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Archiv für den Autor: Michaela Swoboda

Zustand, Erinnerung und Ausblick. Mein Nachdenken über Emily.

No Coward Soul Is Mine: diese Zeilen, nein das ganze Gedicht der anderen, früher geborenen Emily werde ich an meiner bevorstehenden Beerdigung in diesem frühlingsfreudigen Mai 1886 vortragen lassen. Man wird meinem letzten Wunsch entsprechen, obwohl er wohl bei den meisten von jenen, die mich zu kennen und an diesem Anlass nicht fehlen zu dürfen meinen, ein Stirnrunzeln auslöst, vielleicht ein unwilliges Lächeln hervorbringt. Solche gewaltig tönenden Worte letztlich über sie, die sich sensibel vor der Welt verbarg, in einer der Erinnerung geweihten Situation? Was soll in einem solchen Moment dieser in Worte gefasste Fremdkörper? Nein, der bestimmende Körper bin ich selbst, war ich selbst – wohl von zarter Gestalt, indessen unbeugsam in seinem Ausdruckswillen.

Wer kannte mich schon, die ich, wie man weiß, vornehmlich im Hause, ja im Zimmer lebte? Da sind, da waren der das Heim der Dickinsons in Amherst prägende politisch tätige Vater und die Geschwister, also mein Anwaltsbruder mit der prachtvollen Schwägerin, meiner Schulfreundin Susan, meine Schwester Lavinia, die nach wie vor um mich in unserer Wohnstatt lebt – sowie der eine oder die andere gute, freundliche, freundschaftliche, auch liebevoll mir geistig zugewandte Bekannte. Nun, ich schrieb einiges: Zahlreich sind meine Briefe, in denen ich dann nicht allzu viel von mir verbarg, fügte ich ihnen eines meiner Gedichte bei. Ansonsten schrieb ergiebig ich nur für mich: Es dürften weit mehr als tausend Blätter in etwa fünfzig Manuskriptheften sein, die bei mir auf dem, in dem Pult liegen; fast nichts demnach wurde veröffentlicht. Rechne ich meine Umgebung nicht: Wer hätte schon die Lyrik einer Frau wahrgenommen, gar gekauft: Soll ich hinter diesen Satz ein Ausrufe- oder ein Fragezeichen setzen?

Ich zog mich zurück von der Welt. Ich zog mich zurück in mich. Freilich bedeutete das keine Weltferne. Ich nahm teil am Geschehen, gerade der große grausame Bürgerkrieg beschäftigte mich tief: Nicht dass ich kämpferische Passagen verfasste, er wirkte hinein in meine rastlosen Gedanken über die Begrenztheit des Lebens und die Sache dessen Endes selbst – mit, nein: in der Hoffnung, es bleibe vom einzelnen Menschen etwas Greifbares für die Nachwelt zurück. Und: Der Liebe gleich, der stetig ich ebenfalls nachsann, von Mann und Frau, von Mann zu Frau und umgekehrt, einer Liebe, die sich über die Grenzen hinaus verströmen sollte, verlangt meine mich uneingeschränkt zum Berührtsein und Empfinden aufrufende Teilnahme kein feminin sittsames Betragen, kein weiblich zurückhaltendes Auftreten, keine stille Bescheidenheit. Eine derartige, aus den starren Gesellschaftsregeln resultierende Haltung mag für das sich Aufführen in und außerhalb des Hauses Geltung besitzen. Bei welchem Benehmen, sollte ich nicht auffallen respektive wollte ich nicht anecken, ich eine bestimmte Rolle einzunehmen, sprich: im vorgegebenen Rahmen zu spielen hatte – wodurch in solchem Vollzug das Angepasste buchstäblich sich veräußerlicht.

Die innere Haltung ist eine ganz andere Sache: Hier verblasst, bin ich, wenn ehrlich, ganz bei mir selbst, die bürgerliche, die puritanische, die kirchlich geprägte Sozietät, wird zu Schattierungen des Gefühlten, wenn nicht gar zu immer stärker verblassenden Schatten degradiert. Hier ist die ewig kindliche Emotion erlaubt, das ewig kindliche Fragen ja Nachfragen angebracht, das ewig kindliche Aufbegehren legitim: im steten Verlangen erneut, neu aufbrechen zu können: wie im buntfrohen Aufblühen die Natur, welche mir in ihrer auf Entdeckung wartenden Sinnhaftigkeit unendlich viel bedeutet; wie zu kaum bekannten, dunstig grünen oder graubraunen Ufern, welche das Empfinden bereithält; wie in die herrliche frühe Helle oder die sanfte abendliche Kühle eines Maientags, wie in die angesichts der ungebunden strahlenden Fülle des die Jahreszeiten zusammenfassenden Indian Summer ausschwingende Seele: Not knowing when the Dawn will come, / I open every Door, / Or has it Feathers, like a Bird, / Or Billows, like a Shore – Doch ich formulierte ebenso: It would never be Common – more – I said – / Difference – had begun – / Many a bitterness – had been – / But that old sort – was done – Mein geistlicher Freund, inzwischen weit entfernt, weil hinüber an den Pazifischen Ozean übersiedelt, und die meisten all der anderen hätten wohl in dieser verknappten Struktur, in diesen Auslassungen, im frei gelassenen Schluss kaum das zum Weiterspinnen Aufgegebene, nur eine zumindest zum Teil ins Stocken geratene, reduzierte Beobachtung empfunden: nicht aber den Ausdruck einer eindringlichen Suche nach klarer Festigkeit.

Und ich ahne, nein ich weiß es, auch in Zukunft werden, nach der mutmaßlichen Publikation meiner Texte, viele Leser dieses Gebaren einer emanzipierten Bestimmtheit nicht nur schwerlich begreifen, sondern zugleich im umgekehrten Sinn rätseln, welche Beziehung sich darin ausdrücken sollte, dabei namentlich werweißend, welcher Mann, welche Frau angesprochen sein möchte. Im Bewusstsein, wie sehr die Lyrik, wie sehr meine Poetik in der Verdichtung vieles in Andeutungen verborgen, Geheimnisvolles undeklariert lässt, wie sehr Empfindungen, selbst wenn in unmissverständlichen Ausdrücken vorgelegt, in einer Echowirkung zugleich verstärkt zurückkommend wie abgeschwächt verhallend aufscheinen – muss ich lächeln: Bleibt doch mein Formuliertes offen, so offen, dass ich oft und gerne auf das Geschriebene zurückgreife, um es zu ändern.

No Coward Soul Is Mine: Durch diese mir eigene Kraft einer ebenso vorwärtsdrängenden wie Ungewohntes aufwerfenden, vermeintlich hart anmutenden Verkürzung wird: „War ihr, unerkannt, ein wildes, gar ein geheimes rebellisches Wesen eigen?“,  man womöglich fragen, nimmt man sich dereinst meine Gedichte vor. Ja, bis hinüber zum Pazifik ist der Wilde Westen hinausgezogen, von dem mich eine mittlerweile veränderte Welt zu trennen scheint. War hier im Staate Massachusetts jemals ein Westen, den es lohnte zu bezwingen? Ich erlaube mir die Gegenfrage, was denn ein Säkulum sei? Hundert Jahre vor meiner Geburt entstand an diesem Ort im Indianerland die erste Siedlung in einer, wie wir heute sagen würden, romantischen Landschaft mit hohen Erhebungen, mit tiefen Farben und ausgreifender Sicht.
Ein Rundumblick, stieg ich, wenngleich selten, hinauf. Dann allemal meinte ich ihn zu schmecken – den Anhauch der Weite, welcher die natürlichen Gegebenheiten ebenso wie die menschlichen Eingriffe enthält, vom Rauch der Feuer dort draußen seit alters her bis zum Rauch der Industrie aus jüngster Zeit unter mir – jene Luft, welche berichtet von den Interventionen der letzten Generationen in der Nähe, doch zugleich von dem fernen Geschehen in der Zeit und im Raum eines vermeintlich freien Lands.
Der Atem der Vergangenheit ist nicht mehr direkt fassbar: Wo sind sie hin, die Indianer und die Siedler, die Späher und die Kämpfer ebenso wie die Aufbauenden und die Kultivierenden? Ja, in meinem Sehnen überwinde ich die Vergangenheit, spüre ich die Unendlichkeit, obgleich der Weg zu ihr durch die starken Umformungen erschwert, wenn nicht verbarrikadiert ist – wäre da nicht das stete kleinteilige Leben, das in seinem Tagwerk nachweist, wie Grenzen den Träumen gleich überwunden werden können: To make a prairie it takes a clover and one bee, / One clover, and a bee, / And revery. / The revery alone will do, / If bees are few –

Das eine ist die Prairie, ihr Gegenpol die See; ich kann sie, so ich wollte, erreichen im Atlantik, er liegt nicht allzu entfernt von hier. Ihn mir zu vergegenwärtigen, genügt derweil meine Erinnerung und meine Phantasie – ewig bewegt in ein rauschendes Hinaus, das sich mittels der Horizontlinie wieder zu uns zurückbeugt: Land, ho! Eternity! / Ashore at last! Nicht nur hierbei, in einer Rückkoppelung, mir seit unendlichen Kindheitstagen vertraut, fuhr ich fort: There is no Frigate like a Book / To take us Lands away

I dwell in Possibility / A fairer Hause than Prose: Selbst wenn ich letztlich doch nicht alles niederschrieb von den Stimmen, Tönen, Worten, denen ich in mir nachging – es soll, es wird von meinen be-, von meinen verarbeiteten Möglichkeiten gleichwohl etwas bleiben. Da ist sie, die Stimme des Ewigen von vor der Zeit bis über die Zeit hinaus, wie, um darauf zurückzukommen, unser Indian Summer in seiner Endlosigkeit über die Höhen und Täler das Wesen des Ganzen enthält, Kraft und Vergänglichkeit, Reichtum und Vergehen, Zusammenbruch der Farbfülle und Aufbruch zu erneuertem Leben. Er ist als die wichtige Alternative zum, ich sprach es an, von mir gleich stark empfundenen Frühlingserwachen seinerseits nur in seinem Erscheinen zu erkennen; da galt es dann: The low Grass loaded with the Dew – / The Twilight stood, as Strangers do – / With Hat in Hand, polite and new – / To stay as if, or go – Was ist fremd, was bleibt uns fremd? Was ist gewohnt, was steigt nur aus uns hervor? Was bleibt, was vergeht? We never know we go when we are going / We jest and shut the Door / Fate – following – behind us bolts it – / And we accost no more – Nicht nur das Schreiben, auch das Erkennen ist, ich begriff es wohl, ein einsamer Prozess.

Gleichwohl, allein fühlte ich mich niemals: Die Religion gab mir den sicheren Standort. Es ist nicht mehr genug Platz und Zeit, Genaueres auszuführen, die Thematik ist ohnehin schlussendlich unerhört persönlich, nur dem, der Einzelnen eigen. Jedoch ich wusste immer: Gott sah mich! Indes, welcher Gott? Ich komme auf mein Wunschgedicht zurück: O God within my breast / Almighty ever-present Deity / Life, that in me hast rest, / As I Undying Life, have power in Thee heißt es dort in der nächsten Strophe. Ja, diese zweite, nein: Diese erste Emily schrieb es mir vor einem Vierteljahrhundert bereits aus dem Herzen. So ist Er, obgleich nicht greifbar, mithin hier, findet Raum selbst in der Enge des Zimmers mit Bett und Pult, weil in meinem das Umfassende des Seins suchenden Gemüt. Ich formulierte die Erkenntnis stärker von einem scheinbaren Punkt außerhalb meiner Person: Prayer is the little implement / Through which men reach / Where presence is denied them. Wobei ich betonen möchte, Er neigte sich mir persönlich zu, zu mir, wandte sich nicht zuletzt zu mir auch als bewusst weiblich empfindendem Wesen.

Ach Emily Brontë, so vieles Weiteres verbindet uns, hingesehen oder besser: hingelesen. Wir benötigen keinen Wechsel: Der unaufhaltsame Wandel ist ja, wenngleich für uns auf fester Grundlage, stets um und in uns. Die Farbe deines dortigen Moors und meiner weiten Wälder. Die Verbundenheit mit dem in allem Kreatürlichen zu erspürenden Leben – das über sich hinausweist – im immerwährenden Kreislauf – der ewige heraufziehende Nebel – ich –

Martin Stankowski
www.stankowski.info

veröffentlicht in: Literarisches Österreich 2020/2  «Freiheit», S. 93-97

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 20018

Das ist ein weites Feld. Theodor Fontane zum 200. Geburtstag am 30. Dezember 2019

Das ist ein weites Feld.[1]

Auf den Feuilletonseiten großer Zeitungen, als gedruckte Publikationen, in den Fernseh-Angeboten mehren sich zwischenzeitlich Übersichten, Zeugnisse und Interpretationen Fontanescher Werke. Zumindest frühere Schulzeiten (wie die des Schreibenden) prägte die Pflichtlektüre einzelner Gedichte und ausgewählter Romane, etwa «Die Brück’ am Tay» einerseits oder «Effi Briest» andererseits. Für Fontane jedoch gilt mehr noch als für viele andere: Ein Ausschnitt, so groß er sein mag, wird diesem Mann nicht gerecht. Sein immenses Werk stellt dafür nur einen Teilgrund. Sein Werk ist unlösbar verbunden mit seinem Leben, mit seiner persönlichen Entwicklung ebenso wie mit seinem Umfeld. Dies beschrieb er nicht nur in Erinnerungen in Mitteilungen zu seinen Kinderjahren und namentlich in dem im Alter entstandenen «Von Zwanzig bis Dreißig» sogar selbst; nahezu unüberblickbar erscheint seine inhaltlich und sprachlich reiche Korrespondenz. Auch wenn den meisten unbekannt, es sei denn in aus ihr (wie aus Romanen) als Aphorismen gebotenen Einzelsätzen (wie Die Dinge beobachten gilt mir beinah mehr, als sie zu besitzen[2]), ist sie doch integraler Teil des großen, großartigen Opus – und allein durch sie wäre Fontane bereits ein bedeutender Schriftsteller. Sein Ganzes zu begreifen dürfte immer ein Versuch bleiben, der sich aber unbedingt lohnt.

Die Anfänge sehen recht bescheiden aus: In dritter Generation einer in das reformierte Preußen ausgewanderten Hugenottenfamilie ist ihm der Beruf seines Vaters vorgegeben: Er wird ebenfalls Apotheker, wenngleich seine finanziellen Verhältnisse niemals ausreichen werden, ein eigenes Geschäft zu erwerben. Phasen der Akzeptanz wechseln mit Strecken beruflichen Zweifels, für den Außenstehenden sichtbar in seinen bereits früh verfassten Gedichten. Auf Umwegen erreicht er, nach Aufenthalten an verschiedenen Orten, bereits mit 24 Jahren in Berlin die Mitgliedschaft im «Tunnel über der Spree» genannten Literaturklub gebildeter Autodidakten ganz unterschiedlicher sozialer Niveaus. Eine eigene Stellung schafft er sich mit Balladen von einer von ihm immer mehr vervollkommneten (kunstvollen) Schlichtheit des Ausdrucks, die speziell zu packen vermag. Vorbild ist England, dessen Kultur, die für ihn nicht vom Alltag zu trennen ist, er sich bei zweimaligen vielmonatigen Aufenthalten in London als eine Art preußischer Korrespondent intensiv widmet.

Auf einer Schottland-Reise wird er sich bewusst, wie stark Landschaftliches von Geschichte geprägt ist, eine Erkenntnis, die zum Auslöser wird, nun auch die Mark Brandenburg um Berlin zu erfassen: Die «Wanderungen» werden zu einer vielverzweigten, meist in seiner Freizeit unternommenen Erforschung und Notationsarbeit, die ihn über Jahrzehnte beschäftigen und in vielen Bänden ihren Ertrag finden wird; sie entwickeln sich naturgemäß in ihrer Schreibweise, bleiben jedoch allesamt geprägt von einer Mischung aus möglichst genauer Feldforschung, einer klaren thematischen Struktur und einer angenehmen Lesbarkeit. … nur grüne Fläche (…); mal auch ein Kahn, der über diesen oder jenen Arm der Oder hingleitet, dann und wann ein mit Heu beladenes Fuhrwerk oder ein Ziegeldach, dessen helles Rot wie ein Lichtpunkt auf dem Bilde steht.[3]

Genau diese Methodik aus sachlicher Präzision und guter sprachlicher Nachvollziehbarkeit legt er einer Art Parallele im Reporterdasein zugrunde: Sie erwächst ihm aus der gleichfalls langwierigen Berichterstattung über die Kriege 1864, 1866 und 1870/71, die er jedoch nicht während der Kampfhandlungen, sondern durch Sammlung von Zeugnissen und nachträglichen Besichtigungen vor Ort – Das Büchermachen aus Büchern ist nicht meine Sache[4] – nachvollzieht. Nunmehr hält er als Neuerung fest: (Meine) Kriegsbücher sind etwas anderes: Gruppierung des Stoffs im Ganzen wie im Einzelnen; Übersicht und Klarheit; und, maßgeblich prägend für das folgende belletristische Werk, lebensvolle Darstellung und Fülle der Details[5].

Selbst daraus erwächst zwar neuerlich kein finanzieller Erfolg, aber er wird – nicht zuletzt auch durch die Kunde seiner Wochen als französischer Gefangener – bekannter bis hin zum Antritt einer zweiten beamteten Stellung. Wie in den besten (seiner) Novellen folgt der bühnengerechte Wendepunkt: Er kündigt als immerhin Mittfünfziger nach wenigen Monaten, weil er einsieht, wie sehr seine menschlichen Qualitäten und seine beruflichen Fähigkeiten unter den letztlich eingebildet-bornierten Umständen leiden müssen. Zumal seit einiger Zeit schon gilt, uns vor Erniedrigung und Unwürdigkeit zu bewahren. Und nur darauf kommt es schließlich an. Independenz über alles. Alles andere ist zuletzt nur Larifari.[6]

Die Dramatik gilt nicht nur innerlich, sie hat, trotz, wie er vorrechnet, bleibender Ersparnisse für ein Jahr, erhebliche existentielle Auswirkungen auf die sechsköpfige Familie. Nur langsam fängt sich etwa seine Frau und lässt nach und nach die schweren Sorgen hinter sich. Dahinter dürfte kaum der vielfach von Fontane bekundete Entschluss gestanden sein, in Zukunft nur noch als Schriftsteller tätig zu sein, sondern vielmehr die von ihm akzeptierte praktische Konsequenz: Courage ist gut, aber Ausdauer ist besser[7], konkret: hoher Fleiß, um des lieben Brotes halber am Trapez weiterzuturnen[8], was hieß im Beendigen der begonnenen «Serienwerke» inklusive verdichtetem Schriftverkehr mit Verlegern, Publizisten, Redaktionen von Zeitschriften und Wochenblättern, unermüdliche Theaterkritiken für die «Vossische Zeitung» (die über 19 Jahre anhalten), manchmal sogar umfangreichere Gelegenheits- oder Auftragsarbeiten wie Rezensionen und Essays. Und es folgen ab seinem sechzigsten Altersjahr die vielen Romane und Novellen in dichtester Folge.

Die Familie darbt nicht, verbleibt in der eher bescheidenen Wohnung mit Hausmädchen, die Kinder schließen jedes eine respektable Ausbildung ab, das Ehepaar verbringt Teile des Sommers auf dem Land (im Harz, Erzgebirge, in Schlesien oder Mecklenburg), später in Bad Kissingen. Man lebt aber ebenso wenig auf großem Fuß, muss sich finanziell stets nach der Decke strecken, was auch heißt, sich stärker aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzuziehen. Die äußere Schlichtheit verinnerlicht Fontane und schreibt in dieser Anfangszeit: … daß ich an meinem Schreibtisch auf die Dauer am besten und am glücklichsten sitze. Einfache Lebensverhältnisse sind allem andern vorzuziehen; der Geist ist dabei am freiesten.[9]

Die Umstände bringen überdies mit sich, dass die Familie ein Rückzugsort wird, in oder vielleicht besser aus dem heraus sich differenziert das gesamte sich Blick und Denken darbietende Geschehen kommentieren lässt. «Bevorzugt» wird dabei eindeutig die Gattin in einem oft spannungsreichen aber immer ebenbürtigen Austausch, schriftlich fixiert in den oft durchaus längeren Trennungsphasen der Gatten. Emilie, aus vergleichbaren Verhältnissen stammend, akzeptiert zum einen das Patriarchalische mit den daraus folgenden umfassenden Diensten von Kinderaufzucht bis Haushaltsvorstandschaft, ist aber andererseits bis hin zu den Secretair-Diensten (…) täglich[10] – sprich den Abschriften aller komplexen Manuskripte und insbesondere dem Reinschreiben kaum endender Korrekturarbeiten des Perfektion anstrebenden Autors – oder gelegentlicher gesellschaftlicher Besuche eng eingebunden in die literarische Entwicklung der Zeit und insbesondere das schriftstellerische Vorankommen ihres Mannes.

Zumindest indirekt vermag man sich den Briefen Fontanes entnehmen, wie sehr Emilie in ihre Kommentierungen eingehend Bücher Dritter einschloss und in den Bewertungen der Werke des Gatten wie wohl auch in privaten Dingen oft kein Blatt vor den Mund nahm – wobei der so Beanstandete wusste, wie sehr er dies als Quell vieler Anregungen brauchte. Eine ähnliche «fachlich» vertraute Stellung dürfte nur noch die Tochter Martha, genannt Mete, gewonnen haben. Mit ihr erörtert er ebenfalls Detailfragen (wie etwa, wie die Menschen in den Texten sprechen sollten[11]) und Fragen der Literatur als Kunstsparte. Wesentliches des in den Briefen zur Arbeit Erwähnten – Basis bleibt Das Menschlichste, was wir haben, ist doch die Sprache[12] -– findet sein kreatives Echo in den publizierten Werken, während die politische und nicht zuletzt die «Welt der Texte» einen reichen Widerhall im Dialog nicht zuletzt mit den «außenstehenden» Briefpartnern erhält.

Selbst als die letzten Jahre des 80-Jährigen eine Art Durchbruch auf nationalem, ja internationalem Niveau bedeuten, bleibt er der höchst skeptische, das zutiefst Humane im Geschehen freilegende Geist und wird je älter je offener für neue Entwicklungen. Bei aller sezierenden pointierten Treffsicherheit, nicht zuletzt in seiner nach wie vor faszinierend reichen Ausdrucksweise, fehlen unbeugsam harte Urteile weitgehend, sondern sein Beobachterstatus erlaubt nur eine letztlich großzügige Haltung dem Leben gegenüber. Dies gebot womöglich seine gesundheitliche Labilität, die sich aus steter nervlicher Anspannung mit depressiven Anwandlungen speiste – und somit ein weiteres, auch aus vielen anderen Biografien bekanntes Schlaglicht auf das «Künstlerleben» eines wachen, sensiblen, schöpferischen Menschen wirft: der hier stark unter der jahrzehntelangen Nichtachtung litt und doch zugleich im grundehrlichen Wissen um seine schriftstellerische Qualität ein gleichsam nicht endendes bedeutendes Werk schuf, das erst mit Fontanes Tod im Alter von 88 Jahren sein natürliches Ende fand.

Kurz zuvor beendete er in erstaunlicher, bewundernswerter Geistesfrische (dokumentiert von Gesprächspartnern) voller Entwürfe, mit regstem Interesse für alles und jedes[13] einen nunmehr letzten umfangreichen Roman, «Der Stechlin». In ihm geschieht fast nichts an Aktion, es wechseln differenzierte Beobachtungen der räumlichen Umgebung und Dialoge einiger als Exponenten gewählter Personen. Und doch wird’s beim Lesen niemals langweilig, denn mit geistvollem Gespür, mit feiner Nuancierung und verständnisvoller Milde malt Fontane ein vielfältiges, sublim angelegtes Tableau seiner Jetztzeit der späten 1890er Jahre in der preußischen Gesellschaft … und zieht zugleich eine noch heute höchst beeindruckende, ja wunderbare Summe seiner eigenen Lebenserfahrungen.

[1] vor allem bekannt aus Effi Briest 1895, Kapitel 22 und 36
[2] an die Tochter Martha (Mete) 4.8.1883
[3] aus «Das Oderland» 1863, Blick von Freienwalde
[4] an die Gattin Emilie 12.4.1871
[5] an Otto Baumann 3.9.1872
[6] an Emilie 28.5.1875
[7] aus «Der Stechlin» 1898, 4. Kapitel
[8] an den Sohn Theodor 18.10.1886
[9] an Martha 21.9.1878
[10] so in einem Brief an Mathilde von Rohr 26.4.1874
[11] Brief vom 24.8.1882
[12] aus „Unwiederbringlich“ 1891, 13. Kapitel
[13] so Paul Schlenther Mitte Sept. 1898 anlässlich der Verlobung Marthas (nach O. Drude, Fontane. Ein Leben in Briefen, insel tb 540 Frankfurt/Main 1981, S. 480)

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 20017

Lost in Space

Was geht nicht alles verloren. Meine Mutter hat den Verlust der Kamelhaardecke unendlich bedauert, die ihr ihr Bruder aus Holland mitgebracht hat, wo er während des Krieges stationiert gewesen war. Die Kamelhaardecke hat ein besonders tragisches Ende genommen: Mein Bruder hat beim rigorosen Ausmisten der alten Sachen die Decke arglos miteingepackt und zur Sandgrube gebracht, wo sie mit all dem anderen Müll verbrannt und anschließend mit Erde überdeckt worden ist.

Eine Reihe von Fotos, mini-kleine Negativabzüge mit wellig geschnittenem Rand, habe ich als Kind heimlich aus der Zigarrenschachtel genommen und in meine Hosentasche gesteckt. Ich wollte sie mit meiner Tante gemeinsam anschauen und somit einen Grund für den Besuch haben. Ich bin mit dem Fahrrad gefahren, auf dem Sattel hin- und hergerutscht. Die Fotos waren in der Gesäßtasche meiner Jeans. Ich habe wohl auch etwas geschwitzt. Bei der Tante kam es nicht zum Anschauen der Fotos und ich habe vergessen, dass ich sie noch in der Tasche habe. Erst als die Hose in der Wäsche war, wurde meine Freveltat entdeckt. Unwiederbringliche Fotos von längst verstorbenen Vorfahren waren zerstört. Ich spürte den Schmerz und die Trauer meiner Mutter auf mich übertragen, fühlte mich voller Scham. Der Verlust war nicht wiedergutzumachen.
So ist es, wenn der Verlust entdeckt wird. Dann gibt es auch den unentdeckten Verlust, der einen zwar auch schmerzt, der andere aber vermutlich noch viel mehr schmerzen würde, und so hofft man, er möge verborgen bleiben und nach Möglichkeit nicht mit einem in Verbindung gebracht werden. Ja, das sind so Geheimnisse, die man mit sich herumträgt.

Im vergangenen September habe ich mir eine wunderschöne Jeansjacke gekauft, die zu meinem afrikanischen Kleid optimal passen hätte sollen. Ich schreibe im Irrealis, weil es nie dazu gekommen ist, dass ich die Jacke über dem Kleid tragen konnte. Ich zog die Jeansjacke am Tag nach dem Kauf in die Schule an, ging anschließend in die Gärtnerei, um Blumenerde zu besorgen, besuchte auf dem Heimweg noch meine Freundin Melanie, saß eine halbe Stunde auf ihrem Sofa, ohne die Jacke auszuziehen, ging nach Hause, und seither vermisse ich sie. Ich habe alle Orte noch einmal besucht, habe in der Schule beim Hausmeister und den Putzfrauen nachgefragt, habe zu Hause hinter dem Sofa, im Auto unter den Sitzen, in der Garage unter den leeren Bierkästen gesucht. Nirgendwo ist die Jacke aufgetaucht. Ein Mysterium! – Natürlich beobachte ich seither Menschen argwöhnisch, die eine Jeansjacke tragen. Leider erfolglos. Meine ist verschwunden. Lost in Space, wo sonst.

Oma hat eines ihrer beiden Hörgeräte verloren. Unauffindbar. Nicht in der Schürzltasche und auch nicht auf dem Sofa zwischen den Polstern, nicht im Kopftuch eingewickelt und auch nicht im Handtascherl neben dem Gebetbuch, nicht im Rosenkranzschachterl und nicht im Portemonnaie. Verloren für immer! – Das zweite Hörgerät war nach einigen Wochen auch plötzlich verschwunden. Das regte aber jetzt schon niemanden mehr besonders auf. Man gewöhnt sich an Verluste. Umso größer war die Überraschung, als das kleine Wunderwerk der Technik völlig unerwartet im Lockenwickler-Beutel, gut verpackt im Haarnadelschachterl, wieder zum Vorschein kam. Bloß inzwischen hatte sich die Oma schon daran gewöhnt, ohne Hörgerät auszukommen. Es hätte also ruhig verloren bleiben können.

Tina hat nach dem Konzertausflug nach München das Handy verloren. – Nun ist ja ein Handy was anderes als eine Jeansjacke oder ein Hörgerät. Ohne Handy ist man aufgeschmissen. Einen einzigen Tag zu überbrücken, verlangt ein unvorstellbar großes Maß an Selbstüberwindung. Eine Demutsübung. So ein Handy ist praktisch ein Teil der eigenen Festplatte, des Gehirns, der Seele. Der angeborene Speicherplatz reicht ja längst nicht mehr aus. Sim-Karte, Guthaben, Vertrag sind das Eine, persönliche Daten, Telefonnummern, E-Mails, WhatsApp-Nachrichten, gespeicherte Musikvorlieben, eventuell ureigenste Kompositionen, Fotos, Videos sind das Andere. Beim Handy ist es quasi so, als hätte man sich selber verloren. Wahrscheinlich kann man nur einen winzig kleinen Bruchteil davon wieder rekonstruieren. – Bitter, zum Weinen! Ich finde keine Worte.

Tina hat gesucht: vor der Bäckerei, wo sie zum Brezen-Kaufen ausgestiegen ist. – Fehlanzeige! Im fremden Auto, in dem sie mitgefahren ist, mehrmals und besonders gründlich. – Fehlanzeige! Im Tascherl, in der Hosentasche, im Winterstiefel, zwischen den Notizbücherln, unter dem Kopfkissen, im Schminktascherl, im Hut. Überall Fehlanzeige! Keine Chance! Lost in Space! Definitiv.
Das heißt jetzt praktisch, ein neuer Lebensabschnitt muss wohl oder übel beginnen. Gewissermaßen eine Fügung von oben, aus dem Space.
Tina packt es erstaunlich gelassen an. Gar nicht schlecht ohne Handy, auch ohne Uhrzeit. Ein neuartiges Gefühl von Freiheit. Ein unbeschriebenes Blatt. Ein paar Tage ohne Handy, unerreichbar für missliebige Zeitgenossen. Tina kann selber entscheiden, wen sie kontaktieren kann und will. Mich ruft sie auf dem Festnetz an. Eine schon fast vergessene Gewohnheit aus dem letzten Jahrtausend. Vor allem beklagt Tina die auf dem Handy gespeicherte Musik. Sie kann ihre Musik nicht mehr hören. Bitter. Aber das Leben geht weiter.

Was verlieren wir nicht alles im Lauf unseres Lebens. Mit der Datenmenge, die auf einem Handy, einem Laptop, einem Stick Platz hat, ist die Kamelhaardecke vom Anfang der Geschichte natürlich in keinster Weise vergleichbar, aber auch diese Datenmenge ist verschmerzbar. Irgendwo wird sie ja auch noch da sein, irgendwo im Space, wenn wir auch keinen Zugriff mehr darauf haben.

Oma verliert die Erinnerung. Menschen, Orte, Räume, Sicherheiten werden undeutlich, vage und verschwinden. Nur die Hitler-Verserl aus der Lesefibel von 1934 und das „Lied an die Glocke“ bleiben noch eine Weile.

Ich habe nicht nur die Eltern, sondern auch mein Elternhaus verloren. Manche Beziehung zu einem einst nahestehenden Menschen hat sich aufgelöst. Nur diffuse Spinnweben bleiben.

Aber andere verlieren ihren Namen und ihre Identität, wie wir aus Krimis wissen.

Khushal hat seine Heimat verloren, wer weiß für wie lange.

Tina hat die Meerschweinchen, die ihr ans Herz gewachsen waren, schon vor langer Zeit verloren. Schuld war die Mordlust des Fuchses.
Auch die Oma hat sie verloren.

Jakob hat den Anschluss im Studium verloren und die Freundin.

Jonas hat das Rennrad verloren, die Rain und sein bescheidenes Platzerl in der Weltmetropole Berlin. – Neuerdings hat er sein Herz verloren in Arresting.

Josef hat schon mehrere Handys verloren, aber Gott sei Dank nicht den Arbeitsplatz und auch nicht Mona. Die Zigarettensucht verliert er hoffentlich noch ganz.

Sebastian hat eigentlich noch gar nichts verloren, außer seine Unschuld. – Ja, so geht’s den Menschen, die mit einer Glückshaut und an einem Sonntag geboren sind.

Sepp hat auch noch nichts Nennenswertes verloren, nur den orangefarbenen Capri, der nach Sommer und Süden und mehr roch, und den imposanten Schlüsselanhänger aus Fuchsfell, der einst elegant aus der Hosentasche baumelte. Alles andere war nur um Haaresbreite verloren. Nicht einmal die Sterndldecke aus Polyäthylen ist verloren gegangen in den Wirren der Zeit. Dabei wäre ihr Verlust in meinen Augen leichter zu ertragen gewesen, als der der kostbaren Kamelhaardecke. Aber daran sehen wir, dass wir unser Herz manchmal ungerechtfertigt an Dinge heften. Wir müssen manches verlieren, um es im Herzen bewahren zu können. Und im Space wartet ja ohnehin alles auf uns. Das wird eine Wiedersehensfreude geben.

So verlieren wir unablässig etwas und leben trotzdem weiter. Und selbst wenn wir das Leben verlieren, wird es irgendwo weitergehen, dort, wo all die verlorenen Sachen auch aufgehoben sein müssen. – Das Haus verliert bekanntermaßen nichts und das Weltall schon gar nicht. Lost in Space, verloren im Nirgendwo, verloren in der Unendlichkeit des Universums braucht also keinem von uns Angst machen.

So können wir uns geborgen fühlen im Bündel des Lebens. Lost in Space ist ein anderes Wort  für die Ewigkeit. Bestimmt ist dort meine Jeansjacke aufgehoben und Tinas Handy und alles andere auch, an das wir schon gar keine Erinnerung mehr haben. Und ich glaube, dieser ferne Ort geht keinem von uns verloren.

Vor zwei Wochen habe ich mir einen Teppich gekauft, von dem greisen Herrn Reza Gohari, der vor mehr als siebzig Jahren seine Heimat Teheran verloren hat, mitsamt dem Schah Reza Pahlevi und dem Persien seiner großen Familiendynastie. Seither lebt er mit all seinen geretteten Kostbarkeiten in München, in einem Ein-Zimmer-Appartement. Es ist kein fliegender Teppich, aber vielleicht bekommt er diese verlorene Fähigkeit zurück. Ich glaube daran. In Isfahan ist er vor mehr als siebzig Jahren kunstfertig geknüpft worden. Geschickte Frauenhände haben ein Tor zum Paradies aus Seiden- und Wollfäden geknotet, das mit Blumen geschmückt und von lebensfrohen Vögelchen umrahmt ist. Das Paradies lädt dich und mich und uns alle ein, mit den Augen durchzuschreiten und dorthin zu gelangen, wo all unser Verloren-Geglaubtes sicher verwahrt ist. Alles Böse wird von den kampflustigen Hähnen, die über dem Torbogen Wache halten, sofort verschlungen. So gelangt nur das Geläuterte, Reine, Schöne und Gute hinein. In den Space, wie Tina sagt, ins Paradies, oder wie auch immer wir diese himmlischen Sphären nennen. Aber lost ist dort nichts, gar nichts, nicht einmal die Stricknadeln der Oma und auch nicht ihr Kramerladen. Im Space ist Platz für alles.

Weihnachten 2019

Claudia Kellnhofer
www.bitterlemonverwunderung.de

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 20012

 

Archiv November 2019

24.11.19: Florian Pfeffer: Sedierung
24.11.19: Johannes Tosin: Mittelalter
17.11.19: Veronika Seyr: Elazar Benyoëtz zum 80. Geburtstag ... mit Widmung des Gefeierten
17.11.19: Veronika Seyr: Handke, der serbische Nobelpreis und die falsche Heiligsprechung
17.11.19: Johannes Tosin: Krähen
17.11.19: Florian Pfeffer: Lügen
9.11.19: Bernd Remsing: Die narzisstische Fledermaus
9.11.19: Johannes Tosin: Lifetime
9.11.19: Florian Pfeffer: Berauscht
3.11.19: Claudia Kellnhofer: It's pretty nice, my dear!
1.11.19: Manuela Murauer: Herbstkind
1.11.19: Johannes Tosin: Die Frau vom Fluss

Am größten ist aber die Liebe

1. Korinther 13:13

(Über Wassilij Pawlowitsch Axjonow,* 20.8.1932 in Kazan, +2009 in Santa Monica, und seine Mutter Jewgenia Ginsburg
20.8.17 Geschichte zu schreiben begonnen, an seinem 85. Geburtstag (Zufall?) bis zum 22.8. 2017,
Kirill Serebrennikow, Regisseur, Jude, schwul, in St. Petersburg verhaftet.
Verhaftete Bücher - Vorgänger: Dr. Schiwago von Pasternak, Leben und Schicksal von Wassilij Grossmann, Archipel Gulag von Solschenizyn, Ermordung von Meyerhold und Michoils und vielen anderen)

Jewgenia Ginsburg und Pavel Axjonow feiern gerade den vierten Geburtstag ihres Sohnes Wassilij auf der Datscha bei Kasan. Der 20. August 1937 ist ein warmer Sommertag, aber der Wind schickt schon einen kalten Hauch aus der Steppe von jenseits der Wolga herüber. Jewgenia hat Ferien vom Pädagogischen Institut, Pavel, der Parteiarbeiter, bekommt eine Woche Urlaub. Wie alle Datschen in den Vororten besaß das Holzhäuschen am Steilufer einen kleinen Garten, in dem Jewgenias Schwiegereltern Paradeiser, Gurken, Bohnen, Karotten, Kraut Kartoffeln und Kräuter zogen. In einer Ecke hinter dem Schuppen wuchs ein zerzauster Vogelbeerbaum. Für mehr war nicht Platz in dem Zehn-Quadatmeter-Gärtchen. In der schönen Ecke der Stube hingen eine Ikone und das ewige Licht, die Mutter trug in ihrem Gebetbuch ein Stalin-Bild, das sie so küsste wie die Ikonen. Sie hielten eine Ziege, drei Hühner und einen zugelaufenen Straßenhund, den Pawlik. Pawlik war von Anfang an Wassilijs Beschützer und Gefährte gewesen. Wasjas großer Bruder, scherzten die Erwachsenen, oder seine njanja, die Kinderfrau. Er wird einmal ein Puschkin, weil der hatte ja auch seine „nounou“, die Ariana Rodionowna. Pawlik benahm sich so wie eine Hundemutter gegenüber ihren Jungen. Schon neben dem Säugling saß er stundenlang und bewachte seinen Schlaf. Als Wassilij laufen lernte, stupste der Hund ihn an, wenn er umfiel, leckte er ihm das Gesicht, wenn er weinte, begleitete ihn auf Schritt und Tritt durch das Gärtchen und war für jedes Spiel zu haben.
Wenn die Eltern das Kind durch die Wolga-Auen ausführten, lief der Hund in treuer Ergebenheit hinter ihnen her, Pawliks Familie. Er selbst war Waise, und Straßenjungen hatten ihm mit einem Stein das Auge eingeschossen.
Auch lahmte er ein bisschen auf dem linken Hinterbein, die Schwanzhaare waren abgebrannt und wuchsen nicht nach.

Genia und Pawel waren beide glühende Kommunisten und Aktivisten in der Partei, Pawel sogar im Stadtkomitee für Wasserwirtschaft angestellt.
Trotzdem konnten sie es nicht lassen, den Hund insgeheim Batjuschka - Väterchen zu nennen, kicherten dabei und meinten damit Stalin. Pawliks eines Auge war gelb, und unter seiner Schnauze stand ein buschiger Schnurrbart. Er war, gelinde gesagt, hässlich wie eine Sturmnacht. Aber treuer und liebevoller als Pawlik konnte niemand sein. Er ist wie unsere Partei, flüsterten die Eltern, wenn sie allein waren.
Wenige Tage nach Wassilijs Geburtstag werden beide Eltern von der Staatssicherheit verhaftet. Jewgenia wird wegen „trotzkistischer Umtriebe“ zu zehn Jahren Gulag verurteilt und zu anschließender ewiger Verbannung; vom Vater verliert sich sofort jede Spur, er ist im stalinistischen Räderwerk zermahlen worden. Der Vierjährige kommt zuerst nach Kostroma in ein Heim für Kinder von Volksverrätern, später können ihn die Großeltern zu sich nach Kasan holen. Nach fast zwölf Jahren, 1948, gelingt es Jewegnia, den Sohn in ihr Verbannungsgebiet von Magadan im äußersten Osten der Sowjetunion nachzuholen. Ihr erster Sohn war während der 900-tägigen Belagerung in Leningrad verhungert. Als die Mutter bei der Ankunft ihres überlebenden Sohnes zu weinen anfing, flüstert er ihr zu: „Weine nicht vor denen.“

So beschreibt sie später die Wiedersehensszene in ihrem Erinnerungsbuch „Gratwanderung“. Wassilij bleibt zwei Jahre bei ihr, beendet die Schule und geht dann zum Medizinstudium nach Kasan. 1949 setzt Stalin die Verhaftungswelle gegen jüdische Ärzte in Gang, Genia, die inzwischen im Lager einen deutschen Arzt geheiratet hat, gerät in den letzten Stalin‘schen Wahn, der erst durch dessen Tod im März 1953 beendet wird. Als die Staatssicherheit die Mutter verhaften will, stellt sich der Siebzehnjährige vor die Schergen und sagt:
„Ich habe schon mit vier Jahren weder Vater noch Mutter gehabt, und jetzt, wo es mir endlich gelungen ist, meine Mutter wiederzufinden, wollt ihr sie mir wegnehmen.“ Die Mutter wird abgeführt, aber der KGB-Oberst, dem die Worte mitgeteilt worden waren, lässt die Mutter frei.
Der Oberst zu Jewgenia Ginsburg:
„Ein erstaunlicher Junge, Ihr Sohn. Ich habe auch so einen, in diesem Alter. Aber ich weiß nicht, ob er für seinen Vater in der Situation dasselbe tun würde. Schauen Sie, so hat jedes Unglück auch seine gute Seite. Jetzt wissen Sie wenigstens, wie sehr Ihr Sohn Sie liebt.“

In ihrem ersten Erinnerungsband „Marschroute eines Lebens“ beschreibt sie diese Szene.
1955 wird sie von Chruschtschow rehabilitiert und darf nach achtzehn Jahren ihren Verbannungsort verlassen. Für Heinrich Böll, der sie in Moskau besucht, ist sie „ein weiblicher Hiob, ein Lazarus, ein Odysseus auf den Irrfahrten zwischen einigen Höllen und einigen hingetupften Himmeln“.  Er schreibt das Vorwort für die „Gratwanderungen“, das kurz nach ihrem Tod bei Mondadori erscheint. Über den Besuch ihres Sohnes in Magadan schreibt sie:
„Ich bekam Herzklopfen vor freudiger Erregung, als er in der ersten Nacht begann, mir Gedichte vorzutragen, die für mich in all den Lagerjahren Leben, Sterben und wieder Leben bedeutet hatten. Wie für mich war auch für ihn die Poesie der Schutz vor den Härten der Realität. Die Poesie war seine Art, Widerstand zu leisten. Bei diesem ersten nächtlichen Gespräch waren Blok, Pasternak, die Achmatowa dabei. Und ich freute mich, dass ich im Überfluss von dem besaß, was er von mir bekommen wollte.“
Und der Sohn zu seiner Mutter:
„Jetzt begreife ich, was das heißt: eine Mutter ... Ich begreife zum ersten Mal … eine Mutter … das ist vor allem Selbstlosigkeit. Und dann … und dann noch dieses: Ihr kannst du deine Lieblingsgedichte aufsagen, und wenn du steckenbleibst, setzt sie fort, wo du aufgehört hast.“

Seine Mutter und der deutsche Arzt Anton Walter überredeten ihn, Medizin zu studieren, weil sie beobachtet hatten, dass Ärzte im Gulag eher überlebten als andere Menschen. Sie dachten weit voraus in seine Zukunft, konnten sich aber für den Sohn eine Welt ohne Lager gar nicht vorstellen. Ganz knapp vor Stalins Tod im März 1953 wurde er als Sohn von „Volksschädlingen“ von der Uni Kasan relegiert. An der zweitältesten Universität Russlands hatten schon der Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoj und ein gewisser Uljanow studiert, der wegen revolutionärer Umtriebe rausgeworfen worden war.

Später darf Axjonow in Leningrad zu Ende studieren und wird für zwei Jahre Arzt. Aber die Literatur lässt ihn nicht los. Er nützt das kurze kulturelle Tauwetter unter Chruschtschow und holt die ganze westliche Literatur nach: Kafka, Faulkner, Hemingway, Robbe-Grillet. Dann beginnt er selbst Erzählungen zu schreiben, sie werden gedruckt, und er wird zum neuen Jugendidol. Er benutzt den Slang der Jugend, lässt seine Helden gammeln, durch die Welt ziehen und huldigt westlichen Moden. Er ist der sowjetische Beatnik der 60er-Jahre, repräsentierte wie kein anderer das Lebensgefühl der Jugend, er war beliebt und populär wie sonst nur noch Jewtuschenkos Lyrik. Dann bekommt er Schwierigkeiten wegen seiner „bourgeoisen Haltungen“ und wird aufgefordert, sich nicht dem „entarteten Typus der Jugend“ zu widmen. Er kommt aber glimpflicher davon als sein Chefredakteur bei „Junost“ (Die Jugend) Valentin Katajew, der abgesetzt und nach Nowosibirsk strafversetzt wird, damit er „das echte Sowjetleben kennenlernt“.

1968 erscheint sein erster ernstzunehmender Roman „Brandwunde“ (Oschog), was man übersetzen müsste, wie es sich anfühlt, in brennender Haut zu stecken.
Während der Okkupation der CSSR verirrt sich ein sowjetischer Panzer nach Italien und bleibt im Touristenverkehr stecken. „Bösartiges Gesudel“ schreibt die Korrespondentin der Literaturnaja Gazeta aus Prag.

Dann wird es ruhiger um Axjonow, bis er 1978 mit anderen Autoren wie Andrej Bitow, Fazil Iskander und Viktor Jerofejew den Literatur-Almanach Metropol im Samizdat herausbringt, der in der Sowjetunion verboten, im Westen nachgedruckt wird. Jetzt geht es Schlag auf Schlag: Ausschluss aus dem Schriftstellerverband und dem Verband der Filmschaffenden, zuerst Ausreiseverbot nach Cannes, um Andrej Tarkowskis „Stalker“ zu begleiten, dessen Drehbuch Axjonow geschrieben hatte, dann Ausweisung und Aberkennung der Staatsbürgerschaft. Am Flughafen entdecken die KGBler eine Bibel in seinem Reisegepäck, die sie ihm abnehmen wollen. Seine Frau kann die Staatsschützer überzeugen, dass von der Ausfuhr einer Bibel keine Gefahr für den Sowjetstaat ausgeht. So dürfen sie sie behalten und sie liegt seither im Regal in Santa Monica. „Der religiöse Mensch weiß, dass er glaubt. Der Marxist glaubt, dass er weiß. Das ist das Unglück der Marxisten.“

Im ersten Exil-Roman „Die Insel Krim“ rechnet er mit der Sowjetunion ab. Die Halbinsel trennt sich 1920 vom Festland ab und beschließt, weiterzuleben wie im alten Russland, ohne die bolschewistische Zäsur. Die Insulaner leben lange gut, reich, glücklich und gottgläubig, bis sie alles verspielen. Sie wollen alles haben, auch eine Ideologie wie das große Nachbarland. Eine kleine Gruppe von Intellektuellen putscht und führt den Bolschewismus ein. So kommt der Terror auf die Krim und vernichtet alle. Eine erschreckend weitsichtige Zukunftsvision. Die Annexion der Krim durch Putin im März 2014 hat der 2009 verstorbene Axjonow nicht mehr erlebt.

Aber wie mussten die Worte seiner Mutter in ihm gebrannt haben, mit denen sie das Aufzeichnen ihrer Lebenserinnerungen begründet:
„Ich habe mich bemüht, alles im Gedächtnis zu bewahren, in der Hoffnung, es eines Tages jenen guten Menschen erzählen zu können, jenen echten Kommunisten, die mich irgendwann gewiss, ganz gewiss anhören werden.“

Diese guten Kommunisten haben ihn gerade aus dem Land geworfen.
So hat sie den Sohn „in brennender Haut“ zurückgelassen und mit seinem eigenen Ratschlag: Weine nicht vor denen.

20.8. 2017, an Axjonows 85. Geburtstag

Veronika Seyr
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Der Amethyst

Wir sind sechs Jahre, Rupert und ich. Mein Tischnachbar in der Schule, rechts von mir. Links sitzen noch acht Kinder, das Klassenzimmer hat fünf lange Tischreihen und eine Zweierbank ganz hinten. Wir sind 52 Kinder in der ersten Klasse.
Die Lehrerin ist Frau Mitterauer, Käthe Mitterauer, sie ist uralt, noch älter als meine Großmutter scheint sie mir. Wie diese hat sie eine graue Haarwelle vorne, Löckchen an den Seiten und hinten einen mit schwarzen Nadeln festgesteckten Knödel.

Die Tische haben eine einzige lange Platte mit Löchern für Tintenfässer, wir sitzen auf einer durchgehenden Holzbank mit einer steilen Lehne. Frau Mitterauer ruft kaum je ein Kind zur Tafel, da müssten ja neun Kinder aufstehen und heraustreten, um ein Kind rauszulassen. Was für ein Wirbel das ständig wäre.
Rupert und ich sitzen in der ersten Reihe, weil wir zu den Kleinsten gehören.
Auf der Eselsbank ganz hinten sitzen nicht die zwei schlimmsten Schüler, sondern die größten, der riesige Sitzenbleiber Koch Toni und die lattenlange Gitti aus dem Möbelhaus Weisel. Gleich neben der Eingangstür steht ein riesiger Bullerofen mit einer Glastüre, hinter der man die Briketts rot brennen und das Feuer lustig züngeln sieht.

Der Fußboden ist mit schwarzem Öl eingelassen und riecht unangenehm nach Läusevertilgungsmittel. Die Tafel vorne steht auf einem Podest und ist nicht an der Wand festgemacht, sondern balanciert auf drei Beinen. Sie hat zwei Teile, einer ist nur schwarz, der andere weiß liniert. Wir sind ja Taferlklassler.
Rupert ist mein erster Freund, ein richtiger Freund, nicht ein Freund wie mein Cousin Gottfried. Den habe ich heiraten wollen, aber das ging nicht, sagten die Erwachsenen.

Außerdem waren wir übersiedelt, und Gottfried war daheim geblieben. Ja, St. Nikola an der Donau war noch immer das Daheim. Tulln lag zwar auch an der Donau, wir sind nur ein Stück die Donau runtergeschwommen, sagten die Erwachsenen. Aber die war schrecklich weit weg von der Königstetterstraße und nicht zu sehen, so wie in St. Nikola, immer vor Augen, wo immer man hinsah.
Die ganze Stadt lag dazwischen, außerdem war sie flach wie ein Nudelbrett.
Obwohl sie dreimal so breit war, das musste man zugeben, aber keine Berge, keine Tannen, keine Fichten, nur langweilige Aubäume. Alle sahen gleich aus, gleich grün-graue, aufrecht aufgestellte Reisigbesen oder Staubwedel.

Ich war mit Rupert befreundet, nicht weil er neben mir saß, sondern weil wir den gleichen Schulweg hatten. Den Hinweg nahm ich mit meiner älteren Schwester, aber den Rückweg machte ich immer gemeinsam mit Rupert.
Von der Schule durch den Schubertpark, an der Pummerslucken vorbei bis zum Gasthaus Achatz, an der Kreuzung zur Staasdorferstraße trennten wir uns, weil Rupertin die Banatler-Siedlung ging. Einmal habe ich ihn heimlich begleitet und gesehen, dass er in einem winzig kleinen Haus wohnte, ganz am Ende, wo die Äcker anfangen. Auch der Garten war klein, die Fenster und die Tür. Eine Hundehütte auf einem Taschentuch. Es war überhaupt das kleinste von allen kleinen Häusern der Banatler. Klang wie Frittaten, Frittatler? Ich wusste lange nicht, was Banatler waren, bis Mama einmal sagte, das sind Flüchtlinge aus Jugoslawien. Ich durfte Rupert nicht zu Hause besuchen, nicht, weil er ein Banatler war, sondern weil er ein Bub war. Mit denen spielt man nicht, wenn man ein sechsjähriges Mädchen ist. Und meine drei Brüder? Brüder geht, Brüder sind keine Männer. Und die Cousins in St. Nikola? Die sind auch keine. So pragmatisch und programmatisch war meine Mutter immer.

Aber es war auch eine Großfamilie darunter, die Paganis, deren Kinder zum Teil barfuß und in Fetzen herumliefen. Angeblich gingen sie betteln oder was Schlimmeres. Das waren keine richtigen Banatler, hieß es, sie sprachen auch nicht dieses komische Deutsch, sondern etwas ganz anderes. Die Polizei schaute öfter bei den Paganis vorbei.
Rupert war meinen Eltern nicht unsympathisch, hatten sie doch kurz überlegt, den jüngsten Bruder Rupert zu nennen, nach dem Patron von Salzburg. Das sind fleißige Leute, die werden uns eines Tages alle überholen. Was das nun wieder heißen sollte? Zu uns kam eine Banatlerin, Frau Marte, die meiner Mutter beim Putzen half, und ein Walter für den Garten, der eigentlich Eisenbahner war.

Rupert war nicht nur so klein wie ich, er war auch noch dick, kugelrund mit rötlichem Haar und vielen Sommersprossen. Ich mochte ihn. Er war sehr lustig, sprach ein eigenartiges Deutsch, das mich an die Märchen erinnerte, die Papa uns immer am Abend vorlas, oder eine Sprache wie manchmal in der Kirche. Banatler-Deutsch eben, sagte meine Mutter. Er unterhielt mich mit vielen Geschichten, die er sich selbst ausdachte, er beschützte mich, wollte meine Schultasche tragen und brachte mir immer Geschenke mit, einen Apfel, ein Stück Kuchen, ein selbstgeschnitztes Pfeiferl aus Hollerstauden. Wir spielten Flöte darauf. Wenn er keine Löcher hineinmachte, benützten wir sie als Blasrohr. Das weiche Innere der Hollerzweige drehten wir zu Kugerln und bliesen um die Wette weit. Es ging auch mit unreifen Hollerbeeren, aber nicht so gut, weil sie manchmal zu weich waren und das Blasrohr verstopften.

Rupert konnte überhaupt sehr vieles, weil er seinen Eltern helfen musste. Seinem Vater in Haus und Garten, seiner Mutter in der Küche. Banatler sind arme Leute, sagte meine Mutter. Der Vater war Hilfsarbeiter im Krankenhaus, er arbeitete in der Wäscherei. Hauptsache, er hat Arbeit. Sie sind noch nicht lange da, der Tito hat sie rausgeschmissen.
Alle? Ja, alle. Warum? Was haben sie getan? Nichts. Rupert war dort geboren, in einer Ebene so flach wie das Tullnerfeld, nur viel, viel größer. Und die Donau fließt auch dort. Wir sind auch noch nicht lange da. Aber wir sind nicht rausgeschmissen worden.
Das verstand ich damals noch nicht. Aus einem Land „alle rausschmeißen“ ging über meine Begriffe, konnte ich doch nicht einmal verstehen, warum wir aus St. Nikola weg mussten und in das hässliche Tulln übersiedeln mit den vielen Bombenruinen und der faden, flachen Donau. Das war gar keine richtige Donau und auch kein richtiger Wald, diese Pappeln, Weiden, Eschen.

Überhaupt war hier alles hässlich und hielt dem paradiesischen Nikola nicht stand. Dort gab es die Donau vor der Tür mit den Schiffen, nebenan das Bräuhaus mit den Ställen, Stadeln und Gärten, hinter dem Haus die Eisenbahn und darüber die Wiesen mit Obstbäumen hinauf bis zum Wald, voll mit Schwammerln und Beeren. Der Berg hieß sogar nach dem Großvater Seyrberg. Ein Stück weiter waren der Krautberg, der Rodelberg hinter dem Danzer-Wirt, der Strudenbach, die Au, die Teiche im Hössgang, die Insel Wörth, die Ruine mit dem Schusterstein. Das alles haben die Kinder ohne Erwachsene bestreunen, bespielen, besiedeln und erforschen dürfen.
Und welche Wunderwelten erst mit ihnen: die Stillensteinklamm, die Bräuerkogel, den Fischteich beim Bierführer Toni, die Ställe beim Bauern Burner, den Dimbach beim Wagenschmied und beim Müller, beide hatten Wasserräder, und im Bach konnte man Krebse und Forellen fischen, den Förster Kastner auf dem Sattel, dem ein Kind an einem Schlangenbiss gestorben war, die hölzernen Tanzböden und Kegelbahnen bei den Wirtshäusern, die Onkel Klaus mit Seyr- Bier belieferte.

Was hatte Tulln dagegen zu bieten? Nichts bis wenig. Unser Haus in der Königstetterstraße ist zwar größer als die „Villa Seyr“ in St. Nikola und soll den Eltern ganz allein gehören, weil sie es gekauft haben. Mir war es nicht wichtig, wem was gehörte, ob den Eltern, der Omama, dem Onkel Klaus und der Tante Sofie, der Tante Fritzi und dem Onkel Franz. Ich wusste, dass dem Knecht Sepp und der Köchin Nannerl gar nichts gehörte außer ihrem Gebetsbuch und dem Rosenkranz, dem ukrainischen Arbeiter Ivan gehörte nicht einmal das, aber sie gehörten genauso zum Kinderreich wie die falsche Tante Paula oder die zerlumpte und zahnlose Fanny mit ihrer Ziege im Haus an der Eisenbahn.
Ich wusste, dass dem Onkel Klaus sehr viel gehörte, aber nicht deswegen war er mein Lieblingsonkel, sondern weil er sehr kinderlieb und lustig war, mich in seinen Lastkraftwägen mitfahren ließ, vorne im Führerhaus, und ich manchmal sogar auf seinem Schoß sitzend, das Lenkrad angreifen durfte. In den steilsten und spitzesten Kurven hinauf zum Steinbruch von Gloggswald ließ er das Lenkrad los, schloss die Augen und und klatschte ein, zwei, dreimal in die Hände. So spaßig war er, und dazu hatte er noch viele lustige Worte, Sprüche und Scherze auf Lager.

Ich weiß nicht, wie es im Banat aussieht, aber aus all dem rausgeschmissen zu werden wie Rupert und die Banatler, stellte ich mir schrecklich vor. Wir konnten zumindest nach Nikola auf Besuch fahren, oder es kam jemand zu uns.
Die Mama hat erzählt, dass die meisten Banatler in langen Märschen zu Fuß zu uns gekommen sind und nur Binkel oder angefüllte Tuchenten als Gepäck auf dem Rücken schleppten. Wir waren ganz bequem in einem riesigen Saurer von Onkel Klaus übersiedelt. Die Kleineren saßen hinten auf den Tuchenten zwischen den Möbeln. Wir hatten Jausenpackerl, volle Proviantdosen mit Köstlichkeiten aus dem Bräuhaus und Wasserflaschen mit herrlichem Himbeersaft.

Wir sind in ein schönes, altes Haus gezogen mit einem großen Garten, in dem man vieles anbauen konnte. Die Banatler hatten ganz kleine Grundstücke und bauten sich ihre Häuschen selbst, die Familien und Nachbarn halfen sich gegenseitig, einkaufen gehen in die Stadt konnten sie gar nicht, sie waren nur dort anzutreffen, wo es umsonst war, in der Kirche, im Aubad, an der Donaulände oder am Sportplatz.
Rupert und ich gingen gemeinsam von der Schule nach Hause und machten im Schubertpark Station, nur kurz, denn ich musste unbedingt soforrtt!! nach Hause kommen, weil es zum obersten Gesetz gehörte, dass die ganze Familie gemeinsam isst.
Und zwar alle, Ausnahmen gab es nur, wenn jemand länger Schule oder eine sonstige Verpflichtung hatte. Es wurde „zusammengewartet“, auch wenn die Mägen noch so krachten. Die Mädchen mussten auch noch oft genug mithelfen, aufdecken, Knödel drehen, Salat machen. Disziplin und Ordnung, Pünktlichkeit und Sauberkeit, das waren die wichtigsten Prinzipien meiner Mutter, denn sonst würde ihr der ganze Laden um die Ohren fliegen. Rupert war zu Mittag mit seiner Mutter allein, der Herr Hinterleitner war entweder in der Arbeit oder er schlief, nachdem er Nachtschicht gehabt hatte.

Aber manchmal konnte ich mich am Nachmittag davonstehlen und den Rupert im Schubertpark treffen. Das sagte ich nie, immer ging ich natürlich nur zur Hochrieder Christa, zur Sterz Evi, zur Wesel Gitti oder zur Huber Anni. Das Schlimmste war, wenn ich meine kleine Schwester mitnehmen musste, was gar nicht ging, weil sie uns große Schulkinder nur störte. Radfahren üben im Schubertpark, das war das Codewort für die Treffen mit Rupert. Er brachte manchmal andere Banatler-Kinder mit, mit denen wir Verstecken spielten, Räuber und Gendarm, Indianer fingen, in der Schubertlinde kletterten oder die fremden Banatler ärgerten. Das war sehr lustig und aufregend, aber am liebsten war es mir doch, allein mit Rupert zu sein.
Unser Lieblingsspiel war das Prinzessinnen-Spiel. Ich war die Prinzessin, er mein Diener. Auch Pferdeknecht, Vasall, Sänger. Rupert hatte viele Rollen, ich nur eine, die schöne, begehrte Prinzessin. Ich nahm heimlich von zu Hause einen alten Vorhang mit, das war mein Schleier, meine Schleppe, mein Umhang. Rupert baute mir aus Stämmen und Steinen einen Thron, er brachte mir Geschenke, er unterhielt mich, sattelte mein Pferd, trug die Schleppe und beschützte mich vor Feinden. Die Feinde lebten jenseits der Pummerslucke; das war eine Bahnunterführung, ein gekrümmter Tunnel aus Backsteinen, dunkel, stinkig, gruselig, leicht abschüssig, die Eisenbahn donnerte darüber, man konnte beim Betreten nicht ans Ende sehen, jenseits war Feindesland. Wenn man wieder ans Licht kam, breitete sich dort der Friedhof aus und eine kleine Straße, in der auch Banatler wohnten, aber andere als die von Rupert, solche, die aus Rumänien rausgeschmissen worden waren. Wo immer das sein und was immer das heißen sollte. Neben dem Friedhof war ein freies Gelände, eine richtige Gstätt‘n, auch das ein herrliches Spielgelände, wenn dort nicht gerade die anderen Banatler spielten oder jemand gastierte wie in diesem Herbst der Zirkus Belli.

Schuld am Unglück war nicht Rupert und auch ich nicht, sondern der Zirkus Belli. Ich hatte mich in die dortige Zirkusprinzessin verliebt, ein wunderschönes, kleines Mädchen etwa in meinem Alter, das auf einem weißen Pferd ritt und Kunsttücke aufführte, herrlich angezogen und geschminkt war. Sie hatte eine lange, gelockte Mähne aus dunklen Haaren und oben drauf ein Krönchen. Oder war es ein Diadem? Jedenfalls baumelte auf ihrer Stirn ein funkelnder Diamant, der bei jeder Bewegung glitzernde Strahlen in die Manege schickte.
So etwas wollte ich auch haben, schoss es mir durch den Kopf und überlegte, was in unserem Haushalt dafür herhalten konnte. Zuerst dachte ich an das Kranzerl, das meine ältere Schwester zur Erstkommunion getragen hatte und an das der ältesten Schwester als Blumenmädchen hinter dem Himmel bei der Fronleichnamsprozession. Sie lagen in Seidenpapier eingepackt in einem Schuhkarton. Wir Kleinen bekamen dafür immer nur ein Kranzerl aus frischen Margeriten und Gänseblümchen, die schon vor der Prozession welk in den Haaren hingen, so müde wie die mit Zuckerwasser über Papierstreifen steif gedrehten Locken.

Beides wurde verworfen, fiel mir doch Mamas Kette ein, ihr einziger Schmuck von ihrer Mutter, der so wertvoll war, dass sie ihn nie trug. Er lag in einem Porzellanschüsserl in ihrer Nachtkastllade. Ich würde mir die Kette ausborgen, heimlich, und sie wieder zurücklegen. Die Kette war aus Silber und hatte einen taubeneigroßen Anhänger aus Amethyst. Der war an einem silbernen Plättchen an die Kette angehängt, also frei beweglich. Der würde auf meiner Stirn baumeln wie bei der Zirkusprinzessin der Diamant.
Die Operation gelang, ich konnte die Kette aus dem Nachtkastl stiebitzen und in den Schubertpark mitnehmen. So schön war noch nie jemand gewesen, das sagte auch Rupert, obwohl der die Belli-Prinzessin gar nicht gesehen hatte. Banatler hatten kein Geld für so etwas Unnötiges. Ich ritt auf meinem Fahrrad hoch zu Ross, auf der Stirn ruhte der Stein, Rupert trug stolz die Schleppe und diente mir wie immer als Getreuer.
Am Ende des Spiels war der Amethyst verschwunden, an der Kette nur noch das Silberplättchen. Ich versprach dem Rupert eine Eintrittskarte in den Zirkus, wenn er den Anhänger fände. Er kroch auf allen Vieren durch das Gras und durch die Büsche, aber er blieb verschwunden.

Das Donnerwetter, das über mich hereinbrach, war noch schlimmer als erwartet. Zuerst tobte meine Mutter, erließ sofort einen einwöchigen Hausarrest, nichts außer der Schule, sogar die Musikstunde wurde gestrichen. Schlimmer aber war, dass sie plötzlich zu toben aufhörte und in Weinen ausbrach, in ein Schluchzen und Wimmern.
Das Einzige, was mir von meiner Mutter geblieben ist. Nichts habe ich von ihr, nichts, nur diese Kette. Sie war wie ein Häufchen Elend auf ihrem Bett zusammengesunken und schwor, dass sie mich nie wieder ansehen würde, dieses grausliche, undankbare Gfrast.
Ich war mehr als zerknirscht, ich fühlte mich wie ausgelöscht. Da mir der Stein gefiel, aber ich nichts vom Wert eines so großen, geschliffenen und in Silber gefassten Amethysts wusste, konnte ich diesen Ausbruch nicht ganz verstehen.
Außerdem stimmte es gar nicht, sie hatte einen großen silbernen Handspiegel, eine Bürste mit Silberrücken und eine silberne Schale, in der diese Utensilien vor dem Spiegel der dreiteiligen Psyche lagen. Die waren auch Erbstücke von ihrer Mutter. Aber ich wusste damals noch nicht, dass ihre erste Mutter gestorben war, als sie in meinem Alter war, und dass sie eine märchenhaft schreckliche Stiefmutter bekommen hatte.

Ich suchte den Amethyst noch die weiteren zwölf Jahre, die ich in Tulln lebte, die vier in der Volksschule zusammen mit Rupert, später allein, weil Rupert nicht aufs Gymnasium ging.
Während des Hausarrests gelang es mir einmal nach der Schule, mich in den Zirkus Belli einzuschleichen und mich zwischen den Wägen und Käfigen zu verstecken. Ich würde mit ihnen auf Reisen gehen, auch eine Zirkusprinzessin werden und auf einem richtigen weißen Pferd reiten. Familie hatte ich ja ohnedies keine mehr, und um mich Gfrast würde niemand weinen.
Ich blieb nicht lange verborgen, man fand mich noch am selben Abend bei den Zigeunern, und der Hausarrest wurde gemildert, ich durfte in die Musikstunde, zur Jungschar und in den Sportverein gehen, nur mit Rupert durfte ich nie wieder spielen. Mein Vater machte sich auf Geheiß meiner Mutter mit all seiner Autorität in die Banatler-Straße auf und ließ sich das Spielverbot auch von der anderen Seite bestätigen.

Vergessen habe ich den Amethyst nie. Als ich sechzehn Jahre später das erste Mal richtig Geld verdiente, kaufte ich sofort eine Kette aus Amethyststeinen, so lang, dass sie sie dreimal um den Hals schlingen konnte oder lange tragen bis zum Bauch, einen Silberring mit einem Riesenstein und ein Armband aus reinem Amethyst, einen richtigen Protzschmuck, von dem ich wusste, dass meine Mutter nie so etwas trug. Das war einfach nicht ihr Stil.
Sie war zu Tränen gerührt, umarmte mich und meinte:
Dass du dich daran erinnerst?
Aber sie trug tatsächlich den Ring und das Armband, vielleicht extra, nur wenn ich zu Besuch kam, die Kette war und blieb ihr zu prunkvoll. Sie ließ sie beim Juwelier zu drei kurzen umbauen und schenkte sie meinen Schwestern, nicht ohne mich vorher um Erlaubnis gefragt zu haben.

Später, noch viel später erfuhr ich, dass der Amethyst, ein Quarz SiO2, sowohl für den Steinbock, wie meine Mutter einer ist, als auch für den Fisch, der ich bin, bei den Esoterikern als Geburtsstein gilt.

31.8.17

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 18023

verlegt. bewegt.

Ich bin die, die auf dem Land wohnt, aber zugezogen ist.
Ich bin die, die gesiezt wird.
Unter all den anderen Kunden, die sich mit dem Personal duzen.
Dennoch ist über die Jahre eine Vertrautheit entstanden, die mich die Kassiererin, eine Frau in mittlerem Alter, fragen lässt, ob sie sich freut auf die anstehende Veränderung, was mit einem Seufzer, Achselzucken und einer skeptischen Äußerung beantwortet wird.
Ich reagiere aufmunternd.

Das Schild hatte mich aufgeschreckt: Diese Filiale wird geschlossen und in einhundert Metern Entfernung neu eröffnet.

Die vielbefahrende Bundesstraße.
Linkerhand der flache Baukörper, 08/15 Industriedesign, ohne ästhetische Botschaft. Einerseits sparsam in seinem Verhältnis zum Umfeld, was die schlichte Formensprache betrifft, gleicher Art klotzig und dominant.
Eine Supermarktfiliale mit den fünf charakteristischen gelben Lettern drauf. (Genauso gut könnte es eine anderer Provenienz sein.)
Dahinter hält sich eine Reihe von Wohnhäusern auf. Wer hätte bei der Grundsteinlegung des Familiendomizils vor Jahren gedacht, dass das Einkaufserlebnis so derart nahe rücken würde?
Ein Landstrich, der überfüllt wirkt mit den neuen Geschäftszubauten, die der in Bundesstraßennähe gelegenen Wohnsiedlung ihre dürftige Würde nehmen.
Kommerz und Bedürfnisbefriedigung kennen kein Feingefühl.

Nur einhundert Meter von der neuen entfernt lag die alte Filiale. An einem im Koordinatensystem der Supermärkte nicht so überzeugenden Standort. Die neue liegt vielversprechend an einer belebten Kreuzung.
Natürlich war der frühere Bau ebenso stillos.
Seine Einrichtung und das karge Umfeld boten sich leicht patiniert den Ansprüchen der Kundinnen und Kunden.
Der schlichte schwarz-weiße Terrazzoboden, das angenehme Bisschen Schlendrian beim Ordnungmachen, der entspannt freundschaftliche Informationsaustausch der Verkäuferinnen zwischen den Regalen.
Es hieß, den Leitern mit den halb ausgeräumten Schachteln rundherum auszuweichen.
Das alte Gebäude machte kein Aufhebens und ebensowenig taten dies die dort beschäftigten Frauen aus der Umgebung.
Das Angebot erfüllte den Zweck.
In angenehmer Abgrenzung zum Städtischen.
Eine unaufgeregte Poesie des Überholten.

Der neue Bau hingegen macht laut von sich reden.

Ein neuer, junger Filialleiter mit dynamischem Gesichtsausdruck begrüßt die anwesenden Kunden, manche davon auf ihrem Weg durchs Warenangebot mehrmals.
Das alte Personal, allesamt Frauen, wurde übersiedelt und aufgestockt. Ein neues Team, dazwischen die alten Gesichter unter neuen roten Schirmkappen, manche blass, manche müde, manche munter, so wie in der alten Filiale eben auch.
Was hatte ich erwartet? Die bisherigen Gesichter mit neuerwachtem inspiriertem Funkeln in den Augen, motiviert geschminkt und ambitioniert im Verkaufen. Ein kollektives Tuning?

Die Grundstückspreise im Gewerbegebiet sind leistbar, Bauwerk und Parkplätze entsprechend groß. Das von außen hauptsächlich seiner räumlichen Ausdehnung geschuldete optische Pathos des Baus macht neugierig, aber was bitte soll schon groß anders sein als im alten? Die Erwartungshaltung wird schon beim Eintreten gebrochen, der Glanz des Neuen wirkt im hellen Gebäude angenehm gedimmt. Noch weiß ich nicht warum und suche die Ursache in der Beleuchtung. Erst beim zweiten Besuch entdecke ich die hohe Holzdecke, die das Licht so freundlich färbt und ein beinahe gemütliches Mikroklima erzeugt.
Die Macht der Gewohnheit wird mich das bald nicht mehr wahrnehmen lassen.

Im neuen lässt sich Konsumlust auf zeitgemäßem Niveau exekutieren. Nach neuesten marketingwissenschaftlichen Erkenntnissen angeordnete Regalblöcke in extra großzügigem Abstand zueinander, beim Abschreiten des Sortiments Einblicke erlaubend in noch nicht besuchte Gänge mit Waren, deren Bedarf einem so leichter ins Auge drängt.

An der strahlend neuen Feinkosttheke unter den dauerwerbenden Flatscreens wirken die Verkäuferinnen plötzlich nicht mehr souverän, sondern ein bisschen unbeholfen, so kommt es mir vor. Die neuen Maschinen, das größere Angebot, der kulinarische Overkill wird etwas zögerlich, aber vorbildlich in Handschuhen, an die Kunden gebracht.
Der Filialleiter wirft gerade ein aufmerksames Auge auf die Bedienung und so wird das Sich-Erkennen auf ein wohlwollendes Nicken reduziert. Ob sie sich dort wohlfühlt, werde ich ein anderes Mal in Erfahrung bringen.

Der alte Bau, um seine gelben Lettern erleichtert, wartet auf den Abriss oder eine neue Verwendung. Eine Renaturierung hat es selten gegeben, Asphalt und Beton kommen meist, um zu bleiben.

Michaela Swoboda

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