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Was man für das Leben braucht 3

Sie haben Teil 1 und Teil 2 schon intus?
Dann wollen wir Sie nicht aufhalten ... Viel Spaß mit dem letzten Teil der Geschichte.

Wir erfuhren von dem Entschluss, dass unser Teilunternehmen mit einem anderen Teilunternehmen zusammengelegt werden sollte, das ebenfalls ein Referat hatte, das sich autodidaktisch Lösungen erarbeitet hatte, die aber von Grund auf derart anders waren, dass diese nicht ineinander verschmolzen werden konnten, und eine völlige technische Neuaufstellung war budgetär von den verantwortlichen Chefs vollkommen ausgeschlossen.

Wir erklärten den verantwortlichen Chefs also diesen Umstand inkl. technischer Begründung und erhielten die Antwort, dass dies trotzdem zu funktionieren habe. Als wir nochmals erklärten, dass es nicht an der Motivation mangle, sondern an den gerade dargelegten technischen Fakten, nämlich: „Entweder wir müssen alles von Grund auf neu programmieren oder wir sind zwar offiziell ein Unternehmen, haben aber nach wie vor den Verwaltungsaufwand von zweien“, wurde dennoch darauf beharrt, dass wir das zu schaffen hätten, und die Besprechung beendet.
Wo lag hierbei das eigentliche Problem? Die äußeren Umstände waren komplizierter geworden, doch so lange eine Lösung denkbar war oder wenigstens möglich schien, konnte mich nichts davon abhalten, sie zu suchen. Dass es aber Vorgaben bzw. Zielsetzungen gab, bei denen vollkommen klar argumentiert werden konnte, dass deren Umsetzung einfach nicht möglich war, und der zuständige Vorgesetzte dennoch darauf beharrte, begann mich innerlich zu zersetzen, weil ab diesem Punkt klar war, dass man das nicht mit mehr Einsatz oder noch schlaueren Überlegungen schaffen konnte, sondern die Fakten eben glasklare Undurchführbarkeit ergaben.

Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich vor einer Situation, bei der alle Beteiligten wussten, dass sie nicht lösbar war und trotzdem nichts daran geändert werden konnte. Dies hatte zur Folge, dass die ersten Kolleg*innen unser Referat verließen bzw. sich das für die Programmierungen zuständige Referat des anderen Teilunternehmens vollständig auflöste. Wir waren also nun weniger Mitarbeiter*innen, hatten aber statt 1500 Leuten plötzlich 3500 zu betreuen und es gab niemanden, der uns sagen konnte, wie genau die Lösungen der zusätzlichen 2000 Mitarbeiter*innen funktionierten bzw. welche Grundgedanken dahinter lagen, und ab da nahm das Grauen seinen Lauf.

Aufgrund absolut verständlicher Überforderung wurde ich von meiner Chefin plötzlich dazu eingeteilt, Schulungen zu leiten, in denen ich eine Software erklären musste, von der ich noch nie etwas gehört hatte, die zum Zeitpunkt der Schulungen noch weit entfernt davon war, zu funktionieren und die dazu dienen sollte, die Schulungsteilnehmer*innen auf ihre zukünftige Arbeit vorzubereiten, weil sie bisher gewohnt waren, ihre technischen Arbeiten im Außendienst handschriftlich zu dokumentieren und von Laptops und Ähnlichem nichts wissen wollten.

Ich bekam Projekte umgehängt, deren Ursprung irgendein Update der Softwarefirma zugrunde lag, weshalb niemand genau wusste, was an den bisherigen Programmierungen geändert werden musste, um deren Funktionalität weiter zu gewährleisten, während die Fachbereiche, die damit arbeiten mussten, von Haus aus keine Änderungen wollten und dementsprechend kooperativ waren, und es verlässlich niemals jemanden gab, den man fragen konnte, der auch nur einen Funken verwertbare, hilfreiche Informationen hatte.

Selbst die Projekte, die früher kein Problem gewesen wären, verursachten grobe Schwierigkeiten, sobald man Programmierungen, die außerhalb unserer Zuständigkeit waren, anforderte, weil diese Kolleg*innen plötzlich nicht mehr sauber arbeiteten bzw. man sich auf deren Zusagen nicht mehr verlassen konnte. Man schickte ein stolzes Mail an die Fachbereiche, weil man die auf alle Heiligtümer dieser Welt geschworene, fixe Zusage bekommen hatte, dass die letzte notwendige Programmierung auf dem Produktivsystem nun funktionierte, und hatte eine halbe Stunde später 800 Störungsmeldungen, weil sich das Programm nicht einmal öffnen ließ.

Als ich mich darüber bei meiner Chefin beschwerte, schob diese mir die Schuld zu mit dem Argument: „Du weißt ja, dass die Kolleg*innen nicht mehr sauber arbeiten, und hättest du alles noch einmal durchgetestet, bevor du das Mail an die Fachbereiche geschrieben hast, hättest du alle Fehler dokumentieren, zurückschicken und die Fachbereiche vertrösten können.“ Ich argumentierte weiter: „Es kann nicht sein, dass es in Ordnung ist, zu akzeptieren, dass Kolleg*innen ihre Arbeit unfertig und falsch abliefern, und wir stattdessen deren Arbeit und Fehlverhalten, obwohl das in deren Zuständigkeit läge, ausbessern und so deren falsches Verhalten auch noch unterstützen und in weiterer Folge bei Beschwerden in der nächsthöheren Ebene die Antwort bekommen, dass doch eh alles funktioniere und worüber wir uns eigentlich aufregen …“ Sie nickte verständnisvoll, aber resignierend: „Ich kann die Situation nicht ändern. Entweder wir tun, was nötig ist, damit es am Ende funktioniert, oder unser Referat wird outgesourct.“

Ich erklärte unsere Zukunftsaussichten: „Das wird zur Folge haben, dass wir dann über kurz oder lang alles vollkommen alleine machen müssen, und das aber in Bereichen, von denen wir überhaupt keine Ahnung haben und auch nicht mehr die Zeit, uns in selbige einzuarbeiten.“ Sie nickte wieder resignierend, mahnte positives Denken ein, und als ich zugegebenermaßen aus der aktuellen Emotionalität heraus ein wenig deftig: „Es ist zwar oasch, aber es ist positiv oasch“ entgegnete, stieß sie ruckartig Luft aus ihrer Nase aus, grinste mich kopfschüttelnd an, und zum ersten Mal lag ich vor lauter Hass eine ganze Nacht lang wach, mein Magen fühlte sich an wie eine glühend heiße Bowlingkugel und ich schwitzte, als würde ich gerade ein Tennismatch bestreiten. Einige beruflich äußerst unglückliche Jahre zogen ins Land.

An der gerade beschriebenen Situation änderte sich nicht mehr viel, außer, dass ich mich daran gewöhnte, jede Nacht um 03:00 Uhr in der Früh schweißgebadet aufzuwachen bzw. Schüttelfrost zu haben, bis um 06:00 Uhr der Wecker läutete, und dass meine Arbeit ab einem gewissen Punkt ausschließlich aus von vornherein unlösbaren Projekten bestand, deren Voraussetzungen von Projekt zu Projekt an nicht mehr steigerbar geglaubter Aussichtslosigkeit auf erfolgreichen Abschluss um den aktuellen Aussichtslosigkeitsrekord stritten.

Wie Sie bereits vermuten werden, war schon lange nichts mehr mit Erholung von den vielen Freizeitaktivitäten in der Dienstzeit, sondern in der Regel kam ich heim und schlief ein bis zwei Stunden, um überhaupt wieder Kraft für irgendeine Handlung zu haben bzw. um, bis meine Frau als PKA in einer Apotheke im Normalfall gegen 20:00 Uhr nach Hause kam, wieder einigermaßen fit zu sein, weil sie nicht unter meiner Arbeitssituation leiden sollte. „Warum kündigst du nicht einfach oder wechselst zumindest die Abteilung?“ „Weil es innerhalb des Unternehmens gerade in jeder Abteilung so aussieht wie in meiner, mit dem Unterschied, dass ich in den anderen Abteilungen zwischen 500 und 1000 Euro netto weniger Gehalt bekomme und was mach ich dann, wenn die Probleme genauso unlösbar sind, mich genauso belasten und ich dafür auch noch um so viel weniger Geld bekomme als davor? Beim Kündigen besteht das Gehaltsproblem zwar nicht, sofern ich in der gleichen Branche bleibe, aber dafür ist mein Job nicht so sicher wie hier und von den externen Programmierer*innen habe ich die gleichen Geschichten gehört wie bei uns im Unternehmen, mit dem Unterschied, dass du einfach gekündigt wirst, wenn du die unlösbaren Dinge nicht löst.“ „Dann mach halt was ganz anderes.“ „Da bekomm ich dann in jedem Fall 1000 Euro netto weniger, weil die einzige offizielle Ausbildung, die ich abgeschlossen hab, die zum Bürokaufmann/-frau ist und ich bin jederzeit ersetzbar bei einem Beruf, der vermutlich ebenfalls wieder keinen Spaß macht und jede Woche 40 Stunden verschissene Lebenszeit darstellt und das kann ich nicht, weil ich kein Leben führen möchte, bei dem mir 40 Stunden jede Woche komplett wurscht sein müssen, damit ich es aushalte.“

Insgesamt sieben Jahre nach meiner ersten schlaflosen Nacht wurden bei meiner jährlichen Vorsorgeuntersuchung Herzrhythmusstörungen festgestellt, für die es keine körperlichen Gründe gab. Mir wurde ein psychologischer Test nahegelegt und bei der Befundbesprechung ein sofortiger Krankenstand inkl. psychologischer Betreuung dringend empfohlen. Einerseits half es sehr zu erfahren, dass nicht ich als Person bzw. meine Einstellung zur Arbeit, sondern die Arbeitsumstände schuld daran waren, wie es mir ging, andererseits ging es mir im Krankenstand nur geringfügig besser, da ich wusste, egal wie lange der Krankenstand auch dauern würde, irgendwann wieder zurück in diesen Job zu müssen. Ich beendete den Krankenstand also früher als geplant, erklärte meinem Abteilungsleiter, meinen bisherigen Job aus psychischen Gründen nicht mehr machen zu können, und ließ mich dazu überreden, im gleichen Team, aber einem anderen Bereich, die Tätigkeiten eines Kollegen, der ein bis zwei Jahre vor seiner Pensionierung stand, Schritt für Schritt zu übernehmen.

Zu Beginn fühlte ich eine kurzfristig Situationsverbesserung, aber bei näherer Beschäftigung mit den neuen Themen kristallisierten sich wieder die gleichen Probleme und die gleichen Zukunftsaussichten heraus, die der besagte Kollege mit Müh und Not bis zu seiner Pensionierung noch durchdrücken wollte. Als ich das erkannte, schaute ich mich nach Lösungsmöglichkeiten um und stieß durch Zufall auf eine Seite, bei der man 2500 Zeichen (ohne Leerzeichen) lange Kurzgeschichten veröffentlichen konnte. Ich erhielt positive Rückmeldungen in einem Ausmaß, das ich mir niemals träumen hätte lassen inkl. zum ersten Mal in meinem Leben bunt bemalter Fanpost im Briefkasten bzw. als ich in einer großen Buchhandlung in Wien Mitte einmal eine Geschichte von mir vorlesen durfte, von dunkelroten, aufgeregten, lieben Menschen die Hand geschüttelt und erzählt bekam, wie toll sie meine Texte fanden.

Plötzlich war es wieder da, dieses wunderschöne Gefühl von ganz früher, an das ich mich kaum noch erinnern konnte, nämlich mit einer Tätigkeit, die einem Spaß machte, anderen Leuten eine Freude bereiten zu können, und ab dann überschlugen sich die Ereignisse. Ich bekam eine Kollegin, die zumindest einen Teil meiner alten Tätigkeiten übernehmen sollte, gleichzeitig ging meine, mich immer zum Positiv-Denken ermutigende, Chefin aus psychischen Gründen in Krankenstand, ich wurde Vater und mich durchflutete plötzlich eine derartige Sinnhaftigkeit in meinem Tun, bei jeder gewechselten Windel, jedem Flascherl, jedem Trösten, Spielen, also eigentlich jeder Beschäftigung mit diesem wunderbar durch und durch reinen, ehrlichen Geschöpf, dass für mich nach meinem ersten Arbeitstag nach der Geburt bzw. nach dem Papamonat und die Art, wie mich der Kleine danach ansah, klar war, dass dies nun das Ende meines bisherigen Berufs bedeuten würde.

Dass die neue Kollegin, als sie sich von ihrem zukünftigen Arbeitsalltag ein Bild machen konnte, gleich wieder gekündigt hatte und mir ungefragt vom Abteilungsleiter deren Termine weitergeleitet wurden inkl. dem Mail an alle Fachbereiche, dass ab jetzt ich für all das zuständig sei, zusätzlich zu meinen aktuellen Tätigkeiten und der Info, dass meine Chefin nicht mehr zu uns zurückkommen würde, waren nur eine zusätzliche Bestätigung meines Entschlusses.

Fazit: Der 31.10.2020 war mein letzter offizieller Arbeitstag und seitdem stehe ich um die gleiche Zeit auf wie früher, setze mich aber, statt zu einem Ort zu fahren, für den ich ausnahmslos Hass und Verzweiflung empfinde, in unser ehemaliges Abstellkammerl und schreibe an meinem Roman und spüre, wie mir jede Seite, jeder Satz, jedes Wort, jeder Buchstabe, jedes Satzzeichen und sogar jedes Leerzeichen guttut, auch wenn ich die Folgen der letzten sieben Jahre immer noch mehrmals täglich spüre. Endlich fühlt sich wieder etwas sinnvoll, gut und richtig an, und vielleicht schaffe ich es ja, dass mein Roman, wenn er fertig ist, verlegt wird und ich davon einigermaßen leben kann, weil es dann genug Leute gibt, die damit eine Freude haben.

Ich würde jeden Tag schreiend vor Glück durch die Straßen rennen. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass ich das nicht schaffen werde, aber dann habe ich zumindest die Gewissheit, einen Roman fertiggestellt zu haben, auf den ich stolz bin, und mit dem wenigstens Verwandte und Bekannte eine Freude haben. So lange aber nicht alle Verlage dieser Welt den Roman abgelehnt haben, werde ich es probieren, und selbst wenn das passiert ist, schreibe ich einen neuen, der durch die gemachten Erfahrungen mit dem aktuellen Projekt noch besser werden wird.

Ich weiß jetzt was ich für mein Leben brauch. Schreiben. Einfach schreiben und spüren, wie ich mich Zeile für Zeile wieder gesünder fühle, um wieder Kraft zu haben für all die wunderbaren Dinge und Menschen auf dieser Welt, und ja, die gibt es. Es sieht nur so aus, als wären die Idioten mehr, weil die guten Leute meistens einfühlsam und ruhig sind. Schon all das in diesem Text aufzuschreiben, hat sich so unendlich wohltuend und gesund angefühlt. Allein dieses Kribbeln im Bauch, das ich gerade spüre, weil ich weiß, kurz davor zu sein, mit dem Text fertig zu werden, hat mich schon wieder ein Stück gesünder werden lassen, und wenn Sie bei diesem Text jetzt gerade zum ersten Mal kurz milde lächeln müssen, habe ich mein Ziel schon mehr als erreicht. Sowohl für den Text, als auch für mich selbst.

Abschließend muss ich sagen, dass der Schluss natürlich ein bisschen kitschig ist, aber wenn die Wahrheit einmal kitschig klingt, dann habe ich wohl endlich die richtige Entscheidung für mein Leben getroffen.

Lukas Lachnit

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer:  22108

 

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22107

Was man für das Leben braucht 2

Nicht so schnell! Kennen Sie schon Teil 1? Dies ist die Fortsetzung.

Diese Erkenntnis saß so tief, dass ich mich schlussendlich für den Lehrberuf Bürokaufmann/-frau entschied und eine solche Lehrstelle bei einem Gemeindebetrieb in Wien bekam, bei dem meine erste Aufgabe in der Abteilung der Rechnungsprüfung darin bestand, mit einem Taschenrechner und einem handschriftlichen Zettel (das war im Jahr 2005), die ebenfalls handschriftlich eingereichten und zusammengerechneten Tagesfahrten der Außendienstmitarbeiter*innen auf deren Richtigkeit zu überprüfen. Als ich vorschlug, die jeweiligen Kilometer der Fahrten doch einfach im Excel statt auf einem handschriftlichen Zettel zu führen, und die zauberhafte Wirkung des Summe-Buttons vorführte, wurde ich als neues Genie gehandelt und mit leuchtenden Augen von der IT-Abteilung angefordert, mit dem Argument, dass gerade in diesem Bereich innovative junge Leute wie ich gesucht wurden, die die Arbeitswelt schon in ihrer ersten Woche revolutionierten.

Erinnerungen an meine Volksschulzeit wurden wach, während ich mich zwang, nicht darüber nachzudenken, wie es sein konnte, dass Menschen, die zwischen 30 und 40 Jahre in diesem Unternehmen arbeiteten, nicht von selbst auf eine Idee kamen, die ein sechzehnjähriger Lehrling in seiner ersten Arbeitswoche hatte.

In der IT-Abteilung wurden mir innerhalb kürzester Zeit sämtliche Aufgaben meiner Kolleginnen und Kollegen übertragen, die fortan um 07:30 Uhr an ihrem Schreibtisch ihre Sachen ablegten, das Büro verließen, sich kurz vor der Mittagspause um 11:00 Uhr im Büro trafen und gegen 14:45 Uhr ihre Sachen im Büro wieder abholten, weil um 15:30 Uhr bekanntlich Dienstschluss war.
An richtig heftigen Stresstagen war ich mit all den übertragenen Aufgaben in etwa einer Stunde fertig und erfuhr, dass in der Abteilung der Rechnungsprüfung die Überprüfung der Tagesfahrten der Außendienstmitarbeiter*innen doch wieder handschriftlich durchgeführt wurde, weil der Hauptabteilungsleiter kritisierte, dass er nicht argumentieren konnte, dass acht Leute in diesem Referat sitzen mussten, wenn er einfach gar nichts in die Tätigkeitsbeschreibung schreiben konnte, da die Excellisten ja bereits von den Außendienstmitarbeiter*innen befüllt und summiert wurden.
Dazu sei gesagt, dass selbst bei handschriftlicher Bearbeitung eine einzige Person bis allerspätestens zur Mittagspause mit der gesamten Arbeit fertig gewesen wäre.

Als ich erkannte, dass sich an diesem Stresslevel auch in der IT-Abteilung so schnell nichts ändern würde, war das Problem nicht mehr die Arbeit, sondern die Zeit, die so gar nicht vergehen wollte. Anfangs fragte ich meinen Chef nach neuen Tätigkeiten bzw. übernahm als unlösbar geltende Aufgaben, die in der Regel in ganz schlimmen Fällen ein wenig die Komplexität des Excelvorschlags überschritten, und erarbeitete mir so einen Ruf als Problemlöser für die unlösbar scheinenden Fälle.
Dennoch blieben durchschnittlich sieben Stunden täglich übrig, die vergehen mussten. Ich las Bücher, surfte im Internet, traf mich mehrere Stunden am Tag mit anderen Lehrlingen, bis ich begann, vorerst einmal nur die organisatorischen Dinge, die für die Ausübung meiner Hobbys notwendig waren, in die Arbeitszeit zu verlegen, wodurch ich ein paar Stunden Dienstzeit mehr sinnvoll nutzen konnte bzw. ich meine Freizeit mit derartig viel spannenden, spaßigen Beschäftigungen verplanen konnte, dass ich mich in der Dienstzeit von meiner Freizeit erholte. Ich konnte mir also durch die Erholung von meinen Hobbys selbige finanzieren und so zogen einige glückliche Jahre ins Land.

Nach dem Bundesheer kam ich zurück zu meiner Dienststelle und mein Chef suchte das Gespräch. Er teilte mir mit, dass sehr dringend EDV-Techniker*innen gesucht wurden und man mit der Bezahlung, so ich einverstanden wäre, durchaus etwas machen könne, da der Abteilungsleiter ihn darauf angesprochen hatte, wie es sein konnte, dass die Arbeit, seit der Lehrling beim Bundesheer ist, von niemandem erledigt wurde, obwohl mehr als genug Leute da wären, die dafür zuständig wären. Dadurch wurden die pragmatisierten Kolleginnen und Kollegen zur Pflicht gerufen und festgestellt, dass selbst für eine einzige Person zu wenig Arbeit da wäre, während EDV-Techniker*innen dringend gesucht wurden.

Da mein Chef meine Anpassungsfähigkeit an einen veränderten Arbeitsalltag im Vergleich zu meinen pragmatisierten Kolleginnen und Kollegen völlig überraschend höher einschätzte, war ich, ohne einer einzigen offiziellen Ausbildung für diesen Beruf, plötzlich EDV-Techniker und beging, bei einer Büroübersiedlung, bei der sämtliches EDV-Equipment demontiert und in einem neuen Büro wieder aufgebaut und angeschlossen werden sollte, den klassischen Anfängerfehler, nämlich an einem Tag bis zur Mittagspause fertig zu sein. Ich wurde also ins Chefbüro zitiert und nach meinem geistigen Gesundheitszustand befragt, weil für die von mir durchgeführte Tätigkeit zwei Wochen Bearbeitungszeit veranschlagt worden waren und jetzt alle Fachabteilungen erwarten würden, dass sämtliche Übersiedlungen innerhalb eines Vormittags erledigt würden. Ich entschuldigte mich demütig für mein Fehlverhalten, passte mein Arbeitspensum den Vorgaben an und konnte mich somit, bei deutlich besserem Gehalt, weiterhin in der Dienstzeit von meiner Freizeit erholen. Weitere glückliche Jahre zogen ins Land.

Eine Stelle in einem Referat, das für die Entwicklung und Betreuung von Software zur Abwicklung von Geschäftsprozessen im Unternehmen zuständig war, wurde frei und die ersten Gespräche mit dessen Chefin waren sehr vielversprechend. Zum ersten Mal hatte ich als Reaktion auf einen Satz, der einen Beistrich enthielt, keinen verwirrten Gesichtsausdruck oder einen leeren, ausdruckslosen Blick, sondern freudige Überraschung darüber, dass es uns beiden tatsächlich mitten in der Dienstzeit passierte, auf einen angenehm intelligenten, grundsätzlich motivierten Menschen getroffen zu sein. Nach zehn Minuten Gespräch hatten wir das Gefühl, gemeinsam die Macht wieder ins Gleichgewicht bringen bzw. mit einem einfachen „Nein“ sämtliche auf uns gefeuerte Munition stoppen und auf den Boden fallen lassen zu können.

Das nochmals höher angebotene Gehalt inkl. der Versicherung, dass meine Bedenken, für die Tätigkeit keine offizielle Ausbildung zu haben, unbegründet sein, da alle in diesem Referat inkl. ihr selbst, die gleiche Lehre abgeschlossen hatten wie ich und sich autodidaktisch in die Entwicklung der Systeme hineingearbeitet hatten, beruhigte mich zu Beginn. Beim Kennenlernen der unterschiedlichen Entwicklungen stellte sich heraus, dass die daran beteiligten Leute sich viele Fragen nicht gestellt hatten, die die tägliche Arbeit der unterschiedlichen Fachbereiche aber deutlich erleichtert hätten. Es stellte sich allerdings auch heraus, in welchem Ausmaß auch nur die kleinsten Änderungen Auswirkungen auf die jeweiligen Fachbereiche hatten, und wie sehr sich all diese Fachbereiche vorerst einmal einig und für Änderungen offen sein mussten, um Veränderungen überhaupt andenken zu können.

Schon als EDV-Techniker wurde ich zu den „schwierigen“, „nie zufriedenen“ Leuten geschickt, bei denen in den allermeisten Fällen freundliches, empathisches Zuhören und das Finden einer dementsprechenden Lösung ausreichte, um sie vollumfänglich zufriedenzustellen. Kurzum: Im Team meiner neuen Chefin war ich in meinem Element. Das Erkennen und bis zur letzten Verästelung Durchdenken komplexer Zusammenhänge, das Finden einer pragmatischen, für alle Beteiligten besseren Lösung, und diese Lösung empathisch den jeweiligen Fachabteilungen vorzutragen, machte mir in einem Ausmaß Spaß, das ich beruflich bis dahin nicht erlebt hatte. Zusätzlich war das Arbeitspensum dennoch relativ überschaubar, wodurch ausreichend Zeit war, um sich mit allen Themen bis ins letzte Detail zu beschäftigen und an einer idealen Lösung zu arbeiten.

Das sollte sich drastisch ändern.

Lukas Lachnit

Ab ins Finale, zu Teil 3!

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22107

Was man für das Leben braucht 1

Und immer dann, wenn ich nicht mehr kann und um 03:00 Uhr Früh schweißgebadet aufwache, stelle ich mir vor, was man für das Leben braucht.

Nichts. Wenn man im Hier und Jetzt lebt, dann braucht man absolut nichts. Keine Wohnung, kein Haus, kein Auto, keine Arbeit, kein Geld, keinen Partner, keine Kinder etc. Das klingt vorerst einmal entspannend, ist aber ab dem Zeitpunkt, wo sich das Hier und Jetzt verändert, also Zeit vergeht, scheinbar gar nicht so leicht, wenn man schon einmal die Gelegenheit hatte, andere Menschen beim Warten zu beobachten.
Man kann also durchaus zu Recht die Vermutung anstellen, dass sich beispielsweise Actionfilme deshalb so großer Beliebtheit erfreuen, weil da 90 bis 120 Minuten lang echt so richtig ganz arg nicht nichts passiert, aber warum ist das so? Warum haben so viele Menschen mit nichts ein Problem? Kabarettist*innen würden an dieser Stelle dem Publikum ein wenig Zeit geben, bis die ersten kleinen Grüppchen die Pointe erkennen, und dies mit Gelächter kundtun, das den Rest des Publikums dazu bringt, angestrengter über das bisher Gesagte nachzudenken, und es dadurch ebenfalls die Pointe erkennen lässt, bis jeder Mensch im Saal lacht und den Genuss der Pointe mit enthusiastischem Applaudieren genießt.

Jurymitglieder eines Literaturwettbewerbs hingegen würden sich von dieser Zusatzerklärung der Pointe in ihrem Intellekt verletzt fühlen, dabei sollte die Erklärung doch nur dafür sorgen, dass der Text, so er denn vorgelesen werden sollte, so viele Menschen wie möglich erfreuen kann, und verhindern, dass die Pointe das Potential ihrer Wirkung verfehlt, weil die Vermutung zugrunde liegt, dass sie dem schreibenden Menschen selbst nicht aufgefallen ist. „Pointen, die man erklären muss, erzählt man nicht“, „Die Leute, die die Pointe ohne Erklärung nicht verstanden hätten, verstehen die Erklärung nicht“, und obwohl das jetzt nur zwei Feststellungen sind, habe ich an dieser Stelle schon mit drei Nichten (Mehrzahl von nicht?) ein gerechtfertigtes Problem: „Wenn jetzt ein Schmäh mit Neffen kommt, lese ich den nächsten eingereichten Text.“ BITTE NICHT!!! Ich bin eh schon wieder brav. Zurück zum Thema!

Für drei Minuten Leben braucht man absolut gar nichts. Nicht einmal Luft. Wenn man aber vorhat, länger als drei Minuten zu leben, dann beginnt es schon mit den ersten Schwierigkeiten.
Aus medizinischer Sicht sollte man nach drei Minuten dringend zu atmen beginnen.
Fazit: Alleine um nur länger als drei Minuten leben zu können, muss man schon aktiv etwas dafür tun. Wenn man also absolut konsequent im Hier und Jetzt lebt und überhaupt nicht an die Zukunft denkt, dann ist man nach drei Minuten erstickt. Diese drei Minuten hatte man dafür aber echt so richtig überhaupt keine Sorgen, wobei man sagen muss, dass nach einer Minute ohne zu atmen bereits ein leichtes Unwohlsein auftritt. Das heißt im Endeffekt ist man eine Minute wirklich frei und ab dann beginnt das Leben, einen leicht und in weiterer Folge immer vehementer dazu zu zwingen, sein weiteres Bestehen zu gewährleisten, bis man für das Nichtstun bereits nach drei Minuten mit dem Erstickungstod bestraft wird. Wir können also festhalten, dass drei Minuten in die Zukunft denken und dem daraus folgenden Entschluss, trotz allem Hier und Jetzt, vorausschauend zu atmen, eine sinnvolle Tätigkeit ist, die es beizubehalten gilt, obwohl es uns vom Nichts, das es für das Leben braucht, den ersten, selbst entschiedenen Schritt, entfernt.

Ich fasse also einmal den aktuellen Iststand zusammen: Wir haben in unserem Beispiel die freiwillige Entscheidung getroffen, länger als drei Minuten leben zu wollen, und daher zu atmen. Um angenehm schrittweise feststellen zu können, was man noch für das Leben braucht, stellen wir uns einen Ort vor, an dem es etwa 24 Grad hat.

Aktuell stehen wir also nackt an einem angenehm warmen Ort mit atembarer Luft, atmen und haben keine Sorgen. Wenn wir also davon ausgehen, dass wir uns, bis wir uns die Frage gestellt haben, was man eigentlich fürs Leben wirklich braucht, normal ernährt haben, dann haben wir jetzt drei Tage Zeit, bis wir die nächste zusätzliche Handlung setzen bzw. eben etwas zu trinken organisieren müssen.
Hierfür würde ein einigermaßen sauberer Fluss reichen, in dem man auch ohne weitere Hygienemittel seine Notdurft verrichten könnte.
Jetzt werden mir einige pingelige Menschen mit „Lebensstandard“ kommen, aber dazu vielleicht später mehr.

Wir sind jetzt also nackt bei einem Fluss, haben zu trinken, können unsere Notdurft verrichten und grundsätzlich bräuchten wir aus medizinischer Sicht jetzt durchschnittlich zwei Wochen lang sonst überhaupt nichts mehr. Für zwei Wochen Leben braucht man also nichts außer Luft zum Atmen, einen Fluss und 24 Grad Außentemperatur.
Natürlich ginge das auch in einem Wald bei einem Bach oder einer Quelle, wobei da vielleicht nicht jeder mit der nackten Hand seinen Darmausgang, nach der verrichteten Notdurft, reinigen wollen würde, und dann müsste man ein nicht giftiges Blatt organisieren und dafür müsste man wiederum wissen, welche Blätter nicht giftig sind, und dafür müsste man dann etwas gelernt haben oder ein Nachschlagewerk besitzen und dafür bräuchte man dann Geld und dafür wieder eine Arbeit und damit einen jemand einstellt, auch einen Wohnsitz und ... bleiben wir lieber bei unserem Fluss.

Wir haben also Luft zum Atmen, wir haben zu trinken, einen Ort, um unsere Notdurft rückstandsfrei zu verrichten, und uns ist nicht kalt dank der 24 Grad Außentemperatur.
Wie vorher schon erwähnt, ist es zwar aus medizinischer Sicht zwei Wochen lang möglich, ohne Essen auszukommen, aber jeder, der schon einmal versucht hat, nur einen Tag nichts zu essen, wird mir bestätigen können, dass spätestens nach einem halben Tag die Worte Bequemlichkeit und Entspannung nicht einmal mehr buchstabierbar sind.
So, und ab jetzt wird es kompliziert.

Natürlich kann man, wie eben schon erwähnt, versuchen, im Wald zu überleben, wo die Wahrscheinlichkeit, Essbares zu finden vielleicht höher ist, aber dafür benötigt man eben ein entsprechendes Wissen darüber, was man schon bzw. nicht essen darf.
Natürlich könnte man das einfach ausprobieren, aber da bestünde dann die Möglichkeit, dass man sich vergiftet und stirbt, und zwar deutlich früher als in zwei Wochen, und das wollen wir ja nicht.
Was tun wir also, wenn wir vorhaben, länger als zwei Wochen leben zu wollen? Wir beugen uns der Gesellschaft und suchen uns einen Job. Damit uns auch jemand einstellt, brauchen wir vor allem einmal Kleidung und einen Wohnsitz, und damit wir beides bekommen, brauchen wir Geld. Das klingt zuerst einmal paradox, aber in den allermeisten Fällen haben wir Eltern oder eine andere erzieherische Instanz, die bereits für uns Kleidung besorgt hat und in deren Wohnung wir leben, bis wir alt genug sind, um arbeiten zu gehen und uns genug Geld für eine eigene Wohnung anzusparen. Wenn diese Wohnung dann organisiert ist, löst man sich aus sämtlichen Sicherheitsverankerungen und übernimmt vollkommen die Verantwortung für sein Leben.

Je nach Intelligenz, Sicherheitsbedürfnis und Risikobereitschaft ergibt sich daraus ein tägliches Grundgefühl, an dem man in der Regel sehr gut feststellen kann, ob man in diesem Leben für das eigene Wohlbefinden eher die richtigen oder eher die falschen Entscheidungen getroffen hat. Wenn man mit 24 zum ersten Mal um 3:00 Uhr schweißgebadet aufwacht, als hätte man zwei Stunden Tennis gespielt, und wenn man sich abdeckt, Schüttelfrost hat, als würde man bei minus 15 Grad nach dem Duschen eben nackt und unabgetrocknet im Freien stehen, dann muss man mit seinen wohlüberlegten Lebensentscheidungen irgendwo falsch abgebogen sein, aber wann, wo und warum?

Der Reihe nach:

Ich bin 1989 in Wien geboren. Wir waren nicht reich, aber ich kann mich an keinen einzigen Moment erinnern, an dem wir für alltägliche Dinge kein Geld gehabt hätten.
Ab dem Kindergarten wurde mir regelmäßig die Verantwortung für die Gruppe übertragen, wenn die Kindergartenpädagogin einmal kurz aus dem Raum musste. Ich wusste nicht warum, erfüllte aber die an mich gestellte Erwartungshaltung.

Ab der Volksschule mit musikalischem Schwerpunkt lernte ich Klavierspielen und wurde dort als Ausnahmetalent behandelt, das an jedem Tag der offenen Türe als „… unser kleiner Mozart …“ vorgestellt wurde, obwohl ich nicht das Gefühl hatte, mich beim Üben sehr verausgabt zu haben. Das sorgte für die eigenartige Situation, dass mich meine Eltern kritisierten, die geübten Stücke viel besser spielen zu können, wenn ich mich mehr anstrengen würde, während alle Menschen außerhalb der elterlichen Wohnung vor Begeisterung zusammenbrachen bei den selben Stücken, in der absolut selben Spielqualität.
Einerseits wusste ich, dass ich mit mehr Einsatz tatsächlich noch besser spielen konnte, andererseits sorgte es für einen äußerst angenehmen, beruhigenden Selbstbewusstseinsschub, zu wissen, dass ich mit vergleichsweise geringem Aufwand in der Welt da draußen bereits Begeisterungsstürme auslösen konnte, obwohl ich es niemals darauf abgesehen hatte. Ich wollte einfach nur ein bisschen Klavierspielen lernen.

In weiterer Folge wurde mir auch in sämtlichen anderen Gegenständen gesagt, dass ich äußerst reif sei für mein Alter, überdurchschnittlich intelligent, aber, in den anderen Gegenständen wurde mein dunkles Geheimnis wohl erkannt, dass ich mein volles Potential immer erst dann ausschöpfen würde, wenn ich mir selbst etwas in den Kopf gesetzt hatte und mit der richtigen Einstellung die Eckpunkte meiner Weltherrschaft eigentlich nur noch organisatorisch zu klären wären. Ich wollte die Welt aber gar nicht beherrschen, sondern einfach nur den Tag mit Dingen verbringen, die mir Spaß machten, in einem von mir selbst bestimmten Ausmaß. Dennoch muss ich zugeben, dass ich es praktisch fand, durch die ewige Kritik meiner Eltern meine tatsächliche Leistungsgrenze zu kennen und gleichzeitig die Gewissheit zu haben, in Notfällen mit ein bisschen mehr Anstrengung, überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen zu können.

All dies setzte sich im Gymnasium fort, mit dem Unterschied, dass ich mich mittlerweile deutlich vehementer traute, die jeweiligen Fächer, deren Inhalte und wie diese unterrichtet wurden, in Frage zu stellen, wodurch sich überraschend viele Vieraugengespräche mit den jeweiligen Lehrkräften ergaben, in denen sich bei empathischer Gesprächsführung meist herausstellte, dass sie meine Kritik teilten, aber nicht schuld am Inhalt und der Art des Unterrichts waren, sondern all das im Lehrplan festgelegt war, dessen Infragestellung bzw. das Äußern von Änderungswünschen in etwa so sinnvoll sei wie das Anschreien von Altglascontainern. Natürlich gäbe es Leute, die das tun würden, aber ein beneidenswertes Leben würden diese Leute nicht führen, und zum ersten Mal in meinem Leben war ich vollkommen bewusst in einer Situation, in der ich erkannte, dass da Leute waren, die grundsätzlich auf die positivst mögliche Art in den Beruf gegangen waren, in dem es darum ging, junge Menschen so sinnvoll wie möglich auf das Leben vorzubereiten, die Verbesserungsmöglichkeiten an dieser Tätigkeit erkannten, diese Verbesserungen einforderten und dadurch so lange, so energieraubende Nachteile erlebten, dass sie junge Leute lieber viel schlechter als möglich ausbildeten, weil sie für alles andere einfach keine Kraft mehr hatten, und das Allertraurigste an dieser Situation war, dass das tatsächlich die realistischste Vorbereitung auf mein Berufsleben war, die man sich vorstellen konnte, aber dazu später mehr.

Ab dieser Erkenntnis informierte ich mich in den jeweiligen Gegenständen nur mehr über für mich interessante Bereiche. Ich wusste also beispielsweise nicht, in welchem Jahr die Glühbirne erfunden wurde, konnte aber erklären, wie sie funktionierte. Leute, die Ersteres konnten und Letzteres nicht, standen in der Regel zwischen „Gut“ und „Sehr gut“, ich stand plötzlich zwischen „Genügend“ und „Nicht Genügend“. Die tragische Ironie an der Situation war, dass meine Noten rapide schlechter wurden, gerade weil ich mich sinnvoll mit den Inhalten beschäftigen und etwas daraus lernen wollte und mich für die Themen und nicht für die jeweiligen Prüfungen interessierte.

Lukas Lachnit

Gleich geht es weiter! Hier kommen Sie zu Teil 2.

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22106

An und für sich nichts Ungewöhnliches

I.

Seit einiger Zeit wusste ich, dass ich, wenn ich etwas nicht erreichte, mir das Ziel schlechtredete und mich lieber mit etwas weniger zufriedengab. So zum Beispiel, als ich mir die langersehnte Urlaubsreise nicht leisten konnte und meinen Urlaub lieber im Schrebergarten verbrachte. „Das ist doch egal, kommt doch alles auf dasselbe raus“, sagte ich zu mir. Aber manchmal kam doch wieder dieses Unbehagen. Was, wenn ich etwas Schönes verpassen könnte, was sich jetzt, genau in diesem Zeitpunkt zutragen könnte, während ich hier saß und meine Zeit totschlug. Und sofort musste ich wieder an eine Begegnung in der Stadt denken, die sich so vor einigen Jahren zugetragen hatte und die ich an dieser Stelle gerne noch einmal erzählen möchte: Auf einem Trödelmarkt lernte ich einen älteren Herrn kennen, mit dem ich nach einiger Zeit ins Gespräch kam. Er stellte sich nicht vor und machte zunächst auf mich einen eher mürrischen Eindruck, aber nach ein paar Sätzen sagte er: „Weißt du, dass ich jetzt schon 78 Jahre alt bin und in meinem Leben nichts bereut habe. Nicht das Geringste!“ „Wie ist das möglich?“, entgegnete ich ihm. „Das ist an und für sich nichts Ungewöhnliches“, sagte er „Jetzt bin ich aber neugierig“, erwiderte ich. „Ich werde dir nicht mehr verraten, als sein muss, aber zuerst möchte ich, dass wir uns in drei Wochen wiedersehen.“ Darauf beendete er das Gespräch und ging seiner Wege.

Einige Wochen später musste ich immer wieder an seine Worte denken. „Das ist an und für sich nichts Ungewöhnliches“, ratterte es durch meinen Kopf wie ein Mantra. Kurze Zeit später hatte ich diesen Mann vergessen und ich ging wieder meinen Alltagsgeschäften nach. Ich wusste, dass ich früher gegenüber vielen Dingen des Lebens eine große Gleichgültigkeit, ja, eine erschreckende Gleichgültigkeit gezeigt hatte. Es war ja sicherlich nichts Neues, dass sich in meinem Leben eher wenig ereignete, ich aber den Grund nicht genau kannte, warum dies so war. Ich machte mir einmal eine Liste, in die ich die Dinge eintrug, die ich am meisten bereute. Zuerst sollte dies ein kurzes Brainstorming sein, aber später würde ich mich daranmachen, die Ereignisse zu nummerieren. Also nahm ich ein Blatt weißes Papier und schrieb darauf: Was ich schon immer einmal tun wollte (mich aber nicht zu tun getraut habe). Einige Minuten lang merkte ich eine gähnende Leere, mir wollte wieder und wieder nichts einfallen. Als ich kurz davor war, etwas zu schreiben, verwarf ich es, weil es mir zu albern erschien.

Nach langer Zeit besann ich mich wieder und machte den Anfang. Dieser lautete: „Mehr Bücher lesen.“ Ich war ein bisschen stolz auf mich, dass ich mich getraut hatte, dies aufzuschreiben, aber sicher würde mir – wenn ich nur lange genug nachdenken würde – noch etwas Wichtigeres einfallen. Aber hey, ‚Mehr Bücher lesen‘ war doch schon einmal ein guter Anfang. Mir fiel ein, wie sehr ich Menschen immer beneidet habe, die viele Bücher gelesen hatten. Gerne wäre ich auch so geworden, aber ich wusste Erstens nicht: Mit welchen Büchern sollte ich anfangen, wenn ich noch nichts kannte, und Zweitens: Woher sollte ich die große Disziplin nehmen, auch Bücher zu lesen, die auf den ersten Blick langweilig waren, aber doch wichtig als Einstiegslektüre. Dies frustrierte mich ein Weilchen und ich begann mich auf den nächsten Punkt zu konzentrieren.

Was hätte ich als Nächstes bereut, zu tun? Ich merkte, dass ich eigentlich so vieles wüsste, mir aber nichts einfiel. Nach einiger Zeit des Überlegens nahm der zweite Punkt überraschend Gestalt an: Spontaner sein. Ich dachte, dass es sehr gut war, denn ich war es in meiner Familie gewohnt, dass Ideen, die eigentlich gut waren, immer wieder zerredet wurden. „Das kann man doch nicht machen.“ „Was ist, wenn etwas schiefgeht.“ „Man braucht doch nicht alles.“ Das hat mich früher immer frustriert. Aber von alleine fand ich keinen Ausweg. Ich brachte es einfach nicht fertig, einmal etwas außerhalb meiner vorgefertigten Routine zu unternehmen. Und manchmal wusste ich gar nicht, was das sein sollte. Sicher wusste ich, dass das schwieriger war als gedacht. Damals hielt ich mich von kulturellen Veranstaltungen fern: „Für so etwas geben wir kein Geld aus“, „Dafür haben wir keine Zeit“. So hieß es oft von meinen Eltern.

Für den nächsten Punkt nahm ich mir wieder Zeit. Diesmal dauerte es etwas länger. Was hat mich früher am unglücklichsten gemacht? Mir wurde klar, dass mich am unglücklichsten die Abwesenheit von Freunden gemacht hatte. Aber zu dieser Zeit wusste ich nicht, wie ich dies am besten ausdrücken sollte. Nun dachte ich, dass ich das Brainstorming für heute sein lassen sollte.

II.

1.
Wir befinden uns im Jahr 1998. Der Ich-Erzähler ist noch Schüler und zeigt Interesse an einer Mitschülerin, die ihm nach jeder Klausur im Fach Musik ihre eigene Lösung als Musterklausur gibt, um die Fehler verbessern zu können. Natürlich zeigte der Ich-Erzähler Interesse, wie bereits gesagt. Aber dieses Interesse ist noch zu schüchtern. Er hätte es nicht fertiggebracht, auch wenn er sie täglich sah, ihr beispielsweise einen Liebesbrief zu schreiben und ihr diesen Brief unter die Bank zu legen. Wäre ihm etwas eingefallen, was er in diesen Liebesbrief hätte schreiben können? Ein paar Jahre später versuchte er für die Schublade einen solchen Brief, den er als Dreizehnjähriger gerne geschrieben hätte. Er begann so: „Liebe C., wie Du sicher weißt, hast Du mir immer Deine Musikklausuren geliehen, und es gab auch sicher andere Momente im Schulleben, in denen ich Deine außerordentliche Freundlichkeit zu schätzen gelernt habe. Dies wollte ich Dir nur einmal schreiben und ich hoffe, dass Du mich ebenfalls als sympathisch wahrnimmst. Über einen weiteren Austausch mit Dir würde ich mich sehr freuen! Dein B.“ Leider habe ich einen solchen Brief nie geschrieben und C. wechselte sehr früh die Schule. Bis heute habe ich keinen Kontakt zu ihr.

2.
Es war schon im Studium, als ich diesen überfüllten Sprachkurs besuchte. In der letzten Bank saß N. ganz alleine, und ich begann immer wieder heimlich, zu ihr hinüberzublicken. Sie gefiel mir sehr, auch wenn ich nicht viel von ihr wusste. In einer Stunde geschah es, dass sie sich ganz unvermittelt neben mich setzte und mir sogar Ihre E-Mail-Adresse gab. Ich war ganz baff und konnte die Situation nicht zuordnen. Wegen meiner Schüchternheit kam es aber zu keinem weiteren Austausch. Auch für N. formulierte ich später ein E-Mail, das ich ihr gerne geschrieben hätte: „Hallo N., ich fand es ganz toll, dass Du Dich neben mich gesetzt hast. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Du nur die Hausübungen haben wolltest, oder ob ich Dir sympathisch bin ;-). Wenn Du Lust hast, können wir uns gerne einmal treffen. LG, B.“ Im Gegensatz zu C. war die E-Mail-Adresse von N. noch nach neun Jahren gültig. Leider habe ich von ihr keine Antwort mehr erhalten.

3.
Und die vielen beiläufigen Begegnungen. Als ich Studienkolleginnen traf, die mir sehr gefielen oder die sehr nett zu mir waren, aber es mir nicht gelang, Kontakt mit ihnen aufzubauen. Und im Nachhinein war das immer sehr schade für mich, dass sich nichts ergeben hat. Und wie bei C. und N. formulierte ich manchmal Briefe, die ich schreiben könnte. Aber das ist alles nun vergebens. Dennoch habe ich gelernt, achtsamer mit solchen Begegnungen umzugehen und mich mehr zu trauen. Auch schätze ich andere Menschen mehr als vorher.

III.

Zurück zu meinem Brief: Den dritten Punkt ließ ich aus und verstaute den Brief in einer Schublade. Nach einiger Zeit hatte ich sogar vergessen, dass ich ihn geschrieben hatte. Ich erinnerte mich aber wieder an den alten Mann, der mir sagte, das sei ja „an und für sich nichts Ungewöhnliches“. Was ich ihn wohl diesmal fragen sollte? Den ersten Schritt mit der Liste hatte ich ja gemacht und mir fiel doch ein, wie viel mir in meinem Leben entgangen ist. Ich habe mir auch eine zweite Liste mit meinen häufigsten Ausreden erstellt. „Das wird doch nie etwas“, „Das kommt alles noch von allein“, „Du schaffst es nicht“, die ich dem alten Herrn zeigen wollte. Aber zuerst war ich auf die erneute Begegnung mit dem Mann gespannt.

IV.

An einem Freitag traf ich ihn tatsächlich, zuerst hatte er mich gar nicht erkannt und dann nicht kennen wollen. „Ach so, haben wir uns wirklich schon einmal gesehen?“, fragte er misstrauisch. „Ich denke doch. Und ich habe das letzte Gespräch sehr ernst genommen. Aber leider weiß ich immer noch nicht, was Ihr Geheimrezept ist, dass Sie im Leben nichts bereuen. Ich habe mir sogar zwei Listen gemacht“, sagte ich. Er erwiderte: „Das ist doch fürs Erste schon einmal ein guter Anfang. Und was hast du in die beiden Listen denn geschrieben?“, fragte er. „In der ersten Liste steht, was ich am meisten bereue, und in der zweiten stehen meine häufigsten Ausreden.“

Er zögerte einen Moment. Dann fuhr er fort: „Und weißt du schon, was du in deinem Leben ändern möchtest. Ich denke, dass du damit sofort anfangen musst, sonst hast du später keine Zeit mehr.“ Ich entgegnete, dass ich sofort in eine Bücherei gehen werde und mit dem Lesen anfange und auch mein großes Zögern beim Besuch kultureller Veranstaltungen einstellen möchte. Zum dritten Punkt fällt mir allerdings nichts mehr ein. „Was war dein dritter Punkt?“ „Die verpassten Gelegenheiten, Mitschülerinnen oder Mitstudentinnen Briefe oder E-Mails zu schreiben.“ „Und was könntest du aus deinem Fehler lernen?“ „Das weiß ich nicht.“ Der alte Mann entgegnete mir: „Ich gebe dir mal einen Rat, aber nur einen kleinen, auf den Rest musst du leider selbst draufkommen: Wozu hat man denn das Internet erfunden?“

Dann nahm er aus seiner Tasche ein Smartphone und tippte eine App an. „Diese App habe ich selbst programmiert. Sieh mir zu, was passiert, wenn ich sie öffne!“ Gespannt sah ich ihm zu, und ehe ich genau realisieren konnte, was geschehen war, tat es einen lauten Schlag und der alte Herr explodierte. Vor lauter Qualm konnte ich zunächst nichts sehen, aber dean nahm ich eine junge Frauenstimme wahr, die zu mir sagte: „Hallo B., es ist schön zu hören, dass du dich damals so sehr für mich interessiertest. Vielen Dank dafür!“ Als sich der Qualm lichtete, merkte ich, dass es sich um C. handelte, die mich noch schüchtern auf die Wange küsste und dann von dannen schritt. In diesem Moment piepte mein Handy, und als ich nachschaute, sah ich, dass ich ein SMS von N. bekommen hatte, das ebenfalls sehr freundlich formuliert war. Vor meinem inneren Ohr hörte ich noch einmal die Stimme das alten Mannes: „An und für sich nichts Ungewöhnliches.“ Dabei musste ich laut und herzhaft lachen.

V.

Wie die oder der geneigte Lesende es richtigermaßen schon bemerkt haben dürfte: Diese Geschichte war natürlich von Anfang bis Ende erstunken und erlogen. Und am Anfang habe ich es doch noch ein bisschen glaubwürdiger formuliert, um den Lesenden auf eine falsche Fährte zu locken. Was ich aber dennoch mit der Liste ausdrücken wollte: Es ist nichts Schlechtes daran, sich seine Versäumnisse und Ausreden noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Und gelegentlich bietet sich doch noch die Chance auf Veränderung. Wenn sich diese Chance nicht zeigt, sollte man auf eine weitere warten, sich aber gut darauf vorbereiten, so widersprüchlich es klingt. Es geschehen manchmal Wunder, auch wenn diese auf den ersten Blick nicht so spektakulär aussehen wollen wie in der Geschichte, aber der Alltag kennt viele Überraschungen. Nicht umsonst sagt ein altes Sprichwort (sofern ich es mir nicht selbst ausgedacht habe), die erste Liebe sei doch immer die wahre Liebe ...

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22099

Familiäre Wahrnehmung

Beim jährlichen Familienfest im Wochenendhaus des wohlhabenden Autohändlers Emmerich stehen viele Verwandte mit einem Glas Sekt im Garten oder auf der Terrasse und plaudern in kleinen Gruppen. Es ist ein warmer Frühsommertag. Herbert, der jüngste Sohn des Hausherrn, hat erstmalig seine neue Freundin Gaby mitgenommen, um sie seiner Familie „an kurzer Leine“ vorzuführen. Sie wird freundlich begrüßt und dann von jedem Familienmitglied, je nach Profession und Neigung, beschnuppert und taxiert:

Schwester Susi, Friseurin: „Auf billig geschnittener Bubikopf und vermutlich in Eigenregie nachgebleicht – nicht gerade Klasse.“

Schwägerin Liselotte, Verkäuferin bei einem Juwelier: „Die Halskette ist sehr schön, nicht unter 600 Euro, den Rest kannst vergessen. Aber süße rosige Ohrläppchen hat sie, da würden goldene Sternchen mit Türkis gut dazupassen.“

Norbert, der älteste Bruder, Gynäkologe: „Na ja, ein bisserl eng, das Becken – hoffentlich gibt’s da bei einem größeren Kind kein Problem.“ Und nach einem zweiten Blick: „Aber verhungern wird das Kind sicher nicht!“

Tante Johanna (die „Hansitant“), Inhaberin eines Textilgeschäftes: „Ein billiger und zu kurzer Fetzen! Die grellen Frühjahrsfarben passen überhaupt nicht zu ihrem blassen Teint. Und die schlamperten Nähte werden auch nicht lange halten. Sehr fabriksneu, das Ganze. Ich werd’ ihr halt einmal was G’scheits zeigen, wenn’s beiander bleiben. Bei der Figur kann s’ ja eh alles tragen.“

Cousin Melchior (nach seinem afroamerikanischen Taufpaten „Murli“ genannt), Zahnarzt: „Na endlich einmal feste weiße Beißerchen in dieser kariösen Familie.“

Joschi-Onkel (Orthopäde): „Na ja, ein bisserl Hohlkreuz hat’s, macht aber einen knackigen Hintern. Aber diese grauslich spitzigen Sandalen mit hohem Absatz!! Also in spätestens zehn Jahr’ hat s’ Kreuzweh und Hammerzech’n. Das muss ich dem Herbert gelegentlich sagen. Wo ja die Krankenkassa eh jedes Jahr weniger zahlt!“

Hausherr Emmerich: „Hmhm, Kolarik heißt’s, das Mäderl. Lieb ist’s ja. Also wenn’s aus der Familie vom Schweizerhaus ist, wär’ eine stramme Mitgift denkbar. Unwahrscheinlich, ja, aber wenn’s so wär’ – und der Herbert endlich sein’ Magister schon hätt’ ...?“

Urgroßonkel Ferdinand, 95, pensionierter Bahnhofsvorstand: „Also stundenlang könnt’ ich mir diesen wunderschönen langen schlanken Hals anschauen.“ Warum dieser Blick auf den Hals? Die Gerüchteküche der Familie will wissen, dass sich Onkel Ferdinand in der Hungerzeit nach 1945 ein paar Jahre in Nordafrika als Scharfrichter (wortwörtlich) durchgeschlagen hat.

Auch anatomische Gedanken, aber mütterlicher Art, hat die Großtante Anna, verwitwete Fleischhauerin in Pension („Grammel-Tant“ genannt, weil sie nach dem Krieg ihren hungernden Verwandten immer Pakete frischer Grammeln zusteckte) beim Anblick des Mädchens: „Mein Gott, so ein Henderl. Na ja, wir werden’s schon aufpapperln, wenn s’ erst einmal zu uns g’hört!“

Herbert: „Hoffentlich können wir bald geh’n, jetzt haben s’ die Gaby eh schon alle g’seh‘n!“

 

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 22093

Die linke und die rechte Person

Ich bin in einem Fall im Haus, im andern Fall außerhalb des Hauses. Hier will ich das Haus verlassen, dort will ich es betreten. Dabei bin ich nur eine halbe Person, die linke und die rechte. Ich liege mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem Rücken im Wohnzimmer und sehe zur Decke. Meine rechte Person läutet an der Haustür. Niemand als meine linke Person im Wohnzimmer könnte öffnen, doch sie tut es nicht.

Die Schrottenburg bei Klagenfurt im Februar 2022

Die Schrottenburg bei Klagenfurt im Februar 2022

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22077

Wild

St. Pölten, 21. August 2011

Liebe Natalia!

Wenn man sich eine Vorgeschichte ausdenken wollte, die immerhin gut genug sein sollte, um als glaubwürdige Wahrheit durchgehen zu können, so müsste man zuallererst deutbare Fakten aus der Vergangenheit finden, an denen man die eigenen Theorien festmachen könnte. Steige ich wie Orpheus hinab in das Vorherige? In das Leere, Unbedachte? Geschichtslose und Existenzlose? Die Geschichte vom Goldenen Zeitalter, vom Garten Eden? Darauf gehe ich nicht ein! Es ist irgendetwas Verstörendes geschehen und eine Oktave tiefer beginnt wieder alles von Neuem:

Wir saßen zu zweit abends beim Chinesen vor einer Landschaftsmalerei, und es hätte sich gerade in diesem Zusammenhang etwas auftun müssen: dass das Bild in seiner Einfachheit, in seiner Selbstverständlichkeit alles, ja wirklich alles wiedergibt, was von Relevanz für uns ist. Damals war alles so schwer, so naiv, so erdlastig. Es war so furchtbar. Jedenfalls nicht alles. Aber der ganze Kontext. So wie alle Farben gemischt irgend entweder Weiß oder etwas Ähnliches wie Kackbraun ergeben.

Die doppelte Unschärfe zwischen dem Erhabenen und dem Niederen. Zwischen dem verbrennenden und dem wärmenden Feuer, zwischen der holden und der vernichtenden Natur. Das wievielte chinesische Sprichwort war das schon wieder? Die Stadt kannst du wechseln, den Brunnen nicht!

Da könnte ich schon einmal nachhaken: Wo genau soll sich eine solche Landschaft befinden: China? Taiwan? Korea? Hat das innere Auge des Zeichners sich diese für uns ausgedacht und wenn ja, was waren die Gründe dafür?

Du, ich habe da eine schöne Idee, was das darstellen könnte nicht. Und vergiss bitte mal den Schrott mit der Naturmimesis. Mir ist, als ob dieses Bild – und wahrscheinlich gäbe es eine viel bessere Vorlage eines bekannteren Meisters –, mir ist so, als wäre dies eine Drohung. Als ob die Berge, der Fluss die Wolken irgendetwas Schlimmes verbergen würden, das man nicht sehen kann. (Sollten wir sicherheitshalber den Restaurantchef fragen, ob er es woanders hinhängen könnte.) Also mir macht das Angst. Ich führe das aber nicht mehr weiter aus. Berge sind übrigens Scheiße. Das Schöne ist nicht des Furchtbaren Anfang und selbst Rilke hätte dieser Kitsch nicht gefallen, da bin ich mir aber sowas von sicher. Bach und Agricola und Arsen. Das Feuer brennt, aber es kann für einen Moment nichts passieren. Du hast fremden Menschen gegenüber immer ein Messer in der Tasche dabei und du würdest es – ich weiß es – auch mir gegenüber einsetzen.

Wenn es denn tatsächlich ein früheres Leben gegeben haben könnte, dort in – sagen wir mal: Sichuan –, dann wäre es auch der Grund, warum ausgerechnet dieser verdammte Platz unter diesem verdammten Landschaftsbild unser beider Stammplatz geworden wäre. Das Bild war uns natürlich noch nie so richtig aufgefallen, der gewohnte China-Kitsch eben.

Die Orientierung im Raum. Wir hätten jetzt einen Walzer anfangen können und die Bilder hätten uns geholfen, dass uns nicht schwindlig geworden wäre. Das Chop-Suey wäre uns gerade recht gewesen, unsere Körper zu besudeln, warm, animalisch und süß-sauer. Du hättest mir die Brust geben können. Und deine Schuhe, die aussahen, als wären sie nur für Tanzabende gemacht worden, wären mir auch gerade recht gekommen. So etwas trägt man heutzutage im Büro? Dein Kleid aus China mit den Tigerzeichnungen? Bach und Donau und Flow. Man steigt nur einmal in denselben Fluss.

Und während des Tanzes zogen wir Linien wie mit dem Pflug, die mählich gerader und gerader werden würden, so dass sie uns mit Früchten beschenkten und erfreuten.
Apropos Fruchtbarkeit: Wir verloren uns ein zweites Mal wie beim Tanz in diesen uralten Fluss: Du bist nicht Tanja W. und ich bin es auch nicht. Eine völlig unscheinbare Angestellte, ein völlig unscheinbarer Angestellter. Aber irgendetwas entstand damals, ein Werdegang, nicht wahr. Es war letztlich deine Idee, das mit dem Import. Nicht für Europäer gemacht, nur Exotik. Rosenblattmarmelade aus den Rosenblüten vom Frühjahr. Sollten wir sie nicht einmal selbst machen?

(Wir könnten im Internet, du, ich habe vorhin im Internet nachgeschaut, wie das gehen müsste.)

Auch die eigenartigsten Vergleiche, die du mir entgegenbringen musstest, als Zeichen deiner Liebe. Obst, Gemüse, Bäume, Vieh: alles, was in der bäuerlichen Gesellschaft wertvoll und prächtig erscheinen muss. (Man muss loben können und zuvörderst den Wein, den Wald und die einfachen Sachen, die uns wichtig sind, das einfache Leben loben.) Meine Überzeugungskraft war nicht so, wie ich es mir erwünscht hatte, aber ein uralter Trieb, der uns zwingt, den Barbaren überlegen, aber dennoch neidisch angesichts ihrer Freiheit und ihrer wilden Bräuche zu sein. Erfanden wir die Marmeladenrevolution, den gemeinsamen Tanz ums Feuer.

Vielleicht sind das letzte wortlose gemeinsame Kochen und Tanzen Bleibendes in unserem kollektiven Gedächtnis.

Man war nicht füreinander gedacht und bemühte die angestrengteste Mythologie: Es waren einmal zwei Menschen, in einem früheren Leben ein glückliches Ehepaar, die genau am selben Tag, genau zur selben Minute geboren, an zwei verschiedenen Orten wiedergeboren worden sind, aber nicht voneinander wussten, aber durch die gegenseitigen Ahnungen, die beide voneinander gehabt hatten, hätten  – wenn sie sich nur ein einziges Mal getroffen, oder voneinander gehört oder das Bild des anderen gesehen hätten, sofort erkannt, dass sie für immer und ewig füreinander bestimmt gewesen sind. Da das Glück dieser beiden Menschen, sich wiedergefunden zu haben, so groß gewesen wäre, dass alle anderen Menschen, die dieses Paar sehen würden oder von ihrem Schicksal erfuhren, auf der Stelle ihren Lebtag lang todunglücklich werden würden, ist jenes Paar mit dem Fluch belegt worden, sich nie in ihrem Leben auch nur einen Millimeter in den gemeinsamen Wahrnehmungsraum zu geraten und sich geradewegs durch eigenartige Zufälle auf Reisen oder sonstigen Treffen um Haaresbreite zu verpassen. Das Schicksal wollte es, dass beide ihr Leben lang unglücklich sein und immer unsympathische Menschen kennenlernen mussten. Schön ist sie aber, ohne Zweifel, die Gleichzeitigkeit: Irgendwo einen unglücklichen Zwilling zu besitzen und mit ihm aus derselben Quelle getrunken zu haben. Genauer: Milchverwandte, dieselbe Milch noch trinkend …

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22051

 

Erste Hilfe

An einem Sommerabend beim Heurigen: Die meisten Tische sind besetzt, die Gäste genießen ihr Glas Wein mit einem kleinen Imbiss und plaudern in kleinen Gruppen. Es sind wohl etliche Einheimische hier, die Mehrzahl stellen Besucher aus Wien.

An einem Tisch wird die Unterhaltung eines älteren Paares lauter, die Frau steigert sich in einen hysterischen Anfall und kippt – eine Ohnmacht markierend – gekonnt und ohne Verletzungsgefahr hintenüber von der Bank ins Gras.
Der Alois, ein 50-jähriger Maurer mit guten 100 kg und Walrossbart, stürmt vom Nebentisch hin, reißt die Bluse auf, fünf Drücker Hand über Hand am Brustbein, dann Mund-zu-Mund-Beatmung. Mit einem Pressluftstoß aus blasmusikgestähltem Brustkorb füllt er ihre Lunge bis zum Platzen – diese großzügige Luftspende entringt sich der Frau umgehend in einem schrillen Schrei: „Sind Sie wahnsinnig!“ Sie rappelt sich hoch und keift weiter: „Mich so zu überfallen – um Gottes willen, ich bin halb nackt, meine Bluse … und pfui Teufel, wie Sie aus dem Mund stinken! Haben Sie einen toten Hund gefressen?“
Darauf Lois, gemütlich: „Na, nur a Quargelbrot mit Zwiefel.“
Sie, wieder in Hysterie fallend: „Nein, das halt ich nicht aus, das halt ich nicht aus, oh Gott, mir wird schlecht!“
Lois, väterlich ermahnend: „Sö, Frau, wenn S’ wieder umfallen, mach ich weiter!“

Diese gut gemeinte Drohung bewirkt blitzartig: 100%ige Rekonvaleszenz. Sie schreit mit rotem Gesicht: „Nein, wirklich net, Rudi! Ruuudi! Wir gehen! Sofort!“ und läuft beim Gartentor hinaus.
Der Gatte Rudi: „Na, i muaß no zahln. Mitzi, zwei Gspritzte, zwei Brot und a Flaschl Guatn für den Herrn da – so, stimmt schon.“ Er winkt dem Lois zu, grinst und geht seiner Frau nach.

Der Weinhauer zum Alois: „Guat g’macht, Loisl, aber hast so grob sein müssen?“ Der Lois, gestelzt aus den Verhaltensregeln der freiwilligen Feuerwehr zitierend: „Bei Abwehr ernsthafter Gefahr im Verzug sind Kollateralschäden zweitrangig.“ Er setzt sich wieder und trinkt zufrieden lachend seinen G’spritzten aus.
Aber die ungestüme Kraftnatur des Alois hat in der Frau auch anderen Eindruck hinterlassen, wie sie einer Freundin anderntags mitteilte: „Also wie das Trumm Mannsbild mit seine Riesenpratzen über mir war – also da war mir ganz anders.“

Der Rudi besucht nun zwecks Muskelaufbau (die Midlife-Crisis hat auch ihr Gutes) einen Fitnessklub; und bei späteren Heurigenbesuchen bestellte er jedes Mal ein Quargelbrot, weil: „Sicher ist sicher, wennst am End’ wieder einmal einen Anfall kriegst.“

Sie hat nie wieder einen gekriegt!

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 22007

Am Ende des Regenbogens

Sie schwebt. Ihre Füße berühren kaum den Boden, ihr Herz tanzt über den Wolken. Die Sonne verscheucht nur für sie die grauen Regenschleier und um sie herum wird alles hell und klar. In den Pfützen schillert Benzin, in den Fenstern spiegelt sich der Himmel.
Sabrina nimmt die Perücke vom Kopf und stopft sie in ihre Tasche. Wie gut es tut, die Luft am Kopf zu spüren, den Wind auf der fast kahlen Haut.
Tief atmet Sabrina ein. Sie taucht auf aus einem Vakuum, so als hätte sie die vergangenen 26 Monate unter Wasser gelebt, wo sie nicht atmen konnte, wo sie nichts riechen, schmecken, fühlen konnte.

Zum ersten Mal seit langer Zeit ist ihr leicht zumute, ohne dieses zerstörerische Monster in ihrem Körper. Noch einmal saugt sie die Luft ein wie eine Ertrinkende.
Fast spürt Sabrina das Zittern noch in ihren Knien, das schnelle Schlagen ihres Herzens auf dem Weg in die Klinik. Gern gesteht sie sich die Angst nicht ein, die sie hatte, als sie vor der Tür zum Sprechzimmer ihres Arztes wartete. Alle Mühe hatte sie sich gegeben, ihn diese Angst nicht merken zu lassen. Lächelnd und scherzend hatte sie sein Zimmer betreten, wie immer hatte sie gerade ihm beweisen wollen, dass sie sich nicht unterkriegen ließ.
An der Wand hinter seinem Schreibtisch hing eine Kinderzeichnung. Das Bild eines schiefen Regenbogens, darunter ein winziges Mädchen im roten Kleid, das auf die Stelle zuläuft, an welcher der Regenbogen die Erde berührt. Das Bild, auf das sie bei jedem Arztbesuch ihren Blick konzentrierte, während sie dem Arzt zuhörte. Auch heute fixierte sie, während er sprach, den Regenbogen.  Dabei schien es ihr, als wäre das Mädchen dem Ende des Regenbogens heute nähergekommen.

An der Straßenecke das offene Parktor, es lädt sie ein.
Sie riecht das feuchte Laub, den erdigen Duft des Sommerregens. Sie hört das Hupen der Autos, das raschelnde Gras, das Gezwitscher der Vögel.
Allein ist sie in diesem Teil des Parks. Nur vereinzelte Sonnenstrahlen dringen durch die Zweige. Vor ihr am Ende des Kieswegs steht eine Bank, feucht vom vergangenen Regen und bedeckt von welkendem Laub der Platanen. Sie geht darauf zu.
Vor der Bank bleibt sie stehen, innehaltend. Ihre Tasche rutscht ihr von der Schulter. Sabrina stellt sie auf die Bank. Alles was darin ist, gehört zu ihrem Leben vor heute, zu dem Leben, das hinter ihr liegt.

Die Perücke, die sie getragen hat, weil eine Frau eben nicht mit kahlem Kopf herumläuft. Sie hätte damit kein Problem gehabt, sie hatte sich ihrer Kahlheit nicht geschämt. Aber es hätte gewirkt, als wollte sie auffallen, Mitleid erregen. Und dies wäre ihr zuwider gewesen. Nie hatte sie Mitleid gewollt.
Die Pillen, die sie nehmen musste. Deren Nebenwirkungen teilweise so heftig waren, dass sie gerne auf die Einnahme verzichtet hätte. Ohne die sie die Chemotherapie aber nicht verkraftet hätte.

Das kleine blaue Schiffchen, das sie an ihrem Schlüssel immer bei sich trägt. Es ist das Bild ihres größten Traums, des Traums vom Leben und Arbeiten auf einem Schiff. Schon als Kind wollte sie Matrose werden oder Seeräuber. Doch weil ihre Mutter sie nicht gehen lassen wollte, arbeitet sie stattdessen in einem Reisebüro, wo es nach verstaubten Plastikmuscheln riecht, statt nach Seeluft und Meerwasser.
Ihr Handy, ohne das sie nicht aus dem Haus durfte, um im Notfall Hilfe rufen zu können. Das sie nie wieder brauchen will.
Und für den Fall, dass nichts helfen würde, das Skalpell, von dem sie gar nicht mehr weiß, woher sie es hat. Vermutlich nicht das angenehmste Mittel, ein Ende zu machen, aber alle anderen Methoden, die ihr eingefallen waren, schienen auch nicht besser.

Ein Blatt fällt von der Platane hinter der Bank, es schaukelt im Wind, als könne es sich nicht entschließen, wo es niedergehen soll. Als es auf ihrer Tasche landet, legt sie das Blatt hinein zu den anderen Dingen.
Sabrina löst das Plastikschiff vom Schlüsselbund und nimmt es in ihre Faust, lässt den Schlüssel zurück in die Tasche gleiten. Sie schließt die Handtasche mit einem Ruck und wendet sich um. Ohne zu zögern, ohne sich umzudrehen, geht sie fort von der Bank, von der Tasche.
Sie läuft mit festen Schritten. Zu ihrem Ende des Regenbogens.

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22024