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Auf den Pelz gerückt

Meinen Job, den hätte ich beinahe durch schlichte Schlamperei verloren. Sie wollen wissen, wie das in einer gemächlichen Kultureinrichtung wie dem Dorotheum passieren kann? Also gut.

Jeweils eine Woche vor den Versteigerungsterminen werden die Exponate zur Besichtigung dargeboten, potenzielle Interessenten können diese aus der Nähe begutachten und für sich eine Vorentscheidung treffen, manches verwerfen, anderes in die Wahl ziehen.
Mir oblag es, Räume für diese Besichtigungen vorzusehen, die zuständigen Kollegen anzuweisen, die Waren dort bereitzulegen und Datum und Uhrzeiten der Besichtigungen rechtzeitig öffentlich anzukündigen.

Eines Dienstags im Oktober sollten die Türen um zehn Uhr geöffnet werden. Ich begann meinen Dienst wie gewohnt so gegen neun und die Kollegen waren bereits seit den frühen Morgenstunden am Herbeischaffen der zu präsentierenden Objekte. Ich war alarmiert, denn schon als ich die Stufen hochstieg, hörte ich die Arbeiter fluchen. Auch meine Vorgesetzte hörte ich mit leicht erhobener Stimme Kalmierungsbeschwörungen von sich geben.

In mir stieg Unbehagen hoch, noch hätte ich umdrehen, heimgehen und mich krankmelden können. Doch nichts dergleichen geschah, und so wurde ich kurz darauf – noch bevor ich der Misere ansichtig wurde – von einem messerscharfen und enttäuschten Blick meiner Vorgesetzten getadelt: ein knapp und wortlos konstatiertes „Schade!“.
Noch wusste ich nicht warum.

Mir schlug ein recht strenger Geruch entgegen – die jährliche Pelzauktion stand an und heute wurden die guten alten Erbstücke dem Publikum präsentiert. Vor mir dicht behängte Kleiderstangen auf Rollen. Wieso hatten die Arbeiter nicht (wie sonst auch) vorher die Tische entfernt, um genügend Platz zu schaffen für die voluminösen Kleidungsstücke?
„Wir haben ein Problem“, raunte mir mein Assistent zu und wies mit dem Kopf auf die Tische, auf denen sich nummerierte Mappen in immenser Anzahl stapelten.

Muss ich extra erwähnen, dass Räume nicht doppelt gebucht werden sollten? Das genau war nämlich geschehen. Und dummerweise war ich daran schuld.

So geschah es also, dass es am Dienstag, dem 11. Oktober 2016, im Kolowrat-Saal im zweiten Stock des Wiener Dorotheums eng wurde: In weniger als einer Stunde würden Philatelisten aus nah und fern eintrudeln, um die dargebotenen Briefmarken zu sondieren, und gleichzeitig auf eine Schar aufgeregter Frauen treffen, die sich Pelzschnäppchen für den Winter sichern wollten.
Dass die Briefmarkenliebhaber das Besichtigungsprozedere in gebotener Ruhe vollziehen wollten und die pelzaffine Damenwelt an ebenjene nicht im Traum dachte, liegt auf der Hand.
Ja, wir hatten ein Problem, kurz: Wunderliche Kauzigkeit trifft auf kribbeliges Eventshopping.

Wir waren nervös, der doppelte Andrang musste irgendwie bewältigt werden.

Edel verarbeitete Pelze auf Kleiderhaken - das Angebot umfasste sorgfältig verarbeitete Nerze in vielen Modellen, sowie auch sonst hochwertige Pelze in modischen bis klassischen Schnitten. Während der Vorbesichtigung konnten alle Modelle begutachtet und auch anprobiert werden, was zusätzlich Platz erforderte.
Das pelzige Angebot ruft immer eine große Zahl von Frauen auf den Plan, oft allein, manchmal in männlicher Begleitung, aber auch in kleinen Grüppchen, die sich beim Probieren gegenseitig beurteilen, jedenfalls aber das zu Erwerbende ausgiebig kommentieren. Ob denn nicht besser doch der Ozelot statt des Zobels zur eigenen Persönlichkeit passend oder der Lammfellmantel in seiner Länge zur Körpergröße der Interessentin inadäquat, ja der Stilsicherheit abträglich wäre (ein kürzerer Mantel wirkt zudem jünger als ein langer), von der Inkompatibilität der Fuchsfell- mit der tizianroten Haarfarbe der Trägerin in spe ganz zu schweigen.
(Fehlte bloß noch das Auftauchen der vermummten Anti-Pelz-Aktivistin, die im letzten Herbst in einer Blitzaktion zwei Drittel der Exponate in Neongrün besprüht hatte und dermaßen schnell geflüchtet war, dass sie nur von hinten fotografiert und nicht belangt werden konnte, ein Schadensfall mit hämischer Presse für die ehrwürdige Institution.)

Der gemeine Briefmarkensammler wird gerne als ein wenig unbeholfen und schrullig dargestellt. Ich kann mich dem nicht anschließen, es sind angenehme Menschen, die unaufgeregt und sehr systematisch die Bestände sichten. Ein wenig eigen, nun denn, wer wäre das nicht, wenn viel Zeit mit Überlegungen verbracht wird, ob etwa für einen ungezähnten Viererblock mit „August dem Starken“ ein Online-Gebot abzugeben, eine gute Idee wäre; oder nachzudenken, ob eine Fünf-Pfennig-Marke der Reichspost mit diagonalem Aufdruck „Marschall-Inseln“ zu Hause schon vorrätig sei; oder mit anderen Experten über den Wert der Serie albanischer Briefmarken, die mit Aufdruckfehlern in den Handel kamen, zu debattieren.

Sie alle trafen im ehrwürdigen Kolowrat-Saal aufeinander. Dass sie nicht aneinander gerieten, dafür mussten wir sorgen, darauf hatten wir uns vor dem Öffnen der Tore eingeschworen.

Die Frauen waren die ersten, die die allesamt an den Wänden aufgereihten Felljacken und -mäntel ansteuerten. Sofort lagen Gemurmel und Gelächter in der Luft, und der modrig-muffige Pelzgeruch reicherte sich mit einer Duftvielfalt von Parfums an.

Befremdet von der ungewohnten Enge im Raum, dem zugleich strengen und blumigen Geruch, und natürlich der Schar der weiblichen Besucher drängten dann die Philatelisten, alle männlich, die meisten in unauffälligem Beige oder Grau gekleidet, eher zögerlich zu den verbliebenen Freiräumen an den Tischen in der Mitte des Raumes. Die vielen Ringordner hatten wir nicht wie sonst üblich in Regale an den Wänden einsortiert sondern einfach auf den Tischen aufgelegt, was zu Verstimmung und Murren der Kunden führte. Man merkte aus ihren Kommentaren, dass das alberne Getue der Frauen um die schnöde Mode und überhaupt deren Anwesenheit als deplatziert empfunden wurde.

Ich versuchte vor allem, den verstimmten Freunden der Postwertzeichen bei der Übersicht über das Angebot zu helfen.
Gerade war einer der Briefmarkeninteressierten dabei, die Sonderpostwertzeichen zu Gunsten der Berliner Währungsgeschädigten mit Sonderstempel vom ersten Verwendungstag, Rufpreis EUR 380,- mit der Lupe auf fehlende Zähnchen zu untersuchen, als hinter ihm eine exaltierte, nicht mehr ganz junge Frau mit wallenden blonden Locken beim fahrigen Überwerfen eines langfelligen gemusterten Capes ganz viel Wind und ein paar briefmarkenbestückte Steckblätter aufwirbelte.
Sie meinte echauffiert zu ihm: „Oh, entschuldigen Sie bitte, ich habe hoffentlich nicht Ihre Briefmarken vom Tisch gefegt?“, mit ungarisch anmutendem Akzent und einem unsteten Flackern im Blick, das der Angesprochene wahrscheinlich in so charmanter Ausführung und aus solcher Nähe noch nie gesehen hatte.
„Ich war unschicklich, verzeihen Sie.“
Er war aufgestanden und unbeholfen korrigierte er: „Ungeschickt.“
„Oh.“
„Aber das macht nichts.“
„Meinen Sie, die Schulternähte hängen zu sehr über, der Mantel ist schwer? Wie sehe ich aus?“
Sie drehte sich und machte wieder Wind und die männliche Umgebung unruhig.
„Hübsch. Wirklich sehr hübsch.“
Sie beugte sich deutlich näher zu ihm.
„Und riecht der Mantel nicht nach Keller? Er ist wirklich preiswert.“
„Äh, schon etwas, aber wenn man den Mantel im Garten auslüftet …“
„Sie haben einen Garten?“

Ich konnte den Dialog nicht verfolgen, denn ich musste zwei Tische weiter ein kleines Gezänk schlichten.
Etwas später sah ich die beiden gemeinsam im hauseigenen Café sitzen.
Die Vorstellung, er hätte letztendlich auch noch angeboten, ihr seine private Briefmarkensammlung zu zeigen, will ich hier nicht strapazieren, aber natürlich ist das denkbar.

Ein Kollateralnutzen, ausgelöst durch mein Missgeschick, war also gegeben, aber das macht mich nicht stolz. Schließlich hatte ich beinahe meinen Job verloren. (Mir wurde zum Glück verziehen, wobei ich aber die gesammelte Kollegenschaft auf ein Feierabendbier einladen musste.)

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 17147

 

 

Ein Alltag ist das heute

Langweilig hin und zurück,
Fernseher an und aus,
selbe Zeit,
anderes Gerede,
Podcasts sind abonniert,
aber im Rückstand

Teppiche aus alter Zeit
haben das Fliegen verlernt,
Liegen tot und ausgebleicht am Boden,
Auf dem roten Sofa bildet sich ein Bart,
Der Metallrahmen am Bett
ist zur trüben Pupille geworden

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 17106

Schnurrhaar

Ein Hund und ein Mensch,
viele Hunde, viele Menschen,
Flüssigkeiten und ohrenbetäubendes Grollen,
quietschend rauscht er mit seinesgleichen,
durch tausend Tunnel,
der selbe unverdünnte Saft,
Putzt sich gründlich,
betrachtet seine Pfoten,
eine Dose mit Sarma,
schnurrend und essend,
danach schläfrig
Im Spiegelbild fragt er sich,
was es eigentlich ist
Keine Antwort
Er geht spielen mit angebissenen Äpfeln
Die Nacht schiebt Abwesenheit beiseite
Während sie mit dem Besitzer heulen,
und zu Bett gehen,
beobachtet er die Taube
auf dem oberen Balkon
Klappernde Geräusche

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen| Inventarnummer: 17031

Heute trinke ich meinen Kaffee kalt

6 Uhr 20, der Wecker geht ab. Wie jeden Tag quäle ich mich aus dem Bett. Meine Augen sind müde, mein Körper schwer. Ich ziehe mich an, gehe in die Küche und richte mir mein Frühstück. Wie jeden Tag streiche ich ein Honigbrot und trinke eine Tasse Kaffee mit einem Schuss Milch. Der nächste Griff geht Richtung Handy. Links eine Tasse Kaffee, rechts mein Smartphone, checke ich neue E-Mails und SMS. Es gibt wenig Weltbewegendes, nichts Dringendes, auf das jetzt schon reagiert werden müsste.
Ich lese die Nachrichten. Und so wie jeden Tag sind es hauptsächlich schlechte. ‚Bürgerkrieg, Anschlag, Tote‘ sind Worte, die tagtäglich die Schlagzeilen prägen. Ich lese weiter. ‚Terrorismus, Luftangriff‘. Mein Magen zieht sich leicht zusammen. ‚Asylanten, Grenzschließung‘. Leere, Trauer und Hilflosigkeit machen sich in mir breit. ‚Flüchtlingslager, Verletzte, Abschiebung‘. Mir wird leicht schlecht. Der Boden unter meinen Füßen scheint sich zu bewegen. Verdammt, bin ich krank? Ich versuche mich zu konzentrieren. Ich fixiere mein Handy und möchte weiterlesen. Doch vor meinen Augen beginnt es zu flimmern. Handy und Tasse fallen zu Boden. Ich greife nach dem Tisch, um mich festzuhalten, aber es ist zu spät.

Ich liege am Boden. Noch bin ich zu schwach, um mich aufzurappeln. Ich sehe hoch, doch es ist, als ob mich der schwarze Schleier der Bewusstlosigkeit noch nicht ganz loslassen will. Ich reibe mir meine Augen, kann aber trotzdem kaum etwas erkennen.
Ich höre lautes Donnern. Aufgewirbelter Staub umgibt mich. Er bringt mich zum Husten. Was ist passiert? Ich liege am Boden, unter meinen Händen ist Erde. Da wo gerade noch mein Zuhause war, ist nun Staub und Dreck? Ein lauter Knall und noch einer. Ich versuche zu erkennen, was hier los ist, und da sehe ich, dass große Schatten von oben auf den Boden herabdonnern. Ich bekomme Angst. Ich schaue genauer hin. Es sind Buchstaben. Schwarze Buchstaben, zweimal so groß wie ich es bin. Es hagelt Riesenbuchstaben? So ein Unsinn! Das muss ein Traum sein! Ich versuche zu lachen. Doch das Lachen bleibt mir im Hals stecken. Ein Buchstabe nach dem anderen kracht auf den Boden und lässt die Erde beben. Was, wenn mich einer trifft? Ich mache mich so klein, wie es nur geht, verstecke den Kopf zwischen den Armen, schließe die Augen und hoffe, dass ich aufwache aus diesem Albtraum. Es kann nur ein Albtraum sein! Gerade eben war ich noch zu Hause in meiner Küche und nun kauere ich am Boden und habe Angst, dass ich von einer Buchstabenbombe erschlagen werde? Ich schlucke, versuche ruhig zu atmen. Ich hebe meinen Kopf und blicke mich nochmals um. Gibt es nicht irgendetwas, wo ich Schutz finden kann? Nichts. Nur Staub, Dunkelheit und ohrenbetörendes Donnern. Was auch immer hier los ist, mit meinem Zuhause hat das nichts mehr zu tun. Schon wieder rast ein Koloss zu Boden. Ich muss hier weg! Noch einmal atme ich tief ein und renne los. Ich muss mich in Sicherheit bringen! Ich sprinte so schnell ich kann ins Nichts …

… und krache gegen eine Wand. Das gibt es doch nicht! Eine Mauer! Ich schaue nach beiden Seiten. Ich sehe hoch. Es ist eine scheinbar endlos lange Mauer aus unendlich vielen Riesenbuchstaben. Ich bin fassungslos. Doch es bleibt wenig Zeit, um zu überlegen. Ein paar Meter neben mir landet ein Buchstabenkoloss, kippt noch einmal um und verfehlt nur knapp meine Füße. Ich renne die Mauer entlang und entdecke ein kleines Loch. Und da, endlich zeigt sich ein kleiner Hoffnungsschimmer. Auf der anderen Seite der Mauer ist es ruhig. Dort krachen keine Riesenbuchstaben auf die Erde nieder. Ich muss hinter diese Mauer! Das ist meine einzige Rettung. Ich versuche, auf die Mauer hinaufzuklettern. Ich versuche mich durch kleinste Löcher hindurchzuzwängen und durch engste Ritzen zu quetschen, aber ich habe nicht die geringste Chance. Ich komme nicht weg. Ich bin gefangen. Hinter mir donnern die Buchstaben herab wie Bomben, und vor mir ist diese Mauer. Was soll ich denn jetzt tun? In die andere Richtung rennen und darauf hoffen, dass es dort einen Ausweg aus diesem Albtraum gibt? Nein, das würde nicht gutgehen. Es sind zu viele Buchstaben, die da herunterkrachen. In welche Richtung ich auch blicke, es ist nicht das geringste Zeichen auf Rettung zu erkennen. Ich habe Angst um mein Leben. Meine Knie zittern. Und mit der Tatsache, dass ich hier nicht wegkomme, verlässt mich jeder Funken Hoffnung. Ich verliere jedes Quäntchen Mut. Mir ist nur noch nach Heulen zumute. Ich gebe auf. Ich schließe die Augen und lasse mich zu Boden fallen, in der Hoffnung endlich aufzuwachen.

Ich rechne mit einer unsanften Landung auf hartem Boden, die nicht eintrifft. Ich reiße panisch die Augen auf. Wo bin ich? Was passiert mit mir? Doch sobald ich meine Augen geöffnet habe, macht sich Ruhe in mir breit. Es ist hell und es ist ruhig. Da sind kein Staub und keine herabhagelnden Buchstaben. Gerettet! Ich lebe und befinde mich in Sicherheit! Noch nie war ich so erleichtert und so glücklich wie in diesem Moment. Ich atme auf und sehe mich um. Nein, mein Zuhause ist das nicht. Ich stehe auf einem großen Platz, der mit Sand bedeckt ist. Und dort, ein Stück weiter, wo der Sandplatz zu Ende ist, beginnt eine Welt, ganz anders, als alles was ich bisher gesehen habe. Eine Welt, die glänzt und strahlt. Schön ist es hier. Alles wirkt so friedlich. Was ist das für ein Ort? Ich werde neugierig. Ich möchte mehr von dieser Welt sehen.

Ich gehe los und stoße mit dem Gesicht gegen eine Glasscheibe. Hoppla, die habe ich nicht gesehen. Seltsam. Ein Sandplatz eingezäunt mit einer Glaswand? Na gut. Irgendwo gibt es hier sicherlich eine Tür. Ich möchte hinaus, um mir diese faszinierende Welt anzusehen. Was auch immer mich dort erwartet, es kann nur besser sein als herabstürzende Buchstaben und Sand. Also gehe ich los, immer der Glasscheibe entlang.
Nun gehe ich schon eine Weile. Es geht mal bergauf, dann etwas bergab und dann wieder bergauf. Doch so lange ich dieser Wand nun schon folge, Tür ist keine zu finden. Dieses ständige Auf und Ab ist ganz schön kräftezehrend. Laufe ich etwa im Kreis? Ich mache eine Pause. Auf meiner Seite der Scheibe ist nichts weiter als Sand. Wie gerne würde ich auf der anderen Seite stehen und einfach meiner Wege ziehen! Ganz schön deprimierend, hier im Sand zu sitzen und nicht wegzukommen. Ja, ich bin in Sicherheit, aber ein Ort zum Verweilen ist das nicht.

Ich starre auf den Boden und bin ratlos.
Wolken ziehen auf. Es ist etwas dunkler geworden. Ich spüre Blicke auf mir. Werde ich beobachtet? Ich sehe mich um. Niemand. Hier stimmt doch etwas nicht! Ich blicke hinter die Glasscheibe. Da! Da war doch etwas! Ein dunkler Schatten und noch einer. Neben dem Glänzen und Strahlen dieser unbekannten Welt dort draußen sind sie kaum zu entdecken und doch sind sie da. Dunkle Schatten. Schatten, die Angst machen. Ich habe das Gefühl, dass sie mich beobachten. Ich ducke mich und schaue noch einmal etwas genauer hin. Ja, da sind Schatten und es werden immer mehr! Ich will, dass sie wieder weggehen! Da ist diese schöne Welt, die so viel Sicherheit ausstrahlt, plötzlich voller Schatten! Und sie geben mir das Gefühl, dass ich hier nicht sein sollte, dass ich hier nicht erwünscht bin. Ich wende mich ab und mache mich ganz klein.
Ich starre auf den Boden, und erst jetzt bemerke ich, dass sich der Sand vor mir bewegt. Ist da ein Loch, in das der Sand hineinrieselt? Immer mehr Sand verschwindet. Der Krater wird immer größer! Was nun? Ich springe auf. Hinter mir ist diese Glasscheibe, durch die es keine Tür gibt und vor mir scheint der Boden im Nichts zu verschwinden. Nicht mehr lange und der Krater ist so groß, dass er meine Füße erreicht hat. Ich nehme etwas Anlauf, schmeiße mich gegen die Wand und versuche die Glasscheibe zum Bersten zu bringen. Nichts! Die Scheibe kriegt nicht den kleinsten Riss. Ich trete, ich schlage auf diese Wand aus Glas ein, doch es tut sich rein gar nichts. Und nun ist es auch schon zu spät. Der Sand nimmt mich mit. Oh mein Gott! Wo werde ich landen? Ich will nicht wieder in diese Welt der Buchstabenbomben! Ich will nach Hause! Wenn es mein Zuhause denn überhaupt noch gibt?

Ich falle wie ein Fallschirmspringer ohne Schirm. Ich falle so schnell, dass es mir meine Augen, die ich vor Angst geschlossen hatte, wieder aufreißt. Ich rase hinab, ohne jegliche Möglichkeit, den Sturz abbremsen zu können. Was passiert mit mir? Ich will, dass dieser Albtraum endlich aufhört! Wo ist mein ruhiges, langweiliges Leben hin? Wo sind nur Alltag und Sicherheit geblieben?

Und ganz plötzlich ist mein Sturz zu Ende. Ich sitze. Ich sitze auf einer Bank. Ich blinzle und blinzle noch einmal. Ich sitze auf der Bank in meiner Küche! Alles wie weggeblasen. Kein Sand, keine Glasscheibe. Kein Staub, keine Riesenbuchstaben. Ich atme ein und ich atme aus.
Ich schaue auf meine Hände. Links halte ich eine Tasse Kaffee, rechts mein Handy und vor mir steht ein Teller mit einem Honigbrot. Ich bin zu Hause!

Ich schaue aus dem Fenster. Die Sonne geht gerade auf. Ich sitze zu Hause bei meinem Frühstück! Ich atme nochmals ein und atme erleichtert aus. Ich trinke einen Schluck Kaffee. Er ist kalt. Ich blicke auf mein Handy. Der Bildschirmschoner zeigt die Uhrzeit an. Was? Schon 7:00 Uhr! Höchste Zeit um aufzubrechen. Ich bin spät dran. Ich schmeiße mein Handy in die Handtasche, ziehe meine Schuhe und meine Jacke an und renne zum Bus.
Ein Tag wie jeder andere.

Maria Buchegger

www.verdichtet.at |Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 16123

 

Das Wespennest

Ein sonniger Frühsommernachmittag hatte sich auf den sanften Hügeln und grünen Wiesen des kleinen südburgenländischen Ortes niedergetan. Bienen summten, Vögel zwitscherten in den Geästen zahlloser Obstbäume und Schmetterlinge tanzten über bunte Wiesenblumen. Eben durch diese Idylle quälte sich Maurermeister Josef Lagler samt seinen einhundertzwei Kilo mühsam den steilen Weg zu seinem neuen Einsatzort hinauf. Eine Mauer sollte er aufstellen. Ein Mäuerchen, auf dem Dachboden eines weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannten Kunstmalers und Bildhauers. Eine Trennwand, kurzum Feuermauer genannt. Der Rauchfangkehrer hatte befundet, hier gehöre eine Feuermauer hin. Punktum! Kein Kunststück.

Und dennoch hatten es ein paar seiner Kollegen Monate davor nicht geschafft, gerade an diesem Haus eine solche stabil zu errichten. Eine simple Mauer als Anbau an eine bereits bestehende. Unter der Ägide eines umtriebigen Bauingenieurs hatten sie es fertiggebracht, auf die Verzapfung ihres Kunstwerkes zu vergessen. Eine ganz normale Ziegelwand, an eine glatte Mauer anzubauen, geriet somit außer Kontrolle, als sich der Kunstmaler voll Vertrauen in ihre Stabilität an sie lehnte, um gleich darauf samt ihr in den anschließenden Garten hinauszustürzen. Gott sei Dank hatte er sich dabei nicht verletzt. Die Betonkünstler konnten sich was anhören. Der Maler war außer sich. Er hatte nicht zuletzt ein Sprichwort zu diesem Vorfall bemüht: Wie der Herr, so das G’scherr! Denn der Bauingenieur war dafür bekannt, dass seine Werke nicht von langer Dauer waren. Er selbst erzählte einmal von einer Brücke, die er über einen Bach gebaut hätte. Sie wäre Jahre später eingestürzt, fügte er damals emotionslos hinzu.

Josef Lagler hatte das bescheidene Anwesen des Kunstmalers unter Keuchen und Stöhnen schwitzend erreicht. Er ließ seinen strapazierten Rucksack mit dem Werkzeug fallen, setzte sich auf die Gartenbank vorm Haus, zündete sich eine Zigarette an und öffnete eine Flasche eiskalten Bieres, welche ihm der Kunstmaler als Willkommensgruß schon bereitgestellt hatte. Vielleicht tat jener das auch nur aus Angst vor neuerlichen Schwierigkeiten mit Handwerkern und um ihn in richtige Stimmung zu bringen, sein Werk auch ordentlich zu vollenden. Lagler nahm mehrere tiefe Schlucke aus der Flasche und sah sich um. An den Außenwänden des kleinen Bauernhauses waren zahlreichen Kunstwerke angebracht. Wandmalereien zierten die Mauern auf der einen Seite, Steinplastiken auf der anderen. Ein fetter schwarzer Kater räkelte sich faul auf einer von der Sonne erwärmten Steinplatte und gähnte gelangweilt.

Als vor Jahren einmal ein Burgenlandamerikaner hier zu Besuch war, der all die Bilder ums und im Haus bemerkte, fragte dieser beeindruckt, oh, beautiful! Wer da streichen?, erzählte ihm der Maler. Aber Lagler hatte nicht verstanden, worum es ging.

Der Kunstmaler selber war bei den Ortsbewohnern nicht sonderlich beliebt. Ob es daran lag, dass er ein „Zuagraster“, also ein Zuwanderer war, oder an seiner Malerei, man wusste es nicht. Tatsache war, dass er die Dorfbewohner in seinen Bildern als auch in einem darüber gedrehten Amateurfilm ziemlich verrissen hatte, und sie ihm das sehr übel nahmen, als sie sich Wochen später im Regionalfernsehen wiedererkannten. Verglichen Kenner seine Malerei nicht zuletzt mit den skurrilen Werken eines Hieronymus Bosch. Dies aber hatte für den Maler schwerwiegende Folgen gehabt. Die Leute grüßten ihn von da an nicht mehr oder wechselten sogar den Gehsteig, wenn er ihnen begegnete. Auf einem seiner üblichen Spaziergänge über die nahen Wiesen wurde er sogar einmal von einem Jäger aus dem Ort mit angehaltener Doppelläufiger mit den Worten bedroht, schleich di, oder i blos di aus die Schuach!

Maurermeister Lagler hatte indes seinen Durst gelöscht. Also wurde es Zeit, an die Arbeit zu gehen. Wo er denn die Mauer aufstellen solle, fragte er. Oben, auf dem Dachboden, antwortete der Maler und wies mit seinem Kopf in die Richtung. Ein Dachboden wie jeder andere. Ein meist nur primitiv isolierter, kaum eingerichteter Raum, in dem allerlei Gerümpel gelagert war. Üblicherweise führten Treppen oder Leitern in solche Räume. So auch hier. Lagler stieg das schmale Stiegenhaus leise fluchend und laut ächzend hoch. Die Ziegel waren bereits herangeschafft worden. Mittels eines Autokranes über die Dachluke. Wenigstens etwas, stöhnte Lagler erleichtert. Das Meita, wie man hierzulande den Mörtel nannte, musste er selbst anrühren. Bei der Hitze unter dem Dach keine leichte Sache für einen älteren übergewichtigen Menschen. Krutze, zischte er leise. Aber da war noch was. Denn just an der Stelle, an der er die Mauer errichten sollte, hing ein gigantisches Wespennest vom Dachbalken und versperrte ihm den Weg.
Da ist ein Wespennest, rief der Maler von unten, haben Sie das Nest gesehen? Ja, hat er, er war ja nicht blind. Lagler kratzte sich am Hinterkopf. Zefix, fluchte er. Ein Nylonsackerl!, rief er nach unten. Ein was? I brauch a groß’ Nylonsackl!, rief Lagler jetzt lauter. Es dauerte. Er hatte mit Akademikern und so – Kunstg‘sindel, wie er es nannte, nicht viel am Hut. Einmal hatte er auch bei einem gearbeitet. Der wusste alles besser. Und einmal hatten sie ihm einen akademischen Restaurator beigestellt, damals, als die Arbeiten in der Kirche anfielen. Den Herrn Magister! Auch so einer, der nur g’scheit reden konnte und nichts weiterbrachte. Oaschloch, kaunst an Putz?, hatte Lagler ihn gleich zu Beginn der Arbeiten gefragt. Wenn er keinen Putz hätte können, hätte man gar nicht anfangen können. Und Lagler hatte einen Riecher für sowas. Der konnte tatsächlich keinen! Den brauchte man aber für die Erneuerung der Fresken, die nur im feuchten Verputz gemacht werden konnten. Also musste er alles allein machen.

Und der hier, dieser Künstler - schien auch ein solcher zu sein, so ein Siebeng’scheiter. Redete nur Unsinn und wirres Zeug und stellte unnötige dumme Fragen. Ein Besserer. Konnte nicht einmal ein Nylonsackerl organisieren. Na, immerhin. Wenigstens hatte er kaltes Bier zu Hause. Na endlich! Das Nylonsackerl. Da bitte, sagte der Maler und reichte ihm ein Billasackerl über die Bodentür. Was wollen Sie denn damit? Lagler schwieg. Ganz langsam und bedächtig nahm er die Plastiktasche, richtete sich auf und schritt gemessenen Schrittes hin zum Wespennest. Er trug nur ein kurzärmeliges Hemd und eine lange schmutzig-weiße Leinenhose, sonst nichts. Keine Handschuhe, nur sein Maurerkapperl, das schief auf seinem hochroten Kopf saß. Es war ein heißer Tag. Die Wespen, sehr geschäftig, schwirrten zornig brummend um ihn herum. Vorerst zündete sich der Meister eine neue Zigarette an. Rauch konnte nie schaden bei einem Unternehmen wie diesem.
Sie müssen sie von ihrem Aufenthaltsort weglocken, rief der Künstler von untern hinauf, was? Lenken Sie sie ab. Ich bringe Ihnen etwas Basilikum. Oder noch besser, Zitronen, mit Nelken drin, was? Das mögen die nicht. Lagler kümmerte sich nicht um das, was der Herr Künstler sagte und zog nur bedächtig an seiner Zigarette, die an seinem rechten Mundwinkel hing. Zefix, brummte er. Die Wespen umsurrten ihn neugierig. Ich hätte so ein Duftöl, Teebaumöl, nehmen Sie das. Der Maler ließ nicht locker. Und nach einer Weile: Knoblauch ist auch nicht schlecht, was? Ich schneide Ihnen welchen klein, nicht? Keine Antwort. Nur das Brummen der schwarzgelb Gestreiften. Salmiak!, rief der Maler, wissen Sie? Das ist es! Ich reiche Ihnen einen Lappen mit Salmiak hinauf, was? Oder warten Sie. Möchten Sie einen Kaffee? Ich stelle Ihnen einen Kaffee rauf, was? Den Geruch mögen sie auch nicht, die Wespen. Lagler reagierte nicht. Der Maler faselte etwas wie man müsste Kaffeepulver oder Kaffeebohnen irgendwie in einem feuerfesten Gefäß glühend machen oder so ähnlich, das würde die Wespen schon vertreiben. Alles vergebliche Mühe. Lagler tat, was er tun musste.
Ganz vorsichtig begann er, den Plastiksack von unten her über das Wespennest zu stülpen. Die Tiere umflogen ihn wie wild. Aber der Ziegelschupfer ließ sich in seiner Tätigkeit nicht von ihnen beirren. Wir hätten mehr Tomaten anbauen sollen, was?, rief der Maître von unten hinauf. Die mögen sie auch nicht. Lagler fiel die lange krumme Asche zu Boden. Meine Frau hat irgendwo Räucherstäbchen, brauchen Sie die?, fragte der Maler erneut. Früher haben wir immer Kupfermünzen auf den Tisch gelegt, beim Essen, mein’ ich. Das soll auch helfen, was? Lagler hörte alles genau, aber er kümmerte sich nicht darum. Vielleicht stellen Sie ein Glas Bier neben sich, was? Dann trinken sie und fallen dort rein? Lagler hatte eine Wespe mit Daumen und Zeigefinger unabsichtlich gequetscht und sie hatte ihn sofort gestochen. Zefix, murrte er und kratzte sich. Vielleicht ist ihre weiße Hose zu auffällig, was?, meinte der Maler nun besorgt. Da werden sie dann aggressiver, was?
Lagler kämpfte mit der Luft. Der Zigarettenrauch war ihm in die Augen gestiegen. Er kniff ein Auge zu. Aber blasen durfte er nicht, das wusste er, das mochten die Wespen schon gar nicht. Fast hatte er das Nylonsackerl schon um das gesamte Nest geschlungen. Fehlte nur noch der obere Teil. Der da unten ging im auf die Nerven mit seinen dauernden Vorschlägen. Da war die Königin, gut zwanzig Millimeter lang. Die kleineren Drohnen und noch kleineren Arbeiterinnen versuchten sie zu schützen, so gut es ging. Um diese Zeit ernährten sie sich von Weidenblüten. Und davon gab es genug in der Gegend. Ist alles in Ordnung bei Ihnen, was?, rief der Maler hinauf. Jojo, antwortete Lagler nun doch, wenn auch grantig, um seine Ruhe zu haben. Lagler schüttelte den Kopf.
Gleich würde er den Plastiksack oben schließen und das Nest mit der Hand vom Balken abnabeln. Die alte Königin würde im Spätherbst sterben. Danach löst sich ihr Wespenstaat völlig auf. Und wenn der Frost kommt, sterben die letzten heimatlosen Wespen auch. Lagler zog an seinem Zigarettenstummel. Alles würde einmal zu Ende gehen. Auch mit ihm. Zefix, murmelte er. Seine Hand wies dort, wo ihn die Wespe erwischt hatte, eine leichte Rötung auf. Lagler kratze erneut die juckende Stelle. So, jetzt war es so weit. Er schloss den Plastiksack mit der Faust und schickte sich an, die Treppen nach unten zu steigen. Im Nylonsack tobte und toste es bedrohlich. Als er mit seiner gefährlichen Beute unten angekommen war, standen der Maler und seine Frau mit offenem Mund da und kriegten kein Wort heraus. Wou is’ da Wossahaun?, fragte Lagler.
Äh – der – dort! Dort an der Wand, wo die Gießkanne…, stotterte der Künstler. Seine Frau wich vor Entsetzen zurück, als Lagler mit dem tosenden Beutel an ihr vorüberschritt. Er bewegte sich langsam auf die Wasserstelle zu, hob den Sack hinauf und öffnete ihn blitzartig gleich unter dem Wasserrohr. Rasch umschloss seine Faust Nylonsack und Wasserhahn. Besonnen und mit einer Gelassenheit, die das Künstlerehepaar an den Rand äußerster Spannung trieb, drehte er das Wasser auf. Der Beutel füllte sich nach und nach. Wurde dick wie ein Ballon. Das Tosen und Brausen im Sack wurde leiser. Schließlich verstummte es ganz. Nichts regte sich. Eine Schar Spatzen zwitscherten am Dachfirst. Ein paar versprengte Wespen flogen noch eine Zeit lang um Laglers Kopf, änderten aber bald ihre Route und flogen in Richtung Garten davon. Sixtas?, sagte Lagler siegessicher, und fügte ein „zefix“ an. Den Plastiksack verschnürte er mit den beiden Henkeln und meinte, den solle man ruhig hier bis zum Abend so stehen lassen. Erst dann ausleeren. Woraufhin er sich behäbig in Richtung Bodenstiege umwandte und diese ächzend zum Dachboden erklomm. Zefix, hörte man leise von oben.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 16036

 

Vom Stinken und Stänkern

„Du stinkst ja erbärmlich! Hörst du, ich rede mit dir.“
Sie hatte ihr unbekannte Gegenden Wiens auf dem Stadtplan betrachtet, während sie auf die U-Bahn gewartet hatte. In der Station hatte es nach Abfall gerochen.
„Geh dich duschen! Du bist so grindig.“
Hatte der junge Bursche mit ihr gesprochen? Unsicher hatte sie den Kopf zur Seite gedreht und ihn angeschaut. Sein herausfordernder Blick hatte ihr bestätigt, dass er tatsächlich sie gemeint hatte. Die Mädchen neben ihm hatten gekichert.

Jetzt stand sie starr unter der heißen Dusche und imaginierte viele Male, was sie ihm hätte antworten können. Sie hatte versucht, ihn, seine lächerlichen Anschuldigungen und die gackernden Mädchen zu ignorieren. „Du bist gemein“, hatte die eine lachend gesagt.
Sie hatte so getan, als sei nichts gewesen, war stehengeblieben, wo sie war, und hatte ein paar elendlange Minuten auf die vermeintlich erlösende U-Bahn gewartet.
Er hatte noch nicht genug gehabt. „Gott sei Dank kommt die U-Bahn. Ich steige auf keinen Fall in ein Abteil mit der. Die verpestet alles.“ Bei der Vorstellung, sich absichtlich direkt neben ihn zu setzen, hatte sie lächeln müssen. Sie hatte sich nicht getraut.

„Also echt, das war doch arg, oder? Das war sicher sie. Gut, dass sie jetzt nicht mehr da ist.“ Er hatte sich in seiner Rolle als Alleinunterhalter der Mädchen gefallen. Was er dabei von sich gab, war vollkommen nebensächlich gewesen.
„Sie steht da hinten“, hatte eines der Mädchen gemeint. „Dort“, hatte ein anderes gekichert und auf sie gezeigt. „Wo?“, hatte er gefragt.
„Hier“, hatte sie so bestimmt, wie sie nur konnte, gesagt und ihn verächtlich angesehen. Mehr Protest war ihr nicht möglich gewesen. Vollkommen unvorbereitet hatten sie seine Beschimpfungen getroffen. Sie war entsetzt gewesen, wie ungeniert er sich so öffentlich über sie lustig gemacht hatte.
„Schleich dich, du grausige Sau!“, hatte er ihr entgegengerufen.

Sie hatte die Wut in sich hochsteigen gespürt. Wut in Form von ohnmächtigen Tränen. „Der kann dir doch egal sein!“, hatte sie sich einzureden versucht. Den Triumph, sie sichtlich verletzt zu haben, hatte sie ihm keinesfalls zugestehen wollen.
Bei der nächsten Station waren er und seine Begleiterinnen ausgestiegen, nicht ohne ihr noch einige derbe Beleidigungen an den Kopf zu schmeißen.
Der Gedanke, all den fremden Leuten in der U-Bahn zu zeigen, wie sehr sie der Vorfall aus der Fassung brachte, war ihr unerträglich gewesen. „Nur noch zwei Stationen“, hatte sie sich gesagt. Dann hatte sie nachgegeben. Heiße Tränen waren ihr über die Wangen geronnen.

Zu Hause hatte sie ihrem Freund den Vorfall geschildert. Wieder hatte sie es nicht geschafft, ihre Tränen zu unterdrücken. Sie schämte sich dafür, der Freund verstand es nicht. „Da musst du drüber stehen. Der ist doch beschränkt. Stell dir vor, was der erlebt haben muss, um so zu werden. Wenn er sich nur traut, Mädchen, die alleine sind, anzugreifen, ist er echt geistig beschränkt.“

Es lag nicht daran, was er zu ihr gesagt hatte. Seine Vorwürfe waren lächerlich und haltlos. All die Passanten hatten nicht ein einziges Wort gesagt, um ihn zum Schweigen zu bringen oder sie zu verteidigen. Warum auch? Nicht einmal sie selbst wusste sich zu wehren. Sie fühlte sich gedemütigt und entwürdigt. Das warme Wasser der Dusche tat sein Bestes, um diese Gefühle wegzuspülen.

Judith Wiesauer

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Das Examen

Es war bei Gott kein Tag für eine Prüfung. Der Störungseinfluss hatte weiter zugenommen. An der Alpennordseite war es seit Tagen schon bewölkt mit zeitweisem Schneefall. Morgen sollte es noch schlimmer kommen. Das nasskalte Wetter machte Rheumatikern ohnedies schon genug zu schaffen. Kurt quälte sich die Treppe zur Universität hoch, seine fertige Diplomarbeit, gebunden, in dreifacher Ausfertigung, unter den linken Arm geklemmt. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.
Die ganze Nacht über hatte er sich unruhig im Bett gewälzt, Fragen, die er sich selber stellte, beantwortet. Und immer dann, wenn er beinahe schon eingenickt war, schreckte er wieder hoch. Da stand er vor ihm. Hoch aufgerichtet, mit schütterem Haar über dem roten, aufgedunsenen Gesicht, die Hände am mächtigen Körper schlapp hinunterhängend, schwer atmend, Professor Lot. Nein, nur in seiner Fantasie. Ein Albtraum. Kurt zog sich erneut die Decke über den Kopf. Irgendwann musste er dann doch eingeschlafen sein, sagte er sich.

Aber jetzt, ja, jetzt sollte es ernst werden. Mit seiner ganzen Kraft schob er die schwere Glastüre zum Eingang auf, dann durch die Aula, Stiege fünf, links. Sein Herz schlug wie ein Hammerwerk. Sollte er den Lift nehmen oder die Treppe? Besser die Treppe. Was wäre, wenn der Lift wieder steckenblieb, so wie neulich? Ganze zwei Stunden war er zusammen mit einer Sekretärin Gefangener zwischen Himmel und Erde. Eine durchaus nette Vorstellung, die Dame war weit über fünfzig und brachte gut und gern an die hundert Kilo auf die Waage. Vielleicht war ihr Gewicht der Auslöser für den Defekt gewesen? Ja ja, dachte er, jeder ist, wie er ist.
Kurt verdrängte die Erinnerung an dieses ungewollte Abenteuer. Nun war er bereits oben angelangt. Welches Zimmer? Mein Gott, welches Zimmer? Wo ist denn der verdammte Zettel? Kurt kramte aufgeregt in seiner Manteltasche. Die Hausschlüssel, Taschentuch, Zehn-Cent-Münze. Verflucht! Dann eben in der anderen. Ja, da vorne musste es sein, das Zimmer 411. Das Sterbezimmer, dachte Kurt. Das Schicksalszimmer würde es sein. Ja, er wusste es. Er hatte es immer schon gewusst. Und er würde darin aufgebahrt. Mit Kerzen, links und rechts von ihm.

Mein Gott! Die ganze Sache wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er hätte sich nie auf diesen Prüfer festlegen sollten. Hätte ja genug andere gegeben. Warum war er nicht einfach zum Knoll gegangen? Der Knoll, das war ein friedlicher Mensch. Berechenbar, nett. Und nicht so ein Kapazunder wie dieser Lot! Über die Lande hinaus bekannt. Der konnte ja jede Menge Diplomanden haben. Konnte sich seine Leute aussuchen, musste nicht jeden nehmen. Warum hatte er gerade ihn genommen, fragte sich Kurt? Lot kannte er von einigen seiner Vorlesungen. Aber Kurt war dem sicher nie sonderlich aufgefallen.
Warum musste er sich gerade bei dem anbiedern? Manno! Aber Lots Vorlesungen hatten ihm gefallen, weil sie so erfrischend waren, so neu. Vermittelten irgendwie ein weites Umfeld. Um den rissen sich alle, klar, weil das, was er sagte, anerkannt war, Gewicht hatte, Kompetenz und so. Der war eine Koryphäe! Aber er, Kurt, war eben bloß Durchschnitt, und das wussten sie beide, Lot und Kurt selbst.

Doch jetzt war es zu spät. Das hättest du dir früher überlegen müssen, haderte Kurt mit sich und zählte die Zimmertüren. Ach, würde doch nie die Zahl 411 kommen. 405, 403, 402, verdammt, die falsche Richtung. Kurt hetzte zurück, bog um die Ecke. Scheiß Uni! Da vorne, da war es ja. 409, 410, oh mein Gott, bitte hilf mir jetzt, dass ich das überleb´! 411! Kurt war atemlos. Bis zum Hals schlug sein Herz, stotterte manchmal, hatte kleine Aussetzer. Das ist normal, das hatte ich immer schon, beruhigte er sich. Er hob den rechten Arm, wollte anklopfen, hielt plötzlich inne, den Zeigefinger schon gekrümmt, abgewinkelt, bereit, ihn als Türklopfer einzusetzen.

Was hatte er wegen diesem Lot nicht schon alles durchgemacht, ha! Der Dativ ist des Genitivs Tod, fielen ihm dessen Worte wieder ein. Das war dem Lot seine Vorlesung! Ach was! Als er begonnen hatte, die Diplomarbeit zu schreiben, war ausgemacht, er lieferte ihm wöchentlich so fünf bis acht Seiten. Das hatte er auch getan. Lot hatte sie jedes Mal wohlwollend in Empfang genommen und Kurt gelobt. Gut, gut, hatte er immer gesagt. Machen Sie das so weiter. Vielleicht ändern Sie dies und jenes, hatte er manchmal angefügt. Ob er die Zitate am Fußende so lassen könne, hatte Kurt gefragt. Natürlich, lassen Sie die so, hatte Lot geantwortet. Danach war Kurt wieder sich selbst überlassen. Wühlte in unzähligen Büchern in der Fachbibliothek, saß stundenlang in der Mensa bei einem oder zwei Kaffee, kopierte, exzerpierte, redigierte und inhalierte eine Zigarette nach der anderen.

Weihnachten stand kurz vor der Tür. Dies bedeutete drei Wochen ohne Betreuung. Beinahe als wenn … was ist, wenn dein Psychiater auf Urlaub fährt? Kurt fragte sich, das gibt´s nicht, oder? Wie, wie sollte er denn ohne ihn auskommen? Ohne diesen Lot! Womöglich ist er mit dem, was ich da zusammenschreibe, nicht zufrieden. Dann kann ich die ganze Scheiße noch mal von vorne machen! Im Feber würde die Prüfung sein. Bis dahin musste Lot seine Arbeit korrekturgelesen haben, sie dem Zweit- und Drittprüfer übergeben haben und und und!
Das ginge sich doch nie aus! Kurt war verzweifelt. Dann wäre das Stipendium auch futsch und er müsste arbeiten. Ja, arbeiten! Man würde irgendeinen Job finden. Ja, doch. Sicherlich. Irgendeinen Job würde er schon finden. Geschirrspülen in der Mensa oder so. Oder dort an der Kassa sitzen. Er kannte den Mensa-Chef flüchtig. Ein verkrachter Medizinstudent im Gott weiß wievielten Semester. Musste auch jobben. Na und? Irgendwann würde man schon damit fertig sein. Im schlimmsten Fall könnte man noch einmal antreten.

Da war dieses Zimmer 411! Kurt hielt sein Ohr näher an die Tür. Sie waren schon da. Verdammt! Die Professoren waren drinnen. Er konnte die Stimmen zweier Männer hören. Ob das Lots Stimme war? Kurt war sich nicht sicher. Die andere kam ihm vertraut vor. Natürlich, Professor Wendelin, sein Zweitprüfer. Vielleicht hätte er sogar bei dem schreiben sollen? Allemal besser als beim Lot. Oder doch beim Knoll? Scheiße! Jetzt war es doch egal! Hauptsache, es ging rasch vorüber.
Hoffentlich stellten die anderen keine unangenehmen Fragen, durchfuhr es Kurt. Der Wendelin würde nicht so schlimm sein, aber wer war der dritte? Die Meier, die alte linke Lesbe? Bitte nicht, die fehlte ihm gerade noch. Kurt atmete tief durch. Die Beine wollten versagen. Aber dann - dann klopfte er vorsichtig. Nichts. Sollte er noch einmal? Keine Reaktion. Noch einmal, poch poch poch. Bloß nicht zu laut. Wer weiß, vielleicht kreideten sie ihm an, dass er sich so aufdrängte? Konnte ja sein.

Bei Professoren wusste man nie, wie sie reagieren. Einmal hat einer eine Studentin während eines Seminars zur Sau gemacht, vor allen anderen, bloß weil sie auf die Toilette gegangen war. Ob sie ihren Stoffwechsel nicht in der Pause erledigen könnte, hatte er ihr ins Gesicht geschleudert. Als ob man noch auf der Schule wäre! Kindergartenallüren! Nahm sich nicht einmal die Mühe, hochdeutsch zu sprechen. Do hot der Mann ihm das Buch gebroocht (sic!), hatte er einmal gesagt.
Die Studenten haben gelacht, besonders die Deutschen. Wie kann so einer auf der Germanistik sitzen, haben sie gefragt und sich gewundert. Überhaupt gab es dort die witzigsten Typen unter den Professoren. Einer, der während seiner Vorlesungen ständig ins Libretto abgerutscht war, sobald er sich im Biedermeier und der Romantik befunden hatte, war Professor Keller. Ein Beau. Ein Original! Und optisch doch ein Klon - Mittelding aus Charlton Heston und Maximilian Schell. Aber - ein Mann des Librettos. Ja, das Libretto, seine Leidenschaft.
Als er wieder einmal abglitt, ins seichte Fach der Musen, begannen einige Studenten in Trichter zu blasen, die Tischtrommel zu rühren und den Bariton zu mimen. Eine Sage machte seit seither unter den Hörern die Runde, dass jene ihm während dieser Vorlesung eine regelrechte Kapelle ausgerichtet hätten, mit Topfdeckeln als Tschinellen und Trichtern als Trompeten und nebenbei allerlei Schlagwerk und vielstimmigen Gesang. Daraufhin hatte Keller die Vorlesung abgebrochen und diejenigen unter ihnen aufgefordert, die vorhätten, ernsthaft zu studieren, ihm ins naheliegende Café zu folgen, wo er seinen Vortrag fortzusetzen gedachte. Die Kapelle eskortierte ihn und die Studierwilligen artig bis vor die Pforten der Restauration. Allein der Oberkellner verweigerte deren Eintritt energisch. Ob das alles so stimme, wusste Kurt nicht. Trotzdem, es hatte ihn stets amüsiert. Doch das war jetzt nicht von Belang.

Als Kurt zum dritten Mal anklopfen wollte, öffnete sich plötzlich die Türe und vor ihm stand Professor Wendelin. „Ach, Sie sind´s! Na, da haben wir aber heute ein Pech. Soeben hat uns der Kollege Lot angerufen, dass er heute nicht kommt, weil er krank ist. Tut leid“, fügte er hinzu. Was war das? Der Lot ist heute krank, an seinem Prüfungstag? Ja, ist das denn die Möglichkeit? Kurt traf beinahe der Schlag! „Ja, aber aber“, stotterte Kurt, „wann, also wann muss ich denn dann…?“ „Machen Sie mit ihm einen neuen Termin aus, Herr Kollege“, sagte Wendelin beinahe väterlich, „irgendwann wird er ja wieder gesund werden, nicht wahr? Wie gesagt, heute, tut leid!“ Mit dieser kümmerlichen Phrase ließ er Kurt am Korridor stehen und schloss die Türe hinter sich.
Kurt stand da, verstand die Welt nicht mehr, während die Gedanken in seinem Gehirn Purzelbäume schlugen. Alles vergebliche Mühe, dachte er. Ich werde verrückt! Die schlaflose Nacht! Das ganze Hin und Her! So eine verdammte Scheiße!,  und verließ die Universität auf kürzestem Wege.

Vier bange Wochen waren vergangen, als Kurt zum neu ausgemachten Termin seiner Diplomprüfung eilte. Das Wetter war um nichts besser als beim letzten Mal. Doch diesmal sollte das Prüfungszimmer im Parterre sein.
Naja, wenigstens eine kleine Erleichterung, dachte Kurt und eilte durch die engen Gänge. Sein Herz, wie sollte es anders sein, raste ebenso wie damals. Die Beine wollten wie immer versagen. Der Mund war ausgetrocknet wie eine Zisterne in der Wüste Gobi. Vielleicht war er wieder krank, der Lot? Vielleicht war was mit seinem Blutdruck? Weil er immer so rot war? Vielleicht war er sogar überraschend verstorben? Alles wäre ihm recht gewesen. Bitte, lieber Gott, hab Erbarmen!
Doch diesmal fand er die Türe gleich beim ersten Anlauf. Scheiß Uni, wie üblich, durchfuhr es ihn, und oh mein Gott, bitte hilf mir jetzt, dass ich das überleb‘!, flüsterte er wie gewöhnlich. Er war atemlos. Bis zum Hals schlug das tapfere Herz, stotterte manchmal, hatte kleine Aussetzer, wie immer, nichts Neues bei Kurt. Alles normal, habe ich immer, sagte er sich. Da! Da vorne, da musste es sein.

Diesmal zögerte er nicht und klopfte, todesmutig, gleich. Eine harsche Stimme rief schnarrend herein. Kurt wurden die Knie noch weicher. Sein Darm wand sich verdächtig und vom Magen her stiegen ihm heiße Wallungen auf. Ach du große Scheiße! Alle waren sie da, der Lot mit dem roten Gesicht, nein, nicht tot. Der Wendelin und die Dritte, wie er es geahnt hatte, die linke Lesbe, die Meier. Kurt stand da wie angewurzelt. Sein Unterhemd war pitschnass, und man hatte noch nicht einmal begonnen, ihn zu foltern. Lot stellte seinen Prüfling vor und bat ihn, Kurt, möglichst kurz über seine Arbeit zu sprechen, um sie den anwesenden Kollegen in den Grundzügen vorerst einmal vorzustellen.

Jetzt ist es so weit! Jetzt filetieren sie dich, dachte Kurt. Er stotterte etwas von er hätte wenig Zeit gehabt die letzten Wochen und so weiter und wolle sich bemühen, eine Zusammenfassung der Arbeit vorzustellen. Zunächst beleuchtete er das Thema von den klassischen Wurzeln her, leitete dann etwas zittrig im Ton zu den theoretischen Schriften im 19. Jahrhundert über und stellte schließlich fest, dass es bemerkenswert sei, dass die Vermengung der rhetorischen und sprachlichen Formen seit der Antike nachweisbar und eine ziemliche Dehnungsbreite im heutigen Sprachgebrauch aufwies. Es wäre gut, winkte Lot ab.
Nun wetzten sie die Messer. Kurt spürte die Einstiche, noch ehe sie die Klingen angesetzt hatten. Die beiden anderen Prüfer, die bisher keine Fragen gestellt hatten, nickten wohlwollend und reichten Lot ihre vorher erhaltenen Exemplare von Kurts Diplomarbeit. „Ich werde Sie nun noch etwas anderes fragen“, sagte Lot dann, und Kurt stieg die heiße Wallung aus der Magengegend erneut nach oben. Was will er denn noch, fragte er sich erschrocken? Ich weiß doch gar nichts mehr!

„Erzählen Sie uns etwas über das Verb. Was gibt es denn da alles?“ Scheiße, durchzuckte es Kurt, der prüft Grammatik. Aber davon war doch nie die Rede, verdammt! In Grammatik bin ein Trottel, dachte er. „Das Verb, also es gibt..“, stotterte Kurt. Lot, mit hochrotem Kopf, seinetwegen?, dachte Kurt,  zog Dackelfalten auf der Stirn. „Nun, Sie werden doch etwas über das Verb wissen, nicht wahr?“, bohrte Lot. „Wer regiert denn eigentlich den Satz, wissen Sie das vielleicht?
Kurt schwitzte. Er rutsche unruhig auf seinem Stuhl umher und dachte fieberhaft nach. „Das, den Satz, der, den Satz regiert, äh, das Substantiv“, würgte er gebrochen heraus. Zack! Blöder hätte es nicht kommen können. Was hatte er da gesagt? Er wollte das doch gar nicht. Es war ihm plötzlich so herausgerutscht.
Die Prüfer sahen sich an. Was für Blicke! „Was reden Sie denn da zusammen?“, grantelte Lot und sein Gesicht wurde noch roter. Kurt dachte immer, farbliche Adjektiva ließen sich nicht steigern. Er wollte in einem Mauseloch verschwinden.

Eine Frage folgte der anderen, Kurt wand sich wie ein Wurm. Doch man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, er hatte ja doch keine Ahnung von der Materie. Raunen im Professorium. Dann fragte Lot vorwurfsvoll: „Haben Sie nicht auf meine Homepage gesehen? Dort steht, was ich im Allgemeinen so verlange.“
Nein, hatte er nicht, hätte er ihm ja sagen können, Mann! Schließlich hatte er noch drei Tage vor Abgabetermin verlangt, die Zitate aus allen Seiten unten zu löschen und im Anhang zu bringen, und das, nachdem er jedes einzelne Blatt schon seit Oktober gesehen und korrigiert hatte. Das ganze Programm war zusammengebrochen. In drei Tagen schrieb Kurt alles noch einmal. Wäre etwas dabei gewesen, wenn er ihm gesagt hätte, he, Sie, werfen Sie mal einen Blick auf meine Homepage. Dort steht, was Sie für die mündliche Prüfung brauchen, oder? Wäre das zu viel verlangt gewesen?

Und dann fiel das Messer des Schafotts. Es kam, wie es hatte kommen müssen. Zack! „Also, das ist zu wenig, Herr Kollege“, sagte Lot enerviert. Man wird doch noch so etwas fragen dürfen,  heutzutage, nicht wahr? Kommen Sie im Juni wieder.“ Schwarz! Kurt wurde es schwarz vor Augen. Er hörte und sah nichts mehr. Wie ein Blitz hatte ihn die Nachricht getroffen. Das war´s. Aus! Ende! Verschissen! „Tut leid“, flüsterte der Knoll und grinste. Die linke Lesbe verzog keine Miene, stand auf und ging, ohne sich zu verabschieden. Kurt erhob sich wie in Trance, grüßte artig, wenigstens das funktionierte bei ihm wie bei einem Roboter, nahm seine Sachen und verließ den Raum mit einem leisen „Auf Wiedersehen“ auf den Lippen.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 15117

Schwarz/Weiß

Erdrückt in der Ecke
Sonne scheint seit Tagen
Gesichter wirken leer
Warmer Wind singt Lieder von einer besseren Zeit
Kalte maschinelle Bewegungen
über ein Pult wird mir die SV- Karte gereicht

Telefongespräche sind mit dir sehr angenehm und sie beruhigen
müde Augen vermögen seit Tagen keine Seite mehr lesen

Ein schönes Gesicht hast du
kann es dir aber im Moment nicht sagen
deswegen blicke ich dich an
Wohlstand und Kohle sind ein Witz
den Jackpot noch immer nicht geknackt

Ein Meer aus Strom begleitet mich durch den Regenbogen
Rechnungen sind alle bezahlt
nur das Pfarrblatt liegt im Postkasten

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen …| Inventarnummer: 15104

Eine Freitagsgeschichte

Der Freitag ist der Tag des Fisches und ich möchte darüber erzählen. Nun lebe ich weder an der Ostseeküste noch habe ich die sieben Weltmeere durchstreift. Nicht einmal ein Fluss steht mir besonders nahe, in dem Fische zu Hause sind. Meine Begegnung mit Fischen ist ganz anderer Art. Ich stamme aus einem Kramerladen und meine Mutter war die Kramerin. Die einen nannten sie Kuni, andere wieder Kunerl. Die kannten sie schon aus ihrer Kindheit. Ich fand das immer seltsam, wenn man sie so verniedlichend ansprach, denn das passte überhaupt nicht zu ihrem Wesen. Trotz ihrer Einfachheit besaß sie bis ins hohe Alter eine innerer Größe, vielleicht sogar etwas Aristokratisches, freilich im guten Sinne. Aber das ist eine eigene Geschichte.

Die Kuni war also die Kramerin und stets bemüht, ihren Kunden besondere Waren in das dörfliche Einerlei zu bringen. So bot sie feinste Angorawolle an und Büstenhalter in allen Größen, aber auch Zigarren, deren Marke mir entfallen ist. Sie müssen aber etwas Besonderes gewesen sein, weil sie nur der Friseur gekauft hat, der immerhin während seiner Jugend in Berlin Haare geschnitten und dort einiges an feiner Welt miterlebt hat, was aber im Dorf keinerlei Wertschätzung erfuhr.
Auch die Zigarettenmarken „Salem ohne“, im grünen Päckchen, und „Mokri“, im gelben, zählten zum exquisiten Warenangebot. Erstere rauchte mein Vater, und zwar zwei Schachteln täglich, was mich zum Nicht-Raucher machte. Mokri rauchte sein Jugendfreund, ein Kriegsheimkehrer aus russischer Gefangenschaft. Leider oder Gottlob kennt man diese Zigaretten heute nicht mehr. Sie bilden aber einen erheblichen Teil meiner Kindheitserinnerungen.

Neben derartigen Luxusgütern gab es im Laden natürlich auch Dinge des täglichen Gebrauchs, wie Rasierklingen und Palmoliv-Rasierseife sowie Lebensmittel aller Art. Während der Wintermonate waren die Bratheringe der Firma Anker sehr beliebt. Die rote runde Dose mit der mutig geschwungenen Aufschrift in gelb stand direkt an der Budl, wie wir den Verkaufstisch nannten. Alle im Dorf liebten den Anker-Brathering. Besonders die Leute von den Einöden gönnten sich am Wochenende einen, meistens nach der Freitagsbeichte, die sie übrigens noch im Laden mit meiner Mutter nachbesprachen, was ich hinter den Regalen verborgen und mit Babykleidung spielend mit Interesse verfolgt habe. Diese Gespräche haben wesentlich zu meiner Lebensfähigkeit beigetragen. Allerdings muss ich hinzufügen, dass sich mir vieles aus diesen Beichtgesprächen erst später und oft viel später erschloss. Aber nun zurück zu den Bratheringen, die am Freitag nach Beichte und Buße gekauft wurden.
Die frisch geöffnete Dose ließ ihren Duft entströmen, der den Kunden verführerisch in die Nase stieg. Der Essiggeruch löste sofort die herrlichsten Gelüste aus. Verstärkt wurde die Begierde noch durch das ansprechende Bild, das sich dem Betrachter beim Blick in die Dose bot. Die braune ölige Flüssigkeit wurde von oben schwimmenden Lorbeerblättern und Wacholderbeeren bekrönt, sodass die Heringe ihren letzten Weg in betörender Lake antreten konnten. Kaum einer widerstand dem aufsteigenden Duft und dem Anblick der schwimmenden Fische, sodass die Dose mit den fünfzig Stück bald leer war. Was meine Mutter mit Stolz erfüllte, und sie entweder die nächste öffnen ließ oder eben nicht, und dann die Leute darben mussten. Manch Verfressener sollte nicht jeden Freitag einen Brathering haben und ruhig mal eine Woche auslassen, das schade gar nicht. Und meine Mutter nahm sich jederzeit die Freiheit zu sagen, dass die Bratheringe ausverkauft seien oder die letzten am Dosengrund bereits bestellt. Die von den Einöden und Dörfern sollten auch noch einen Fisch bekommen. Da war die Kuni absolut konsequent. Verärgert zogen die Zurückgewiesenen ab. Sie hatten ja auch keine andere Möglichkeit, sie mussten in der nächsten Woche wiederkommen, weil es sonst nirgends Anker-Heringe gab. Die Konkurrenz bot nur „Unser Fisch“ an, der wesentlich billiger war, aber geschmacklich überhaupt nicht an „Anker“ herankam.

Lieferant war ein gewisser Herr Sabrowsky, ein Heimatvertriebener mit schlesischem Akzent und Glatze, der bereits in seiner Heimat mit Fischen gehandelt hatte und als Kenner galt. Ich weiß nicht, ob dieses Schlesien am Meer gelegen ist. Auf jeden Fall belieferte Herr Sabrowsky, ein feiner Herr mit guten Manieren, der offensichtlich bessere Zeiten gekannt hatte, meine Mutter mit Vorzug. Er brachte gewissermaßen die große untergegangene Welt dieses Schlesien mit seinen Fischen zu uns in den Laden und ins Dorf. Alles an Herrn Sabrowsky war fremd, nicht nur sein Name und seine Sprache. Er war so vornehm und freundlich und immer in Eile und behandelte meine Mutter stets wie eine Dame. Das alles befremdete mich und ich hoffte immer, dass er mich nicht ansprechen möge, was er auch meistens nicht tat. Dieser fremde Mann also brachte die exotischen Bratheringe der Güteklasse A. Er fühlte sich aber auch selbst so fremd und verließ deshalb möglichst schnell wieder unseren Laden. Heute glaube ich, dass er ein sehr trauriger Mensch war und hinter dem Fischhandel seinen Kummer versteckt hat. Trotz der gut gehenden Geschäfte ist er nie heimisch geworden. Der Bayerische Wald war einfach nicht Schlesien.
Herr Sabrowsky verfügte auf jeden Fall über einen exquisiten Qualitätsgeschmack, außerdem kannte er die besten Grossisten und lieferte zuverlässig. Ein Geschäftsmann mit Ehre. Am wichtigsten für die Kuni war aber, dass er allein sie im Dorf und der näheren Umgebung belieferte. So war sie außer Konkurrenz. Das war ihr auch immer ein kleines Geschenk in Form von Zigaretten oder einem original Arnschwanger Brotlaib aus der Backstube meines Onkels wert.

Die Kunden, die einen Brathering kauften, hatten meist ein Geschirr dabei, in das der Fisch mithilfe eines gelben oder orangen Plastiklöffels umgebettet wurde. Ganz vorsichtig natürlich, er musste ja ganz bleiben. Wenn das Gefäß zu schmal war, blieb dem Brathering nichts anderes übrig, als auf dem Kopf stehend in Schräglage auf den Esstisch der Kunden transportiert zu werden.
Manche wollten viel Soße, andere wieder wenig, und manche nahmen gleich drei Fische. Es gab auch Kunden, meist waren es Männer, die sich eigentlich nur Zigaretten kaufen wollten, dann aber durch den Essigduft verführt, nicht mehr widerstehen konnten und einfach sagten: „Kuni, gib mir einen Hering.“ Mangels Geschirr musste der Hering manchmal völlig unwürdig, wie ich fand, in eine Plastiktüte verfrachtet werden. Damit er sich nicht gar so verraten und verloren fühlte, erhielt er auch noch etwas Soße und schaukelte an der Hand seines künftigen Verzehrers heim, wo er hoffentlich noch in einen Teller umgebettet wurde, ehe er verspeist und verdaut wurde.
Weil das Geschäft so prächtig lief, bedankte sich die Kuni alljährlich mit einem Weihnachtsgeschenk bei ihren Kunden, einem Plastikbecher in verschiedenen Farben. Orange, Gelb und Grün waren damals modern. Diese Becher brachten die Leuten zum Bratheringkauf mit und sie erinnerten noch lange in den Haushalten an den Kramerladen, auch als es ihn nicht mehr gab.
Meine Familie liebte natürlich auch Bratheringe, aber es gab nicht immer welche zum Essen. Die Kunden gingen vor. Hin und wieder blieb aber einer übrig. Ich habe auf jeden Fall so viele gegessen, dass mir der Geschmack auf ewig eingeprägt bleibt.

Herr Sabrowsky vertrieb auch andere Fischkonserven, wie etwa den wesentlich billigeren Sulzfisch, der einen, zu Quadraten geschnitten, mit seinem Karottenauge anstarrte. Manchmal gab es auch geräucherte Fische, die sehr teuer waren und rasch verkauft werden mussten. Meine Mutter plagte immer die Angst, auf den Räucherfischen sitzenzubleiben und viel gutes Geld zu verlieren. Ich glaube aber, dass ihre Sorge unbegründet gewesen ist. Diese Fische gab's nur selten, vor den Weihnachtsfeiertagen und später auch am Karfreitag, wenn es kalt genug war. Sie blieben etwas Besonderes und der Herr Sabrowsky pries sie zudem als etwas Seltenes an. So sollte es auch sein.
So feine Sachen isst man eben nicht alle Tage!

Mich haben an den Räucherfischen immer die Gräten gestört. Das Essen war unheimlich anstrengend, und es gab ja auch die vielen Geschichten von fastenden Mönchen, die beim Verzehr eines Fisches an einer Gräte erstickt oder in letzter Sekunde durch Gottes Hilfe gerettet w orden waren. Für mich war der Räucherfisch nichts. Es fehlte auch die Soße, die einfach zum Fisch dazugehört.
So hat sich mir der Brathering in der roten 50-Stück-Dose als Freitagsessen eingeprägt. Die leeren Dosen waren übrigens unheimlich begehrt, weil sie sich als Futternapf für die Gänsezucht hervorragend eigneten. Meine Mutter führte Listen, wer die nächste leere Dose für die Gänse bekommen sollte, welche für Sankt Martin und Weihnachten großgezogen wurden. Die haben mir aber nie geschmeckt.

Claudia Kellnhofer
www.bitterlemonverwunderung.de

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 15001

Erwarten können

Auch heute wurde Mathilda wieder der hübsche kleine Ecktisch zugewiesen. Von dort bot sich der beste aller Ausblicke auf die blassgrünen Kupferdächer der Altstadt Salzburgs. Kleinere und größere Grünspanflächen hier und dort glänzten ihr an diesem nasskalten, späten Winternachmittag entgegen. Die Dächer spektakulär überragt vom barocken Dom, und all das dominiert von der imposanten Festung.

Sie hatte sich hübsch gemacht, ihr festliches kirschrotes Jerseykleid brachte Rundes auf schmeichelhafte Weise zur Geltung. Sie trug es nicht oft, denn meist war die Farbe stärker als sie selbst. Sie wählte das Kleid also nur, wenn sie dem Rot Kontra geben konnte. Etwa durch jene seltenen Gefühle von Ausgelassenheit und Übermut, die zu bündeln ihr in jungen Jahren gut gelungen war. Heute war dem Rot aber auch beizukommen, mit ausgeprägter Gemütsruhe nämlich. Genau so ein Tag war heute, mit innerer Balance bot sie dem Rot die Stirn.
Mathilda blätterte nahezu erwartungsvoll in der Getränkekarte, als ob diese heute ein gänzlich neues Angebot für sie beinhalten könnte.
Der Oberkellner näherte sich ihr nach einigen Minuten:
„Möchten Sie bestellen, gnädige Frau, oder warten Sie noch auf jemanden?“
„Ja, ich warte. Aber ich würde dennoch gerne bestellen.“
Das Lokal war gut gefüllt an diesem späten Nachmittag. Die kleinen Tische waren fast ausschließlich mit jeweils zwei oder drei Personen besetzt, darunter viele, die Mathilda als Touristen zu erkennen meinte. Seine exponierte Lage hoch über der Salzach verschaffte dem Café im Dachgeschoß eines Hotels die Nennung in vielen Reiseführern.
Der Kellner stellte einen Gin Tonic auf Mathildas Tisch und machte dabei eine angedeutete Verbeugung.
„Ich habe mir erlaubt, ein kleines Stück Limette zu ergänzen. Und wenn Sie mir die Bemerkung gestatten: Eine Dame wie Sie sollte man keinesfalls warten lassen.“
Sein Gesicht blieb dabei seltsam entspannt und er lächelte sie offen an.
Mathilda erwiderte überrascht: „Danke sehr, schon gut. Aber ich warte gern. Noch dazu bei dieser prächtigen Aussicht.“
Er nickte und meinte zustimmend: „Ja, wir alle haben gelernt zu warten, schon als Kinder, auf die Ferien, auf das Christkind, auf die Geburtstagsfeier. Der Sehnsucht war man ja recht hilflos ausgeliefert. Es war richtig schwer zu warten. Aber es hat die kindliche Vorfreude nicht getrübt.“
Mathilda antwortete freundlich: „Tja, so war es. Aber mittlerweile habe ich einen langen Atem. Man lernt schließlich dazu, die Leerläufe im Alltag mit Gleichmut hinzunehmen: bis der neue Badezimmerschrank geliefert wird, der PC hochgefahren ist, oder der träge Aufzug zu diesem Terrassencafé endlich eintrifft.“

Mathilda fühlte sich hier wohl. Sie aß ein Paar Frankfurter mit Senf und Kren und trank ein Seidel Bier dazu. Danach genoss sie die Stille im Warten und das Nichts-zu-tun-Haben. Sie sah von ihrem Tisch aus durch die großflächigen Fenster auf die beleuchtete Stadt hinunter. Und sie hatte ausreichend Zeit, die Kirchen der Stadt einzeln auszumachen und mit ihrem Blick dem Verlauf der weihnachtlich beleuchteten Gassen zu folgen. Dann gab ihr Smartphone ein kleines Signal und sie hatte Zeit, eine Nachricht ihrer Tochter, die in München lebte, in aller Entspanntheit zu beantworten.
Aus dem Nebenraum kommend, trug der Kellner einen Aschenbecher voller Zigarettenstummel an ihr vorbei, auf die Mathildas Blick fiel. Er bemerkte es und flüsterte ihr zu: „Schlechthin das Synonym fürs Warten.“
Er blieb kurz stehen und sinnierte laut weiter: „Und es ist beileibe nicht immer Sehnsucht, die das Warten so schwer macht. Oft ist man dabei auch voller Furcht, beim Warten auf ein Prüfungsergebnis, auf den Pannendienst, die Polizei, auf Asyl in einem friedlichen Land.“
Mathilda setzte fort: „Ja, oft ist die Furcht existenziell beim Warten auf eine Diagnose, eine Spenderniere, auf Regen bei Dürre, auf den Wasserhöchststand bei Überschwemmung.“
Er wirkte bestürzt angesichts der genannten Beispiele: „Menschen warten praktisch immer auf bessere Zeiten, auf die große Liebe, das Glück.“
Sie erzählte: „Ich fragte mich als junge Frau oft: Wann beginnt endlich das richtig schöne Leben, jetzt wo ich so viel abgenommen habe?“
Er lachte und sagte: „Oder das Warten auf Antwort von dem Mädchen, in das ich mich als Jugendlicher verliebt hatte – das war schwerer zu ertragen als die spätere Erkenntnis, dass sie mich gar keiner Antwort für würdig hielt.“
Mathilda sah den Oberkellner erstaunt an, als dieser verschwörerisch fortfuhr: „Und nicht zu vergessen, das Warten auf meine Frau, bis die sich endlich für die richtige Theatergarderobe entschieden hat.“

Er entfernte sich zügig Richtung Küche und Mathilda konnte gerade noch sehen, dass kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn glänzten. Die Arbeitskleidung war hochgeschlossen, die bodenlange dunkle Schürze sah zwar professionell aus, musste aber unpraktisch sein, so mutmaßte sie. Kellnern war harte Arbeit, viele Gäste blieben nur auf ein Getränk, die Tische wurden etwa halbstündlich neu vergeben, es wurde bestellt und serviert und kassiert, alles mit ausgesuchter Höflichkeit und dennoch hielt der Oberkellner immer wieder einmal auf einem seiner Wege bei Mathilda an (oder schlug sogar einen kleinen Umweg über ihren Tisch ein), um ihr gemeinsames kleines Gespräch über das Warten fortzuführen. Sei es auch nur mit einem Satz, dem sie aus Zeitmangel ihres Gesprächspartners manchmal gar nichts entgegnen konnte:
„Das Gefühl, wenn der Installateur nicht und nicht daherkommt.“
Eine Viertelstunde später: „Hatten wir eigentlich das banale Wartezimmer schon? Und den Zug? Auf Bahnsteigen steht die Zeit ja oft scheinbar still.“
Nach dem Abservieren am Nebentisch: „Vom endlosen Warten auf den Sommer ganz zu schweigen.“
Nach dem Abkassieren einer aufwändig zu teilenden Zeche einer Gruppe nervöser Touristen murmelte ihm Mathilda zu: „Nicht zu vergessen das Warten auf den Zahlkellner.“
„Oh, Sie wollen doch nicht etwa schon gehen, gnädige Frau?“ Er wirkte müde, es war 23 Uhr.
„Nein, nein, aber ich hätte noch gerne ein Kännchen grünen Tee, bitte, wenn Sie so nett wären.“

Das Warten war für Mathilda heute kein unliebsamer Zustand. Sie fühlte sich nicht passiv oder einer Langeweile ausgesetzt, sondern es ermöglichte ihr auf eine entschleunigte, fast poetische Art, in sich selbst hineinzuhorchen und rückwirkend das nun schon fast vergangene Jahr zu betrachten.
Da sah sie den Oberkellner, der mit dem Tee auf sie zusteuerte und ihr beinahe keck zuraunte: „Und erst das Warten auf die eine Gelegenheit!“
Er entfernte sich beinahe triumphierend angesichts ihres verdutzten Blicks.
Als die gewaltigen Glocken des Domes begannen, mit ihrem mahnenden Geläut zur Mette zur rufen, ging sie kurz auf die Terrasse. Diese Glocken luden nicht froh zum Feiern, nein sie forderten vehement die Disziplin zum Kirchgang ein. Und diesem übermächtigen Klang war nichts hinzuzufügen oder entgegenzusetzen, er erfüllte den Raum und die Zeit aller, egal ob katholisch oder nicht.

Das Lokal hatte sich inzwischen geleert und die mitternächtliche Sperrstunde nahte. Der Kellner sah auf seine Armbanduhr und löste seine Arbeitsschürze, während er – abwechselnd mit Mathilda – heiter und zusammenhanglos die eine oder andere Wartesituation aufzählte.

Plötzlich fasste Mathilda den Kellner spontan am Arm, er drehte sich überrascht zu ihr und folgte ihrem Blick durch das große Fenster hinaus auf die Terrasse.
„Oh, sieh nur, jetzt ist er da, der Schnee! Er kommt stets nach Belieben einfach irgendwann. Oder man wacht auf, und er ist plötzlich da, über Nacht.“
„Oder man rechnet nicht mit ihm, bis dich plötzlich jemand an der Schulter fasst und aus dem Fenster deutet. Aber jetzt komm, meine Liebe, lass uns nach Hause gehen, Zeit für unser Weihnachten. Ich möchte jetzt wirklich gerne meine Beine hochlegen. Wir haben doch noch die gestern angebrochene Flasche von dem guten Rotwein? Und Hunger habe ich auch. Wie schön, dass du auf mich gewartet hast.“

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 14080