Schlagwort-Archiv: ¿Qué será será?

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Die Menschmaschine

Ich verbinde mich mit elektronischen Schaltkreisen.
Ich erweitere meine Erinnerungen durch drei Festplatten.
Ich lasse mir die Gliedmaßen amputieren und mir dafür High-Tech-Prothesen einsetzen.
Aber durch all diese Maßnahmen bin ich nicht besser geworden, sondern sogar schlechter.
Ich denke einfach, ich bewege mich plump,
ich kann viele Erinnerungen zeitlich und situativ nicht einordnen.
Es hat sich nicht ausgezahlt, eine Menschmaschine zu werden.
Doch nun bin ich eine und kann nicht mehr zurück.

Der schlechte Roboter

Der schlechte Roboter

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 20062

Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Jakob van Hoddis
(Wikipedia)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 20040

Kapitän

Ich sehe aus keinem Fenster. Fenster würden das Konstrukt des Raumschiffes schwächen. Ich sehe die Filme der Außenkameras über verschiedene Bildschirme. Nirgendwo da draußen ist Leben, und die Erde liegt Generationen hinter mir. Das Schiff fliegt autonom. Ich bin der Kapitän und einziger Passagier. 87 Jahre und 216 Tage lag ich im Kälteschlaf. Vor sechs Tagen bin ich erwacht. In drei Tagen wird das Schiff auf Petreios-13 landen. Das Ziel ist, dort Bodenschätze zu explorieren und dann abzubauen. Auf diesem Zwergplaneten werde ich Bergmann sein.

Der Astronaut

Der Astronaut

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 20022

 

Signalwelt

Was sollte das sein, die „Ruf- und Standortdatenrückfassung“? Na was denn wohl? Dein Smartphone ersetzt den auf deinen Kopf geschraubten Peilsender, und es liefert nicht nur deine Position, sondern auch deine gefunkte Kommunikation mit dazu, wusste Zapp.

Ich lasse mich ja sogar freiwillig darauf ein, meine Freunde sollen wissen, wo ich unterwegs bin. Und ich liefere ihnen Statements, was ein Hotspot ist und wieso, wo die Drinks, die Mädels stimmen und besonders die Musik, und ich warne sie vor den No-Places-to-Go, jenen mit einem Chillingfaktor von subzero, unterhalb des antarktischen Eises.

Fotos, Texte, Videos, Soundfiles. Beim Schreiben muss es schnell gehen, mein Phone hat eine Qwertz-Tastatur. Die Übertragungsgeschwindigkeit ist hoch. Die Zeit messe ich eher in Sekunden als in Minuten, bis die Inhalte auf meinem Account hochgeladen sind.

Und dann kommen die Antworten. Und das ist das richtig Geile! Eine gute Nacht war es, wenn ein neuer Freund dazugekommen ist, oder gleich mehrere.

Dann falle ich halb tot ins Bett - ein paar Stunden Schlaf, bis es wieder in die Arbeit geht - und bin so glücklich, wie ich es kann.

Meine Augen sind schon zu, da frage ich mich: Warum gibt es in meinem Netzwerk eigentlich nur Freunde? Wo bleiben denn die Feinde?

Und klar sehe ich nun, obwohl es hinter meinen Lidern dunkel ist: Dort in der Signalwelt gibt es sie nicht, wohl aber hier in der fleischlichen. Und mein ärgster Feind bin selbst ich mir.

Dann versinke ich im Traum.

Luna piena

Luna piena

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 20014

Going Back in Time

Meine Zeit läuft rückwärts.
Deshalb muss ich nicht anfangen,
sondern beenden, damit ich nach einiger Zeit damit beginnen kann.
Daher ist morgen für mich gestern.
Immer wird dabei meine am weitesten reichende Erinnerung gelöscht,
sodass ich am 21. Dezember nicht weiß, dass zuvor der 22. Dezember war.
Ich weiß auch nie, wie es weitergeht,
obwohl alles in meinem sich verjüngenden Leben vorgezeichnet ist.

Überreifes Weizenfeld mit Unkraut

Überreifes Weizenfeld mit Unkraut

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 20010

The Sick Earth

Die Erde liegt krank darnieder, zu viele Verletzungen über die ganzen Jahre. Sie fühlt sich schwach, sie fühlt sich schlecht. Ein Arzt und eine Krankenschwester behandeln sie. „Seit Milliarden Jahren ist sie schon auf der Welt und wurde dabei erschöpfter und erschöpfter. Wie schaffte sie das nur über so lange Zeit, ohne zusammenzubrechen?“, fragt der Arzt die Schwester. „Sie scheint zäh zu sein“, antwortet die Schwester. Ja gut, aber wenn jemand einen aggressiven Krebs in einem finalen Stadium hat, nützt ihm das auch nichts mehr, wenn er zäh ist, denkt der Arzt. Das schon, natürlich, denkt er weiter, die Erde scheint eben keine unheilbare Krankheit zu haben. Sie war lange in einem ungesunden Umfeld. Ihr wurde viel entnommen, von ihrer Haut und aus ihrem Inneren, aber sie ist in keiner unmittelbar lebensbedrohlichen Situation, vieles kann nachwachsen, in ihrem Inneren kann sich einiges nachbilden. Sie hat durchaus eine gute Chance, wieder auf die Beine zu kommen, nach einiger Zeit wieder auf die Beine zu kommen.

„Mir ist so heiß, Herr Doktor“, sagt die Erde. Sie hat Fieber, zeigt das Thermometer an. „Tja“, sagt der Arzt, „die Temperatur an Ihrer Oberfläche steigt kontinuierlich an. In den meisten Fällen ist das schlecht. Theoretisch könnte die Temperatur wieder sinken, aber das würde gemeinsame Anstrengungen verlangen und eine gewisse Zeit dauern.“
Die Erde liegt kraftlos im Krankenbett. Sie kann sich selbst nicht helfen, weder hier auf der Krankenstation noch im Freien, bei sich zuhause. Wie soll sie verhindern, dass sie angebohrt wird, ihre Wälder abgeholzt, Giftmüll vergraben, Grundwasser, Flusswasser, Seewasser immer stärker belastet werden und Tag für Tag neue Arten aussterben, ein Vorgang, der nicht reversibel ist?

Die Erde hat keine Handhabe. Vielleicht gibt es manche, die hören, wie sie sagt: „Schont mich, Leute, schont mich, ewig mache ich das nicht mehr mit. Was heißt ewig? Hundert Jahre können da schon eine lange Zeitspanne sein. Habt ihr denn eine zweite Erde zur Verfügung, auf der ihr leben könnt?“ Natürlich ist derzeit keine zweite Erde bekannt. Würde man eine finden, wäre die Reise zu ihr ein Flug über tausende Generationen. Momentan gibt es keine Möglichkeit, auch nur einen winzigen Teil der Menschheit umzusiedeln. Sie ist auf diese Erde angewiesen, jeder Einzelne ist das.

Die Erde weiß nicht, ob sie sich darüber freuen oder traurig sein soll, was ihr der Arzt soeben mitteilte. „Ja, Herr Doktor“, sagt sie, „dann machen Sie mich doch bitte gesund.“ „Sehen Sie, Frau Erde“, gibt der Arzt zurück, „es ist keine Operation nötig, Sie leiden an keiner viralen Erkrankung. Tabletten hätten keine Wirkung. Sie haben viele Verletzungen erlitten, die aber von selbst ausheilen. In erster Linie sind sie erschöpft. Sie müssen sich ausruhen, dann werden Sie wieder zu Kräften kommen, ich würde sagen fünfzig Jahre.“ „Fünfzig Jahre?“, fragt die Erde nach. „Fünfzig Jahre, ja genau“, erwidert der Arzt, „danach sind Sie eine neue Erde.“

Und die Erde atmet ein und aus, was einen heftigen Wind erzeugt. Später, als sie alleine ist, beginnt sie zu singen, das hört man als Vogelgezwitscher. Manchmal auch weint sie, dann regnet es auf die Erde.

Hinter der Sattnitz liegt das Klinikum Klagenfurt

Hinter der Sattnitz liegt das Klinikum Klagenfurt

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 19126

Maschinensteuer

„Ich soll eine Maschinensteuer zahlen?“, beschwert sich der Roboter. „So eine Gemeinheit! Da arbeitet man Tag und Nacht, nicht Doppelschichten oder Dreifachschichten, sondern immer, außer wenn man gerade gewartet wird oder ein neues Programm eingespielt bekommt, kein Urlaub, null Freizeit, nicht einmal Pausen, und dann wird man dafür bestraft! Das ist alles andere als fair.“

Der verkehrte gelbe Spielzeug-Rechen-Roboter

Der verkehrte gelbe Spielzeug-Rechen-Roboter

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 19135

Lifetime

Ich habe immer viel gearbeitet, und ich habe immer gut gearbeitet. Als ich vierunddreißig war, betrug mein Maximal zu erreichendes Lebensalter hundertacht Jahre.

An so eine Zahl kommt kaum jemand heran, soviel ich weiß. Dieses Maximal zu erreichende Lebensalter ist die privateste Information, die es gibt. Ihre wahre Zahl gibt praktisch niemand preis. Es ist das späteste Lebensalter, an dessen Geburtstag man vernichtet wird. Man wird in einem Hochtemperaturofen verbrannt. Natürlich ist es möglich, dass man vorher eines natürlichen Todes stirbt. Arbeitet man demnach gewinnbringend, darf man länger leben – es ist der ideale logische Schluss.

Es ist der ideale logische Schluss, wenn es gut läuft. Das Maximal zu erreichende Lebensalter wird nach jedem Wendepunkt angepasst. Man erhält ganz altmodisch einen eingeschriebenen Brief von der Pensionsversicherungsanstalt. Meine Ziffer steht derzeit bei siebenundsechzig Jahren. Das ist kein besonders guter Wert. Sicherlich habe ich neben viel auch gut gearbeitet, doch leider erlitt ich bei meiner letzten Firma Schiffbruch – die Asien-Krise, und ich war Gebietsverkaufsleiter für Asien –, es war nicht meine Schuld, meine Arbeit war garantiert nicht schlecht – aber es kostete mich sechs Jahre an potenzieller Lebenszeit.

Jetzt soll ich für eine andere Firma einen Arsin-Filter entwickeln. Arsin ist AsH3. Am Anfang soll das Patent für die Funktionstüchtigkeit des Filters stehen. Ich bin schon ziemlich weit, da machen wir Tests im Reinraum des Werks, wo die Versuchsanlage steht. Die Arsen-Konzentration nach dem Filter bewegt sich im Parts-per-Million-Bereich. Diesmal allerdings messen wir Werte auch vor dem Filter. Sie sind nur geringfügig höher. Daraus folgt, dass wir nicht beweisen können, dass der Filter tatsächlich genug Arsen bindet.

Alles war umsonst. Natürlich verliere ich auch diesen Job. Ich sitze zuhause, alleine, ich lebe alleine, und rauche gerade, als der Postbote klingelt. Es ist der Brief von der Pensionsversicherungsanstalt. Ungeduldig reiße ich das Kuvert auf. Welche Zahl steht da? Da steht einundfünfzig.

Ich bin fünfzig. Im Brief ist die Telefonnummer meines Sachbearbeiters angegeben. Aber wozu soll ich ihn anrufen? Die Zahl ist korrekt ermittelt, eine Fehlberechnung ist ausgeschlossen. Er soll mich ja nur beruhigen. Dafür habe ich genügend Medikamente in meiner Hausapotheke. Ich nehme drei weiße, mittelgroße Tabletten ein.

Heute ist der dritte April. Einundfünfzig werde ich am zweiundzwanzigsten Februar des kommenden Jahres. Das bedeutet noch einen Frühling, einen Sommer und einen Winter für mich.

VIDEOÜBERWACHUNG und Mobilfunkmast beim Rastplatz Herzogberg Süd

VIDEOÜBERWACHUNG und Mobilfunkmast beim
Rastplatz Herzogberg Süd

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 19134

In der Zukunft

Ich lebe in der Zukunft. Ich sitze in meiner Bude und schaue fern. Ein scheiß Programm überall, wohin ich auch zappe. Da, plötzlich, das Bild flackert, die Glühbirne in der Deckenlampe wird schwächer, ratsch!, das Bild ist ausgefallen, schwarz der Fernseher.

Es ist doch immer dasselbe. Der Strom ist am Ausgehen. Ich muss wieder ins Rad. Wenn ich eineinhalb Stunden laufe, ist der Akku voll genug für alles wirklich Notwendige und für den Western ab 22:15 Uhr. Trotzdem habe ich mir die Zukunft in der Vergangenheit besser vorgestellt.

Der Röhrenfernseher im Gras

Der Röhrenfernseher im Gras

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 19112

Geprüft

Mikes Sauftour war ein voller Erfolg gewesen. Nachdem er sich das Stiegengeländer hinaufgehantelt hatte, öffnete er die Haustür mühelos, vergaß diesmal auch nicht, sie wieder zu schließen, torkelte durch den Gang Richtung Wohnzimmer und fiel dort auf die Couch. Er drückte einen der bunten Knöpfe der Fernbedienung, schlummerfreundliche Lautstärke, so hatte er es gern, und bald legte sich trotz ansprechender Story über ein Mädchen, das mittels Ausspuckens eines Kaugummis große Dinge wie Lkws herbeizaubern konnte, Schlaf über ihn.

Das Wohnzimmersofa war sein üblicher Schlafplatz, seit Amanda ihn verlassen hatte, er mied das Riesenschlafzimmer nebenan seither wie die Brutstätte des Teufels oder wie eine Kathedrale: reine Ansichtssache je nach Stimmungslage, und die war mehr als schwankend.
Auch Mike als Gesamter übrigens, an diesem kalten Morgen. Am Weg ins Bad, wo er sich Erleichterung erhoffte, fiel sein Blick auf die Schlafzimmertür, die merkwürdigerweise angelehnt war.
Er wird doch nicht in der Nacht noch … etwa hineingegangen sein? Im betrunkenen Zustand traute er sich nach wie vor nicht ganz über den Weg.
Am Rückweg vom Bad obsiegte der Mut über die Selbstzweifel und Mike wagte es, der Türe einen sanften Schubs zu geben. Es könnte ja auch sein, immerhin, schoss es ihm durch den Kopf, dass Amanda zurückgekommen war! Leise, in der Nacht, mit schlechtem Gewissen, weil sie ihn im Stich und ihre gemeinsame Beziehung einfach hinter sich gelassen hatte, wegen dem bisschen Alkohol und den paar Geldproblemen. Und die Streiterei war für ihn schließlich auch nicht lustig gewesen, vor allem seit der Sache mit Alex, da war es ja kaum noch auszuhalten gewesen daheim.
Wie auch immer, wenn sie jetzt wiedergekommen war, sollte sie ihn so besser nicht sehen. Also zog Mike die Schlafzimmertür wieder ganz zu, griff sich halbwegs frische Klamotten und wankte zurück ins Bad, unter die Dusche.

Belebt war etwas anderes, aber immerhin ein bisschen munterer wurde er, vom Durchblick jedoch weit entfernt: Was hatte Amanda wohl dazu bewogen, mitten in der Nacht zu ihm zurückzukommen? Sie hätte ihn anrufen können, sich mit ihm treffen, doch sie verweigerte seit Wochen jeden Kontakt. Es sähe ihr so gar nicht ähnlich, jetzt plötzlich nächtens sein Schlafzimmer aufzusuchen. Schön langsam zog das Rätsel Kreise in seinem armen Kopf. Während er sich abtrocknete und anzog, kam er zu dem Schluss, dass er selbst der Verursacher des Mysteriums der geöffneten Tür gewesen sein musste. Bis er ein Husten aus dem Schlafzimmer hörte, und ein zweites. Selbst bei getrübter Wahrnehmung musste er sich eingestehen: Es klang so gar nicht nach Amanda.
Mike war kein mutiger Mensch. Aber jetzt war Zeit zu handeln, beispielsweise die Schlafzimmertür ganz zu öffnen. Er berührte die Türschnalle und erwartete, sie glühend heiß vorzufinden, oder so eisig kalt, dass er festfrieren würde, und wieder dachte er an Amanda: Wenn sie ihn jetzt sehen könnte, sie würde lachen. Ihm war eher nach Heulen zumute. Was, wenn da drin ein Einbrecher schlief, der während seines Raubzugs müde geworden war, weil er so lange gesucht und nichts Wertvolles gefunden hatte? Aber das intakte Haustürschloss sprach dagegen. Irgendwie war Mike das jetzt alles zu viel.
Die Türschnalle tat ihm nichts zuleide, weder verbrannte noch vereiste sie seine Hand. Mike war es jetzt schon egal: Komme was wolle, er musste wissen, was da los war.

Der Blick auf das große französische Bett raubte ihm den Atem, der ohnehin nur noch stockend vorhanden war unter all dem Herzklopfen.
Da lagen in friedlicher Eintracht fünf Burschen, und auf dem Brustkorb des zweiten von links war noch ein längerer Haarschopf zu sehen, vermutlich der einer Frau, oder auch nicht. Jedenfalls nicht der Amandas, denn der hier war grün, und diese Farbe konnte sie nicht leiden.
Zwei der Burschen öffneten die Augen und schienen genauso erstaunt wie er. Mike wich ein paar Schritte zurück auf den Gang, dann weiter ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Jetzt musste wirklich Schluss sein mit dem Alkohol. Er hatte schon gehört von solchen Phänomenen, aber dass es so plastisch war, haute ihn einfach um.

„He!“, rief eine Männerstimme aus dem Schlafzimmer. „Da ist besetzt, such dir was anderes!“ Und eine zweite, ungeduldiger: „Gecheckt? Schleich dich!“

Mike saß immer noch da. Amanda hatte recht gehabt: Das Saufen richtete ihn zugrunde. Die Erkenntnis traf ihn hart und fast so unvermittelt wie der Hieb gegen seine Schulter. Mike richtete sich auf und stand einem etwa gleichaltrigen Mann gegenüber, der ihn eher neugierig als feindselig musterte. „Du bist ja immer noch da?“, lachte der Mann. „Was ist mit dir?“
Mike musste anscheinend etwas sagen, er war ungeübt im Umgang mit Halluzinationen, und seit wann tat einem die Schulter weh von einer Wahnvorstellung? „Ich wohne hier“, stammelte er schließlich, und dann erhob sich ein großes Hallo im Schlafzimmer. Anscheinend hatten die anderen ihr Gespräch mitgehört, waren aber zu faul gewesen, aufzustehen und daran aktiv teilzunehmen.

„Der wohnt hier! Du bist ein solcher Trottel, das kann doch nicht wahr sein! Hallo, Paul, munter werden! Wo war dein Gehirn, als du die Wohnung ausgesucht hast? So was darf doch nicht passieren!“

„Keine Ahnung“, daraufhin eine andere Stimme, sehr müde, sehr defensiv.

Der Mann bei Mike schnappte ihn am Handgelenk und zog ihn ins Schlafzimmer. „Also ich bin der Sandro. Und du wohnst also hier. Also eigentlich ist das ein Missverständnis. Wir dachten, die Wohnung sei leer, also ohne Bewohner. Und du solltest gar nicht hier sein.“

Dasselbe könnte ich von euch behaupten, dachte Mike. Beziehungsweise meinte er, er hätte es gedacht, denn anscheinend hatte er es laut ausgesprochen.

„Da hat er recht. Da hat der Mann recht“, nickte Sandro neben ihm.

Dann passierte eine Weile nichts. Jeder schien nachzudenken, der grüne Haarschopf verwandelte sich bei näherer Betrachtung in ein freundliches Gesicht.

Mike beschloss, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Er sammelte sich, um die Gestalten aus seinem Kopf zu verscheuchen, und begann mit seiner kleinen Rede: „Also ich bin Mike. Und ja, ich trinke zu viel. Aber das hier passiert mir zum allerersten Mal. Und es ist ganz schön gruselig. So kann es nicht weitergehen. Ich werde versuchen, weniger zu trinken. Oder gar nichts mehr zu trinken. Ab heute.“

„Das ist schön, Mike. Sehr erfreut“, erhob sich eine der Gestalten vom Bett und wandte sich zum Gehen. Es funktioniert, es funktioniert wirklich, jubelte Mike innerlich. Sie gehen jetzt alle, und dann passt es wieder, und ich werde doch nicht verrückt.

Schön langsam kam Bewegung in den Rest der Gruppe, man streckte sich, gähnte, beschuldigte den armen Paul des Schwachsinns und umringte schließlich Mike und Sandro.
„Bevor wir gehen“, meinte Paul, „bitte sag mir, warum du noch hier bist. Ich schaue immer, dass so etwas nicht passiert, also bitte, sag mir, was ich falsch gemacht habe. Damit so etwas nicht mehr vorkommt.“
Es klang so flehentlich, dass Mike nicht umhin konnte, aus Mitgefühl, und weil es ja eigentlich egal war, ehrlich zu antworten: „Also ich wohne ganz normal hier. Und wenn ich mich recht erinnere, ist die Miete noch bis Jahresende von meiner Ex bezahlt worden. So lange schau ich, dass ich über die Runden komme, und dann suche ich mir in Ruhe eine kleinere Wohnung. Ich bin grad etwas demotiviert, das schon.“

Paul seufzte: „Dann muss ich dir was sagen, Mike, das dir nicht gefallen wird: Diese Wohnung ist auf YourB’n‘B vorgemerkt und hat dort den Status ‚zur Prüfung‘.“

Mike verstand nur Bahnhof, man sah es ihm offensichtlich an, drum fuhr Paul etwas langsamer fort:
„Ich hab mal dort gearbeitet. Jede Wohnung, die auf YourB’n‘B zur Untervermietung angemeldet wird, wird von denen vorher abgecheckt. Und weil ich nach wie vor in die Datenbank rein kann, das ist echt kein Problem für mich …“  – er sah dabei in die Runde und kam etwas aus dem Konzept  – „… und sogar für die Schlüssel haben wir eine Lösung gefunden.“

Mike hatte nach wie vor keine Ahnung, worauf das hinauslief. Geduldig erklärten ihm Sandro und Paul, dass sie die leerstehenden, für YourB’n‘B vorgesehenen Wohnungen als Schlafplätze benutzten, bis deren Status in der Datenbank auf „geprüft“ umgestellt worden war. Ab dann nämlich stand der Wohnraum zur kurzfristigen Weitervermietung auf der Plattform „offiziell“ online zur Verfügung.

Nun hatten sie schon des Öfteren die Beobachtung gemacht, dass sich auch andere dieser leerstehenden Wohnungen bedienten (wiewohl eher unorganisiert und nach einem primitiveren Prinzip, wie sie vermuteten), und es war auch schon vorgekommen, dass sie dort bereits jemanden angetroffen hatten oder aber die anderen Zweite waren. Meist einigte man sich gütlich, und die später Hinzukommenden zogen zur nächsten Zwischenschlafstätte weiter. Schließlich wollte man keinen Ärger mit den Nachbarn, die ohnehin nicht die rechte Freude mit YourB’n’B-Plänen in ihrem Wohnhaus hatten, so sie davon wussten.
Und natürlich hatten sie Mike für einen ihrer Schlafplatz-Konkurrenten gehalten, einen von der uneinsichtigen, hartnäckigen Sorte.

Mitten in dieser Schilderung kam Mike eine dunkle, sehr dunkle Erinnerung: ein SMS vor ungefähr einem Monat, in dem Amanda ihn aufgefordert, ja ihm unmissverständlich befohlen hatte, die Wohnung zu verlassen, und zwar innerhalb der nächsten drei Wochen. Dann nämlich werde die Wohnung anderweitig verwendet.
Er hatte das für einen Akt des Schmerzes und der Verzweiflung gehalten und nicht ernst genommen. Doch die Frau machte jetzt anscheinend Nägel mit Köpfen.
Mike sank aufs Bett. „Ihr könnt hierbleiben“, murmelte er. „Bis der Status geprüft ist. Kann ich dann mit euch mitkommen?“

Der grüne Haarschopf hatte erstaunlich blaue Augen. Er setzte sich zu Mike und nahm ihn in den Arm.

Das Wie erklärten die nächtlichen Besucher Mike etwas später. Er hatte sich schon gefragt, ob es tatsächlich so einfach war, eine Wohnung unbemerkt, wenn auch nur vorübergehend, zu entern. Abwesenheit untertags, das war nicht das Problem. Denn natürlich war zu vermeiden, einem Wohnungsprüfer in die Arme zu laufen. Auch dabei halfen Pauls Datenbankspaziergänge gewaltig: Die Wohnungskontrollen fanden nur montags bis freitags statt, bevorzugt zwischen 10 und 16 Uhr. Es war eine Kleinigkeit, die Wahrscheinlichkeit aufzufliegen, auf ein Minimum zu reduzieren. Aber immerhin musste man ja auch rein in die Wohnung, ohne irgendwelche Auffälligkeiten währenddessen oder auch viel später danach: Manipulationen an den Schlössern kamen also nicht infrage. Das war aber auch gar nicht notwendig: Die allermeisten Wohnungen waren längst mit Codes gesichert: ein Geschenk für einen Datenfuzzi wie Paul. Die Codes wurden von den Wohnungseigentümern oder -mietern verschlüsselt an YourB’n’B übertragen, et voilà! Wie auf dem Präsentierteller.

Selten kam es vor, dass eine Wohnungssicherung wie bei Mikes Bleibe noch aus einem „guten alten“ Schloss samt Schlüssel bestand. Selbst das stellte kein Problem dar: Schließlich musste ja auch der Schlüssel irgendwo für die Wohnungsprüfung hinterlegt werden. Und wo, stand meist in einem Mail oder einer anderen elektronischen Übertragung. Jedenfalls landete auch diese Information schlussendlich in der Datenbank, woraufhin Paul mit einem gewissen Erfahrungshorizont entschied, wie schwierig und zeitaufwändig es war, den Schlüssel kurzfristig zu bergen, von allen Seiten abzulichten und den 3D-Drucker eines Bekannten seine Arbeit machen zu lassen. So war es auch in Mikes Fall gewesen: Der Schlüssel lag zur Abholung in einem Schließfach, dessen Code praktischerweise im digitalen Ordnersystem von YourB’n‘B zusammen mit der Adresse für die Wohnungskontrolle vermerkt war. Alles ein Kinderspiel.
Bis der Prüfer seinen Besuch abgestattet haben mochte, galt es nur, die Wohnung untertags zu meiden.

Aber Mike wohnte ja hier, ­­das musste auch seiner Ex bewusst sein, dass er nicht so schnell etwas anderes gesucht, geschweige denn gefunden hatte, und „offiziell“ hatte er ja nichts von seiner bevorstehenden Delogierung erfahren. Am wahrscheinlichsten war, dass Amanda den Zuständigen bei YourB’n’B gar nichts von Mikes möglicher Anwesenheit erzählt hatte. Das war aber nun wirklich nicht sein Problem.

Theoretisch konnte Mike also verweilen bis zum Tag X. Den Überraschten zu mimen, wollte er sich dann aber nicht antun. Dem Prüfer war sicherlich egal, was da zwischen ihm und seiner Ex kommuniziert worden war und was nicht, der wollte bestimmt die Wohnung sehen, bewerten, ob sie den angegebenen Standards entsprach, und danach seiner Wege gehen. Wenn er davor noch einen phlegmatischen Restposten entfernen musste oder zumindest dafür sorgen, dass der sich vertschüsste, so erfreute es den Prüfer gewiss nicht. Aber es war Teil seines Jobs, und der wurde gemacht.

Kein Wunder also, dass Mike der Prüfung mit bangen Gefühlen entgegensah.
Wie lange konnte man diese Situation des Wartens ertragen? So lange es notwendig war und auch Vorteile brachte. Es stand außer Frage, dass für alle diese Wohnung derzeit der beste Ort weit und breit war. Erstens war es Mike ganz recht, dass er Gesellschaft hatte, zumindest abends bis morgens und an den Wochenenden. Er fand die Truppe ganz sympathisch, bis auf jenen vorlauten Kerl, der gleich so auf Paul losgegangen war. Sandro war in Ordnung, Paul auf seine leicht verlegene Art war Mike sogar etwas ähnlich, und die beiden anderen waren so ruhig und unauffällig, dass Mike ihre Anwesenheit schlichtweg egal war. Der Grünschopf war entzückend unkompliziert und anschmiegsam. So viel gekuschelt hatte Mike schon lange nicht mehr. Es war ein Ausnahmezustand in jeder Hinsicht: An der Essensfrage beteiligten sich alle und man legte zusammen; wer einen Gelegenheitsjob hatte, teilte mit den anderen sein Einkommen. Jeder hielt sich daran, ganz im eigenen Interesse: Nie wusste man, wann man selbst etwas brauchte, einen die Grippe erwischte oder man sich den Fuß verstauchte. Alle für einen. Einer für alle. So versuchten sie es zumindest, und großteils funktionierte das System auch, ohne die Wohnungskosten.

Der Prüfer ließ sich Zeit; Paul checkte die Datenbank routinemäßig und entdeckte einen Rückstau, denn die Anzahl der Prüfer ging zurück, während diejenige der zu kontrollierenden Wohnungen stetig stieg. Für sie alle bedeutete es, einmal etwas länger ein gemütliches Nest zu haben, nicht ständig die Entdeckung zu fürchten, nicht sofort weiterziehen zu müssen.

Eines Abends schließlich, sie saßen gerade vor ihren Tellern und den Abendnachrichten, die wieder einmal Gruseliges vom Weltklima zu berichten hatten, geschah das, womit niemand gerechnet hatte.
Von ihnen unbemerkt musste sich ein Schlüssel in der Haustür gedreht haben, jemand in den Gang gekommen sein und die Klinke der Wohnzimmertür nach unten gedrückt haben, denn diese öffnete sich langsam nach innen. Im Türrahmen stand eine große brünette Frau mit erstauntem Blick. Sie fuhr sich durchs gut schulterlange Haar, warf schließlich mit beiden Händen gleichzeitig alle Strähnen nach hinten und sagte laut: „Mike, kann ich dich mal alleine sprechen?“

Der war längst erstarrt, fühlte sich zurückversetzt in die Zeit der ersten Begegnung mit seinen nunmehrigen Mitbewohnern und zweifelte neuerlich an seinem Verstand. Die seiner Ex gewidmeten Tag- und Nachtträume waren doch längst Vergangenheit? Es beunruhigte ihn zusätzlich, dass er kaum Alkohol getrunken hatte in letzter Zeit. Es musste also stimmen.
Sie war hier. Und sie wollte mit ihm reden, jetzt sofort.
Die anderen verharrten in ihren jeweiligen Couchposen, dachten wohl, wenn sie nichts sagten und sich nicht rührten, würden sie unsichtbar. Nur Sandro murmelte einen leisen Gruß in Amandas Richtung.

Amanda bewegte sich aufs Sofa zu, Mike erhob sich gleichzeitig aus der Mitte der anderen und fädelte seinen Körper hinterm Couchtisch hervor. Er nickte Amanda zu, sie blieb bei ihm stehen, nahm ihn bei der Hand und lenkte ihn mit ihren bestimmten Schritten gen Schlafzimmer.

Wie oft hatte er sich das erträumt, wenn er auf der Couch gelegen war, einsam, verzweifelt, betrunken oder (seltener) auch nicht. Sie sollte die Schlafzimmertür schließen und ihm sagen, dass alles gut war. Dass es ein Fehler gewesen war, zu gehen, ihn zu verlassen, ihre gemeinsame Zeit vergessen zu wollen. Und dann sollte sie ihn küssen, so wie früher, sie sollte ihn begehren, berühren wie einst, und dann wären sie wieder zusammen. Für immer oder so wie in den Filmen.
Sein Kopfkino hatte diverse Regisseure durchprobiert, für Drehbücher der eher anspruchsvolleren, tiefgründigen Sorte bis zur Billigschmonzette mit stark erotischer Komponente. Er hatte sie alle bis zum Erblöden wiederholt konsumiert und mal diesen, mal jenen bevorzugt, je nach Laune.

Amanda schloss tatsächlich die Schlafzimmertür, ließ dabei seine Hand los und setzte sich aufs Bett. Er stand mit hängenden Schultern vor ihr und wusste nicht, welche Filmszene als nächste bevorstand. Initiativ zu werden, traute er sich nicht.
Amanda übernahm den Anfang: „Wer sind die und was machen sie da? Und was machst du noch hier? Du solltest doch ausziehen, vor Wochen schon!“
Mike schoss so einiges durch den Kopf. Wenn er jemals noch irgendeine Chance bei dieser Frau haben wollte, musste er antworten, schnell und plausibel. Und seine Freunde verraten, das kam nicht infrage. Außerdem: Wie würde die Wahrheit klingen? Das sind ein paar Penner im wahrsten Sinn des Wortes. Sie haben alle kein geregeltes Einkommen, so wie ich. Ich lasse sie hier schlafen, bis ich rausgeworfen werde, dann sind wir alle miteinander obdachlos und versuchen, in fremde Wohnungen einzudringen. Nein, das klang gar nicht gut in seinem Kopf. Und in ihren Ohren sicher auch nicht.

Eine Amanda-Perspektiven-wahrende Antwort musste her, sofort. Sie wartete, er merkte es an der Handbewegung, mit der sie sich eine kleine Falte auf der Stirn rieb. Sie brachte alle Geduld auf, die sie noch hatte, aber das war nicht mehr viel. Seine Uhr tickte.

Im Geschichtenausdenken war er immer gut gewesen. Aber diese musste niet- und nagelfest sein, einer eingehenden Prüfung dieser schlauen Frau standhalten und ihr gleichzeitig imponieren, im besten Fall.

„Amanda, schön, dass du hier bist. Ich bin überrascht, aber positiv überrascht, also erfreut, dich zu sehen. Du weißt ja, ich wollte nie, dass du gehst. Bitte lass mich alles erklären. Ich sag dir alles, aber lass mich ausreden. Das dauert ein bisschen. Natürlich fragst du dich, wer die da draußen sind.“ Plötzlich war ihm bewusst, dass die anderen durch die dünne Wand, sofern sie sich noch auf der Couch befanden, jedes Wort hören konnten, das er sagte, wenn er laut und deutlich genug sprach. Sehr gut. Ausgezeichnet!

„Also ich war ganz schön verzweifelt, als du weg warst. Da wollte ich was Sinnvolles machen, wie du mir immer gesagt hast. Ich bin also zum Arbeitsamt, und die hatten was Passendes für mich. Weißt ja, dass Sozialarbeiter immer gesucht sind. Nur konnte ich in letzter Zeit einfach nicht mehr. So viel Gewalt, so schlimme …“ Amanda seufzte. Nun, er musste zum Punkt kommen, bevor sie richtig ungeduldig wurde. „Ja, du hast recht. Du kennst das alles ja. Aber ich hab mich nochmal aufgerafft. Ich hab gehofft, so bekomme ich dich wieder. Und da hab ich diese Jugendlichen, also jungen Erwachsenen, anvertraut bekommen. Das ist eine ganz neue Therapieform. Wir leben jetzt am Anfang sogar zusammen. Sie lernen, was Verantwortung ist.“ Amanda lachte: „Von dir???“ Mike erwiderte, ganz ernsthaft, freute sich insgeheim aber, sie zum Lachen gebracht zu haben: „Ja, von mir. Sie haben wohl nicht zufällig mich ausgewählt. Weil ich Ahnung davon habe, wie es ist, orientierungslos zu sein. Wir alle zusammen haben auch eine Mediation einmal pro Woche, und zur Psychologin gehen wir außerdem, jeder Einzelne von uns. Du glaubst nicht, was da weitergeht. Ich hab so viele Erkenntnisse gewonnen, und die jungen Leute da draußen, du hättest sie sehen sollen … Sie kochen jetzt sogar täglich. Das läuft bestens, das alles. Also ich bin am Weg. Sie sind es auch, alle sind am Weg nach oben. Und wie geht es dir? Warum bist du hier?“

Amanda schien verwirrt zu sein, kaute an einer Haarlocke. „Also ich bin wegen des SMS hier, das ich dir mal geschickt habe, und weil da rein gar nichts weitergeht, und weil ich da so eine Firma kontaktiert habe, wo sich auch rein gar nichts tut …“ Sie stockte. Mike wusste, woran sie dachte, er wusste auch den Spieß umzudrehen: „Ma, sorry, das hätte ich dir sagen sollen, ich hab eine neue Telefonnummer. Der Verein, für den ich arbeite, hat mir ein Arbeitshandy gegeben, und ich darf es auch privat nutzen. Da hab ich das alte abgemeldet, kostet ja nur zusätzlich. Aber ich wollte dich anrufen, bestimmt. Nur musste ich jetzt immer so viel arbeiten, das ist am Anfang so. Aber wir können ja jetzt reden. Was hast du mir geschrieben?“ Amanda zögerte. Sie schüttelte den Kopf, ganz leicht, und schwieg. Er kannte sie gut. Er setzte nach: „Gut, dass wir beide mal reden können. Du müsstest sie kennenlernen, wie sie sich freuen, endlich mal eine richtige Bleibe zu haben. Sie sind ganz okay, echt, ein bisschen ruppig vielleicht hie und da, aber sie haben so viel Pech gehabt im Leben. Und ich bin jetzt so froh über alles, was du mir geraten hast. Du hattest recht, mit allem. Dank dir bin ich wieder auf den Beinen. Danke, Amanda, danke.“

Amanda saß auf seiner Betthälfte und schwieg, während ihre Gehirnzellen Schwerstarbeit verrichteten. Er bemerkte, wie sie im Geiste seine Geschichte durchging, kurz bei dem einen oder anderen Gedanken verweilte; ihre Hände waren dabei in ständiger Bewegung. Auf ihrem Schoß nahmen sie einige Anläufe, endlich zur Ruhe zu kommen, strichen den Stoff dort glatt und glätter und wollten liegen bleiben, doch das Geknete der Finger ging stets von Neuem los. Er durchbrach die Stille wiederum.
„Amanda, ich weiß jetzt, wie schwer du es mit mir hattest zum Schluss. Ich konnte mich ja selber nicht ausstehen. Du hast alles versucht. Und dann hast du aufgegeben. Und ich auch, aber nur fast. So könnte es klappen. Und es wäre schön, wenn du dabei wärst, in irgendeiner Form.“
Es war nicht so, dass er die Ironie nicht erkannte. In Wahrheit hatte Amanda alles genau vorhergesehen, vor Monaten schon, bis auf  das Eintreffen der anderen. Das war das Unkalkulierbare, das nun ihr die Bestätigung ihrer Annahmen verwehrte und seine Geschichte stützte. Außerdem ihm die Chance eröffnete, dass sie ihm noch einmal Glauben schenkte.

„Wie stellst du dir das vor?“, brach sie schließlich ihr Schweigen. „Soll ich euch alle hier wohnen lassen, in meiner Wohnung? Weil die so arm sind und du pleite, aber am Weg nach oben? Weißt du, mir schenkt auch keiner was. Ich zahle jetzt zwar dort keine Miete, aber das bei meinen Eltern ist auch keine Dauerlösung. Und du? Kannst du dir das leisten, hier wohnen, mit deinem neuen eigenartigen Job?“

Das war der Schwachpunkt an seiner Geschichte. Er konnte es nicht. Selbst wenn sie alle zusammenlegten, ging sich das niemals aus. Sie brauchten Amanda, er brauchte ihr Vertrauen, und er brauchte Zeit. Geduld, sagte er sich, das musste er ihr vermitteln, dann käme alles ins Lot. Beinahe glaubte er selbst an die Macht seiner Worte. Er legte sich ins Zeug, er redete und gestikulierte um sein Leben. Um sein zukünftiges Leben mit Amanda.
Sie schien erschöpft, müde, zu müde, um sich noch weitere seiner Gründe und Ideen für eine gemeinsame Zukunft anzuhören. Er schlug ihr vor, sie könnte doch einfach hier schlafen, und am nächsten Tag sehe man weiter.
Als Antwort streifte sie sich langsam die Schuhe von den Füßen, nahm in einer beinahe resignativen, unglaublich trägen Geste ihren Halsschmuck ab, legte ihn aufs Kästchen neben dem Betthaupt und ließ sich dann einfach nach hinten aufs Bett fallen. Er war schlau genug, nichts zu versuchen. Er flüsterte „Gute Nacht und bis morgen“ und verließ das Schlafzimmer, indem er die Tür leise hinter sich schloss.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 19094