Schlagwort-Archiv: auszugsweise

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Gedankenkreisel

Am Abend
sammle ich
Tageseindrücke
stopfe damit
Gedächtnislücken

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Du bist nicht
allein
auf der Flucht
wir alle fliehen mit
und am liebsten
fliehen wir
vor uns selbst

Irena Habalik
https://irenahabalik.wordpress.com

aus: Wenn es mir im Herzen grünt: Gedichte und Aphorismen.
Bonn: Free Pen Verlag 2016

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 22119

Outsourcing

Den Mist den ich
gebaut
lasse ich die anderen
beseitigen
sonst fallen sie hinein

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Viele Menschen
wissen nicht
dass sie Schweine
sind
weil sie nicht
im Schweinestall wohnen

Irena Habalik
https://irenahabalik.wordpress.com

aus: Wenn es mir im Herzen grünt: Gedichte und Aphorismen.
Bonn: Free Pen Verlag 2016

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 22118

Alt, aber schmerzlich

Natürlich sind wir
für etwas Neues
aber wir wehren uns
gegen jegliche
Veränderungen

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So wie einst
die Ahnen uns
so wir jetzt
den Enkelkindern

Irena Habalik
https://irenahabalik.wordpress.com

aus: Wenn es mir im Herzen grünt: Gedichte und Aphorismen.
Bonn: Free Pen Verlag 2016

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 22117

Generationen von Irrtümern

Die Erwachsenen streicheln Displays vor dem Schlafen
Die Alten paaren sich in Würde
Sex ist ein Geschenk Gottes erklärt der Pontifex

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Die Kinder machen Speeddating
Die Eltern warten auf bessere Zeiten
Die Kreuze in den Sälen beobachten das Geschehen

Irena Habalik
https://irenahabalik.wordpress.com

aus: Wenn es mir im Herzen grünt: Gedichte und Aphorismen.
Bonn: Free Pen Verlag 2016

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 22116

Macht im Rausch

Nichts Neues in der Politik:
Machtspiele der Parteien
und das Volk darf zuschauen und kiebitzen

                        ---

Der Kanzler ruft begeistert: nimm was dir zusteht
Und ich frage mich
was mir zusteht in dieser schönen neuen Welt

                        ---

Diese schöne neue Welt:
sie bedarf eines nur, einer Schönheitskorrektur

Irena Habalik
https://irenahabalik.wordpress.com

aus: Wenn es mir im Herzen grünt: Gedichte und Aphorismen.
Bonn: Free Pen Verlag 2016

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 22115

Geld oder Leben

Manche schreiten über den roten Teppich
Die anderen sitzen nackt auf dem dürren Land

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Die Reichen fahren Bentley und weinen
Die Armen schweigen weil Schweigen Gold ist
Die Ärmsten werden im Himmel die ersten

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Die Loser machen sich zurecht in der Gosse
Die Bosse drehen sich geschickt in ihren Posen
Ein Boss verkündet: für mein Millionengehalt
mache ich alles, gehe ins Gefängnis halt

Irena Habalik
https://irenahabalik.wordpress.com

aus: Wenn es mir im Herzen grünt: Gedichte und Aphorismen.
Bonn: Free Pen Verlag 2016

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 22113

Die präzise Friedenstaube

Die Friedenstaube fliegt unglaublich flott
über Weizenfelder, verlassen von Gott.
Sie flitzt dahin mit stoischer Miene;
ohne auf, ohne ab – wie auf Schiene.

Wohin wird sie den Frieden bringen?
Dürfen wir bald „War is over“ singen?
Seht hin, das pfeilschnelle Tier
hat schon ein Haus in seinem Visier.

Die Friedenstaube fliegt kerzengerade
ins Hauptquartier der Generalsbrigade.
Ein Krach ertönt, wie von einer Kanone!
Die Friedenstaube war – eine Drohne!

Bernd Watzka
Aktuelle Live-Termine, Buch-Bestellungen und Videos

aus: Wenn Wale weinen, Post-anthropozentrische Tiergedichte, 2022

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 22131

Das Museum der Brentanos: Abfahrt

Um sieben läutete der Wecker. Ich zog immer noch meinen alten analogen Wecker, den ich manuell einstellen musste, meinem Handy vor, obwohl er einen unerträglichen Ton von sich gab, der rasendes Herzklopfen verursachte. Die Körperreinigung erledigte ich auf sparsame Weise, notgedrungen. Solange es noch kühl war, wollte ich zum Hilton Molino Stucky Ve­nice gehen. Ich ging nicht ent­lang der Fondamenta, sondern südlich davon, an der Rückseite des Fortuny-Gebäudes. An der östlichen Außenwand des Hilton näherte ich mich dem Haupteingang, vor dem die Boote an der Vaporetto-Station anlegten und die Gäste auf die Abfahrt warteten und die neuen anleg­ten. Dann wandte ich mich dem Campo Junghans zu, der wegen der früher dort angesie­delten Fabrik Arturo Junghans so heißt. Es handelte sich tatsächlich um die berühmte Uhren­fabrik.

In der Bar nahm ich wie gestern einen Espresso und zwei Brioche, setzte mich nach draußen, ver­folgte das morgendliche Geschehen. Die engen Gässchen, in denen am Morgen die Müllsäcke abgeholt wurden – die Müllentsorgung schien auf Giudecca zu funktionieren, ganz anders hingegen in Rom, wo die Müllberge wuchsen –, ein Winkelwerk, brachten mich zur Vaporetto-Station Pa­lanca, es ging hin­über nach Zattere. Eine Tafel machte auf den russischen Lyriker Joseph Brodsky aufmerksam, der in der Villa hinter der Mauer gelebt hatte. Achtzehn Jahre hatte er in Venedig verbracht. Wer blieb vor dieser Tafel stehen? Wem fiel sie auf? Brodsky starb zwar in New York, den­noch liegt sein Grab auf der Friedhofsinsel San Michele. Mir fiel ein, dass Franz Kafka in Venedig an Felice Bauer schrieb. Wo stand das Haus, in dem er abgestie­gen war?

Bevor ich das Kunstmuseum Punta della Dogana besuchte, besichtigte ich die sich wie ein übergewichtiger Körper präsentie­rende Kathedrale Santa Maria della Salute, deren Inneres mich nicht sonderlich be­eindruckte. Alles war übertrieben groß und nach meinem Geschmack überladen, ein Ausdruck barocker Gottesfurcht. Im Kunstmu­seum, einer Dependance des Pa­lazzo Grassi, stellte man unter dem Titel Accrochage Objekte, Plastiken, Collagen aus, da­run-ter Objekte des österrei­chischen Künstlers Franz West. Ich durchschritt die großen Hallen, die das Gefühl der Verlo­renheit und Unbedeutendheit ange­sichts der teilweise riesengroßen Aus-stellungsobjekte her­vorrufen soll­ten, und empfand ein distanziertes Interesse an den Kunst-werken, nicht wirklich Begeiste­rung, geschweige Ergrif­fenheit oder gar Identifikation. Die Objekte schienen mir abstrakte, ohne Beteiligung von Emotionen entworfene Gebilde zu sein, Konstrukte, bei deren Entste­hen CAD oder Maschi­nen oder Roboter im Spiel hätten sein können.

Ist der Mensch bereits abgelöst worden als alleiniger Schöpfer, als Hervorbringer künstlerischer, auch intellektueller Leistungen? Selbst­verständlich, lange schon. Man denke nur an Schachcom­puter. Die Besucher gingen still durch die Aus­stellung, hin und wieder hörte man ein Räus­pern, die geflüsterte Unterhaltung von Paaren zur gegenseitigen Erklärung des Gese­henen, die Schritte der Aufseher und der Besucher. Obwohl nicht religiös bedingt, ähnelte die Atmo­sphäre in der Tat jener in der nahen Santa Maria della Salute, abgesehen von der dorti­gen Dunkelheit und der geringeren Zahl an Besuchern hier. Stille, Schweigen, stumme Fra­gen. Informativ war der Besuch der Ausstel­lung allemal. Es zog mich – die Aus­stellung hatte mich überfordert, vor allem hinsichtlich meiner Haltung zu gegenwärtigen künstlerischen Strö­mungen – nach Giudecca zurück.

Mein Bru­der würde mich wohl einen hoff­nungslos Konservativen nennen, wenn nicht einen Banausen, einen, der in seiner Kunstbe­trachtung hilflos auf seinem Stand von vor dreißig, vierzig, ja fünfzig Jahren verharrt. Die Impressionisten, Gauguin und die klassische Moderne, das war’s, dann bist du stehen geblieben, würde er sagen. Ich stieg ins nächste Vapo­retto  nach Palanca, und da es erst später Vormittag war, fand ich sogar Platz in einem der Restaurants an den Fondamenta, aß eine Portion Spaghetti Carbonara und schämte mich nicht mehr. Ein Mittags­schläfchen im alten Bett der Brentanos mit dem hohen Kopfteil aus dunk­lem Holz, mit dem ebensolchen Fußteil, im kühlen, verdunkelten Zimmer. Vorher gegen Insekten eincremen. Einige Gedichte Rilkes schob ich ein, bevor ich nachmittags wieder losziehen wollte.

Ein Steg verbindet Giudecca südwestlich des Hilton mit der kleinen Insel Sacca Fisola. Man hatte dort uniforme Sozialwohnungen gebaut. Wohnblöcke in eher dunklen Farben, moos­grün, die zum Teil aussahen, als wären sie vom Schimmel oder von Flechten, von Algen und von Feuch­tigkeit be­fallen. Ich sah kaum Menschen. Alleine ging ich zwischen den monotonen Quadern, und ich fühlte mich unwohl dabei, genierte mich, die vom lebendigen Giudecca getrennte Ghetto­siedlung neugierig, mit dem Fotoapparat in der Hand, den ich fleißig be­nützte, zu durchwan­dern. Ich kam mir vor wie in einem postkommunistischen Land, inmitten einer rasch heraus­gestampften Siedlung aus Plattenbauten, die man wie Neuland, wie ein exotisches Territorium besichtigte, nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war. Die Häuser hier ähnelten jenen in ihrem großenteils  vernachlässigten Zustand sehr.

Nur selten begegnete ich einem Bewohner, der eine oder die andere Jugendliche streunte aus Langeweile herum, eine Ziga­rette in der einen, eine Dose Bier oder einen Energydrink in der anderen Hand, das Handy in der Gesäßtasche. Von der Vapo­retto-Anle­gestelle kam manchmal eine Person und strebte ihrer Wohnung zu. Ein Einkaufs­zentrum fiel mir nicht auf, dafür ein, zwei kleinere Geschäfte, eine Trafik. Vom Canale della Giudecca drangen Signale der Schiffe in allen möglichen Tonlagen und Laut­stärken her, laut, wie es mir bisher noch gar nicht aufgefallen war. Möglicherweise trug der Wind zu einer akustischen Verstärkung bei. Die Siedlung deprimierte mich. So interessant sie in sozialer Hinsicht war, als deutlicher Gegenentwurf zum historischen, klerikalen, imperialen Venedig, stellte sie einen realisti­schen Ausschnitt eines Areals dar, das der offenbar ärmeren Bevölke­rung zuge­dacht war. Sie war gewissermaßen ein Kontrapunkt zur prunkvollen Welt der Kunst, der Kir­chen, zu histori­schen Orten, Museen, Palästen, überfüllten Lokalen, Restaurants und staunen­den, oft wohlha­benden Besuchermassen.

Zurück auf den Fondamenta hoffte ich, dass eine Pizza, dass ein Glas Rotwein meine Melancholie vertreiben und nicht ver­stärken würden. Einen Ver­such war es wert. Vor Il Redentore fand ich einen angenehmen Platz, etwas zurück­gesetzt von den Fondamenta. Es gab dort gerade keine Pizzas, weil der Ofen de­fekt war. Ich nahm Frutti di Mare, köstlich. Keine Spaghetti diesmal, obwohl ich das Stadium des Schämens überwunden hatte. Es dauerte etwas, dann fühlte ich mich wohler, und der rote Wein schmeckte fruchtig und warm. Ich spürte die wunderbar befreiende Wirkung des Alko­hols und Zuversicht in mir aufsteigen. Im Wes­ten, wie ein Fanal, zogen dunkle Wolken auf. Zunächst beachteten wir alle sie kaum, aber dann ging es schnell: Eine schwarze Wol­ken­wand baute sich in rasendem Tempo auf, der Wind wurde innerhalb von Augenblicken stär­ker, schwoll ebenso rasch zum Sturm an, erste Regentropfen wandelten sich in Sekunden zum Regen­guss, zum Wolkenbruch.

Wir, die Gäste, das Personal und Leute von der Straße, stürzten ins Res­taurant. Ich bezahlte, wartete lange Minuten, dann fasste ich mir ein Herz und rannte unter Blitz und Donner zum Museum der Brentanos. Nach mehreren zitternden Versuchen konnte ich endlich die Haustür aufsper­ren. Ich war völlig durchnässt. In der Wohnung brach mir der Schweiß aus, mein Herz schlug heftig, ich atmete stoßweise. Nachdem ich mich beruhigt hatte, nahm ich eine Rinnsaldusche, begleitet von hef­tigem Donnern und Blitzen draußen. Die Fensterläden schloss ich immer, bevor ich die Woh­nung verließ, deshalb hatte der Wind, hatte der Wolken­bruch nichts an­richten können. In der Wohnung entstand ein Gefühl der Heime­ligkeit und des Geschützt­seins, und die schummrige Beleuchtung, die trotz des Unwetters durchhielt, verstärkte es sogar. Einige Rilke-Gedichte, dennoch schlechter Schlaf.

Ich schreckte auf. Der unsanfte Wecker! Der Tag des Abschieds war gekommen, ich musste nach Hause zurück. Nach einer Katzenwäsche verstaute ich die letzten Dinge im Trolley, ließ ihn in der Wohnung, um ein Abschiedsfrühstück am Campo Junghans einzunehmen. Der be­hinderte Mann hinter dem Tresen und einige Männer parlierten lautstark vor dem großformatigen Fernseher, in dem ein Fußballspiel lief, und das am frühen Morgen, offenbar eine Auf­zeich­nung. Zwischendurch sangen die Männer, wahrscheinlich so etwas wie Schlachtgesänge oder Vereinshymnen. Ich mochte diese morgendliche Ruhe am Campo Junghans, die von den Fans drinnen kaum gestört wurde, in die sich die paar leisen Jogger, die Leute mit Hunden harmo­nisch einfügten. Die Reflexionen des Wassers eines schmalen Kanals bildeten sich auf der Unterseite einer nahen Brücke ab, tanzende helle Flecken auf Stein. Ein Mann fegte die Brü­cke und die Stiegen sauber, ging dann in die umliegenden Gassen und fegte weiter. Draußen auf der La­gune hörte ich Motoren­geräusche, von den ersten Fähren, von Fischerbooten auf morgendli­chem Fang.

Die Beschau­lichkeit des frühen Morgens wich mehr und mehr Geschäftigkeit, Leute gingen zur Arbeit, Touristen kamen und gingen mit rollenden Trolleys. Jogger mischten sich darunter, immer wieder Menschen mit ihren Hunden. Aus dem Lokal drangen nach wie vor der über­laute Kommentar des Reporters und die Stimmen jener Männer, die dem Fußball­spiel folgten und diskutierten und sangen. Ich ging vor zum südlichen Rand der Insel und schaute auf die Lagune, vor mir eine im Dunst liegende kleinere Insel. „Wo liegt Punta Sab­bioni?“, fragte ich mich und war mir der Richtung einigermaßen sicher. Von dort hatte mein erster Besuch Venedigs seinen Ausgang genommen, da mochte ich vielleicht zehn, elf Jahre alt gewesen sein. Wir standen damals auf der Fähre und sa­hen bald den Campanile als markantes Wahrzeichen, zunächst schemenhaft, dann größer und größer und klarer werdend.
Das damalige Bild hatte ich noch vor mir: Venedig, das ich bis dahin nur von Bildbän­den, Fotos und Gemäldereproduktionen gekannt hatte, lag zunächst in der Ferne, der Cam­panile dann deutlich erkennbar, je mehr wir uns näherten, schließlich kamen der Dogenpalast, die Markuskirche, Santa Maria della Salute ins Blickfeld. Und dann war ich das erste Mal in Venedig, und alles an und in dieser Stadt war und ist im­mer wieder wunderbar und zum Staunen und über­wälti­gend. Eine Stadt der Sehnsucht nach ihr.

Es wurde Zeit aufzubrechen. Ich ging zurück zu den Fondamenta, holte mein Gepäck aus dem Museum der Brentanos, gab die Schlüssel in der Bar zurück und fuhr mit dem Vaporetto zum Parkhaus. Ich wandte mich Giudecca zu und hatte das ganze Panorama vor mir. Es lag zum Abschied malerisch im hellen Sommerlicht. Keine Spur mehr vom gestrigen Unwetter.

Unversehrt stand mein Auto auf seinem Platz. Kein Kratzer, nichts, sogar die Tauben hatten sich zurückgehalten. Das Bezahlen am Automaten, das Verstauen des Gepäcks, das Einsteigen, das Starten und schließlich die Ausfahrt und das Ent­fernen von Venedig auf der Straße nach Mestre war stetig begleitet vom Bedauern, dieser so nahen und doch so exotischen, dieser vertrauten und doch fremden Stadt und dem Museum der Brentanos den Rücken kehren zu müssen.

Günther Androsch
Auszug aus der Erzählung: Das Museum der Brentanos, Verlag Bucher, Hohenems, 2020

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 20105

Das Museum der Brentanos: Ankunft

Einer der beiden Schlüssel sperrte die Haustür, und ich betrat eine kleine Eingangshalle. Dunkelheit empfing mich. Eine Stufe führte nach links in ein enges finsteres Stiegenhaus. Ich fand endlich den Schalter für die Beleuchtung, die den Namen jedoch kaum verdiente. Ein trübes, schwaches Licht ging an. Das Haus schien mir in den Fünfzigerjahren adaptiert und renoviert worden zu sein. Die Eingangstüre, der Steinbo­den im Eingangsbereich, Holzkassetten an den Wänden. Es gab einen Lift, einen Mini-Lift, ich wählte aber die steile Wendeltreppe in den zweiten Stock, um mir vorzumachen, ich bewege mich ausreichend. Deshalb nahm ich zwei Stufen auf einmal. Ohne Atemnot erreichte ich den zweiten Stock. Brentano stand an der Wohnungstür.

Von Bekannten hatte ich erfahren: Professor Robert Brentano, ein Spezialist für mittelalterliches Englisch und italienische Geschichte und Professor an der University of California, Berkeley, hatte hier eine Zeit lang die Sommer ver­bracht. Eines seiner Bücher, Zwei Kirchen: England und Italien im dreizehnten Jahrhundert, gewann 1968 den „John Gilmary Shea“-Preis und die Haskins-Medaille. Er, 1926 geboren, hatte die Wohnung auf Giudecca erworben. Die brentanosche Wohnung war völlig unbewohnt  – der Professor war schon lange tot, 2002 war er gestorben, und von seiner Familie und seinen Nachkommen schien niemand mehr Interesse an ihr zu haben –, durfte ich mich für ein paar Tage einmieten. Der zweite Schlüssel sperrte die Wohnungstür.

Als ich eintrat, empfingen mich ein abgestandener Geruch und Dunkelheit, aber nicht der Eindruck der Leere, vielmehr der Eindruck einer vollständig eingerichteten Wohnung, deren Bewohner überstürzt aufgebrochen waren und alles, so wie es war, zurückgelassen hatten. Oder vielleicht waren sie nur kurz weg, gingen Besorgungen nach und würden gleich zurückkommen und vor mir, dem Eindringling, über den man sie nicht verständigt hatte, erschrecken und mich brüsk hinauskomplimentieren. Verlassenheit empfing mich und eine Kulisse außerhalb der Zeit, die in mir, dem fremden Besucher, eine historisie­rende Faszination hervorrief.

In jedem Zimmer schaltete ich die Beleuchtung ein­, weil die Fensterläden geschlossen waren. Die meisten kleinen Zimmerfenster gingen in dunkle Schächte hinaus, die kaum Tageslicht hereinließen, nur die Wohnzimmerfenster, ebenso klein und erhöht, schauten zum Canale della Giudecca hinaus. Ich öffnete die Fensterläden. Zerbröckelnde Insektenschutzgitter konnten ihrer Aufgabe kaum gerecht werden. Gegenüber, jenseits des Canale della Giudecca, fiel mir die Kirche Santa Maria della Visitazi­one auf, deren graue Fassade an einen griechi­schen Tempel erinnerte. Im Nordos­ten ragte die Kuppel von Santa Maria della Salute über die Dächer, und dahinter der Campanile auf der Piazza San Marco.

Die Wohnung, das bemerkte ich nach dem Blick in mehrere Zimmer, war vollständig möbliert, die Re­gale voll mit Büchern, Kleidungsstücke hingen über Sessel, lagen über Lehnen, hingen in den Kästen. Über der Lehne des Schreibtischsessels hing eine Weste, auf die der Professor bei kühlerer Temperatur zurückgegriffen hatte. Hätten mir die Kleidungsstücke gepasst und hätte ich nicht auf den Zeitgeschmack und den Geruch der Vergangenheit geachtet, sie wären mir zur Verfügung gestanden. Gerahmte Fotos standen auf Tischen, Kästen und Schränken.
Der Schreibtisch in dem Zimmer, wo das Bett für mich stand, machte den Eindruck – wieder kam diese Vorstellung in mir hoch –, als wäre Professor Brentano – der dieses Bett wohl benutzt hatte – nur kurz hinausgegangen, um in einer Bar einzukehren, einzukaufen oder sich Zigaretten zu holen. Würde er mich der Wohnung verweisen, wenn er mich in seinem Arbeitszimmer antraf, oder würde er meiner Erklärung Glauben schenken, man hatte mir diese Übernachtungsmöglichkeit nach bestem Wissen und Gewissen ausnahmsweise angeboten? Ich konnte es ihm erklären, wie es dazu gekommen war.

Kugelschreiber, für die nächsten Aufzeichnungen bereit, in Wirklichkeit trocken und deshalb unbrauchbar, lagen auf der Schreibfläche, Notiz­zettel, einige beschrieben, einige blank. Bü­cher standen in einem Wandregal gleich über dem Schreibtisch: eine Geschichte Venedigs, ein Kunstführer, englisch-italienische Wörterbücher, lateinische Texte, zahlreiche weitere Bücher, die ich mit Ehrfurcht und Achtung betrachtete. Das eine oder andere nahm ich behutsam zur Hand, Staub löste sich. Ich blätterte darin, roch daran. Wie fast immer ließ der Geruch von Büchern in mir ein Glücksgefühl, ein Gefühl der Zufriedenheit entstehen.
Ich hatte beinahe das Gefühl, ich tat etwas Verbotenes, so als schnüffelte ich in fremden Dingen, als störte ich eine fremde Intimität, indem ich die Abwesenheit des Inhabers ausnützte. Der Staub auf den Büchern verflüchtigte sich durch die Entnahme aus dem Regal und durch vorsichtiges Wegblasen. Die Erschei­nungsjahre zeugten von einer vergan­genen Zeit, einer Zeit, in der ich selber noch jung war: die späten Siebziger-, frühen Achtzi­gerjahre des vorigen Jahrhunderts.

Da entdeckte ich auf dem Schreibtisch, etwas nach hinten geschoben, ein Kaleidoskop. Staub bedeckte das Rohr, das mit bunten Mustern ver­ziert war. Ich blies ihn vorsichtig weg, um nicht in eine Staub­wolke eingehüllt zu werden. Es war halb so wild, ich bekam keinen Nies- oder Erstickungsanfall. Mit einem Papiertaschentuch brachte ich das Kaleidoskop zum Glänzen. Ich blickte durch das Kaleidoskop in Richtung Fenster, dessen Läden ich geöffnet hatte, und war plötz­lich wieder ein Kind, vielleicht zehn Jahre, vielleicht etwas älter, und ich fragte mich, ob ich überhaupt erwachsen war.
Ich drehte am bewegli­chen Teil, und vor mir erstanden ver­schiedenste symmetrische Muster, Sterne in allen mögli­chen Farben – rote, grüne, blaue, gelbe, lila Glassteinchen –, ebenso Kreise, Ro­setten, Ringe, sphärische Gebilde, Fraktalen ähnlich. Die Spiegelungen zauberten Muster in nahezu vollkommener Symmetrie vor meine Augen. Ich war fasziniert. Und diese Muster lebten, änderten sich mit jeder Drehung, bildeten Mischfarben, schienen selber Freude an ih­ren Metamorphosen zu haben, die jeder statischen Langweiligkeit entge­genstanden.

Professor Brentano schien wie ich von Zeit zu Zeit mit kindli­chem Gemüt gesegnet gewesen zu sein, je­denfalls was Kaleidoskope betraf. Das bestätigte sich, indem ich auf dem Schreibtisch einen Bausatz für ein Kaleidoskop entdeckte. Die Verpackung war aufgebrochen, und ich leerte sie auf dem Schreibtisch aus. Offenbar war das funktionierende Kaleidoskop, durch das ich ge­schaut hatte, ein gekauftes Fabrikat. Das andere hätte der Professor wohl gerne zusammengebaut.

Am liebsten hätte ich mich hinge­setzt und das Kaleido­skop nach der Bauanleitung gebastelt. Die Anleitung war zwar italienisch, doch gestand ich mir in einem Zustand der Selbstüberschätzung so viel Geschick­lichkeit zu, den Zusammenbau zu schaffen, und ein paar Brocken Italienisch konnte ich auch. Außerdem zeigten Zeichnun­gen, wie man vorzugehen hatte. Die Gegen­stände, die ich auf dem Schreibtisch sah, verführ­ten mich, mich hinzusetzen, mitten am hell­lichten Sommertag, und zu beginnen: ein Bogen fester Karton im DIN-A4-Format, ein Bogen Pergamentpapier, eine Klarsichtfolie, eine selbstklebende Spiegelfolie, bunte Perlen oder Schmucksteinchen, Lineal und Bleistift, Cutter und Schneideunterlage, Papierschere und Na­gelschere, Klebefilm.

Günther Androsch
Auszug aus der Erzählung: Das Museum der Brentanos, Verlag Bucher, Hohenems, 2020

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 20104