung

Du hast mir damals doch erklärt
Wie dein Leben werden soll:
Vor nichts und niemand dich verbiegen
Dir selbst gehören Zoll um Zoll - das war toll
Beruflich lieben? Du doch nie! Doch dann kam sie
Mich betrügen? Du doch nie! Schuss ins Knie.

Du hast mir damals doch erklärt, dass man niemand schaden soll
Nicht Mensch, nicht Tier, nicht der Natur
Ich war bei dir, doch dann kam nur
Dein erstes tolles Angebot
„Spenden gegen Hungertod!“
„Bekämpft die Wiener Wohnungsnot!“
Überall warst du dabei, ein Shootingstar der Stadtpartei.
Kein Thema war zu blöd, zu bieder
Kein Untergriff war dir zuwider.

Du hast mir damals noch erklärt: Offen kämpfen sei verkehrt.
Erst der Bär, dann das Fell, erst Wolfsgeheul, dann das Gebell.
Ein mieser Hund bist du geworden -
Oder bist es bloß geblieben.
Hast Hunderte ins Aus getrieben
Dafür gab‘s Rang und Amt und Orden
Hast Tausende mit Lust belogen
Wurdest fett und schwammst ganz oben.

Du sagst, ich hätte dich ‚übertrieben schwer verletzt’
Dich, als du mich dringend brauchtest, der Hetz- und Treibjagd ausgesetzt
Doch hast du selbst mir doch erklärt, dass man niemand schaden soll:
Nicht Mensch, Natur, nicht Mann, noch Maus
Ich folgte dir und setzte nur - einen gefährlich schweren Troll
seinesgleichen aus.
Um schlimmeres Übel zu verhindern
Um dich an früher zu erinnern.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 18115

Eines Tages

Viele liebten ihr schönes Gesicht,
bewunderten die sanfte Grazie.

Noch keiner schätzte die ängstliche Abenteurerin,
die sich trotzend,
wilden Geschreis,
mit knirschenden Zähnen
ins Getümmel des Alterns warf.

Und mit rauer Klaue,
ihn an der Hand nahm und
in den Kreis des Unabdingbaren zog.

Nives Farrier
aus: Nach Dir.
(TwentySix Verlag, 2018)

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 18097