Kategorie-Archiv: Claudia Dvoracek-Iby

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LIES MICH!

Roman schlendert durch die Innenstadt, als ein Buch direkt vor ihm auf den Gehsteig knallt. „Raus damit!“, hört er zugleich eine Frauenstimme aus einem weit geöffneten Fenster im dritten Stock kreischen. „Raus!“ – „Raus!“ – und mit jedem weiteren „Raus!“ wird temperamentvoll ein Buch aus dem Fenster geschleudert. Ein junger Mann stürzt aus dem Haustor und beginnt hastig, die Bücher aufzusammeln.

„Meine Freundin ist wütend auf mich, weil ich lieber lesen als mich mit ihr unterhalten will“, klärt er Roman unaufgefordert auf, während ihnen beiden nun gelbe Reclam-Hefte um die Ohren flattern. „Tja, meine baldige Ex-Freundin ist sehr temperamentvoll“, fügt der Mann seufzend dazu. Roman, der sich weder mit aus Fenstern fliegenden Büchern noch mit Konflikten fremder Leute auseinandersetzen, sondern in Ruhe seinen obligatorischen Nachmittagsspaziergang fortsetzen will, möchte diesen dramatischen Ort rasch und dezent passieren, als ihm ein schweres Buch auf den Kopf fällt und dann vor seinen Füßen landet.

„LIES MICH!“, kann Roman noch den in Goldbuchstaben gedruckten Titel des dicken, rotgebundenen Buches entziffern, bevor ihm schwarz vor Augen wird.

„Oh, wie furchtbar!“, hört er den jungen Mann entsetzt rufen. „Ich hoffe, Sie sind nicht verletzt!“

„Aber nein, alles gut“, beeilt Roman sich, diese Gefahrenzone nun endlich zu verlassen. „Alles gut, alles gut.“

Und er geht, nein, er schwebt nun förmlich weiter, fühlt sich trotz Brummschädel so ungewohnt beschwingt, dass er ernsthaft überlegt, ob eventuell durch die Wucht, mit der dieses schwere Buch seinen Kopf getroffen hat, irgendein bis dahin schlummerndes Areal seines Gehirnes aktiviert worden ist und dies jene wunderbare Leichtigkeit in ihm auslöst.

„Lies mich, lies mich ...“, summt er fröhlich die beiden Wörter vor sich hin, die golden vor seinem inneren Auge leuchten.

‚Warum eigentlich nicht?‘, denkt Roman übermütig, ‚warum eigentlich nicht wieder einmal ein Buch lesen?‘

Er überlegt, wann dies das letzte Mal der Fall gewesen ist. Es liegt tatsächlich viele, viele Jahre zurück. Roman ist ein Spaziergänger, ein Billardspieler, ein Katzenfreund, ein Pfeifenraucher.  Roman ist vieles, aber kein Leser. Er biegt in die Fußgängerzone ein und schreitet feierlich auf eine kleine Buchhandlung zu. Höflich lässt er einer alten Frau den Vortritt, die ebenfalls in den Laden will und folgt ihr hinein. Drinnen grüßt er lächelnd die telefonierende Buchhändlerin, und nickt freundlich einem älteren Mann zu, der tief in einem Ohrensessel und in ein Buch versunken ist. Der Lesende, die alte Frau, die sogleich zielsicher ein Regal mit der Kennzeichnung Lyrik ansteuert, und er, Roman, sind die einzigen Kunden.

Roman sieht sich um und stellt sich schließlich vor eine Bücherwand mit der Aufschrift Romane – nomen est omen. Als er seinen Blick über die Bücher in den Fächern schweifen lässt, bleibt dieser auf einem ihm bekannten, dicken roten Buch hängen.

„Ah!“, entfährt es Roman überrascht und „He!“, ruft er empört, als ihm plötzlich der vertraute, goldene Titel „LIES MICH!“ ins Auge springt. Seine gute Laune verschwindet schlagartig. Tiefste Beunruhigung macht sich stattdessen in ihm breit.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, erkundigt sich die Buchhändlerin, die ihr Telefonat beendet und sich kundenfreundlich zu Roman gesellt.

„Ich bitte darum! Stellen Sie sich vor: Der Titel dieses Buches da ist mir soeben ins Auge gesprungen. Wenn Sie so nett wären …“

„Aber gerne. Dieses hier?“ Sie greift nach dem roten Buch. „Igitt! Was klebt denn da Ekliges auf dem Cover? Und warum steht da kein Titel darauf?“

„Das Eklige“, räuspert sich Roman beleidigt, „ist mein Blick, der an dem Buch hängen geblieben ist. Und der Titel ist mir, wie schon gesagt, vorhin ins Auge gesprungen. Bitte helfen Sie mir, ihn wieder herauszufischen, es juckt entsetzlich!“

„Ich fische doch nicht in fremden Augen“, weicht die Buchhändlerin, das rote Buch zwischen spitzen Fingern, hinter ihr Kassapult. „Ich ersuche Sie, Ihr Problem eigenhändig zu lösen.“

„Aber ich schaffe es nicht ohne Hilfe“, klagt Roman, und zwinkert mitleiderregend. „Und schließlich entstand mein Problem aufgrund eines Buches Ihrer Buchhandlung.“

„Junger Mann, ich will mich ja nicht einmischen“, mischt sich der ältere Mann im Ohrensessel ein, „aber ich finde Ihr Jammern so dermaßen absurd. Offensichtlich haben Sie keine Ahnung von Büchern. Der Sinn und Zweck guter Bücher ist doch, dass sie uns zunächst einmal ins Auge springen. Und dann, beim Lesen, da sollen sie uns im Innersten treffen, uns aufwühlen, uns den Atem, den Schlaf, ja, sogar den Verstand rauben! Dieses hier zum Beispiel“, hebt er das Buch in seinen Händen demonstrativ hoch, „dieses Buch liegt mir schon nach wenigen Sätzen im Magen, es geht mir an die Nieren – und, jammere ich deswegen?“ Er schnauft verächtlich. „Im Gegenteil, ich freue mich darüber! Sie sollten dankbar sein, wenn Ihnen ein Buch ins Auge sticht, denn dann will es von Ihnen gelesen werden! Also kaufen Sie es gefälligst, anstatt sich zu beklagen, und setzen Sie sich mit ihm auseinander!“

Und sichtlich, erschöpft nach seinem langen Plädoyer, verschwindet der Mann wieder hinter seinem Buch.

„Das sind die Kunden, die wir brauchen“, seufzt die Buchhändlerin zufrieden, und sagt dann an Roman gewandt: „Auch ich empfehle Ihnen, jenes Buch zu kaufen, an dem Ihr Blick kleben geblieben ist. Das Lesen dieses Buches wird Ihnen garantiert die Augen öffnen. Es kostet zwanzig Euro.“

Flink befördert sie das rote Buch in eine Papiertasche und reicht sie Roman.

„Sie erlauben doch –“, drängt sich die alte Frau vor. „Sie erlauben doch, dass ich zuvor diesen Lyrikband bezahle? Wissen Sie, ein Gedicht darin hat mich direkt ins Herz getroffen.“

„Aber natürlich, bitte, sehr gerne“, flüstert Roman und reibt beschämt so unauffällig wie möglich sein Auge.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 24068

Überraschungen am Heiligabend

Kira wälzt sich genüsslich im Schnee und läuft dann freudig weiter durch den Park. Unsere kleine Malteserhündin liebt ihre Gassi-Runden vor allem im Winter. Ungewohnt still ist es heute, am Nachmittag des Heiligabends. Ich treffe keinen einzigen Menschen im Park, nicht einmal Rudi, den Obdachlosen, der sonst immer um diese Zeit die Tauben füttert. Nur ein Jugendlicher schlurft beim Rückweg an mir vorbei, in ganz offensichtlich schlechter Laune: gerunzelte Stirn, finsterer Blick, verkniffener Mund. Ich muss an die Zeit denken, als ich in seinem Alter war und Weihnachten zuhause mit meinen Eltern und mit Tante Berta feierte. Vielleicht erwartet diesen missmutigen Jungen Ähnliches wie mich damals.

Heiligabend mit meinen Eltern, das wäre ja sehr schön gewesen, aber mit Tante Berta – tja, das war, gelinde gesagt, der Alptraum eines jeden Jugendlichen. Da gab es Tante Bertas Umarmungen, bei denen man in eine Wolke von Lavendelduft eingehüllt wurde, und ihre unangenehmen Fragen, von denen jene wie: „Erzähl mal, wie geht es dir in der Schule?“ oder „Jetzt mal ehrlich, Jonas, hast du schon eine Freundin?“, noch die harmloseren waren. Im fortgeschrittenen Weihnachtspunsch- und Eierlikörstadium erzählte sie dann langatmige Anekdoten, die niemanden interessierten, über die sie selbst sich jedoch köstlich amüsierte.

Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Viele Kilometer liegen zwischen Tante Berta und mir. Den Heiligabend verbringe ich seit Jahren ausschließlich mit meiner kleinen Familie, meiner Frau Klara und unserer Tochter Christie, die außerdem auch heute ihren neunten Geburtstag feiert. Meine Eltern werden wir morgen besuchen, und Tante Berta wird wie jedes Jahr kurz angerufen.

Ich biege mit Kira in die ruhige Straße, in der wir wohnen, und öffne wenig später die Wohnungstür. Kira läuft mir voraus durch den Vorraum Richtung Wohnzimmer. Ich ziehe meine Jacke aus und schnuppere in Erwartung des Duftes nach Tannenzweigen oder gar schon nach dem eines köstlichen Weihnachtsbratens. Doch ein völlig anderer Geruch als erwartet steigt mir in die Nase. Es riecht seltsam muffig, wie nach ungewaschener Kleidung.

Klara kommt aus der Küche zu mir, sie hat einen seltsam ratlosen Ausdruck in den Augen und rote Flecken im Gesicht. Die Flecken bekommt Klara immer, wenn etwas Unerwartetes, Stressiges passiert.

„Was ist los, Liebling?“, frage ich besorgt. „Ist etwas mit Christie?“

„Christie geht’s blendend. Sie unterhält sich im Wohnzimmer mit unserem Gast.“

„Mit unserem Gast? Aber wir haben doch niemanden eingeladen. Mit welchem Gast denn?“

Klara seufzt. „Mit Rudi, dem Obdachlosen. Du weißt schon, der Bärtige, der immer im Park die Vögel füttert. Christie hat ihn eingeladen. Sie sagte, dass du gemeint hast, es wäre für dich das Allerschönste, Weihnachten gemeinsam mit einsamen Menschen zu feiern.“

Ich bin sprachlos. Tief atme ich durch und gehe ins Wohnzimmer. Da sitzen eine strahlende Christie und ein verwahrloster Rudi auf dem Sofa. Kira liegt neben ihm und lässt sich von ihm streicheln. Christi springt auf und umarmt mich, und zugleich überfällt mich ein dankbarer Wortschwall von Rudi. Überschwänglich beteuert er, wie sehr er es zu schätzen wisse, eingeladen worden zu sein, und er bedanke sich sehr für die persönlichen Zeilen, die ihm meine Tochter gestern zu seiner größten Überraschung und Freude überreicht habe.

Bevor ich zu Wort kommen kann, sagt Klara, die neben mich getreten ist und augenscheinlich ihre Fassung wiedergewonnen hat, freundlich: „Vor der Bescherung und dem Essen ziehen wir uns immer um. Komm, Rudi, ich zeige dir das Badezimmer. Jonas schenkt dir gerne Kleidung von sich, stimmt’s, Schatz? Ihr scheint dieselbe Größe zu haben.“

Und schon geht sie mit Rudi, der mir im Vorbeigehen auf die Schulter klopft, aus dem Wohnzimmer und Richtung Badezimmer.

„Christie“, sage ich leise zu meiner Tochter, „Was ist dir da bloß eingefallen? Du kannst doch nicht einfach wildfremde Leute zu uns einladen?“

„Aber heute ist Weihnachten und mein Geburtstag und Rudi ist so nett“, sagt sie. „Er freut sich so sehr, bei uns zu sein. Er ist ein Supergast. Und du hast ja zu mir gesagt, zu Weihnachten soll man besonders an die denken, die einsam sind, und dass es für dich das Allerschönste wäre, mit ihnen zu feiern.“

Das habe ich bestimmt nicht gesagt, will ich sagen, doch da fällt es mir ein. Vorgestern haben Christie und ich über Weihnachten geredet. Das heißt, Christie hat geredet, und ich habe zugehört, mit nur einem Ohr, weil ich gleichzeitig ein wichtiges Fußballmatch verfolgt habe. Dunkel erinnere ich mich, dass sie gesagt hat, wie schön es sei, dass sie am selben Tag wie das Christkind geboren ist, doch es sei auch etwas traurig, weil sie nie eine Geburtstagsparty haben könne, weil natürlich alle ihre Freundinnen Weihnachten mit ihren Familien zuhause feiern. Aber eigentlich könne sie ja diejenigen einladen, die zu Weihnachten allein wären. Und dann weiß ich noch, dass ein ungerechtfertigter Elfmeter gegeben wurde und ein ärgerliches Tor für die Gegenmannschaft gefallen ist, danach war wieder Christies Stimme an meinem Ohr:

„… wäre das nicht am allerschönsten?“ „Jaja, das wäre am allerschönsten“, habe ich geantwortet, obwohl ich den Anfang des Satzes nicht mitbekommen hatte, und Christie hat mich glücklich umarmt und ist in ihrem Zimmer verschwunden.

Ich seufze wieder, dann sage ich: „Gut, Christie, nun ist es so, wie es ist, machen wir also das Beste daraus. Feiern wir gemeinsam mit Rudi ein schönes Weihnachts- und Geburtstagsfest.“

Eine halbe Stunde später wähne ich mich in einer dieser Vorher-nachher-Serien, die Klara manchmal ansieht. Ein frisch geduschter, dezent parfümierter Rudi erscheint. Sein ungepflegter Bart ist abrasiert, das weiße, lockige Haar ist gekämmt. Mein schwarzer Rollkragenpulli und meine schwarze Lieblings-Jeans stehen ihm hervorragend. Er sieht um Jahre jünger aus.

Klara schenkt uns drei Gläser Sekt und einen Kindersekt für Christie ein.

Wir stoßen an und plaudern Belangloses. Dann erzählt Rudi aus seinem Leben. Er erzählt, dass er noch nicht lange obdachlos ist, dass er noch vor einem Jahr eine kleine Wohnung und einen Arbeitsplatz besessen hat, doch dann sei es schnell gegangen. Scheidung, Verlust der Arbeit. Die Exfrau bekam die Wohnung und die Sparbücher, und er, der Rudi, stand plötzlich mit nichts vor dem Nichts.

„Tja“, sagt Rudi, „mit den Frauen hatte ich nie Glück. Nur eine hat es gegeben“, seine Augen leuchten sehnsüchtig auf, „eine, die wäre die Richtige für mich gewesen. Betty. Wir sind in dieselbe Volksschule gegangen. Jeden Tag habe ich ihr die Schultasche getragen und ihr in der Pause einen Kakao gebracht. Betty hat mir gesagt, was ich für sie machen soll, und ich habe ihre Wünsche erfüllt. Das brauche ich, eine Frau, die den Ton angibt, mich aber nicht ausnutzt.“

„Und wo ist Betty jetzt?“, fragt Christie.

„Das weiß ich nicht, Kind, die Stadt ist groß. Vor ungefähr zwei Jahren habe ich sie zufällig am Bahnhof getroffen. Mit ihrem Mann. Sie hat mich angesehen, hat den Kopf geschüttelt und gesagt: „Du siehst nicht gut aus, Rudolf Knopf. Da stimmt etwas nicht in deinem Leben. Achte besser auf dich.“ Dann war sie wieder weg, sie und ihr Mann sind in einen Zug gestiegen.“ Rudi seufzt.

Da klopft es plötzlich laut an der Wohnungstür. Alarmiert sehen Klara und ich uns an, dann schauen wir beide zu Christie.

„Christie“, sage ich, „hast du noch jemanden eingeladen?“

Christie lächelt mich lieb an. Es klopft wieder, und Klara geht in den Vorraum zur Tür. Kurz darauf ist eine laute Frauenstimme zu hören.

„Danke für die Einladung, Frau Nachbarin, die Ihre Tochter mir überreicht hat. Freut mich außerordentlich. Sie wissen ja, dass ich allein bin, und allein sein ist grad am Heiligabend nicht schön.“

Es ist eindeutig Elsbeth Hasenschreck, die nebenan wohnt. Seitdem vor einem Jahr ihr Mann gestorben ist und vor allem seit ihrer Knieoperation im Sommer braucht sie des Öfteren unsere Hilfe. Klara erledigt Besorgungen für sie, und ich habe erst kürzlich etwas bei ihr montiert, und war froh, als ich damit fertig war, denn Elsbeth Hasenschreck spricht immer im unangenehmen Befehlston, sogar ihr ‚Danke schön‘ klingt wie eine Zurechtweisung.

Anklagend sehe ich zu Christie und schüttle leicht den Kopf. Warum lädt meine Tochter ausgerechnet die herrische Elsbeth ein?

Da bemerke ich, dass Rudi, plötzlich blass im Gesicht, aufgeregt aufgesprungen ist, und sich seine Wangen purpurrot verfärben, als Elsbeth Hasenschreck auf Krücken das Wohnzimmer betritt.
Stumm sehen sich die beiden an. Rudi lässt sich ins Sofa sinken und greift nach seinem Sektglas.

„Das würde ich bleiben lassen, Rudolf Knopf. Das Trinken hat dir nie gutgetan“, sagt unsere Nachbarin streng.

„Du hast recht, Betty“, sagt Rudi und stellt das Glas sofort wieder auf den Tisch.

Erstaunt sehen Klara, Christie und ich von einem zum anderen.

„Ist Frau Hasenschreck die Betty, von der du uns vorhin erzählt hast?“, kombiniert meine Tochter klug und hüpft aufgeregt auf dem Sofa. „Die, der du immer die Schultasche getragen hast und in der Pause Kakao gebracht hast? Die, die du am Bahnhof getroffen hast?“

Rudi nickt. Er wirkt nach wie vor fassungslos.

„Was erzählst du meinen Nachbarn für Unsinnigkeiten, Rudolf Knopf?“, fragt Elsbeth Hasenschreck streng. „Und überhaupt, warum bist du hier? Wer hat das arrangiert?“

„Ich, ich“, ruft Christie übermütig, „ich war das! Weil heute Weihnachten ist – und mein Geburtstag!“

„Jetzt ist mir alles klar“, flüstert Rudi, und lässt sich ins Sofa sinken. „Du bist das Christkind, Christie.“

„Das stimmt, Rudi. Christie ist tatsächlich unser Christkind“, sagt Klara stolz. „Ihr Geburtstermin wäre ja erst Mitte Jänner gewesen, aber Christie kam ausgerechnet am Heiligabend zur Welt.“

„Wie auch immer“, sagt Elsbeth Hasenschreck, „Alles Gute zum Geburtstag, Kind!“

Und an mich gewandt: „Jonas, jetzt nehmen Sie mir doch endlich meine schwere Tasche ab, bevor ich zusammenbreche. Es sind Geschenke drin, die legen Sie unter den Christbaum.“

„Apropos Geschenke“, sagt Klara, „ich finde, es ist höchste Zeit für die Bescherung, was meinst du, Christie?“

„Jaaa!!“

Beim Essen nach der Bescherung werden wir Zeugen eines echten Weihnachtswunders und einer rührenden Liebesgeschichte. Rudi und Betty wirken so vertraut miteinander, als ob sie ihr Leben lang jeden Tag zusammengewesen wären. Als unsere Nachbarin erfährt, dass Rudi seit gut einem Jahr keine Unterkunft hat, sagt sie resolut:

„Damit ist es jetzt vorbei, Rudolf Knopf. Ab sofort wohnst du bei mir. Ich habe Platz genug und brauche dringend jemanden, der meine Einkäufe erledigt und mir im Haushalt behilflich ist. Freie Kost und Logis für deine Hilfe. Bist du einverstanden?“

Rudolf schweigt und räuspert sich ein paar Mal.

„Ja, natürlich, Betty, furchtbar gerne, danke, ich – ich bin einverstanden“, stottert er, und seine Augen glitzern und strahlen heller als die Weihnachtslichter am Baum.

Es ist ein fröhlicher, schöner Abend mit Rudi und Betty. Gegen zwanzig Uhr wollen sich die beiden verabschieden, und wir begleiten sie in den Vorraum.  Rudi bedankt sich zum wiederholten Mal bei Klara, Christie und mir, als Kira plötzlich die Eingangstür anbellt. Ein paar Momente später läutet es anhaltend draußen an der Tür.

„Christie?!“, mir schwant Böses. „Hast du noch jemanden eingeladen?“

Christies strahlendes Gesicht erklärt alles. Und dann geschieht ein fliegender Wechsel. Rudi und Betty verlassen unsere Wohnung und eine mir sehr vertraute Person betritt diese, einen großen Rollkoffer hinter sich herziehend. Christie und Klara werden geherzt und geküsst, dann hüllt mich eine vertraute Wolke von Lavendelduft ein. Es ist tatsächlich Tante Berta.

„Na endlich sehen wir uns wieder, mein Junge“, hält sie mich fest umarmt. „So lange habe ich auf eine Einladung gewartet! Aber nun ist sie ja, noch dazu auf so reizende Art und Weise, durch eure liebe Christie, gekommen. Da konnte ich natürlich nicht nein sagen, heute Morgen habe ich mich in den Zug gesetzt – und ja, ehe du mich fragst, ich habe Zeit und kann einige Tage bei euch bleiben!“

Mir verschlägt es die Stimme, ich höre Klara herzlich antworten, wie sehr sie sich über ihren Besuch freue. Dann hakt sich Tante Berta bei mir unter, schleift und trägt mich beinahe mit sich ins Wohnzimmer zum Sofa.

Zufrieden lässt sie sich mit mir darauf nieder und sagt:

„So, mein Junge, jetzt schenke mir mal einen kleinen Eierlikör ein, und dann erzähle mir in Ruhe. Wie geht’s Christie in der Schule? Und wie läuft’s denn so in deiner Firma? Und sag mal, bist du noch immer so verrückt nach Fußball?“

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 23188

Hintertreppen

ist es ein Beginn
das Träumen vom Erwachen
und ist es Wiederholung (es zu äußern)

die Möglichkeiten
auf Vogelfedern
zwischen Buchseiten
unter Baumrinden
zu leben

das Verlangen
nach Zwischentönen und
das Bemüht-Sein

wer weiß schon, woher
die Gedanken an Sicherheiten kommen
und wo sie zerfallen

am Anfang steht
immer (und)
ein blühender Baum

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23165

Orlando und ich

Der Freitag beginnt anstrengend. Ich bin ja generell kein Freund von Smalltalk, aber Smalltalk frühmorgens ist mir ein Gräuel. Und als ich gegen sieben Uhr außer Haus gehe, wer steht da direkt vor meinem Gartentor und winkt mir freudig zu? Eine wahre Smalltalk-Meisterin: meine Nachbarin Ilse. Sie ist knapp achtzig Jahre alt, lebt wie ich allein und ist im Gegensatz zu mir immer gesprächsfreudig. Sie winkt übrigens nur mit einer Hand, in der anderen hält sie eine rote Leine. Am anderen Ende der Leine befindet sich der Hund, mit dem sie neuerdings unterwegs ist. Ein Spaniel-Mischling, der freundlich und ruhig wirkt. Als ich – was bleibt mir anderes übrig! – auf sie zugehe, begrüßt mich der Hund wedelnd. Ich bücke mich und streichle ihn, er drückt sich leicht gegen meine Beine. Ich habe nichts gegen Hunde. Die reden wenigstens nicht, sind bei weitem nicht so anstrengend wie ihre Besitzer. Wie eben Ilse, die mich sogleich mit einem Redeschwall überfällt:

„Guten Morgen, Oskar! Orlando mag Sie, wie schön! Ist er nicht süß? Wissen Sie, er ist ein unglaublich feiner, braver Hund. Habe ich Ihnen eigentlich schon erzählt, wie ich zu ihm gekommen bin? Richtig gesagt, wie er zu mir gekommen ist? Nein?! Das muss ich Ihnen erzählen, das glauben Sie nicht – haben Sie kurz Zeit?“

Natürlich gibt sie mir nicht die Möglichkeit, „Nein“ zu sagen, sondern spricht ohne Punkt und Komma weiter:

„Es war vor zwei Wochen an einem sonnigen Morgen wie heute. Ich saß im Garten, frühstückte und las ein Buch. Plötzlich stand er vor mir. Vor Schreck fiel mir das Buch aus der Hand. Das Buch war übrigens Virginia Woolfs ‚Orlando‘. Darum nannte ich ihn so. Wahrscheinlich hat er den Frühstücksschinken gerochen und ist dem Geruch nach – und Sie wissen ja, Oskar, dass meine Gartentür immer offen ist. Der Ärmste war völlig ausgehungert. Ich fütterte ihn. Ging mit ihm zum Tierarzt. Danach schnurstracks zum Hundefriseur, sein Fell war furchtbar verfilzt. Orlando ist kerngesund, circa fünf Jahre alt. Er ist jedoch nicht gechipt, nicht registriert. Ich hätte ihn ins Tierheim bringen können, aber das habe ich nicht übers Herz gebracht. Er ist so lieb und intelligent. Außerdem stubenrein, folgsam – ein richtiger Bilderbuchhund. Aber die Sache ist die: Ich bin leider zu alt für einen bewegungsfreudigen Hund, meine Knie und meine Bandscheiben, die spielen nicht mehr mit. Ja, und darum bin ich auf der Suche nach dem richtigen Menschen für Orlando, der ihn bei sich aufnehmen ...“

An diesem heiklen Punkt schaffe ich es endlich, sie zu unterbrechen: „Dann wünsche ich Orlando alles Gute und Ihnen einen schönen Tag, Ilse – ich muss jetzt wirklich dringend ins Büro.“

Und rasch gehe ich an den beiden vorbei und Richtung Arbeit.

Nie im Leben, denke ich, würde ich einen Hund nehmen. Ich mag Hunde, aber sie sind etwas für extrovertierte Leute. Es wäre eine Qual für mich, mich ständig beim Gassigehen mit anderen Hundebesitzern unterhalten zu müssen.

Eine Viertelstunde später warte ich im Bürogebäude auf den Lift und freue mich auf mein stilles Arbeitszimmer. Ich schätze es sehr, allein in einem Büroraum zu arbeiten, ohne lästige Kollegen. Der Lift kommt, ich trete ein. Die Tür schließt, öffnet sich aber nochmal, und eine Kollegin tritt schnell samt ihrem Beagle ein. Der Beagle ist einer der zwei Bürohunde. Mein Chef, ein absoluter Hundenarr, besitzt den zweiten.

„Guten Morgen“, sagt die Kollegin.

„Guten Morgen“, sage ich, drücke auf den Liftknopf und starre ins Leere. Von dieser Kollegin weiß ich, dass sie Marie heißt, dass sie wie ich um die vierzig Jahre alt ist und dass sich ihr Bürozimmer im selben Stockwerk wie meines befindet. Und ich finde, das reicht. Mehr braucht man von einer Kollegin nicht zu wissen.

Der Beagle schnüffelt interessiert an meinen Hosenbeinen.

„Lucy“, sagt Marie tadelnd. „Entschuldigung“, sagt sie zu mir, „das macht sie normalerweise nie.“

„Kein Problem“, sage ich, „sie riecht wahrscheinlich Orlando.“ Und als Marie mich fragend ansieht, füge ich erklärend dazu: „Den Hund meiner Nachbarin.“

Zum Glück hält nun der Lift, wir steigen aus, wünschen einander einen schönen Tag und jeder verschwindet in seinem Bürozimmer.

Aufatmend lasse ich mich in meinen Schreibtischsessel fallen. So viel Kommunikation vor acht Uhr morgens strengt mich sehr an. Doch kaum fange ich an, mich etwas zu entspannen, tritt mein Chef mit seinem Schäferhund Rex ein. Und dann wird es so richtig anstrengend. Zuerst lobt mich mein Chef für meine jahrelange gute Arbeit, die ich leiste. Doch dann kommt er zur Sache. Er bittet mich eindringlich, doch etwas sozialer zu agieren, mehr mit meinen KollegInnen zu kommunizieren, in den Mittagspausen nicht immer zu verschwinden, doch mal auf eine Betriebsfeier mitzugehen. Dann entschuldigt er sich, weil Rex die ganze Zeit über an meinen Hosenbeinen schnüffelt, und ich stottere denselben Satz wie zuvor im Lift, dass Rex wohl den Hund meiner Nachbarin riechen würde.

„Soso, der Nachbarshund“, sagt mein Chef nachdenklich. Und dann: „Jetzt sage ich Ihnen mal was, Oskar. Ich bin überzeugt, dass Ihnen ein eigener Hund sehr guttun würde. Denken Sie darüber nach. Hunde sozialisieren Menschen, sage ich immer.“ Er klopft mir auf die Schulter, und lässt mich endlich allein. Allein mit meiner schlechten Laune.

Als ich mittags das Bürogebäude verlasse, umfängt mich sogleich die ganz spezielle Energie, die an einem beginnenden Wochenende herrscht: lärmende Schulkinder, Gelächter, Musik aus geöffneten Fenstern. Diese spürbare Lebensfreude um mich herum macht mich noch missmutiger, als ich es ohnehin bin.

Frustriert kicke ich einen Stein vor mich hin und denke an die Aussagen meines Chefs. An seine Schnapsidee, mir einen Hund anzuschaffen. An die sogenannte soziale Kompetenz, die von mir erwartet wird. Kann nicht akzeptiert werden, dass ich meine Ruhe haben will? Reicht es denn nicht, verlässlich meine Arbeit zu erledigen? Meine KollegInnen sind ja nicht unsympathisch, aber ich sehe keinerlei Anlass, nach Büroschluss mit ihnen auf ein Getränk zu gehen.

Ich bin eben Oskar, ein stiller Mensch, und nicht Ilse, die ihr Herz auf der Zunge trägt, und die – oh nein, das darf doch nicht wahr sein! – die mir tatsächlich soeben, zum zweiten Mal heute, mit einer Hand fröhlich entgegenwinkt. In der anderen Hand hält sie Orlandos Leine und eine Einkaufstasche. Es ist zu spät, rasch die Straßenseite zu wechseln. Nicht schon wieder, fluche ich innerlich.

Orlando scheint mich zu erkennen, denn er wedelt freudig, als er mich sieht, und zieht leicht in meine Richtung. Und da passiert es: Ilse verheddert sich irgendwie mit Leine und Einkaufstasche, stolpert und stürzt. Und liegt nun auf dem Gehsteig vor mir. Orlando schleckt ihr über Hände und Gesicht. Instinktiv nehme ich seine Leine.

„Ojemine“, jammert Ilse, greift auf ihr linkes Bein. „Ich kann nicht aufstehen.“

„Ich rufe die Rettung“, sage ich nervös, wähle sogleich die Nummer, gebe durch, was die sachliche Stimme am Telefon wissen will.

„Aber was mache ich denn nun mit Orlando?“, höre ich Ilse währenddessen rufen. „Wer kümmert sich jetzt um ihn?“

Und als ich das Telefonat beendet habe, sagt sie eindringlich zu mir: „Oskar, ich bitte Sie inständig, kümmern Sie sich um ihn, bis ich wieder zuhause bin. Bitte! Schauen Sie, in der Tasche hier ist reichlich Hundefutter, ich war vorhin einkaufen.“

Ich schnappe nach Luft, und dann geht alles blitzschnell. Das Rettungsauto hält, zwei Sanitäter kommen zu uns, stellen Ilse ein paar Fragen, legen sie vorsichtig auf eine Trage, Ilse und ich tauschen unsere Handynummern aus – und schlussendlich stehe ich da, die Einkaufstasche in der einen und Orlandos rote Leine in der anderen Hand. Orlando schaut angespannt in die Richtung, in die das Rettungsauto mit Ilse gefahren ist, und fiept leise.

„Tja, also“, sage ich hilflos. „Alles gut, Orlando.“

Als ich seinem Namen sage, hebt er seinen Kopf und sieht mich aus warmen braunen Hundeaugen an. Der Arme ist sicher genauso durcheinander wie ich, denke ich, gehe in die Hocke und streichle ihn.

„Vielleicht gehen wir mal eine Runde im Park, Orlando, und überlegen, wie’s nun weitergehen soll“, sage ich, während ich ihn hinter seinen lockigen Hängeohren kraule. Das mag er offensichtlich besonders gern, denn nach einer Weile wirkt er tatsächlich entspannter. Und dann gehen wir los, Orlando dicht an meinen Beinen. Unfassbar. Ich und ein Hund. Eigentlich gehe ich nach der Arbeit immer sofort nach Hause. Fußballschauen, ein Bier trinken, entspannen. Und nun gehe ich mit einem Hund spazieren, der an Hausecken und Bäumen schnuppert und markiert. Mir gehen tausend Gedanken durch den Kopf. Wo richte ich ihm einen Schlafplatz? Wie beschäftige ich ihn? Wie oft muss er fressen?

Im Park befindet sich ein Trinkbrunnen, aus dem Orlando trinkt. Wir spazieren weiter, dann bleibt Orlando stehen, macht ein großes Geschäft, und ich bücke mich, um es zu beseitigen.

Als ich mich wieder aufrichte, steht ein Mann mit einem Labrador vor uns.

„Männchen oder Weibchen?“, fragt der Mann, während sich die Hunde beschnüffeln.

„Männchen“, antworte ich widerstrebend, und weiß wieder, warum ich nie einen Hund haben will.

Wenig später setze ich mich auf eine Parkbank im Schatten. Orlando platziert sich direkt vor mich, und sieht mich fragend an. Ich krame in Ilses Einkauftasche: Hundefutterdosen, Leberwurst, Packungen mit Leckerlis. Ich öffne eine davon. Orlando frisst mir aus der Hand. Ich streichle ihn. Wie weich sein schwarz-weißes Fell ist. Und wie hübsch er ist. Ilse hat recht, er ist ein ausgesprochen liebes Tier. Er schleckt mir ein paarmal über meine Hände, dann streckt er sich zu meinen Füssen aus, schnauft einige Male und schläft ein.

Plötzlich läutet mein Handy. Ich zucke zusammen. Mein Handy läutet nämlich sehr selten. Es ist Ilse.

„Ich bin hier in besten Händen, Oskar“, berichtet sie. „Nur wird mein Spitalaufenthalt wohl länger dauern. Oberschenkelhalsbruch. Ich muss operiert werden. Aber wie geht es Orlando? Und Ihnen? Kommen Sie zurecht mit ihm?“

Ich höre mich – und kann es selbst nicht glauben – ganz ruhig antworten: „Machen Sie sich keine Sorgen, Ilse. Wir sitzen im Park. Orlando hat getrunken und gefressen und schläft gerade. Ich kümmere mich um ihn, bis Sie wieder auf den Beinen sind.“

„Tausend Dank, Oskar! Sie wissen nicht, wie sehr mich das beruhigt.“

Sie erklärt mir nun ausführlich, wie viel und welches Futter Orlando morgens und abends bekommen soll, dann muss sie das Telefonat beenden, weil sie für die Operation vorbereitet wird.

Ich stecke das Handy weg, betrachte den schlafenden Hund zu meinen Füßen.

Da öffnet er die Augen, setzt sich, sich genüsslich streckend, auf, und sieht sich gähnend um.

„Oh, ist der süß!“ Zwei Kinder bleiben stehen. „Dürfen wir ihn streicheln?“

Zögernd nicke ich. Sie knuddeln und herzen ihn, und Orlando scheint es zu genießen.

Als die beiden gegangen sind, sage ich. „Nun gut, Orlando. Ich schlage vor, dass ich dir jetzt zeige, wo du vorübergehend wohnen wirst.“

Wir marschieren los. Beim Parkausgang kommen wir direkt an der Hundezone vorbei. Orlando wedelt und winselt aufgeregt, als er einige Hunde entdeckt, die drinnen auf der großen Wiese leinenlos miteinander herumtollen. Und ich jaule innerlich auf, als ich eine Gruppe von Hundebesitzern sehe, die sich angeregt miteinander unterhalten.

Das schaffe ich nicht, da reinzugehen, denke ich. Aber Orlando zieht mich Richtung Eingang, und winselt derart sehnsüchtig, dass ich meinen ganzen Mut zusammennehme und die Tür öffne.

„Aber nur kurz, Orlando“, sage ich. Zwei große Hunde laufen direkt auf uns zu. Ich bekomme Angst. Hoffentlich tun sie Orlando nichts. Zum Glück rennen die beiden an uns vorbei.

„Oh, du bist doch – Oskar?“, sagt eine Frauenstimme.

Ich drehe mich erschrocken um. Vor mir steht meine Kollegin, Marie, und lächelt mich an. Neben ihr wedelt Lucy. Sie und Orlando beschnuppern sich sofort interessiert und wirken freudig aufgeregt.

„Ist das der Hund, von dem du im Lift geredet hast? Der von deiner Nachbarin?“

„Ja, das ist Orlando, er gehört Ilse. Aber die ist jetzt im Spital – “, stottere ich. „Ach, es ist eine komplizierte Geschichte.“

Marie lächelt mir aufmunternd zu. „Jedenfalls ist Orlando ein sehr freundlicher Hund. Lass ihn doch mit Lucy spielen und erzähle mir alles“, sagt sie.

„Meinst du, ich kann ihn losleinen?“

Marie nickt. „Ja, das erkenne ich an seiner Körpersprache. Er und Lucy sind sich sympathisch. Und die Hunde hier sind alle sehr soziale Tiere, du brauchst dir keine Sorgen machen.“

Ich leine Orlando los.

Sofort laufen Lucy und er auf die Wiese, umkreisen einander spielerisch.

„Sehr schön“, lacht Marie, „sie verstehen sich prächtig. Komm, setzen wir uns und erzähle mir.“

Wir setzen uns auf eine der Parkbänke, und ich erzähle Marie die ganze Story von Ilse und Orlando. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt an einem einzigen Tag so viel geredet habe.

„Ich finde es großartig, dass du dich um Orlando kümmerst“, sagt Marie.

„Ach, ich wurde überrumpelt. Und ich hoffe sehr, dass Ilse möglichst bald zuhause und Orlando wieder bei ihr sein kann.“

„Mhm“, sagt Marie. „Ein Oberschenkelhalsbruch ist eine langwierige Sache. Und nach dem, was du über Ilse erzählt hast, sehe ich ehrlich gesagt im Grunde nur zwei Optionen für Orlando. Ein Zuhause bei dir – oder Tierheim.“

Ich erstarre vor Schreck über ihre Worte.

„Also die erste Option ist nicht möglich. Ein Hund passt überhaupt nicht zu meiner Lebensweise – zu mir – das sieht man doch sofort!“

„Das sehe ich völlig anders. Ich habe ein sehr gutes Gefühl bei euch beiden. Orlando hat bereits eine gute Bindung zu dir aufgebaut. Und du kannst richtig gut mit ihm umgehen, Oskar. Du hättest doch genügend Zeit für ihn, oder? Und du könntest ihn ins Büro mitnehmen. Überlege es dir bitte. – Aber ja, natürlich, einen Hund aufzunehmen, ist keine leichte Entscheidung. Ein Hund verändert das Leben seines Menschen grundlegend.“

Ich fühle mich zu verwirrt und zu erschöpft, um zu antworten. Da stürmen Orlando und Lucy mit wehenden Ohren zu uns, schmiegen sich an unsere Beine, wollen gestreichelt werden. Zufällig berühren sich Maries und meine Hände beim Hunde-Streicheln – und plötzlich schauen wir uns direkt in die Augen. Marie hat wunderschöne grüne Augen. Schnell muss ich wieder wegschauen.

Marie räuspert sich. „Wir müssen jetzt gehen, Oskar. Lucy bekommt um die Zeit immer ihr Abendessen.“

Sie leint ihre Hündin an, greift in ihre Tasche und gibt mir ein Kärtchen.

„Meine Handynummer“, sagt sie, „falls du Fragen bezüglich Orlando hast. Du kannst mich jederzeit anrufen.“

Und dann sitze ich, bevor ich mit Orlando nach Hause gehe, noch minutenlang da, betrachte Maries Visitenkarte und denke nach. Orlando hüpft neben mich auf die Bank und legt seinen Kopf auf meine Knie. Ich kraule ihn hinter den Ohren, und er schnauft zufrieden. Da wird es auf einmal ganz weit und leicht in mir drin. Und mir ist ganz klar, dass es nur eine einzige Option gibt. Auch wenn es bestimmt oft anstrengend werden wird, Ilse hat heute den richtigen Menschen für Orlando gefunden: mich.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 23173

Lux

2. Juli Ein heißer Sommertag kündigt sich an. Frühmorgens gieße ich all die Sträucher und Pflanzen, muss lachen, weil Lux übermütig unter dem Gartenschlauch hin und her saust und bellend nach dem Wasserstrahl schnappt. Es freut mich, dass Lux sich so wie ich schnell hier eingelebt hat, sich zuhause fühlt – wieder kann ich kaum glauben, dass dieser blühende Garten und das frisch gestrichene kleine Haus tatsächlich mir gehören. Meine Großeltern haben mir dieses Grundstück, ihren Nebenwohnsitz, letztes Jahr überschrieben. Wie dankbar ich ihnen dafür bin! Ja, denke ich, es ist die richtige Entscheidung gewesen, die Stadtwohnung zu kündigen und, nach Renovierungsarbeiten im Frühjahr, hierher an den Stadtrand zu ziehen. Auch meinen Job habe ich gekündigt, nachdem ich die Zusage einer Kanzlei in der Nähe bekommen habe. Anfang September ist mein erster Arbeitstag, es liegen also zwei freie Monate vor mir, eine Zeit, die ich zum Krafttanken nutzen will, dazu, den Verlust von Anna zu verarbeiten.

5. Juli Hitze umfängt mich, als ich aus dem klimatisierten Lebensmittelgeschäft trete. Geblendet von der Mittagssonne taste ich nach Lux’ Leine, die ich auf der dafür vorgesehenen Stelle vor dem Geschäft befestigt habe. Meine Hand greift ins Leere. Ungläubig sehe ich auf den leeren Platz, auf den Lux sich doch vor kurzem folgsam hingelegt hat, um auf mich zu warten, starre auf den nackten Boden, kann nicht begreifen, dass er nicht hier ist.

Am Abend habe ich es noch immer nicht realisiert. Jemand muss Lux gestohlen haben. Linda, meine Nachbarin, hat mir geholfen, eine Vermisstenanzeige anzufertigen. Bei brütender Hitze haben wir gemeinsam dutzende Kopien davon in der Umgebung aufgehängt. Ohne Linda hätte ich es nicht geschafft. Die ganze Zeit über befinde ich mich in einer Art Schockstarre, denke an Anna, denke an Lux. Linda hat gemeint, ich solle es unbedingt bei der Polizei melden, doch ich entscheide mich dazu, abzuwarten, entscheide mich, daran zu glauben, dass Lux zurückgebracht werden wird.

7. Juli Zwei Anrufe, die sich als Fehlanzeigen herausstellen, doch nachmittags eine Mädchenstimme, leise, unsicher, an meinem Ohr:

„Ja, Kim spricht hier, es ist so, – uns – uns ist ein Hund zugelaufen, ein Spaniel, sehr zutraulich, eindeutig der Hund auf der Vermisstenanzeige.“

Eine knappe Stunde später hüpft Lux freudig winselnd an mir hoch, überglücklich drücke ich ihn an mich. „Ich bin so froh“, sage ich immer wieder. „Lux ist mir unendlich wichtig, weil ...“ Ich muss schlucken, kann nicht weitersprechen, sehe erst jetzt von Lux auf zu den beiden Mädchen, die ihn mir gebracht haben.

Die Anruferin, Kim, ist auffallend dünn. Eine riesige Sonnenbrille verdeckt beinahe gänzlich ihr blasses Gesicht. Ihre Bewegungen sind fahrig, als sie stotternd erzählt, wo Lux ihnen zugelaufen ist. Es ist offensichtlich, dass sie lügt. Das kleine Mädchen, vermutlich ihre Schwester, schätze ich ungefähr acht Jahre alt. Sie sieht traurig, sieht verweint aus.

„Meine Tochter – sie hat Lux sehr ins Herz geschlossen.“

Meine Tochter? Eine sehr junge Mama also, denke ich, Kim wird dann wohl in meinem Alter sein, Mitte zwanzig.

„Oh, das tut mir leid, dass du traurig bist“, sage ich zu der Kleinen, und zu beiden: „Aber kommt bitte rein, ich mache Tee –“

„Nein, danke“, unterbricht mich Kim, fährt sich durchs strähnige Haar. Ihre Hand zittert. „Wir haben es eilig, müssen gehen.“

„Aber, der Finderlohn –“, ich greife in meine Tasche, drücke ihr einen Geldschein in die Hand. Eiskalte Finger, spüre ich, eiskalt, trotz der Hitze.

„Danke“, sagt sie beinahe tonlos. „Komm, Stella.“

Die Kleine streichelt Lux liebevoll, reißt sich dann los, geht schnell zum Tor und hinaus, Kim hinter ihr her. Ich sehe ihnen nach, als sie den Gehsteig entlanggehen. Kim will den Arm um ihre Tochter legen, doch diese weicht der Umarmung aus, geht mit gesenktem Kopf neben ihr her.

8. Juli Die beiden gehen mir nicht aus dem Kopf. Nach dem Frühstück beschließe ich, Kim anzurufen, um sie und ihre Tochter einzuladen. In diesem Moment höre ich draußen freudiges Bellen, öffne das Fenster, sehe Lux wedelnd vorm Zaun stehen. Ein Mädchen, ich erkenne eindeutig Stella, greift durch die Holzstäbe und streichelt Lux. Ich rufe ihr zu:

„Stella, grüß dich! Komm doch rein, das Tor ist offen, du kannst gerne mit Lux spielen!“

Stella sieht erschrocken zu mir und läuft weg. Sie schämt sich, denke ich, wahrscheinlich hat sie Lux vorgestern vor dem Geschäft gesehen, sich in ihn verliebt, ihn einfach losgeleint und mitgenommen. Kim war bestimmt entsetzt, erst recht, nachdem sie meine Plakate entdeckt hat, hat aber ihre Tochter nicht verraten und mir eine Lügengeschichte aufgetischt.

Ich denke daran, wie sehnlich ich mir als Kind einen Hund gewünscht habe, nehme mein Handy und drücke auf Kims Nummer, die ich nach ihrem Anruf gespeichert habe.

„Ja, Kim hier.“ Ihre Stimme ist kaum vernehmbar.

„Hallo Kim, hier spricht Inka, ihr habt mir gestern Lux zurückgebracht. Gerade vorhin war Stella vor meinem Haus, sie traute sich allerdings nicht herein. Bitte sage ihr, dass sie jederzeit kommen kann, um mit Lux zu spielen.“

„Ja, ich richte es ihr aus.“ Sie spricht schleppend, langsam. „Danke, das – das ist sehr nett von dir.“

9. Juli Ich sitze am Gartentisch, frühstücke und lese Zeitung, als ich Stella draußen auf dem Gehsteig auf und ab gehen sehe, während sie immer wieder verstohlen zu mir über den Zaun sieht. Endlich fasst sie sich ein Herz und kommt zur Gartentür.

„Stella, wie schön“, sage ich, lege die Zeitung weg, öffne ihr das Tor. „Schau nur, da freut sich aber jemand sehr!“

Lux kommt angesaust, er springt an ihr hoch, sie geht in die Hocke, er leckt ihr übers Gesicht. Das Mädchen quiekt, lässt sich lachend ins Gras fallen, Lux hüpft begeistert um sie herum. „Er mag dich sehr!“, sage ich.

15. Juli Lux sitzt wartend vorm Gartentor. Minuten später ist die Freude riesig, denn Stella ist wieder da. Wie die Tage zuvor begrüßen sich Hund und Kind stürmisch. Dann kommt Stella zu mir, wir decken gemeinsam den Gartentisch. Stella trinkt Kakao, isst ein Honigbrot, wieder hat sie noch nicht gefrühstückt. Sie trägt dasselbe fleckige Kleid wie seit zwei Tagen, fällt mir auf, ihr Haar ist ungewaschen, ungekämmt. Vage Sorge um sie steigt in mir auf.

Sie kramt in ihrem Rucksack, reicht mir ein Kinderbuch über den Tisch, sagt stolz: „Schau, Inka, das hat Mama gezeichnet.“ Ich bewundere die fröhlichen, fantasievollen Zeichnungen. Kim ist also Illustratorin. Es freut mich, dass Stella mich ein wenig in ihre und Kims Welt blicken lässt, bisher hat sie kaum etwas über sich erzählt. Was ich weiß, ist, dass die beiden in einem Gemeindebau in meiner Nähe wohnen, sie gerne Schokoeis isst, dass sie ihren Papa nicht kennt, nach den Ferien in die dritte Volksschulklasse kommt.

Nach dem Frühstück machen wir einen langen Spaziergang mit Lux, gegen Mittag sagt Stella: „Bis morgen, Inka! Bis morgen, Lux! Jetzt ist Mama bestimmt schon aufgestanden!“ Ich sehe ihrer kleinen Gestalt nach, wieder wird mir schwer ums Herz.

18. Juli Nach den Hitzetagen heute endlich erlösender Regen. Wir machen es uns im Haus gemütlich, ich lege eine CD ein, singe laut zur Musik, Lux jault dazu, und Stella lacht.

„Warum hast du Lux eigentlich Lux getauft?“, fragt sie später, als wir schokoeisessend am Sofa sitzen. „Er ist ja ein Hund und kein Luchs.“

„Meine beste Freundin Anna hat ihm diesen Namen gegeben. Lux hat zwei Jahre lang Anna gehört, bevor er zu mir gekommen ist vor drei Monaten. Lux bedeutet Licht. Weißt du, Anna war oft sehr traurig. Sie hatte dunkle Tage, und Lux hat ihre Dunkelheit erhellt.“

„Aber warum hat sie Lux dann dir gegeben?“

„Sie ist gestorben, Stella. Ihre Eltern haben mir Lux gegeben. Sie sagten, Anna hätte das bestimmt so gewollt. Und darum war ich auch doppelt froh, dass deine Mama und du ihn mir wiedergebracht habt. Erstens weil ich Lux sehr liebe, und zweitens, weil ich das Gefühl habe, dass durch Lux auch Anna bei mir ist.“

Stella schweigt, dann fragt sie: „Inka, und wer ist jetzt deine beste Freundin?“

„Mhm, ich kenne sehr liebe Menschen, aber eine beste Freundin habe ich nicht.“

„Ich habe auch keine beste Freundin“, sagt Stella. „Obwohl.. Zoe, die wohnt im Stock unter uns, sie ist sehr nett, aber ich kann sie nicht mehr zu mir einladen, weil ...“ Sie stockt. „Inka, wir beide können ja beste Freundinnen sein, du bist zwar schon alt, aber ...“

„Was heißt das, ich bin alt, na warte, du!“ Ich nehme sie in den Arm und kitzle sie, sie lacht und lacht, und ich sage: „Gerne, kleiner Stern, ich möchte sehr gerne deine beste Freundin sein.“

„Stern? Ich bin doch kein Stern.“

„Dein Name Stella bedeutet Stern.“

Stella wirkt nun nachdenklich, verabschiedet sich dann bald.

19. Juli Ich soll mich aufs Sofa setzen, meinen Arm ausstrecken und die Augen schließen. Als ich sie wieder öffnen darf, ist ein buntes Perlenband um mein Handgelenk gebunden.

„Ein Freundschaftsband. Selbst gemacht“, erklärt Stella. „Sieh nur, ich trage das gleiche.“

„Wie schön, Süße! Danke! Ich werde es immer tragen.“

Gerührt umarme ich sie. Sie kuschelt sich an mich.

„Inka, ich sage dir ein Geheimnis, weil wir ja beste Freundinnen sind. Ich weiß, warum ich Stella heiße. Ein Stern macht Licht in der Nacht, und das braucht meine Mama, weil sie dunkle Tage hat, so wie Anna.“

Ich bin sprachlos.

„Schwöre mir, dass du es niemandem erzählst.“

„Ich schwöre, Stella.“

In der Nacht kann ich nicht schlafen. Ich beschließe, Kim gleich morgen früh anzurufen, um ein Treffen mit ihr zu vereinbaren. Seit dem Tag, an dem sie und Stella Lux gebracht haben, habe ich Kim nicht wiedergesehen. Sie richtete Grüße aus, aber nie begleitete sie Stella zu mir. Ich muss unbedingt mit ihr reden, denke ich. Je länger ich wach liege, desto mehr alarmierende Zeichen fallen mir ein.

20. Juli Kims Handy ist ausgeschaltet. Ich hinterlasse eine Nachricht, bitte sie um einen Rückruf. Lux sitzt vorm Gartentor und wartet auf Stella, die uns üblicherweise vormittags besucht. Doch Stella kommt nicht. Als sie gegen Mittag noch nicht aufgetaucht ist, rufe ich ein weiteres Mal Kim an, da Stella noch kein Handy besitzt. Es ist nach wie vor ausgeschaltet.

Am Nachmittag parkt ein Auto direkt vor meinem Haus. Eine ältere Frau mit verhärmten Gesichtszügen steigt aus. Und Stella. Ich erschrecke, als ich ihr blasses, verweintes Gesicht sehe. Sie stürzt sich in meine Arme, als sie mich sieht, schluchzt herzzerreißend.

„Meine Süße, ist gut, ist ja gut“, umarme ich sie.

„Entschuldigen Sie den unangemeldeten Besuch“, sagt die Frau, „aber Stella wollte sich unbedingt noch von Ihnen verabschieden. Ich bin Maria, Kims Mutter.“

„Verabschieden?“, frage ich, streichle Stella, die sich an mich klammert. „Ich verstehe nicht. Bitte, erklären Sie mir.“

„Ach, es ist eine Tragödie. Meine Tochter, Sie wissen ja sicher über ihren psychischen Zustand Bescheid, gestern ging’s ihr wieder schlecht, sie ging zum Arzt –“ Sie seufzt. „Er hat Kim in eine Klinik überwiesen, und Stella wird nun bei uns wohnen, bis ...“

Da löst sich Stella von mir und rennt laut weinend ins Haus hinein, Lux hinter ihr her.

„Arme Kleine ... “ Ich bin schockiert.

„Ja, und ich sage Ihnen, ich habe immer gewusst, dass es schiefgehen würde, Kim hätte das Kind nicht bekommen dürfen, wird mit 16 Jahren schwanger, von irgendwem, das muss man sich mal vorstellen – will es alleine großziehen, ich hab ihr gleich gesagt, von uns brauchst du dir keine Hilfe erwarten – ach, schon als Kind war Kim so stur, stur und labil, immer nur Zeichnen im Kopf, nie hat sie auf uns gehört, ach, ich habe ihr gesagt, es ist ein Fehler, das Kind zu bekommen, du wirst das nicht schaffen, und jetzt ...“

„Ich sehe jetzt nach Stella“, unterbreche ich sie wütend, keine Sekunde will ich ihr mehr zuhören.

Stella kauert mit Lux in ihrem Zelt aus Pölstern und Decken, das wir an einem Regentag gemeinsam gebaut haben. Ich krieche zu ihr, nehme sie in den Arm.

„Ich will nicht zu Oma und Opa, ich will nicht“, weint sie, „ich will bei dir bleiben, Inka. Bitte, darf ich bei dir bleiben, bis es Mama wieder gut geht?“

„Ich rede mit deiner Oma, Stella.“

„Ob ich bei dir bleiben darf?“ Sie blickt mich hoffnungsvoll an.

„Ja“, sage ich.

„Das kommt nicht in Frage“, wischt Maria sogleich unwirsch mein Angebot vom Tisch. „Ich trage Verantwortung für meine Enkeltochter.“ Sie ruft laut, „Stella, komm jetzt endlich, wir fahren!“

„Nein“, brüllt diese zurück. „Ich will hierbleiben, bei Inka und Lux.“

Nach einer halben Stunde gibt Maria auf.

„Ich kann nicht mehr. Ein unmögliches Kind, frech, ungehorsam, ganz wie Kim.“

Am liebsten würde ich diese Frau anschreien, es gelingt mir aber, halbwegs ruhig mit ihr zu vereinbaren, dass Stella vorerst übers Wochenende bei mir bleibt. Wir würden telefonieren.

25. Juli „Ja, Mama, ich rufe dich morgen wieder an“, Stella kommt telefonierend ins Zimmer. „Ich habe dich auch lieb! Ja, ich gebe dir jetzt Inka. Bis morgen!“

Sie reicht mir das Handy, läuft wieder zu Lux in den Garten. Wie bei jedem Telefonat versichere ich Kim, dass es Stella gut geht, dass sie Kim natürlich vermisst, aber trotz allem ausgeglichen ist. Und Kim sagt wieder, wie unendlich dankbar, wie froh sie ist, Stella bei mir zu wissen.

8. August Ich sitze im Vorzimmer der Kinderpsychologin und warte auf Stella. Bevor Stella zu ihr hineinging, sprach ich kurz allein mit der Psychologin, wie beiläufig fragte sie:

„Warum tun Sie das alles eigentlich für sie? Sie kennen Stella und ihre Mutter doch kaum.“

Die Frage trifft mich, geht mir nicht aus dem Kopf. Handle ich aus egoistischen Gründen? Will ich unbewusst die Leere füllen, die Annas Tod in mir hinterlassen hat? Ich muss an den furchtbaren Tag denken, an dem Annas Mutter anrief, mir weinend sagte, dass Anna tot sei, dass sie mit überhöhtem Tempo gegen einen Baum gefahren ist. Wir hatten verloren, Annas Depressionen waren stärker als all unsere Bemühungen um sie.

Stella kommt heraus, all die schweren Gedanken lösen sich auf, als sie mich anlächelt, sich an mich schmiegt. Wie sehr dieses Kind mir ans Herz gewachsen ist..

10. August Kim hat mich vorgewarnt. Als ich ihre Wohnung betrete, bin ich trotzdem erschüttert von der Unordnung, dem Schmutz. Der Gedanke, dass Stella in diesem Mief leben musste, tut weh. Ich öffne alle Fenster, draußen regnet es stark.

Alles hier lässt mich an Anna denken, die in ihren depressiven Phasen zu keinem Handgriff fähig gewesen ist, alles verkommen, sich nicht helfen ließ. Ich gehe auf den kleinen Balkon, sehe auf verdorrte Pflanzen und leere Bierflaschen, atme tief durch. Der Regen hört langsam auf. Am dunklen Himmel bildet sich ein Regenbogen, unwirklich schön.

Dann, als ich die Kleidung und die Bücher für Kim zusammensuche, um die sie mich gebeten hat, finde ich, in einem Eck gestapelt, dutzende Zeichnungen und Acrylbilder von Kim. Allesamt sind sie energievoll, eigenwillig, farbenprächtig, ich sehe auf zarte Abbildungen von Stella, in jeder davon ist für mich deutlich erkennbar, wie sehr Kim ihre Tochter liebt.

11. August Ich bin bei Kim in der Klinik. Stella ist mit Lux bei Linda, sie möchte ihre Mama nicht in der Klinik besuchen, sondern erst wieder gesund zuhause sehen. Lange sprechen wir über Stella.

„Meine Kleine“, flüstert Kim, „was habe ich ihr nur zugemutet letzte Zeit.“

Und dann erzählt sie mir stockend, dass bis vor ein paar Monaten all die Jahre über alles sehr gut gegangen ist, es sei zwar anstrengend gewesen, allein mit einem kleinen Kind, nebenbei die Ausbildung, später die Arbeit, doch immer zu schaffen. Doch Ende März ging ihr Verlag in Konkurs, sie verlor ihre Arbeit, beinahe zeitgleich ging eine anfangs vielversprechende Beziehung in Brüche. Dies alles zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Von heute auf morgen war ihr alles, war ihr jeder Handgriff zu viel, sie fühlte sich erschöpft, ausgelaugt, konnte nachts nicht schlafen, morgens nicht aufstehen, konnte sich nicht mehr ausreichend um Stella kümmern, griff zu Tabletten, zu Alkohol, etwas, was sie zuvor nie getan hatte. Sie schämte sich, erzählte niemandem davon, kapselte sich und damit auch Stella ab, jeden Tag entglitt ihr alles ein wenig mehr …

Während Kim erzählt, muss ich an die unschöne Begegnung mit ihrer Mutter denken, an deren harte Worte über Kim, denke, wie sich wohl alles entwickelt hätte, wenn Kim Unterstützung, Liebe, Ermutigung bekommen hätte, denke, welches Glück ich im Gegensatz mit meiner Familie habe.

„Inka“, sagt Kim leise, „ich war betrunken an jenem Tag, betrunken und verzweifelt deswegen, habe an Stella gedacht, wie ich alles wiedergutmachen, ihr eine Freude machen kann – da habe ich Lux vor dem Geschäft gesehen, es war wie ein Blackout – ich habe ihn losgeleint und einfach mitgenommen. Es ist unverzeihlich.“

27. August Im Stiegenhaus begegnen wir zwei Kindern. Es sind Zoe, von der Stella mir erzählt hat, und deren Bruder. Die beiden streicheln Lux, der Kinder liebt und freudig wedelt. Ich schlage vor, dass sie im sicheren Innenhof eine Runde mit ihm spazieren gehen, während ich in der Wohnung werke. Vom Balkon aus sehe ich, wie sie mit Lux spielen. Stella blickt zu mir herauf, winkt lachend. Wie schön es ist, sie unbeschwert mit anderen Kindern zu sehen.

28. August Ungläubig sieht sich Kim in ihrer sauberen, ordentlichen Wohnung um.

„Ist das wirklich unsere Wohnung? Waren Heinzelmännchen bei uns, Stella?“ fragt sie Stella, die voller Freude auf dem Sofa hüpft.

„Ja, ja“, ruft Stella übermütig. „Wir haben sie gesehen, stimmts, Inka? Viele kleine Heinzelmännchen, die haben alles geputzt.“

Sie springt vom Sofa, zieht Kim auf den Balkon, zeigt ihr die blühenden Pflanzen, die wir eingesetzt haben. Kim ist voll der Bewunderung und des Lobes.

Stella entdeckt Zoe, die mit anderen Kindern unten auf dem Spielplatz ist, und die ihr zuruft: „Komm runter zu uns, Stella! Ist Lux bei dir?“

Wenig später sehen wir Stella mit Lux unten, lachend, umringt von den Kindern.

Kim strahlt. „Stella ist wie ausgewechselt, offen, fröhlich. Du hast sie aufgefangen – und an mich geglaubt, mir Mut zugesprochen. Es ist unglaublich, was ein einzelner Mensch alles bewirken kann! Ich weiß nicht, wie ich dir für alles danken kann, Inka.“

„Aber ich weiß es“, umarme ich sie, „indem du so weitermachst, gut auf dich und Stella achtest, dich nicht unterkriegen lässt. Alles andere wird sich von allein einstellen, du wirst sehen.“

31. August Heute würde Anna ihren 25. Geburtstag feiern. Ich bin traurig, vermisse sie schmerzlich, lange telefoniere ich mit einem gemeinsamen Freund und mit ihrer Mutter. Am Nachmittag werden Kim, Stella und Zoe zu mir kommen, auch Linda habe ich eingeladen. Doch sogar der Gedanke an ihren Besuch stimmt mich wehmütig. Der Sommer neigt sich dem Ende zu. Für Stella beginnt übermorgen wieder die Schule, für mich meine neue Arbeit. Natürlich würden wir uns weiterhin oft sehen, aber unsere intensive gemeinsame Zeit ist wohl vorüber.

Und dann sind sie alle da, bringen Eis und Blumen und Fröhlichkeit mit, wir unterhalten uns, essen Eis, Stella und Zoe spielen ausgelassen mit Lux. Kim erzählt von einem bekannten Autor, mit dem sie sich getroffen hat und dessen Buch sie illustrieren wird. Immer wieder muss ich sie ansehen, sie strahlt, scheint ein paar Kilo zugenommen zu haben, trägt einen neuen Haarschnitt, wirkt frisch und ausgeglichen.

Es ist ein schönes, vertrautes Zusammensein, doch spätabends, als sie gegangen sind, kommt meine Traurigkeit zurück. Ich streichle Lux, denke an Anna. Als ich ins Haus gehen will, sehe ich auf dem Gartentisch ein Paket liegen. Auf einem Kärtchen steht schlicht: „Für Inka.“

Vorsichtig löse ich das Geschenkpapier, halte ein Bild in meinen Händen. In strahlenden Farben hat Kim mein Haus und den Garten gemalt, mich mit Lux im Gras sitzend. Am Horizont leuchtet wie beschützend ein Regenbogen. Ich weiß, dass er symbolisch für Anna gemeint ist. Ich betrachte Kims kraftvolle und zugleich sensible Darstellung, all die liebevollen Details, den Schwung, die Farben des Regenbogens, und spüre, wie sich meine Traurigkeit auflöst, und es stattdessen leicht und licht in mir wird.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 23136

Wieder zurück

Da sitze ich also wieder, in der kleinen, muffigen Küche meiner Kleinstadtwohnung, das Bierglas vor mir, ganz so, als wäre ich nie weggewesen, als hätte ich nicht vor rund einem Jahr, damals großspurig ‚Für immer!‘ denkend, diese Wohnung verlassen. Obwohl, irgendetwas in mir muss dem Für-immer-Gedanken misstraut haben, da ich die Wohnung nicht aufgelassen, den Dauerauftrag der billigen Miete nicht gekündigt habe. Seufzend nehme ich einen großen Schluck Bier, greife nach meinem Handy und gehe die Anrufliste durch. Viele Namen sind gespeichert, allerdings ist kein einziger darunter, den ich jetzt, mitten in der Nacht, anrufen könnte, kein einziger, zu dem ich leichthin sagen könnte:

„Hey, ich bin’s, ich bin wieder zurück …“

Schuld daran bin ich selbst, da ich sämtliche Kontakte abgebrochen habe im Laufe dieses Jahres, sogar den zu Max, meinem Bruder. Ich würde ihn gerne anrufen, mich ihm erklären, kann mich aber nicht überwinden. Unmöglich. Zu groß ist meine Scham. Ich lege das Handy weg. Ich fühle mich elend. Ich fühle mich einsam. Ich trinke Bier. Die Stille um mich herum ist mir unerträglich. Ach, alles würde ich jetzt geben für ein Gegenüber, bei dem ich mich ausreden könnte, das mir zuhören würde.

Da höre ich ein Sirren in der Küchenecke, und sehe etwas hell schimmern dort im Eck, irgendetwas Undefinierbares. Ich reibe meine Augen, die offensichtlich übermüdet sind, als ich plötzlich etwas Weiches, Warmes an meinem rechten Unterschenkel spüre. Etwas wie eine leichte Umklammerung. Ich fasse reflexartig hinunter, spüre ein weiches Fell oder Haare, denke: ‚Ah, nur die Katze‘, dann springe ich panisch auf:

„Welche Katze, verdammt, ich habe doch keine Katze!?“

Ich sehe auf einen hellen Lockenkopf an einem winzigen Körper, sehe lange, dünne Ärmchen, die sich an mein Bein klammern, schreie erschrocken auf, versuche, sie abzuschütteln. Der Lockenkopf umklammert mich nur noch fester, und dreht sein Gesicht zu mir. Ich schaue in weitaufgerissene hellblaue Augen. Blasses, kleines Gesicht, Stupsnase, der Mund ärgerlich verkniffen. Was ist das? Ein Kind ist das nicht. Ein Zwerg? Es lässt nun mein Bein los, läuft affenartig schwankend in die Küchenecke, kauert sich dorthin, zieht die Knie an, schlingt seine Arme um den kleinen Körper und sagt mit glockenhellem Stimmchen: „Jetzt beruhige dich doch bitte.“

Mein Herz klopft wie wild, ich schließe die Augen, öffne sie, das kleine Wesen sitzt noch immer in der Küchenecke.

„Wer bist du?“, flüstere ich beinahe tonlos.

„Ein Kobold“, piepst das zarte Ding.

Und dann, etwas lauter: „Jaja, ich weiß, ich sehe nicht wie ein typischer Kobold aus. Aber ich bin einer.“

Und schließlich, wütend: „Ach, dann glaub mir halt nicht! Mir egal. Ich hab’s echt satt, mich ständig erklären zu müssen.“

Ich räuspere mich, habe mich aber noch nicht so weit gefasst, dass ich wieder reden kann.

„Mensch. Jetzt reiß dich zusammen“, sagt der Kobold missmutig. „Zur Erklärung: Du kannst mich sehen, weil ich so wie du todunglücklich bin. Verstehst du? Ich habe mir jemanden gewünscht, dem es ähnlich schlecht geht und mit dem ich reden kann. Und dieser Jemand bist offensichtlich du.“

„Heißt das, ... weil es uns ähnlich ergangen ist ...“, krächze ich. Meine Gedanken schwirren.

„Jaja“, nickt der blonde Kobold, ziemlich ungeduldig, wie mir scheint, angesichts meiner Begriffsstutzigkeit. „Darum.“

„Aber das gibt’s doch nicht!“ Ich habe endlich meine Stimme wieder. „Ich meine, ich bin ein dreißigjähriger Mann, kein Kind mit einem Überschuss an Fantasie. Ach, wahrscheinlich war ich zu lange allein. Meine Nerven. Der Alkohol.“

„Glaub, was du willst. Mir egal. Ich habe meine eigenen Probleme“, sagt der blonde Kobold.

Ein Bier und einen Schnaps später ist er noch immer da. Kauert nun nicht mehr in der Küchenecke, sondern wesentlich entspannter am Küchentisch mir gegenüber. Er ist tatsächlich ungemein zart, wirkt beinahe durchscheinend. Die schwarze Hose und der schwarze Rollkragenpullover, die er trägt, unterstreichen sein helles Äußeres.

„Fassen wir zusammen“, sage ich. „Wir können uns sehen, weil wir im selben Moment dasselbe gedacht haben, präziser, weil wir im selben Moment verzweifelt gewesen sind, und uns ein Gegenüber gewünscht haben, mit dem wir reden können, ein Gegenüber, das uns versteht.“

Der Kobold rollt ungeduldig mit seinen Augen.

„Dann fangen wir endlich damit an, Mensch“, fordert er. „Mit dem Reden.“

„Und warum bist du bei mir gelandet, hier in meiner Wohnung?“, denke ich weiter laut nach. „Und nicht ich bei dir in deiner Welt?“

„Ts, ts, ts“, lacht der Kobold sirrend, „Das ist doch meine Wohnung, Mensch! Ich lebe hier, seit es mich gibt. Obwohl, im letzten Jahr habe ich mich völlig zurückgezogen. Aber jetzt bin ich wieder zurück. Übrigens leben hier auch noch einige andere Kobolde, aber die kannst du nicht sehen.“

Mir verschlägt es wieder die Sprache.

„Also, beginnen wir endlich. Soll ich zuerst erzählen? Oder du, Mensch?“

„Kobold first“, versuche ich mich nach einem weiteren großen Schluck Bier in Lässigkeit.

„Thank you“, sagt der Kobold und dann. „Und unterschätze mich bitte nicht. Außer Englisch spreche ich fließend Französisch, Russisch und Japanisch. Und damit bin ich auch schon bei meinem Problem angelangt: Ich bin nämlich komplett anders als die anderen Kobolde. Nicht nur äußerlich. Ich bin wissbegierig. Ich lese viel. Ich denke. Ich hinterfrage. Ich lerne. Ich schreibe. Das alles macht der typische Kobold nicht.“

„Ich verstehe“, sage ich verwirrt.

„Nichts verstehst du“, sagt der Kobold kopfschüttelnd. Seine Haut schimmert noch eine Spur durchsichtiger vor Ärger, ich kann alle Gegenstände hinter ihm durchsehen.

„Ich habe mich rund ein Jahr lang völlig aus der Koboldwelt zurückgezogen. Mein Intellekt verbietet mir nämlich, dumme Streiche zu spielen. Es langweilt mich, zuzusehen, wie Menschen aufgrund stupider Koboldaktionen ihre Schlüssel oder Brillen suchen. Was aber quasi die Lebensaufgabe eines Kobolds ist. Spielt ein Kobold selten oder gar keine Streiche, wird seine Stimme immer höher, sein Haar, seine Haut immer blasser, heller, elfenhafter, dann durchsichtig, und schlussendlich löst er sich völlig auf. Im Nichts. Das Resultat meiner Verweigerung ist also, dass ich bald kein Kobold mehr sein werde.“

„Ich verstehe“, sage ich wieder. Ich verstehe nun tatsächlich. Und nicht nur das, ich habe die Lösung für sein Problem glasklar vor Augen.

„Es geht also tatsächlich um dein Leben“, sage ich. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass du ein paar Kompromisse schließt. Aber du brauchst keinesfalls dein Lebenskonzept aufgeben. Integriere es.“

„Wie stellst du dir das vor?“, schnaubt der Kobold.

„Ganz einfach.“ Koboldprobleme zu lösen, fällt mir erstaunlich leicht. „Lebe und beweise deinen Intellekt anhand deiner Streiche. Spiele keine dummen Streiche, sondern deiner Intelligenz angemessene, strategisch durchdachte, sinndurchflutete. Erstelle Pläne, schreibe Bücher über durchdachte Koboldaktionen, unterrichte eventuell auch andere interessierte Kobolde im intelligenten Streiche-Spielen.“

„Oh“, sagt der Kobold. Er starrt mich erstaunt an, offensichtlich hat er mich unterschätzt.

„Das hat was“, sagt er dann. „Warum sind mir diese Möglichkeiten nie in den Sinn gekommen?“

„Obwohl, so einfach ist das alles nicht“, fügt er hinzu. „Dazu braucht es einiges an Einsatz, an Umdenken, an Flexibilität und Überwindung“, sagt er.

„Tja. Ein Kobold zu sein, ist sicher nicht leicht“, sage ich großmütig.

„Nun gut, Mensch. Ich denke, zunächst einmal werde ich eine Abhandlung über komplexe Streiche-Strategien schreiben, bevor ich es angehe mit dem praktischen Teil, dem Umsetzen.“ Er hebt seine durchsichtige Hand wie zum Abschied, will vom Küchentisch springen.

„Halt, Kobold“, sage ich schnell. „Nicht so eilig. Was ist mit mir? Mit meinen Problemen? Es geht doch darum, dass wir uns gegenseitig zuhören, nicht?“

„Gut. Dann erzähle“, seufzt der Kobold widerstrebend. „Aber mach schnell, bevor ich mich völlig auflöse.“ Er hebt seinen blassen Fuß und betrachtet ihn kopfschüttelnd.

„Also“, sage ich. „Ich bin ausgebildeter Schauspieler. Vor gut einem Jahr bin ich von hier weg und in die Großstadt gezogen, um Karriere als solcher zu machen. Hier in der Kleinstadt gibt es nämlich kaum Möglichkeiten zum Spielen. Doch nach ein, zwei kleinen Rollen bekam ich keine Aufträge mehr. Die Konkurrenz war zu groß. Kurz gesagt: Ich bin gescheitert. Mir blieb schließlich nichts anderes übrig, als die teure Stadtwohnung zu kündigen und wieder hierher zurückzukommen.“

„Ich verstehe“, sagt der Kobold gähnend.

„Nichts verstehst du“, sage ich kopfschüttelnd. Sein Desinteresse ärgert mich.

„Ich habe sämtliche Kontakte abgebrochen, sogar den zu meinem Bruder, weil ich mich voll und ganz meiner Schauspielkarriere, die keine geworden ist, gewidmet habe. Ich kann mich nicht überwinden, ihn anzurufen. Ich schäme mich zu sehr, verstehst du? Ich habe keinen Job, kein Geld. Ich trinke zu viel. Ich bin am Ende.“

„Ich verstehe“, sagt der Kobold wieder. Er scheint nun tatsächlich zu verstehen. Und nicht nur das, er scheint die Lösung für mein Problem glasklar vor Augen zu haben.

„Es geht also tatsächlich um dein Leben“, sagt er. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass du ein paar Kompromisse schließt. Aber du brauchst keinesfalls dein Lebenskonzept aufgeben. Integriere es.“

„Und wie stellst du dir das vor?“, schnaube ich.

„Ganz einfach!“ Menschenprobleme zu lösen, fällt dem Kobold sichtlich leicht. „Hör auf mit dem Trinken. Rufe deinen Bruder an, erzähle ihm, dass du zurück bist und hier im Ort eine Schauspielgruppe gründen wirst. Suche dir einen Proberaum, gib Schauspielunterricht, schreibe und inszeniere eigene Stücke.“

„Oh“, sage ich erstaunt und starre den Kobold an, den ich völlig unterschätzt habe.

„Das hat was“, sage ich dann. „Warum sind mir diese Möglichkeiten nie in den Sinn gekommen?“

„Obwohl, so einfach ist das alles nicht“, füge ich hinzu. „Dazu braucht es einiges an Einsatz, an Umdenken, an Flexibilität und Überwindung.“

„Tja“, sagt der Kobold gelangweilt. „Ein Kob-, ich meine, ein Mensch zu sein, ist sicher nicht leicht.“

Und dann: „Mensch, kann ich jetzt endlich los? Wir müssen ja nicht übertreiben mit dem Einander-Erzählen. Ich meine, schau mich an!“ Er fächelt mit seinen bedenklich durchsichtigen Händen. „Ich muss mich jetzt dringendst um mich kümmern.“

Ich nicke ihm zu. Der Kobold hüpft schwankend vom Tisch zum Kücheneck und ist sogleich verschwunden. Nur mehr ein helles Sirren in meinen Ohren. Eine Weile starre ich nachdenklich in das Eck, öffne erneut eine Flasche Bier, doch dann merke ich, wie müde ich bin. Nun erstmal schlafen, beschließe ich, und stelle das Bier in den Kühlschrank.

Am nächsten Morgen fällt mir sofort der Kobold ein. Ob das nächtliche Gespräch Einbildung gewesen ist oder nicht, Tatsache ist, dass ich meine Lebenssituation nun nicht mehr als aussichtslos betrachte. Mit meiner neu gewonnenen Gelassenheit ist es allerdings rasch vorbei, als ich feststelle, dass die Bierflasche, die ich nachts in den Kühlschrank gestellt habe, nicht mehr voll, sondern leer ist. Und ich stehe starr vor Schock, als ich entdecken muss, dass nicht nur diese Flasche, sondern sämtliche Bier-, Wein- und Schnapsflaschen völlig ohne Inhalt sind.

„Das darf doch nicht wahr sein“, fluche ich.

War ich gestern so betrunken, dass ich sie alle ausgeleert habe? Und dann sehe ich es. Das Koboldhaar. Eine blonde Locke klebt an einer der leeren Weinflaschen.

„Also, Kobold“, rufe ich wütend, „ob das tatsächlich ein intelligenter, sinndurchfluteter Streich ist, darüber lässt sich streiten!“

Obwohl, gebe ich insgeheim zu, dadurch natürlich der ideale Ausgangspunkt geschaffen ist, um endlich aufzuhören mit dem Trinken. Was würde mein Bruder dazu sagen? Ich nehme mein Handy in die Hand. Ach, Max weiß ja nicht einmal, dass ich wieder zurück bin. Ich zögere, lasse die Hand mutlos sinken. Als ich das Handy wieder weglegen will, zischt plötzlich etwas wie eine Art Blitz direkt an mir vorbei, und drückt auf Max’ Nummer. Rufaufbau, lese ich. Zugleich vernehme ich ein bekanntes Sirren.

‚Was tust du, Kobold!! Das geht mir zu rasch!‘

Doch schon höre ich Max’ Stimme:

„Oh, das ist ja eine Überraschung. Hey, Bruder!“

„Hey, Max, tja, ich bin’s“, stottere ich. „Ich- ich bin wieder zurück …“

Später sitze ich da, die Fenster meiner kleinen Küche weit geöffnet, eine Tasse grüner Tee vor mir, und fühle mich großartig. Ich denke an das Gespräch mit meinem Bruder. Max hat es mir einfach gemacht, mich zu erklären, und er hat mir in jeder Hinsicht seine Unterstützung zugesagt. Diesem Telefonat sind einige weitere gefolgt, größtenteils aufgrund tatkräftiger Kobold-Anregung. Unter anderem eines mit dem Leiter der örtlichen Volkshochschule, in der ich ab sofort Schauspielkurse geben kann, und eines mit einem Musiker, der mir die Möglichkeit bietet, tageweise seinen Proberaum sowie die Bühne zu benutzen. Ja, meine Vorstellungen werden zusehends realer, alles kommt ins Rollen. Zufrieden starte ich meinen Laptop, um all meine Ideen schriftlich festzuhalten.

Da höre ich – nein, kein hohes Sirren, sondern im Gegenteil ein tiefes Brummen in der Küchenecke, und sehe etwas dunkel glänzen dort im Eck, irgendetwas Undefinierbares.

„Gut gemacht, Kobold“, sage ich leise, „wir sind wieder zurück.“ Und ich beginne zu schreiben.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23144

Klärend, heilend

Kurz vor halb sechs Uhr morgens, als ich gerade dabei bin, mir Tee zuzubereiten, klingelt das Handy. Sofort füllen sich meine Augen mit Tränen. Als ob sie nur darauf gewartet hätten, die Tränen, als ob das Handyläuten das Startsignal für sie wäre. Natürlich ist dein Vater der Anrufer. Er weiß genau, dass ich längst auf den Beinen bin, weiß genau, wie mir zumute ist, heute, an diesem besonderen Tag.

Ich gehe zum Fenster, sehe hinaus, zum Park gegenüber, der noch im Morgendunkel liegt und durch den wir unzählige Male gejoggt sind, dein Vater und ich, meist um diese Uhrzeit, während du noch tief geschlafen hast. Ich lasse das Handy läuten, lasse meine Tränen laufen, meinen Tee kalt werden, lasse meine Gedanken zu. Gedanken an kleine Episoden der vielen Jahre zu dritt, an die trügerische Selbstverständlichkeit unseres Zusammenseins. Dein Vater, du, ich.

Nun ist alles anders. Seit drei Monaten lebe ich allein. Nachdem du gegangen bist, habe ich keinen Menschen mehr in meiner Nähe ausgehalten. Vor allem deinen Vater nicht. Der Satz, dass Unglück Menschen zusammenschweißt, stimmt nicht, zumindest nicht für mich. Von Tag zu Tag habe ich es weniger ertragen, meine Trauer um dich im Gesicht deines Vaters gespiegelt zu sehen. Irgendwann hat er mein Bedürfnis nach Alleinsein akzeptiert, ist ausgezogen, hat sich eine kleine Wohnung gemietet.

„Ich betrachte das als vorübergehend“, hat er immer wieder zu mir gesagt, „nur so lange, bis du sagst, komm wieder nach Hause.“ Doch seit ich ihn mit Sara gesehen habe, bin ich unsicher, ob er wirklich zurückkommen möchte. Wie vertraut sie gewirkt haben. Du kennst sie ja, seine langjährige Kollegin, liebenswürdig und sehr hübsch ist sie, und seit kurzem außerdem geschieden. Vorgestern war es, ich ging an einem Lokal vorbei, zufällig fiel mein Blick durch das Fenster, und da sah ich die beiden. Sara hat die Hand deines Vaters gehalten, und sie haben sich tief in die Augen geschaut. Ach, egal. Seit du gegangen bist, ist alles, was mich früher aufgeregt hätte, bedeutungslos für mich geworden. Ich nehme das Handy in die Hand, das Klingeln hat längst aufgehört. ‚Ich rufe dich später zurück‘, schreibe ich, drücke auf Senden. Dann schalte ich das Handy aus. Dein Vater wird es verstehen.

Ich schminke mich. Bin dankbar für diese Möglichkeit, eine Art Schutzschicht aufzutragen. Den düsteren inneren Farben auch durch Kleidung zumindest äußerlich bunte, fröhliche entgegenzusetzen. Gerade heute, zu deinem Geburtstag, wähle ich bewusst mein bestes Outfit, ein elegantes Kleid in Eisblau, mit einem schicken beigen Blazer. Du sollst dich für deine Mutter nicht schämen müssen.

Dann spaziere ich langsam bis in die Innenstadt, setze mich in unser Café, das soeben aufgesperrt hat, bestelle Kaffee, und versuche, Zeitung zu lesen. Doch ich kann mich nicht konzentrieren. Meine Gedanken fliegen zu dir, in die Tage der Vergangenheit. Ich sehe uns beide hier sitzen, du mir gegenüber. Du bist gerade mal fünf Jahre alt, und ich muss lachen, weil du die Erwachsenen imitierst. Du hältst eine Zeitung in deinen kleinen Händen, tust mit ernstem Gesichtsausdruck so, als ob du sie lesen würdest.

Ich muss kurz die Augen schließen, sehe dann auf meine Armbanduhr. Noch zwei Stunden Zeit. Um 10:55 Uhr möchte ich bei dir sein. Genügend Zeit, um dein Geburtstagsgeschenk zu kaufen.

„Eine sehr gute Wahl“, lobt der Kassier des Mineraliengeschäftes eine Stunde später. Behutsam packt er den großen Bergkristall ein. Ich nicke, denn ich habe den schönsten Kristall gewählt, den ich hier für dich finden konnte. ‚Wirkung: Klärend, heilend‘, stand auf einem kleinen Schild darunter. Schon im Kindergarten hast du dich für Mineralien interessiert, und begonnen, sie zu sammeln.

„Ausgezeichnet“, beteuert der Kassier nochmal, nennt dann beiläufig eine hohe Summe und scherzt: „Tja, Schönheit hat ihren Preis.“

„Für meinen Sohn ist mir nichts zu teuer“, sage ich laut. Mir ist bewusst, wie arrogant mein Tonfall sich dabei anhört, kann und will aber nicht anders, als genau so zu klingen. Ich drehe mich dabei etwas zur Seite, blicke zu einer jungen Frau, die hinter mir steht, um zu überprüfen, ob diese registriert hat, welch großzügige Mutter ich bin. Sie hält ein kleines Mädchen an der einen und ein rosa Armband in der anderen Hand.

„Ein Geschenk für den Junior also“, tönt der Kassier scheinbar interessiert.

„Ja. Heute vor 14 Jahren kam mein David zur Welt“, sage ich laut und übertrieben feierlich, sehe nun direkt der jungen Frau ins Gesicht. Diese sieht demonstrativ weg, ich höre förmlich, wie sie denkt: ‚Reiche Tussi. Denk bloß nicht, dass ich mich für dich und deinen verzogenen Sprössling interessiere.‘

„Wie schön, Gratulation“, bemerkt der Kassier.

Ich bezahle, dann verlasse ich grußlos das Geschäft, rausche mit hoch erhobenem Kopf an der Frau und ihrer Tochter vorbei, die Tasche mit dem Kristall an mein eisblaues Kleid gepresst. Bin absolut in die Rolle einer hochnäsigen Mutter geschlüpft.

Ob es im breiten Feld der Psychologie einen Fachausdruck für die Sucht gibt, das Mutter-Sein vorzutäuschen? Für das Bedürfnis, zu spüren, dass fremde Menschen mich als Mutter wahrnehmen? Das Verlangen danach ist zeitweise unwiderstehlich für mich. Ich spiele alle Arten von Muttertypen, fürsorgliche, überbesorgte, oder so wie vorhin unsympathische. Lasse mich von Verkäuferinnen und Verkäufern wegen passender Kleidung oder Spielsachen für dich beraten. Gestern bin ich in einer Apotheke gewesen und habe Hustensaft für dich gekauft. „Der übliche Husten, so wie jedes Jahr um diese Zeit. Vor allem nachts quält er ihn, er kann kaum schlafen deswegen, der Ärmste“, habe ich geklagt.

Draußen sehe ich noch kurz durch das Fenster des Mineraliengeschäftes, sehe, wie die junge Mutter dem Kassier gestikulierend die Handkette reicht, sehe ihn lachen. Wahrscheinlich äfft die Frau mich gerade nach, teilt dem Kassier nun ihrerseits mit: „Vor sieben Jahren wurde meine Kimberly geboren“, und dann, affektiert, die Tatsache, dass die Kette einen Bruchteil des Bergkristall-Preises ausmacht, ignorierend: „Für meine Tochter ist mir nichts zu teuer.“

Ich greife in die Tasche, berühre die Schachtel mit dem Bergkristall. ‚Klärend, heilend‘, denke ich. Zwei Jungen kommen mir entgegen, als ich den breiten Gehsteig entlang gehe. Sie sind ein paar Jahre jünger als du, ungefähr zehn Jahre alt, einer trägt einen Fußball, hat ihn zwischen Arm und Hüfte geklemmt. Sekundenlang starre ich auf den Ball. Hinter meiner rechten Schläfe beginnt es schmerzhaft zu pochen, ich schnappe nach Luft, dann entreiße ich dem Jungen den Ball, werfe ihn mit Schwung über das hohe Gitter einer Baustelle, die sich gleich neben dem Gehsteig befindet. Er verschwindet in einer tiefen Baugrube. Kurz sehe ich in die fassungslosen Gesichter der Kinder, denke, während ich an ihnen vorbeigehe, ich müsste mich ihnen erklären, müsste ihnen von dir erzählen, ihnen sagen, dass du wegen solch eines Balls nicht mehr hier bist, wegen eines Balls, der einem kleinen, fremden Kind auf die Straße gerollt ist. Das Kind ist dem Ball nachgerannt, trotz der stark befahrenen Fahrbahn, du bist dem Kind nach, trotz der stark befahrenen Fahrbahn. Du wolltest das Kind retten. Es ist dir gelungen. Das Kind lebt. Du bist tot. Doch ich erkläre nichts, kein Wort bekomme ich heraus, sondern gehe schnell weiter, weg von den beiden Kindern, die mir nun nachbrüllen:

„He, was soll das? Warum machen Sie das?“

„Blöde Kuh!“

Ich biege um eine Ecke, taste nach dem Bergkristall.

‚Klärend, heilend.‘ Krampfhaft versuche ich, an nichts anderes zu denken als an diese beiden Worte. Meine Augen tränen, aber ich gehe weiter, zwei, drei Straßen entlang. Kurz bevor ich bei dir bin, muss ich mich setzen. Also lasse ich mich auf dem breiten Auslagevorsprung einer Bäckerei nieder, hole einen kleinen Spiegel und ein Taschentuch aus der Tasche. Meine Hände, die eine, die den Spiegel hält, die andere, die das Augen-Make-up mitsamt den Tränen abwischt, zittern stark.

Eine Frau in Arbeitskleidung kommt aus dem Geschäft. „Ist Ihnen nicht gut? Warten Sie, ich bringe Ihnen etwas Wasser.“

Eilig geht sie wieder hinein, um mir gleich darauf ein Glas zu reichen.

„Danke, es geht schon wieder“, stottere ich, „es ist nur – heute ist der 14. Geburtstag meines Sohnes.“

„Ach, alles klar – ja, ja, die Pubertät“, missversteht sie mich. „Ihr Sohn steckt wohl in Schwierigkeiten. Wissen Sie, meine Tochter ist fünfzehn. Ich sage Ihnen: Probleme in allen Bereichen, Schule, Freunde, überall. Sie kennen wohl Ähnliches von Ihrem Sohn.“
„Nein, das kenne ich nicht“, sage ich, richte mich auf. „Mein Sohn ist nicht in der Pubertät. Er steckt in keinerlei Schwierigkeiten, macht nie Probleme, im Gegenteil. David ist wunderbar, einzigartig.“

Ich gebe ihr das Wasserglas zurück. Das Lächeln der Frau gefriert.

„Na dann“, sagt sie eingeschnappt, „dann läuft ja alles bestens bei Ihnen. Gut, ich gehe jetzt mal, habe schließlich zu tun.“ Sie nickt mir kurz zu und verschwindet in der Bäckerei.

Wieder berühre ich die Schachtel mit deinem Geschenk, wieder denke ich: ‚Klärend, heilend‘, ehe ich mich aufraffe und meinen Weg fortsetze.

Zehn Minuten später bin ich bei dir, betrachte dein liebes Kindergesicht. Streichle mit meinem Blick dein helles Haar, studiere dein einnehmendes Lächeln. Dann nehme ich den Bergkristall aus der Tasche, platziere ihn zwischen Efeu und Kletterrosen auf schwarzer Erde, unter dein Foto im runden, dunklen Rahmen.

„Das sieht sehr schön aus“, sagt plötzlich jemand leise hinter mir. Dein Vater, natürlich. Ich erschrecke mich nicht, habe wohl innerlich damit gerechnet, dass er ebenfalls bei dir sein wird. Er war schließlich dabei, als du vor genau vierzehn Jahren zur Welt gekommen bist, um 10:55 Uhr. Wir haben beide damals vor Glück geweint. Dein Vater und ich sehen uns an, still, wissend, dass wir das Gleiche denken. Wir denken an dich, betrachten nun gemeinsam dein Foto. Du lächelst uns zu.

Später sitzen dein Vater und ich in der Frühlingssonne auf einer Bank in deiner Nähe. ‚Klärend, heilend‘, klingt es in mir, und dann erzähle ich deinem Vater von allem. Von dem Ball, den ich in die Baugrube geworfen habe, von der Episode im Mineraliengeschäft. Erzähle von meinem Bedürfnis, das Mutter-Sein vorzutäuschen. Es ist das erste Mal, dass ich darüber rede. Dein Vater hört mir zu. Sagt dann, das sei verständlich, dieser Drang würde sich bestimmt mit der Zeit legen.

Wir reden von dir, von unserem veränderten Dasein ohne dich, und da merke ich, dass ich deinem Vater endlich wieder in die Augen schauen kann, ohne dass mein Schmerz um dich sich wie verdoppelt anfühlt. Ich sehe in deinem Vater den geliebten Menschen, der es gut mit mir meint, der mich versteht, der weiß, wie es in mir aussieht.

Es ist inzwischen weit nach Mittag. Wir stehen auf, verlassen den Friedhof durch das schmiedeeiserne Tor. Das Auto deines Vaters steht auf dem Parkplatz. Ich zögere, würde jetzt gerne sagen: ‚Komm wieder zurück‘, aber –

„Wie geht es Sara?“, frage ich, und muss plötzlich gegen einen Kloß in meiner Kehle ankämpfen.

Er sieht mich irritiert an.

„Ich habe euch gesehen, vorgestern, in einem Lokal“, sage ich.

Dein Vater schüttelt den Kopf. „Wir haben nur miteinander geredet und uns gegenseitig getröstet. Sara hat mir von ihrer Scheidung erzählt, ich ihr von David und dir. Zwischen Sara und mir ist nichts als Freundschaft.“ Er ergreift meine Hand. „Ach, du weißt doch, dass ich die ganze Zeit darauf warte, dass du sagst ...“

„Fahren wir bitte nach Hause“, sage ich. „Zusammen.“

„Wirklich?“

„Ja. Komm bitte wieder zu mir – komm zurück nach Hause.“ Erneut muss ich weinen. Dein Vater nimmt mich in die Arme.

„Nichts lieber als das“, sagt er.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 23113

Mein Traum

Still liege ich da, mit offenen Augen, und hänge meinem Traum nach. Wie seltsam und wie seltsam schön er gewesen ist! Ich bin völlig ergriffen, richtiggehend verzaubert, was äußerst selten der Fall bei mir ist. Zuletzt fühlte ich mich so – fällt mir ein – vor ungefähr neun Jahren. Gefühlsmäßig werde ich nun zurückkatapultiert zu diesen Momenten damals, als ich mich ähnlich überwältigt fühlte wie jetzt. Es war am Tag von Mutters Begräbnis. Ein Musiker-Kollege von Mutter sang ein Medley ihrer Lieblingssongs zu ihrem Abschied. Und bei einem der Songs liefen mir plötzlich Tränen übers Gesicht. Unaufhaltsam. Natürlich werden alle, die mich damals weinen sahen, angenommen haben, dass ich wegen Mutter weinte. Doch es war rein jenes fremdsprachige, sanfte Lied, das mich zu Tränen rührte. Um Mutter zu weinen, gab es keinen Grund.

Sie ist immer abwesend gewesen. Es gab kaum Kontakt zwischen uns. Ich bin bei meinen Großeltern in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Die Großeltern waren fleißige, einfache Leute. ‚Und du, Kind, bist ganz aus unserem Holz geschnitzt‘, haben sie des Öfteren stolz zu mir gesagt. Mutter aber tanzte aus der Reihe, sie tanzte weit, weit weg von uns. Sie war nicht das schwarze, sondern das buntschillernde Schaf der Familie. Künstlerin war sie, Sängerin, mit Leib und Seele. Ständig war sie unterwegs, irgendwo, auf Tourneen mit ihrer Band. Sie starb bei einem Autounfall, mit reichlich Alkohol und Drogen intus. Ewig nicht daran gedacht. Schnell schiebe ich diese Gedanken weg und spüre wieder dem Traum nach.

Und – wie schön! – ich fühle mich nach wie vor als diejenige, die ich im Traum gewesen bin. Regungslos bleibe ich liegen, um so lange wie nur möglich dieses Traum-Ich zu bleiben. Ich möchte es halten, es mitnehmen in den Tag. Nein, eigentlich möchte ich es nirgendwohin mitnehmen, eigentlich möchte ich mich nirgendwohin bewegen. Ich möchte im Moment bleiben, oder, noch besser, wieder zurückgehen dorthin, wo ich nie zuvor, außer vorhin im Traum, gewesen bin.

Es ist ein mediterraner Ort. Zielbewusst gehe ich durch schmale Gässchen. Um mich: bunte Fensterläden, hohe, blühende Topfpflanzen, lebhafte Stimmen, Lachen, ab und zu knatternde Mopeds. Die Sonne scheint. Warm ist mir. Hübsche Sandalen und ein kurzes, luftiges Sommerkleid trage ich.

Jetzt muss ich schmunzeln. Ich trage nämlich nie Kleider. Immer Hosen. In einem Kleid würde ich verkleidet wirken. Unförmig sowieso. Vor allem würde ich mich für meine dicken Beine genieren.

In meinem Traum aber bin ich schlank, bin ich schön. Alles passt zusammen. Mein Inneres, mein Äußeres und die Umgebung bilden eine harmonische Einheit. Anmutig spaziere ich die malerischen Gassen entlang, mit der Selbstverständlichkeit derjenigen, die diese Wege unzählige Male gegangen ist. Diese Gelassenheit in mir! Und so also fühlt sich Selbstwertgefühl an: leichthin Leute grüßen und ein paar Worte mit ihnen tauschen – ohne die üblichen quälenden Gedanken meiner Realwelt: ‚Wie komme ich an? Was denken die von mir?‘ Mein Traum-Ich wird geschätzt, ja, verehrt, das ist an der respektvollen Art, die mir entgegengebracht wird, klar ersichtlich. Vielleicht bin ich ja Ärztin oder Schauspielerin, auf alle Fälle eine bekannte Persönlichkeit.

Und hier, jetzt, in meinem kleinen Zimmer, knurrt laut mein Magen. Da riecht es nach abgestandener Luft, da zwickt’s mich im Rücken, da stoßen meine Zehen an die harte Bettkante. Aber das wohlige Traum-Gefühl ist noch da, ist abrufbar.

Vor mir erstreckt sich nun ein weitläufiger Platz, in dessen Mitte ein einladender, offener Gastgarten. Runde Tische mit weißen Damast-Tischtüchern, Korbsessel mit blauen Pölstern. Davor eine kleine Bühne. Hinter diesem ganzen Ambiente: Felsen, die Küste, ein tiefblaues Meer. Ich nehme Platz an meinem Tisch in der Mitte des Gastgartens, genieße das Gefühl des Ankommens, des Willkommen-Seins. Andere Gäste grüßen mich wohlwollend, sie scheinen mich zu kennen. Der Kellner kommt lächelnd zu mir: ‚Das Übliche?‘, fragt er. Ich neige leicht und zustimmend meinen schönen Kopf.

Dieser unausgesprochene Respekt, der meinem Traum-Ich entgegengebracht wird!  In meiner Wirklichkeit ist er mir fremd. Weder von meinen Mitmenschen noch von mir selbst erhalte ich ihn. Ich bin eine, die im besten Fall Mitleid erntet, eine, der man, falls man ein gutherziger Mensch ist, helfen will, weil man mir sofort ansieht, dass ich zu jenen gehöre, die zu kämpfen haben, zu jenen, denen nichts in den Schoß fällt, die sich schwer tun im Leben. Eine Naive bin ich, eine Zaudernde, Schwerfällige. Eine unhübsche Dicke. Bestimmt hat Mutter sich geschämt für die uninteressante Tochter, die ihr mit knapp achtzehn – Vater unbekannt – passiert ist. Geschämt sicherlich auch für ihre biederen Eltern. Doch auch umgekehrt empfanden wir sie, die Künstlerin, als Fremdkörper – eine Verrückte, deren unkonventionelle Lebensweise wir ablehnten.

Ich reibe meine Stirn: raus mit diesen unangenehmen Gedanken aus meinem Kopf und zurück in meinen Traum – zurück in den schönen Gastgarten. Selbstbewusst sitze ich in der Mitte des Geschehens. Nun seufze ich selbstmitleidig auf. Normalerweise nämlich, in meinem realen Leben, suche ich überall nach Nischen, in denen ich mich geschützt fühle, setze mich an den Rand, wo ich hingehöre, als Randfigur. Der Kellner serviert mit einer kleinen Verbeugung und einem Scherz mein Getränk, ich lacht laut und unbeschwert.
Um mich sprühen beinahe greifbar positive Energien. Dann wird es still, alle sehen gebannt zur Bühne. Eine wunderschöne Frau mit einem Mikrofon in der Hand steht oben. Sie nickt mir zu, beginnt dann mit samtener Stimme zu singen. Eine sanfte, eindringliche Melodie in einer fremden Sprache. Spanisch, vermute ich.
Sie sieht mir dabei unentwegt in die Augen. Es ist offensichtlich, dass ihre wunderbare Darbietung einzig und allein mir gilt. Als der letzte Ton verklungen ist, lächelt sie mir zu – und so endet der Traum, mit diesem, ja, zärtlichen Lächeln und Blick der Sängerin.

Wieder seufze ich laut auf. Wie unglaublich klar und detailreich mein Traum doch gewesen ist, im puren Gegensatz zu meinen bisherigen Träumen stehend, von denen ich mir, wenn überhaupt, nur verwischte Szenen merken konnte.

Mein Magen knurrt wieder. Nun stehe ich doch auf, ächzend wegen meiner Rückenbeschwerden. Es gelingt mir jedoch, das ungewohnte Hochgefühl durch den Tag zu tragen. Bestimmt auch, weil heute Sonntag ist und ich nicht arbeiten muss. Ich verbringe fast den ganzen Tag auf der Couch, versorge mich mit Pizza, Naschereien und Cola und sehe fern. Abends, als ich die Vorhänge zuziehe und die Nachtlampe einschalte, taucht unvermutet etwas in mir auf. Eine tief in mir gelagerte Erinnerung? Ein Wunschbild? Jedenfalls sehe ich deutlich mein altes Kinderzimmer im Haus meiner Großeltern vor mir. Es ist abgedunkelt, nur der zartgelbe Schimmer einer Nachtlampe fällt in den Raum. Ich sehe mich als winzig kleines Kind in den Armen meiner Mutter. Langsam geht sie mit mir im Zimmer auf und ab, mich liebevoll wiegend, und singt dabei leise und zärtlich ein Lied in einer fremden Sprache.

Mir kommen die Tränen. Aufgewühlt suche ich nach Zigaretten, öffne ein Fenster und rauche. Später dann schalte ich, einem Impuls folgend, den Laptop ein, und suche in abgelegten Ordnern nach dem Video von Mutters Begräbnis, das mir damals, vor neun Jahren, irgendjemand geschickt hat.

Nach ewiger Zeit finde ich es endlich. Noch nie habe ich dieses Video angesehen. Tief atme ich ein und aus, bevor ich auf Start drücke. Dann sehe ich den Friedhof. Mutters Grab. Meine Großeltern, ihre alten, traurigen Gesichter. Daneben ich, mit versteinerter Miene. Ein paar Dorfbewohner hinter uns. Ich sehe mir unbekannte Freunde meiner Mutter, die bewegt leise Abschiedsworte sagen. Und dann Mutters Musiker-Kollege. Das Medley. Klare, eindringliche Melodien. Wie vor neun Jahren muss ich beim selben Lied weinen. Ich erkenne es sofort. Beim ersten Ton. Es ist das Lied von meinem Traum. Dasselbe Lied, das Mutter vor langer, langer Zeit mir, ihrer kleinen Tochter, so zärtlich vorgesungen hat.

Immer wieder spule ich zurück und höre es mir an, präge mir das Lied ein. Dann tippe ich die Worte des Refrains in mein Handy: ‚Mi amada hija hermosa‘. Lasse es auf Deutsch übersetzen. Und lese wieder und wieder die vier Wörter, die schwarz auf weiß da stehen: ‚Meine geliebte schöne Tochter.‘
Sage sie leise vor mich hin, ungläubig, schließe die Augen. Die Traum- und die Erinnerungsbilder von heute tauchen wieder in mir auf und verschmelzen zu einem einzigen Bild. Und dieses Bild breitet sich in meinem Inneren aus und lässt mich spüren, was ich mein bisheriges Leben vermisst habe: Ich spüre Liebe, Wärme und Sicherheit.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 23088