Schlagwort-Archiv: think it over

Prolog

Habe nun, ach!
Leidender! Du musst es leidender sagen!
Habe nun aaach!
Noch mehr Ausdruck! Dein Gesicht!
Lass die Augen hervortreten!
So! Ja! Schmerzvoller Mund! Gut!
Okay, so ungefähr.
Also: Habe nun aaach! Deutsche Philologie,
Musik und auch Geschichte
leider studiert, mit Weh und Ach.
Da sitz ich nun, ich armer Greis,
der leider nicht mehr weiterweiß.
Nenn mich Magister, Doktor gar,
bin mehr als einundsiebzig Jahr
und quäl mich jahrelang vergebens
mit der Suche nach dem Sinn des Lebens.
Tag aus, Tag ein bemüh ich mich,
Migranten Deutsch zu lehren,
obwohl sich manche Teilnehmer
wohl die Bohne darum scheren.
Ich sehe ein, man kann nicht alles wissen,
und sich in allerlei verrennen,
wenn Träume in den Himmel schießen.
Ich will mir nicht den Mund verbrennen.
Das Mindeste soll jeder können müssen.
Ich bin nicht klüger als die and’ren,
versuch, im Sattel mich zu halten, so gut es geht.
Ich fürchte Krankheit, Krieg und Dummheit,
darüber ist mir alle Freud vergangen.
Bilde mir ein, ich wüsst’ drum heut,
wie’s gehen könnt, für mich allein, ganz unbefangen.
Es liegt mir fern, wen zu belehren,
ich will auch niemanden bekehren.
Noch eines sag ich, jetzt und hier,
bei mir war Geld nie in Quartier.
Wohl keiner möcht wie ich so leben,
drum hab ich mich dem Wort ergeben,
ob es mir nicht durch seine Kraft
so manche Linderung verschafft,
auf meiner Suche nach dem Sinn,
wie auch dessen, wer ich bin.
Durch die Gewalt gezielter Worte,
in den reinen Reim gepresst,
erhoff ich mir der Wahrheit Pforte.
Als Zugang, mehr, als dass mich Prosa fühlen lässt.
Auf diese Weise seh ich klar,
was auf dieser Welt scheint’s wahr.
Ich merke, manchmal deprimiert,
es punktgenau und komprimiert.
Verzichte auf in Prosa schweifen,
mit vielen Worten nach den Sternen greifen.
Ach, leuchte, teurer Sonnenschein,
in meine dunkle Seel’ hinein,
und dieses auch in finst’rer Nacht,
die ich am Laptop zugebracht!
Über den Texten endlos brütend,
wahrheitssuchend, müd und wütend.
Das viele Sitzen nährt die Gicht,
viel Lesen trübt das Augenlicht.
Der Geist gerät leicht in Bedrängnis
im körpereigenen Gefängnis.
Kein Lichtstrahl dringt durch diese Wohnung,
ich schreibe weiter, ohne Schonung.
Der Bücher Staub verrät mir nur
die Zeit meiner Registratur.
Warum, horch tief in mich hinein,
kann ich nicht so wie and’re sein?
Die Bier trinken und Fußball schau’n,
und blöde Witze machen über Frau’n?
Wie lang schon sitz ich hier herin’,
und suche nach des Lebens Sinn?
Drum end ich hier und höre auf,
und pfeife auf der Sterne Lauf.
Jag nicht mehr nach dem Sinn vom Leben,
es muss auch noch was and’res geben.

Copyright: Norbert Johannes Prenner
Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25199

Kinder aus Sternenstaub

hinabschauend auf die Lichternester
die unsere Städte sind
enthüllt der Satellitenblick
wir sind eine Rasse von vielen
aber es gibt auch viel Dunkelheit

im „Outback“ stehend
zwischen einem Meteoritenkrater
und dem Kings Canyon
lehren uns das Kreuz des Südens
und all seine funkelnden Freunde
wie unbedeutend wir
Kinder aus Sternenstaub sind



Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25193

Eine andere Perspektive

eure Namen konnte ich mir nie merken
eure Gesichter werde ich nie vergessen
als ihr mit uns lachtet
und im Staub tanztet
ihr jungen Straßenkinder aus Madras

ihr lächeltet in unsere Gesichter
nanntet sie weiß wie Schnee und wunderschön
wir konnten nichts erwidern
konnten euch nicht sagen welchen Sinn
unser Besuch in eurem Slum hatte

Nicole erzählte sie wolle Lehrerin werden
vielleicht dachtet ihr sie werde zurückkommen
auf jeden Fall hieltet ihr sie lange fest
als wir wieder weg wollten
zurück in unsere Welt

völlig erledigt sind wir wieder im Hostel
auf Diät wegen der Hitze Indiens
während ihr die geschenkten Schulbücher
liegen lasst um zurückzukehren
auf die Straße

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25183

A Real Angel

Etwas Obst, vielleicht? Ein Tortenstück, die Imperiale?
Ach nein, ich denk, es reicht. Die Dinge, geniale,
ich warte, wie sie sich entscheiden,
und möcht Gedanken über alle Regeln meiden.

Heute, am Samstag, muss jede Arbeit ruh’n.
Ich hab beschlossen, ich will heut überhaupt nichts tun.
Doch keinen Schabbat kennt der Jammer,
er quält und verfolgt dich bis in deine Kammer.

Wenn alle schweigen, frage ich, meist irgendwann.
Dann öffne ich die Tür und ich beginn im Jetzt.
Mach mir Gedanken, wann das alles wohl begann?
Und dann, was war? Was hat dich so verletzt?

Verschloss’ne Türen lassen sich nicht deuten.
Dann hör ich ihnen zu, diesen bedauernswerten Leuten.
Ich geh zurück, und schau, wie weit wir kommen.
Scheint jeder, ganz für sich, von seinem Elend eingenommen.

Einer, der die Grenzen stört, der stört auch seine eig’nen.
Er stört sich selbst, und das kann er schwer leugnen.
Es liegen alle so, wie sie sich betten.
Allein, ich kann nur einen nach dem andern retten.

Bin stets zur Stell’, ich fahre auch nicht fort.
Probleme bleiben, sie wechseln nie den Ort.
Nun ja, ich weiß, nicht alle woll’n zu mir, als Kapazunder.
Viele von ihnen seh’n in mir das Prominenten-Wunder.

Die Langweiligen haben mich niemals interessiert,
ich finde die Meschuggen wundervoll.
Normalsein ist, was mich am meisten irritiert,
ich find die Komplizierten wirklich toll.

Man sagt, der Kopf, der weiß, jedoch der Bauch versteht.
Beides auf einmal ist, was überhaupt nicht geht.
Versteh’n, das ist nicht gleich mit Wissen.
Und ohne Gott kann gar nichts gehen müssen.

Nur er kann alle Dinge richtig machen.
Aus Fehlern lernt man, was nicht funktioniert.
Natürlich machen Menschen Fehler, und so Sachen,
und darauf hoffen wir, dass er sie korrigiert.

Die Kunst ist die, sich für die anderen zu freuen,
und nicht fürs Ego ganz allein.
Das Ego ist’s, das oft im Wege steht,
und lässt das Gute oftmals nicht herein.

Im Unerlaubten steckt, was allzu oft vergraben ist,
dort musst du suchen, woher du kommst und wer du bist.
Die Ursachen, die haben alle einen Grund,
den musst du finden, sonst wirst du nicht gesund.

Gewohnheiten sind nicht nur gut, manchmal sogar schlecht.
Genau die abzulegen, denk ich, das wär recht.
Die Frage stellt sich meist jedoch, nur wie?
Und das Erwachsenwerden? Ich glaub, das lern ich nie.

So lebt ein jeder bloß in seiner eig’nen Welt.
Und jeder, wie er kann und wie es ihm gefällt.
Wie geht es dir? Du hast nicht etwa Sorgen?
Mir geht es gut, und wenn nicht heut’, dann eher morgen.

Dieser Text ist Frau Dr. Erika Freeman gewidmet, deren
Lebensgeschichte in Dirk Stermanns Roman nachzulesen ist:
«Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen.»

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25133

Wirklichkeiten

Man sagt, dass man nichts wisse,
die Kunst wär’, bloß zu glauben.
Wie’s nach dem Tode weitergeht,
mag uns manchmal die Hoffnung rauben.

In Dunkelheit soll alles enden?
Und in unsern Gliedern stecken,
unaussprechlich, was wir fänden,
in der Apokalypsis Schrecken?

Wie eine and’re Wirklichkeit
scheint uns das Universum fremd.
Unfassbare Erhabenheit,
die Grenzen uns’res Denkens trennt.

Ob es vielleicht nicht doch was gibt,
woran der Mensch sich klammern kann?
Wo rationales Denken siegt,
im Zweifel, gegen des Dunkels Bann?

Im Hoffen auf Gerechtigkeit,
das Tun muss Konsequenzen haben!
Durch Ratio hin zu des Willens Fähigkeit,
sich an der Wahrheit zu laben.

Der heilig’ Geist, als göttliches Substrat,
scheint überflüssig, gibt es nicht schon einen Gott?
Und doch, grenzt nicht, so wie wir glauben,
etwa schon gar an Spott?

Göttlich’ Instrument, du Wissenschaft,
hilf uns, die Welt versteh’n!
Mach, dass wir durch deine Kraft
die zwölf Materienteilchen seh’n!

Und unbemerkt durchs Weltall geistern,
dunkle Stoffe, unverstanden.
Ob die alles zusammenkleistern?
Hier kommt Wissen stark abhanden.

Der leere Raum, zwischen den Sternen,
den Planeten, nah’ und fernen?
Was ist es, das die leere Stätte füllt?
Durch ungeahntes Treiben sich vor uns verhüllt?

Offenbart sich dieser Gott in der Natur?
Bewusstsein, subjektiv, verstehbar nach Gesetzen?
Scheinen schwer begreifbar, nur,
kann Religion diese ersetzen?

Da ist die Welt der Psyche und des Objektiven,
die der Zahlen, Kunst und Theorien.
Sowie auch jene, von Gesetzen, massiven,
durch sie bestimmten Energien.

So kann die Welt, gar durch Ideen,
sich physikalisch stark verformen.
Und durch Geschichten, wie wir seh’n,
Wissen bewahren und erklär’n, nach Normen.

Soziale Wirklichkeiten, denen Wahrheit fehlt,
ein Phänomen, dass viel zu viel dran glauben.
Fake News! Denn das Erfolgsgeheimnis zählt!
Die nützt der Autokrat. Der kann sich viel erlauben.

Im Messbaren zeigt Wissenschaft
in vielem noch Versäumnis,
vergleichbar mit, dem Glauben gleich,
unlösbaren Geheimnis.

Im Jetzt erwarten wir gebannt
die Lösung auf die Fragen,
auf Dinge, die wir nicht erkannt’.
Mag sein, dass man die Antwort erst
im Jenseits uns wird sagen.

Muss man denn alles wörtlich nehmen?
Die Denkweisen war’n mythisch.
Dazwischen liegen tausend Jahre,
von Schriften, und sie sind kryptisch.

Den Armen und den Schwachen helfen.
Gelebte Nächstenliebe.
Spuren des eig’nen Wirkens gelten,
im Leben anderer, wenn sonst nichts bliebe.

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at |Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25127

Brücken

Ein Medley

Nicht jede Brücke dient der Verständigung. Der Verbindung natürlich schon, das ist ihr geografischer Zweck. Die Brücke über den Fluss Ibar in der geteilten Stadt Mitrovica ist solch ein Fall. Mitrovica liegt zwischen Serbien und dem Kosovo. Sie ist nur für Fußgänger geöffnet. Die kosovarische Regierung will sie auch für Autos öffnen, doch die Serben in Mitrovica sind dagegen.

Die Brücke

Ich fahre über die Brücke.
Ich weiß nicht, über welche,
ich weiß nicht, wo ich bin.
Links und rechts ist das Meer.
Schon lange bewege ich mich über diese Brücke.
Ich fahre und fahre, die Brücke nimmt kein Ende.
Nie, wird mir jetzt klar, werde ich sie verlassen.

In der kommenden Miniatur sorgt die Brücke für das Ende.

Suicide

Zu viel ist passiert. Du willst das Leben hinter dir lassen. Es ist Frühling, aber du bist in Kanada, wo der Frühling noch ein Winter ist. Der Fluss ist von einer dicken geschlossenen Eisschicht bedeckt. Du gehst bis zum Scheitelpunkt der Brücke und springst. Es passiert, wie du es dir vorgestellt hast. Du durchschlägst das Eis. Der Fluss nimmt dich mit. Jetzt bist du unter dem Eis gefangen, keine Ohnmacht hat dich betäubt. Du ertrinkst, ob du es schlussendlich wolltest oder nicht, du ertrinkst.
Dies ist eine wahre Geschichte. Das Mädchen hieß Nadia Kajouji. Sie starb mit achtzehn.

In der folgenden Miniatur bildet die Brücke die Stadt.

Trier an der Mosel

Es war im Sommer 1992. Ich fuhr mit dem Auto nach England. Die erste Nacht verbrachte ich in Trier. Zu Fuß suchte ich nachts ein paar Lokale auf, in einem blieb ich länger, in dem mir eine Frau, die für RTL, damals noch in Luxemburg, dafür steht das L, arbeitete, erzählte, wie leid es ihr tue, dass Roy Black gestorben war. Zurück ging ich dann durch einen Teil der Altstadt und über eine Brücke, die sich über einen Fluss spannte, von dem ich gar nicht wusste, wie er heißt. Ein Fluss ist immer gut, besonders vor dem Schlafengehen. Er nimmt mich mit, er nimmt mich mit.

Ich hatte eine sehr nette und hübsche Kollegin, als ich in den 1990er-Jahren in Oberösterreich arbeitete. Sie wurde Ivi genannt, in Wirklichkeit war ihr Name länger. Sie stammte aus Mostar, der Brückenstadt, deren Wahrzeichen die stari most, die Alte Brücke über die Neretva war und ist. Sie wurde im innerjugoslawischen Krieg zerstört, wieder aufgebaut und 2004 eröffnet. Ivi hatte verschiedene Arbeitsplätze, an einem hatte sie einen Marienaltar errichtet. Ihr war es wichtig, der Messe folgen zu können. Einige ihrer Freunde sind im Krieg gestorben, erzählte sie mir.

Kurz bevor ich die Firma verließ, hörte ich, das Ivi heiraten müsse. Tatsächlich müsse. Dabei hatte sie mir stets erzählt, dass ihr Freund ihr auf die Nerven ginge. Was soll man dazu sagen? Ivi machte sich rar. Ich sah sie kein einziges Mal mehr.

Seltsam, seltsam, das geträumte Gedicht, in dem die Brücke vorkommt.

 

Nur geträumt und nicht erlebt

Ich warf eine Stoffpuppe von der Brücke.
Ich weiß nicht warum.
Nur geträumt und nicht erlebt.
Der Richter war ich über zwei Angeklagte.
Ich konnte kein Urteil fällen.
Nur geträumt und nicht erlebt.
Der kleine König war ich,
den sie auf einer Stange trugen,
die in seinen Körper ragte.
Nur geträumt und nicht erlebt.
Die Logik gilt nur für die Wirklichkeit.
Im Traum rechnet man mit Bildern statt Zahlen.

Nun kommt eine Erinnerungsgeschichte.

Things to Come

Der junge Mann zog die braune Wildlederjacke über. Es war gegen 23 Uhr, Anfang Oktober, er hatte viel gearbeitet und wollte hinaus, noch ein bisschen Leben erfahren vor dem Schlaf. Es war das Jahr 1986. Die Menschen begegneten sich noch wirklich statt auf Bildschirmen, man ging physisch aufeinander zu, deshalb verließ er die Wohnung, die im Haus lag, und das Haus. Die Wildlederjacke hatte er von seinem Vater übernommen. Sie war ihm an den Ärmeln etwas zu lang, sein Vater war um vier Zentimeter größer als er. Sie sah irgendwie brav aus, wahrscheinlich hatte sie der Vater beim Freizeitprogramm von Symposien in Ostländern verwendet, wo getrunken wurde und man sich, vorsichtig noch – wegen des Kommunismus, annäherte. Viel mehr als ein paar Bierflecken wird die Jacke wohl nicht abbekommen haben. Sie war in einem sehr guten Zustand, und bevor seine Mutter sie zur Caritas gab, frage der junge Mann, ob er sie haben könne. Na, und heute trug er sie eben. Die Jacke war warm, und das brauchte er auch, denn der Herbst war schon fortgeschritten, kaum noch Blätter auf den Bäumen, wie man im Mondlicht sah, und von Laternen beleuchtet. Der junge Mann ging über den Gehsteig.

Der Gehsteig wurde von einer Leiste aus Stein straßenseitig begrenzt. Was würde der Gehsteig jetzt denken, wenn er das könnte? Vielleicht: Okay, jetzt geht dieser junge Mann auf mir. Es ist doch schon spät. Warum bleibt er nicht zuhause und geht bald ins Bett? Aber so ist das eben: Allein daran, dass der Gehsteig dies denken würde, merkt man, dass er kein lebendiges Leben ist, er sieht nicht, dass ein junger Mann Action braucht. Er ist Horden von Schülerinnen und Schüler gewohnt, die Schule ist nur 50 Meter geradeaus, ein Gymnasium, kleine Füße, große Füße, offene Schuhe im Sommer, Winterstiefel, alle gehen sie über den Gehsteig. Und dann auch Leute mittleren Alters und Omas und Opas, die brauchen länger zur Fortbewegung, und sie passen auf, wenn Eis auf dem Gehsteig ist, alte Knochen heilen schlecht, das ist bekannt. Was habe ich doch schon alles erlebt, würde der Gehsteig denken, falls er denken könnte, Ohrfeigen von eifersüchtigen jungen Frauen, ihren Freunden gegeben, Liebesschwüre von eben diesen Freunden. Manche nützten, manche nicht. Schneller Lauf von jemandem, der bedrängt wird, jemand, der ihm folgt. Als Gehsteig hat man viel Frequenz, viel Verkehr, auf jeden Fall.

Der junge Mann rauchte eine Zigarette, während er ging. Er passierte die Schule, ging beim Heim mit dem großen Garten, wo er früher öfters mit Freunden auf kleine Tore Fußball gespielt hatte, vorbei und kam zum Kanal, dem er bis zu seinem Ende folgte, was vielleicht 300 Meter waren, dann ging er die Brücke entlang und dann links, Richtung Innenstadt. Erst gestern war er in der Nacht mit P. unterwegs gewesen, eine junge Frau, auf die er schon viele Jahre scharf gewesen war, lange schwarze Haare, braune Augen, ein weicher Mund, und unheimlich frauliche Bewegungen, sie war schön, sie war interessant, sie redeten, tranken, und gingen, sie gingen weit, er ging mit ihr nach Hause, aber nicht hinauf, sondern sie verabredeten, dass er sie übermorgen, also von dieser Nacht morgen, von der Abendschule abholen würde. Es gab nur Berührungen, aber allein die waren supertoll. Naja, jetzt war die nächste Nacht, und der junge Mann steuerte eine Bar an. Er dachte im Moment nicht an P., für einen jungen Mann ist das normal, so ist das Leben eines jungen Mannes, jeder Tag ist ein anderer und einzigartig, und birgt immer wieder eine neue Chance.

Er überquerte eine tagsüber starkbefahrene Straße, jetzt war natürlich nicht so viel los, aber der junge Mann ging erst los, als die Fußgängerampel Grün zeigte. Rot heißt warten, grün heißt gehen. Noch ein paar Schritte, da war das Lokal. Zum Draußensitzen war es zu kühl. In der Nähe des Eingangs standen zwei Jugendliche und besprachen etwas. Das Lokal gab es seit etwa zehn Jahren. Es hatte also keine lange Vergangenheit. Aber natürlich hat ein Lokal, wenn es dazu fähig wäre, immer viel zu erzählen, Alkoholabstürze, Polizeirazzien, Freundschaften, die geschlossen werden, Streitereien, und Liebesbande, ganz besonders Liebesbande, die geknüpft werden. Das Lokal verfügte über einen ersten Stock, dort stand ein Billardtisch. Der Wirt hatte das Lokal gepachtet und auf eigene Kosten eingerichtet. Er hatte sich darauf eingelassen, dass viele seiner Kunden anschrieben.

Das Lokal konnte sich nur an diesen Wirten erinnern. Damit lag es richtig, es gab nämlich nur diesen. Es wurde gute Musik gespielt, Rock und New Wave, manchmal etwas Punk, gerne Nina Hagen. Die Abstimmung war gut, die Übergänge passten. Der Wirt legte selbst auf. Er wäre fast als professioneller DJ durchgegangen. Aber er war ein kontroversieller Typ, entweder er mochte einen, oder er konnte einen nicht leiden. Sympathie und Antipathie beruhen ja so gut wie immer auf Gegenseitigkeit – es war auch umgekehrt so, entweder man mochte ihn, oder man konnte ihn nicht ausstehen. Der junge Mann stand ihm nicht gut zu Gesicht, und umgekehrt war es genauso, trotzdem war dieses Lokal für den jungen Mann fast immer das erste, das er besuchte, wenn er ausging – weil: Erstens – es war das näheste, zweitens – die Musik war gut, drittens – der Bierpreis war niedrig. Also: Der junge Mann betrat das Lokal. Das Lokal sah, wie der junge Mann es betrat. Er bestellte ein Bier, ein großes natürlich, das muss man nicht dazusagen. Das Lokal sah, wie der junge Mann ein großes Bier bestellte. Der Wirt grunzte irgendetwas und stellte es auf das Stehtischchen. Genau: Das ist noch zu sagen – im Erdgeschoß gab es ausschließlich Stehtischchen. Im Lokal waren nicht allzu viele Leute.

Ungefähr etwas mehr als einen Meter entfernt bekam eine junge Frau gerade ihr bestelltes Baguette. Sie war nicht mehr ganz nüchtern. Der junge Mann kannte sie seit geraumer Zeit. Sie sah sehr gut aus und war gescheit, gefürchtet wegen ihres spitzen Mundwerks. Vor ungefähr zwei Monaten redeten sie hier, dann verabschiedete sie sich und ließ ihn einfach stehen. Das war dem jungen Mann noch nie passiert. Jetzt sah sie zu ihm hinüber und fragte: „Willst du auch etwas davon?“ Er verneinte, aber er stellte sich zu ihr. Und das Lokal sah, dass sie sich nahekamen, ziemlich nahe, dann zahlte der junge Mann, und sie zogen weiter. Aber dass sie ein Paar wurden, später einen Sohn bekamen und heirateten, das wusste das Lokal nicht mehr, dazu war es zu weit weg. Ob P. am nächsten Tag gewartet hat? Lange sicherlich nicht.

Liebe ist doch das schönste, das es gibt. Es macht den Menschen zum Menschen. Die vielen Sicherheitsschlösser an der Brücke machen sie schwer. Il ponte degli innamorati. Wie lange wird die Liebe zwischen A + D halten? Vielleicht nur ein paar Wochen, aber sie hat sich manifestiert, und es sind wunderschöne Wochen, unverwechselbare.

 

In Wasser und Luft                                                           

Ich reiche dir meine Hand.
Du lebst im Wasser,
mein Element ist die Luft.
Wie können wir gemeinsam leben?
Auch wenn wir einander noch so wollen,
Liebe baut Brücken,
aber nicht solche.
Du wirst mein Wassergedanken bleiben
und ich dein Wunsch vom Fliegen.

Jetzt kommt eine Pause, Zeit, um die Eindrücke sacken zu lassen. Waren es nicht vielfältige? Aber es geht weiter, es geht immer weiter. Demnächst.

Graffito Schädel mit OX und gekreuzten Knochen mit Aufschrift VAMPOMA

Graffito Schädel mit OX und gekreuzten Knochen mit Aufschrift VAMPOMA

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25123

Der blinde Fleck, Metaphern und Glühwürmchen

Über das Unsichtbare und die Macht des Lichts

Tief vergraben in den unbewussten Sphären unserer Wahrnehmung liegt er – jener Fleck, den keiner sehen kann. Ein unsichtbarer Akteur, der im Verborgenen wirkt, wie ein Gangsterboss, der seine Identität zu schützen weiß. Jeder trägt ihn in sich: diesen inneren Widersacher, der still unsere Sicht verzerrt – und uns schon oft zum Feind geworden ist.

Doch einmal ins Bewusstsein gerückt, steht er plötzlich ganz oben auf der Liste persönlicher Prioritäten. Reflektierte Menschen machen ihn sich zunutze: als Katalysator für Wachstum, als Anlass zur Veränderung von Verhalten oder Perspektiven – ja, manchmal ganzer Weltbilder. Wer ihn erkennt, dem öffnen sich mitunter Türen zu neuen inneren Welten.

Andere hingegen ziehen es vor, blind zu bleiben. Denn ist es nicht verlockend, sich selbst Ego-gekrönt im Zentrum aller Geschehnisse zu wähnen? Zu glauben, dass die ersehnte Aufmerksamkeit der anderen aus der eigenen Größe erwachsen ist? Doch der Fall ist tief, wenn die Bühne – gezimmert aus Brettern der Ignoranz und Fehleinschätzung – in sich zusammenstürzt. Dann endet die Inszenierung abrupt, nicht selten befeuert von einem müden, desillusionierten Publikum. Der Vorhang fällt – und mit ihm der vermeintliche Held.

So menschlich dieser blinde Fleck auch ist, so dämonisch wirkt er in den Händen jener, die ihn bewusst einsetzen. Manipulation, Machtgewinn – oft auf Kosten derer, die nicht sehen wollen. Doch leider, so scheint es, ist die Anzahl der Blinden größer als jene der Sehenden. Und damit ist nicht das tatsächliche Sehvermögen gemeint, sondern die klare Sicht nach innen.

Es fehlt an Lichtquellen, die diesen Blick ermöglichen, die das Versteck des Flecks aufdecken. Doch nicht immer braucht es große Leuchttürme. Oft genügt schon das kleine Licht eines Glühwürmchens – wenn es zur rechten Zeit den Weg weist.

Diese Glühwürmchen sind Momente der Selbsterkenntnis. Sie erscheinen blitzartig, verweilen kaum länger als eine Millisekunde – und reichen doch, um ein inneres Leuchtfeuer zu entzünden. Ein Gedanke entsteht, der Zeit hat zu wachsen. Und mit ihm wächst die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel der Erkenntnis zu betrachten.

Ein Bild formt sich – aus Puzzleteilen, Erinnerungen, Einsichten. Am Ende steht kein lautes Erwachen. Nur ein stilles Verstehen – und das Verschwinden eines Schattens, der zu lange die Optik verzerrt hat. Zurück bleibt Klarheit. Und vielleicht ein kleines Glühwürmchen, das glücklich lächelt.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25113

Durchhalten

Wenn man die Morgennachricht hört,
ist man frühzeitig verstört.
Am liebsten möchte man die Decken
sich über’n Kopf zieh’n und verstecken.

Da wird mit Zöllen rumgemacht,
die Börsen krachen, gute Nacht!
Demokratien kämpfen ums Überleben,
Gen Z bleibt auf den Straßen kleben.
Nichts als nur Probleme wälzen,
die Welt wird hin,
die Gletscher schmelzen.

Es jammern Junge, wie die Alten,
hier ist es fast nicht auszuhalten.
Liegt’s bloß am Hirn, zu fokussieren,
auf Erschreckendes zu reagieren?
Bemerken häufig, was uns fehlt.
Positives scheint gezählt.

Selbst ein Sonntag, warm und hell,
lässt uns zweifeln, gar zu schnell.
Darf das sein, in Stadt und Landel?
Ist es schon der Klimawandel?

Wenn du kannst, dann ignorieren,
lies halt keine Zeitung mehr!
Bloß nicht zu viel informieren,
muss auch so geh’n, bitte sehr!

Die Kunst scheint, informiert zu werden,
ohne Wut und ohne Zweifel.
Doch was hilft gegen die Trauer? Sterben?
Zuversicht scheint echt beim Teufel.

Ich beginn zu recherchieren,
nach Mitteln für die Leichtigkeit:
Algorithmen antrainieren?
Posts, die fluten, rasch blockieren?
Micky Maus statt Neuigkeit!

Halte News an feste Zeiten, pfeif auf trommelnden Bericht!
Nun, er tut es, wie wir wissen, gar zu oft, bis dass er bricht,
lass das Handy doch mal stecken, einmal ist pro Tag genug,
geht nicht allzu oft zum Brunnen, wie es heißt, derselbe Krug?

Die Teilnehmer der Polykrise warten zitternd
auf ein für alle rettend’ Wort.
Ohne einen Spielraum witternd,
eilt die Hoffnung weiter fort.

Das Wort, das uns vorm Schlimmsten schützt,
gilt nicht, sagst es nur du.
Wenn wir woll’n, dass es was nützt,
braucht’s vielmehr andere dazu.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25097

Wenn …

Wenn du cool bleibst,
wo andere schon kollabieren
und ihren Kopf dabei schon fast verlieren
und dann noch meinen, das ist ganz allein dein Scheiß,
und niemand mehr dir glaubt und jeder alles besser weiß,
dann glaub an dich, vertraue dir, und hab Geduld,
du weißt genau, es ist nicht deine Schuld.

Wenn du warten kannst, hoff auf den Frieden,
Denk dir, du musst auch deine Feinde lieben, und
auch die, die dich belügen, auf dass du sie nicht hasst.
Bleibe du selbst, und bleib gefasst.

Wenn du dich nicht im Traum verlierst,
dich nicht ergehst in Spinnereien,
wenn du Sieg und Niederlage spürst,
das alles akzeptierst, und all die and’ren Quälereien.

Wenn das, was du gesagt hast,
von Ignoranten falsch verzerrt,
verdreht oder missbraucht, beinah,
du hattest dich gefügt, und dich dagegen nicht gewehrt.

Wenn du nun auf Gewinn die letzte Karte spielst,
dann sei nicht gram, wenn du verlierst.
Beginn von vorn, ein neues Blatt du siehst,
egal, was immer du dabei verspürst.

Wenn du ein Herz erstürmst und damit das Gefühl,
jetzt musst du handeln. Bleib trotzdem kühl,
wenn auch nicht mehr zu holen ist
als dein Mut, zu dem du stehst, der sagt, es geht.

Wenn dich auch alle lieben und du dich dabei nicht vergisst,
wenn du dem über und dem unter dir respektvoll bist,
wenn du unverwundbar, mehr noch als Achill,
und niemandem versagst, wenn er dich was bitten will,
wenn du vergeben kannst, dem, der dir Unrecht tat,
dann gehört sie dir, die Welt, und du bist Mensch in ihr.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25093

fallen lassen

I.
wir lassen sie fallen
unsere verbrauchten Namen
unsere abgenutzten Gesichter
wir lassen sie fallen
in fremde rote Erde
vergraben sie tief und
lassen Gras darüber wachsen

II.
wir lassen uns fallen
so leer wie wir sind
so nackt wie wir sind
wir lassen uns fallen
in sattes grünes Gras
und graben rote Namen tief
in unsere fremden Gesichter

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25082