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Die kleine Stadt an der Moldau

Eines Tages las ich von der früheren jüdischen Gemeinde in dem kleinen Ort Rosenberg – tschechisch Rožmberk –, der idyllisch an der Moldau liegt, überragt von der Burg. Bald darauf fuhr ich mit dem Auto hin. Ich nahm Elsbeth mit, die auch daran interessiert war, den Ort und den kleinen jüdischen Friedhof kennen­zulernen. Sie ist eine zarte Frau, die den Eindruck erweckt, als wäre sie aus Papier oder einem anderen Leicht­stoff und als könnte sie schon ein sanfter Hauch davonschweben lassen. Wenn es darauf an­kommt, kann sie allerdings ziemlich hartnäckig, fast widerspenstig sein. Dann schmollt sie lange.

Hat man die Eichenalleen an der Moldau erreicht, wird die Fahrt nach Ro­senberg romantisch, wie über­haupt die Fahrt bis Krumau. Smetana klingt im Ohr, und die Wellen der Moldau scheinen sich nach seiner Leitmelodie und deren Rhythmus zu bewegen. Die an­gesichts des kleinen Ortes große Burg Rosenberg übt eine fast autoritäre Dominanz aus. Der Ort selbst scheint ausgestorben und menschenleer bis auf Autos, die nach Krumau weiter­fahren, und Radfahrer, die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs vor allem aus Österreich und Deutsch­land in ihren Taucheranzü­gen ähnelnden Bekleidungen über die Straßen fe­gen. Sonst sieht man dort nur we­nige Menschen, Einheimische scheinen sich kaum blicken zu las­sen, sie bleiben in ihren Häu­sern und kleinen Gärten. Und in der Moldau bewegen sich die Paddelboote, Rafter und Ka­jakfahrer.

Der Friedhof liegt links neben der Straße in Richtung Krumau, etwas nach Ro­senberg, und er fällt, wenn man ohne Kenntnis vorbeifährt, gewiss niemandem auf. Oberhalb des Friedhofs konnte ich parken, und ich wunderte mich, dass dort ein Auto stand, hatte ich doch Elsbeth und mich für die einzigen interessierten Besucher gehalten. Wir konn­ten von oben auf den Friedhof schauen und sahen einen Mann, korpulent und nicht sehr groß, mit einer Kappe oder einer Schirmmütze, keiner Kippa – aber vielleicht diente sie als Kippaersatz –, eine alte Frau und zwei Kinder, auf die der Friedhof of­fensicht­lich keinen Eindruck als Ort des Innehaltens oder der Besinnung machte. Sie lie­fen herum und spielten Fangen. Der Mann mahnte sie mehrmals laut zur Ruhe, seine Sprache ver­stand ich nicht, erkannte aber, dass es weder Deutsch noch Englisch war.

Elsbeth und ich betraten den Friedhof und waren gleich bei der Gruppe, so klein ist das Gelände, vielleicht dreißig mal dreißig Meter, nicht viel mehr. Wir kamen ins Gespräch, der Mann sprach eng­lisch mit uns. Wir stellten uns vor. Er heiße Charlie Kalech, sagte der Mann, und die Frau an seiner Seite sei seine Mutter, die seit einigen Jahren in Kalifornien lebe, ursprünglich aber aus dieser Gegend komme. Charlie setzte fort, er lebe mit seiner Familie in Israel, und die beiden Kin­der, die keine Ruhe gäben, seien seine Söhne. Die beiden sprächen Hebrä­isch, das heutige Alltagshebräisch oder Neu­heb­räisch, das man in Israel spreche, Ivrit heiße es.

Jetzt war mir klar, warum mir die Wörter, die ich bei unserer Annäherung gehört hatte, fremd gewesen waren. In der Schule lernten seine Söhne Englisch, sagte Charlie. Viel­leicht lasse er sie Deutsch lernen, die Sprache ihrer Großmutter, seiner Mutter. Was ihn hier­her führe, fragte ich ihn. Das Grab, vor dem er stehe, sagte Charlie Kalech, trage den Na­men Holzbauer, und so habe seine Mutter mit ihrem Mädchennamen geheißen. Ihre und somit seine Vorfahren seien hier begraben. Mir war der Name Holzbauer, der einen kaum an einen jüdischen Zusammenhang denken ließ und an mehreren Grabsteinen zu lesen war, gleich aufge­fallen, zumal einige mit mir befreundete Leute die­sen Namen tragen, ohne jüdi­scher Her­kunft zu sein, zu­mindest nicht meines Wissens. Seine Mutter, setzte Charlie fort, sei zur Zeit des Ein­marsches der deutschen Wehrmacht in die Tschechoslowakei ein Mädchen von etwa zehn Jah­ren gewesen. Sie stamme aus Oberhaid, dem tschechischen Horní Dvořiště, und habe mit ihrer Familie flüchten müssen, besser gesagt, sie hätten gerade noch flüchten können. Sie landete schließlich in New Jersey, arbeitete als Haushaltshilfe, lernte ihren Mann kennen, den sie bald heiratete.

Die alte Frau, die einen sehr rüstigen Eindruck machte, sprach – falls sie Charlie zu Wort kommen ließ – noch ungebrochen Deutsch mit uns, sie sprach ein paar Brocken des deutschen Dialekts, den vielleicht einige sehr alte Leute Südböhmens noch heute beherrschen und mit dem es wohl die eine oder andere Überschneidung im nördlichen Mühlviertel gibt, kaum mit Ak­zent. Über ein paar ihrer Wendungen, an die sie sich erinnerte, lachten wir, zum Großteil aber spra­chen wir englisch, damit Charlie folgen konnte. Einmal im Jahr, meist im Sommer, komme sie hierher in die Gegend ihrer Herkunft, sagte Charlies Mutter, immer mit ihrem Sohn, sie besuche den Friedhof, wo ihre Vorfahren liegen, und ihren Geburtsort Oberhaid, den sie habe verlassen müssen. Diesmal hätten sie ihre Enkel mitgenommen, deren Inter­esse an der Historie, nicht nur an der genealogischen, mit Si­cherheit noch erwa­chen werde, wenn sie erwachsen und erst recht, wenn sie älter seien. Char­lie hinge­gen habe immer – schon in den Vereinigten Staaten, später in Israel – großes Interesse an der Familiengeschichte und an der Geschichte dieser Gegend gezeigt. Ihr Mann, Charlies Vater, sei vor einigen Jahren gestorben. So habe sie die Grausamkeit der Ge­schichte in die Vereinigten Staaten versetzt und ei­ner Welt entrissen, die sie, wären die Zeiten ruhig verlaufen, wohl kaum verlassen hätte.

Charlie sei in New Jer­sey zur Schule ge­gangen, habe in New York studiert, dann habe er ein zionisti­sches Bewusstsein entwi­ckelt. Nein, das habe er schon früher gehabt, aber nach dem Studium habe er es umge­setzt und sei nach Israel gegangen, wo er in Jerusalem eine Inter­netfirma aufgebaut habe, etwas, wovon sie gar nichts verstehe. Dazu sei sie zu alt. Charlie sei ein gemachter Mann, man könne sagen, er sei reich, sagte die Mutter. Nach dem Tod ihres Mannes sei sie von New Jersey nach Kalifornien gezogen, wegen des milderen Klimas.

Die Kinder hielten mit dem Herumlaufen inne, unser Kommen hatte ihre Neugier geweckt und sie hatten sich zu uns gesellt, vielleicht konnten sie einige Wörter der Unterhaltung in englischer Sprache verstehen. Charlie fragte mich, warum wir den kleinen jüdischen Friedhof besuchten. Elsbeth schwieg, nicht so sehr wegen ihrer Schüchternheit, sondern weil sie kaum englisch sprechen konnte und gesprochenes Englisch nicht verstand.

Ich setzte Charlie die Gründe unseres Interesses auseinander, etwa meines an der Geschichte der Familie und der Firma Spitz, die – in Linz gegründet – zu einem weltweit bekannten Unternehmen für Getränke und Lebensmittel geworden war. Und die Geschehnisse im Nationalsozialismus bedürften immer noch einer Aufarbeitung, da es kaum eine Region gebe, die nicht kontaminiert sei. Dieses Interesse, das ich mit Elsbeth teile, habe mich einer verschwundenen, einer ausgelöschten Welt nahegebracht. Dabei stoße man, wenn man sich im regionalen Bereich bewege, unweiger­lich auf Rosenberg, auf den kleinen Friedhof und Reste ei­nes älteren im Ort, den ich noch nicht kenne.

Charlie fragte mich, ob ich ihm Informationen zum Judentum in Südböhmen und Linz zukommen lassen könne. Er gab mir eine Visitenkarte mit seiner E-Mail-Adresse. Die Visitenkarte bestätigte, dass Charlie ein Unternehmen für Internet-Services in Israel hatte, in Jeru­salem genauer gesagt. Später recherchierte ich im Inter­net und fand den Auftritt von Charlies Firma.


Charlies Söhne hatten ihre Neugier an den fremden Personen längst gestillt, Charlie oder seine Mutter mussten sie wieder regelmäßig ermahnen, sich der Würde des Ortes gemäß zu betragen. Das hatte kurze Zeit Erfolg, dann liefen sie wieder lär­mend umher. Schließlich verabschiedeten wir uns, und ich versicherte Charlie, ihm Informationen zu schicken.

Ich fuhr mit Elsbeth nach Rosenberg zurück. Wir spazierten in dem kleinen Ort, der von der Burg und der Straße nach Krumau dominiert wird und verlassen und trist wirkte. Nur selten ließ sich ein Auto sehen, auch die Radfahrer hielten sich zurück. Parallel zur Straße nach Krumau, aber höher gelegen, verlief eine Gasse, der entlang früher ein kleiner jüdi­scher Bereich lag, und in einem Garten erkannte man einige Relikte jüdischer Gräber. Als wir auf den zentralen Platz zurückkehrten, sahen wir in einiger Entfernung Charlie Kalech, wie er sich, sprachlich unterstützt von seiner Mutter, mit jemandem an der Haustür unterhielt. Die Mutter konnte neben Deutsch wahrscheinlich noch ein paar Brocken Tschechisch, wahrscheinlich genug, um die Kommunikation ihres Sohnes mit den Einheimischen zu unterstützen.

Einige Tage nach meiner Rückkehr schickte ich Charlie via E-Mail mehrere Hinweise und Dokumente und wies ihn auf einen Historiker der Universität Linz hin, Michael John, der sich unter anderem mit jüdischer Geschichte befasste, etwa mit Enteignungen, Arisierungen und Restitutionsfragen. Charlie antwortete mir, einige Ge­schäftsleute, die er kenne und die ihre Wurzeln in Rosenberg und der weiteren Umge­bung hätten, wollten der Geschichte des Dorfes intensiver nachgehen, im Besonderen der jüdischen. Eine Veröffentlichung sei geplant. Erfahren habe ich darüber nichts, aber vielleicht kommt noch etwas, falls Charlie Zeit dafür findet und nicht vergisst. Wenn ich zu lange warten muss, erinnere ich ihn.

Günther Androsch

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25198

Das Lächeln des Delfins

um dein Lächeln zu verstehen
junge Holikin
Tochter von Holifin
muss ich den Riesenrochen kennen
und den Hieb seines Schwanzes
der direkt ins Herz trifft
wie das Messer
das den Abschiedsbrief
meiner Geliebten öffnet

auch muss ich die Haie
hier in der Bucht
von Monkey Mia sehen
und die Narben die sie
auf den Flossen deiner Mutter
hinterlassen haben
Tapferkeitsmedaillen
die sie nie wollte
für die ihr nicht
töten würdet
die euch aber
unterscheiden
von allen anderen

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25194

FRIENDS NOT FOOD

Du siehst ihn an, nur kurz, wie er, verschwitzt zwischen der Mischmaschine und dem Thomas stehend, in die Leberkässemmel beißt, wie er schnell kaut, wie er mit Bier hinunterspült, siehst sekundenlang auf sein Uralt-T-Shirt mit der Aufschrift FRIENDS NOT FOOD, schwarz auf weiß steht es da geschrieben, siehst schnell wieder weg, weißt aber, die paar Momente haben gereicht, dies wird zu einem jener Bilder, die immer wieder auftauchen, unvermutet, es wird auftauchen, während du euer Baby stillst, oder während du mit der Anna joggst und so tust, als ob du ihr zuhörst, wenn sie sich wieder beklagt über den Thomas, ihren Mann, über jenen Thomas, der grad ebenfalls eine Leberkässemmel verschlingt und Bier trinkt, der Thomas, von dem er jetzt immer wieder anerkennend sagt, auf den Thomas ist Verlass, der kennt sich aus beim Hausbau, der Thomas, über den ihr gelästert habt, noch vor kurzem, über ihn und über seine Anna, kleinkariert seien die beiden, wart ihr euch einig, nicht fähig, über den Tellerrand zu schauen – und jetzt fachsimpelt er mit dem Thomas neben der Mischmaschine, und du bemerkst, dass quer über dem END auf dem FRIENDS NOT FOOD-Schriftzug ein Riss ist, und denkst, damals ist es neu und sauber gewesen, das Shirt, auf der Demo, die quasi der Beginn war von euch beiden, FRIENDS NOT FOOD auf Transparenten, Flyer und Shirts, FRIENDS NOT FOOD habt ihr geschrien und, ja, auch gelebt, und was einst ein Statement war, trägt er jetzt nicht mal als Scherz, sondern aus dem simplen Grund, weil es noch zwei-dreimal zum Arbeiten taugt, bevor es entsorgt werden wird, das T-Shirt, und jetzt sagt er, so, wir müssen weitermachen mit dem Betonieren, das muss schnell gehen in der Hitze, und du nickst verständnisvoll, und innerlich steigt Wut in dir auf beim Weggehen, denn würde er das FRIENDS NOT FOOD T-Shirt nicht tragen, hättest du diese piekenden Gedanken jetzt nicht, und du würdest auch bestimmt nicht etwas golden glänzen sehen in dieser zähen, schweren Zement-Sand-Wasser-Masse da drinnen in der Mischmaschine, und würdest nicht derart Unsinniges denken wie: Da erstickt grad einiges da drinnen, da erstickt grad unser goldener Wohnwagen-Traum, wir wollten doch reisen, wir zwei, und dort bleiben, wo es uns gefällt, und würdest nicht denken müssen, dass diese erstickten, einbetonierten Träume das Fundament eures Hauses bilden werden, auf dem zuerst der Keller entsteht, in dem ihr, davon gehst du aus, die sogenannten Leichen verstecken werdet, und du hoffst inständig, dass du und er gemeinsam eure gemeinsamen Leichen versteckt, und nicht jeder für sich allein seine eigenen Leichen vor dem anderen versteckt, so wie es der Thomas und die Anna tun, und du setzt dich in dein Auto, schnell, denn die Anna wartet schon im Fitnessstudio auf dich, die Anna, die zwar nicht verstehen wird, aber immerhin so tun wird, als ob sie dir zuhört, wenn du ihr erzählst, wie sehr du dich ärgerst über ihn, denn es ist ja auch zu blöd, hätte er das FRIENDS NOT FOOD T-Shirt heute nicht angezogen, dann würde dir jetzt sicher nicht auffallen, dass du heute das rosa SUPERGIRL Top anhast und dass du derartiges nie getragen hättest in Demo-Zeiten, und du startest, und wirfst noch einen bösen Blick zu ihm auf die Baustelle, und siehst, wie er sich den Schweiß abwischt, sich das FRIENDS NOT FOOD T-Shirt auszieht, es achtlos unter die Mischmaschine wirft und nun wie der Thomas mit nacktem Oberkörper schaufelt, und du atmest tief ein und aus, und hupst langgezogen, als du staubaufwirbelnd wendest, Gas gibst und wegfährst.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25189

Von den blauen Bergen kommen wir

Ach, was für eine schöne Zeit!
Das begreifen wir erst heut.
Wie auch immer, viel’ Skandale
prägten viel zu oft die Male.
Hat Cartoonisten reich gemacht,
Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

Was wirklich war, das übertrifft
der künstlerische Zeichenstift
in spitzer Reproduktion.
Und wahr ist’s doch, na und, wenn schon?

Wer auf der sel’gen, uns’rer Insel,
in den Achtzigern gelebt,
vom „Alles super ist“-Gewinsel
weiß, man hat nach Höherem gestrebt.

Soziale Sicherheit und Wohlstand
prägten lange Zeit das Land,
bis, weg’n der Defizite,
dies mit einem Mal verschwand.

Beschäftigungsrekorde weg, Neurosen!
Düst’re Arbeitsmarktprognosen.
Der Schuldenstand im Praktischen, normativ,
die Kraft des Faktischen.
Ach, was für eine schöne Zeit!
Willkommen in der Wirklichkeit.

Loyalitätsbedingt dem Alten
muss man den Staat nun neu gestalten.
Es stampft und dampft, die nicht ganz vife
Populär-Lokomotive.

Von Krisen zeigt das Land, geprägt, sich
liberal sozial zersägt.
Die grüne Au wird zum Konflikt,
das Land zur Skandalrepublik.

Waluliso predigt mahnend
Frieden!, weil schon Unheil ahnend.

Den Wein, den panscht der Winzer listig,
ihn trinkt kein Mensch mehr, weil er mistig.
Ein Reiter sitzt am hohen Ross
Und rüttelt stark am Opfermythos.

Ein neuer Geist irrt jetzt umher.
Den alten Weg, den gibt’s nicht mehr.
Zunehmend wird man jetzt globaler,
medial und digitaler.

Der Privatisierung heller Schein
dringt in die Politik hinein.
Medien stören Prominente
im intimen Ambiente.
Skandale nehmen ihren Lauf,
der Journalismus deckt sie auf.
Das Budget wird immer dünner,
jedoch das Parlament wird grüner.

Alles frönt dem Hedonismus,
der Yuppie zählt zum Organismus
erfolgsgewohnter Börsianer.
Die Hofreitschul’ zeigt Lipizzaner.
Alles happy, alles da,
weil I am from Austria.

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25118

 

 

 

CARTOON EINFÜGEN

Der große Wohltäter

Gestern trug man ihn zu Grabe, ohne große Ehren.
Und nicht am Willen lag es, ihm sie zu verwehren.
Im Stillen ward’ er, hierorts, leis’ zu Grab getragen.
Ein großer Mann, das darf man wahrlich über diesen sagen.

Erfinder war er keiner, und auch kein Weltverbesserer,
so einfach war er, herzensgut, und sonst auch kein Besessener.
Sein Wunsch, alles ins rechte Licht zu rücken.
Es lag ihm fern, womöglich alle zu beglücken.

War’s angebracht, hielt er den Mund und hielt auch keine Reden.
Kein unnütz’ Wort, es lag ihm mehr am Geben.
Hat nichts entworfen oder gar erfunden,
wollt’ gern der andern heimlich’ Wunsch ergründen.

Nie war sein Ding, über and’re zu bestimmen.
Er wollte nie zu hohe Berge selbst erklimmen.
Nahm weder teil an Treffen noch Konferenzen,
und nie versetzte er den Stein an fremden Grenzen.

Hat lieber geschwiegen, als selber große Reden zu halten.
Nie von sich reden machen, nichts zwischen ihm und andern spalten.
Kein Reporter musst’ ihn je besuchen.
Kein Kommentator wegen ihm Termine buchen.
Nur ein einzig’ Mal hat man von ihm vernommen,
sei er, der gold’nen Hochzeit wegen, in ein Wochenblatt gekommen.

Vor Bewund’rung steh’n wir, ehrfurchtsvoll beseelt,
an dieser Bahre hier und hör’n, was man von ihm erzählt.
Ein Mann, der vieles unterlassen hat, bei Gott, jedoch nicht lahm,
weil er vor lauter Pflichterfüllung zu gar nichts and’rem kam.

Da war seine Familie, die Kinder und der Garten.
Bäume pflanzen, Steuern zahl’n, auf bess’re Zeiten warten.
Nur selten war Gelegenheit, ein Gläschen Wein zu trinken,
nach der Arbeit, die getan. Die Sonne schon im Sinken.

Vielleicht deshalb ein großer Mann, ein Vorbild für die Jungen?
Eher von anno dazumal, hätt’ man ein Lied auf ihn gesungen.
Was soll auf seinem Denkmal stehn? Dem Wohltäter der Menschheit?
Der niemanden gequält, verletzt oder vielleicht gelangweilt.
Heut reicht es kaum zum Denkmal hin, was wird denn so erwartet?
Der Mann, der war zu gut, zu brav, ja, beinah schon entartet.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25115

In der Vergangenheit

Ich kann den Mann angreifen,
aber ihn wegzustoßen oder ihn zu mir zu ziehen ist unmöglich.
Das Bild von ihm zittert.
Denn der Mann ist nicht bei mir, sondern nur sein Bild,
und das liegt in der Vergangenheit.

Die Eisenbahnunterführungen in der Villacher Straße bei Schneefall am 23. Januar 2023, von Westen gesehen

Die Eisenbahnunterführungen in der Villacher Straße bei Schneefall am 23. Januar 2023, von Westen gesehen

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25105

Die Wohlgerüche deines Gartens

(in Erinnerung an meinen Großvater Johann Franzen)

Der Geruch nach Schuhcreme
an allen deinen Fingern
weicht nach und nach
den Wohlgerüchen deines
gut gehüteten Gartens,
während du tiefer und tiefer
in die geliebte Erde
deines Zuhauses eintauchst
mit deinen schwieligen Händen,
die aussehen wie Leder.

Pflanzen, Beschneiden, Jäten
in deinem riesigen Nutzgarten
bereitete dir immer
das größte Vergnügen
nach einem langen Arbeitstag,
an dem du Schuhe machtest
für jedermann, sogar mich,
und die Gartenarbeit ließ
ein Frühlingslied erblühen
auf deinen spröden Lippen,
das deinen Frohsinn
bis zu Haus und Hof trug.

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25084

Heldenberg – Reportage aus der (zukünftigen) Vergangenheit

Der freiheitliche Noch-Klubobmann Peter Westenthaler im ORF-ZiB1-Interview vom 9.9.02 nach der Rolle Volksanwalt Ewald Stadlers beim Aufstand der FP-Funktionäre gefragt, meint, dieser hätte Geister gerufen, die er nicht mehr losgeworden sei.

Am Morgen des 8.10., einen heißen Spätsommertag nach den Ereignissen bei dem Knittelfelder FP-Treffen, begibt sich Volksanwalt Ewald Stadler zur niederösterreichischen Gedenkstätte Heldenberg in der Nähe von Kleinwetzdorf, um dort auf einer „Radetzky-Feier mit Feldmesse“ eine Ansprache zu halten. Die Veranstaltung steht unter seinem, Verteidigungsminister Herbert Scheibners und des niederösterreichischen Landeshauptmanns Erwin Pröll Ehrenschutz.

Die Gedenkfeier auf dem mit 280 Metern nicht gerade hohen Heldenberg findet in geschichtsträchtigem Rahmen statt, nämlich auf einer Ruhmesstätte österreichischen Heldentums, die Mitte des 19. Jahrhunderts aus den privaten Mitteln des aus ärmlichen Verhältnissen aufgestiegenen Armeelieferanten Josef Gottfried Pargfrieder errichtetet wurde.

Im spätklassizistischen Stil gehalten, bestücken die Anlage: eine Art Ehrenhalle, ursprünglich zur Unterbringung einer ständigen Militärmannschaft vorgesehen, Siegessäulen, 142 Hohlbüsten österreichischer Armeeführer und Kaiser aus damals modernem  Zinkguss und, der Ehrenhalle gegenüber, ein echtes Mausoleum in Form eines Obelisken.

In diesem liegen zur letzten Ruhe:  Maximilian Freiherr v. Wimpffen und J.J.W. Graf Radetzky, der Bezwinger Napoleons. Die beiden Feldmarschälle schlugen 1848/49 die italienischen und ungarischen Aufstände gegen die Herrschaft der Habsburger nieder. Zu Füßen der Gräber dieser beiden historischen Persönlichkeiten liegt dasjenige des Armeelieferanten Pargfrieder, der es schaffte, die beiden Herren testamentarisch zu verpflichten, sich auf seiner Anlage und zu seiner Seite begraben zu lassen, indem er ihnen im Gegenzug ihre (Spiel-)Schulden beglich.
In der Gruft, dem Eingang gegenüber angebracht, ist der zumindest grammatikalisch bemerkenswerte Spruch zu lesen:„Wehe dem, der unsere Ruhe stört. Wir sind nicht todt, weil wir schweigen.“

Kurz vor neun Uhr morgens nehmen vor dieser Kulisse und unter schmissiger Marschmusikbegleitung  Garden, vor allem aus Jungen-Nachwuchs bestehend, in mit Stolz getragenen historischen Uniformen aus vergangenen Jahrhunderten, nebst hohen Gästen und Vertretern aus Polizei und Bundesheer auf den Stufen der Ehrenhalle Aufstellung. Es wird die „Meldung an den Höchstanwesenden“ erstattet.

2384 Personen seien zur Feier eingetroffen – ob man die Feier beginnen könne? Der so informierte Höchstanwesende erteilt den Befehl: „Feier beginnen“, auf das folgende Kommando „Parade, habt Acht!“  nehmen rund 2000 Angehörige von Kameradschafts-, Traditions- und Soldatenverbänden aus Österreich und Mitteleuropa, unter ihnen auch solche mit Uniformen aus beiden Weltkriegen, stramme Haltung an. Gespräche verstummen. Ein leiser Wind weht durch schwere Fahnen und mächtige Helmbüsche. Der ebenfalls geladenen Bevölkerung wird durch das ungeduldige Handzeichen eines Offiziers bedeutet, sich von ihren zwischen Ehrenhalle und Mausoleum aufgestellten Bierbänken zu erheben. Sie erhebt sich. Dann werden unmittelbar hinter ihr drei markerschütternde Schüsse einer Kanone aus dem Ersten Weltkrieg abgefeuert. Ein nochmaliges Kommando ergeht: „Parade, ruht!“  – Etwas unschlüssig setzen sich die zahlenmäßig unterlegenen Zivilisten. Die Uniformträger bleiben stehen.

In einer halbstündigen Begrüßungsansprache werden honorige Gäste aus Wirtschaft, Kirche, Adel, Exekutive und Politik für ihr Kommen bedankt, befindet der Bürgermeister der Gemeinde Heldenberg, die Radetzky-Feier wäre keine Bühne für Politik, und werden Grußworte aus aller Welt verkündet. Ein kerniger Bayer beginnt die seinen mit den einleitenden Worten, er müsse aufpassen, sonst hätte er hier gleich den Staatsanwalt am Hals, und erntet verständnisvolle Lacher. Er berichtet vom beklagenswerten Zustand der deutschen Bundeswehr unter einer rot-grünen Regierung, um mit der hoffnungsvollen Ankündigung zu schließen, so wie in Österreich, werde auch in Deutschland die Anstrengungen vernünftiger Kräfte wieder für ordentliche Zustände sorgen, und wird mit aufmunterndem Applaus verabschiedet.

Daraufhin besteigt der Volksanwalt Ewald Stadler in seiner Funktion als Festredner die Stufen zum Rednerpult, begrüßt die anwesenden Journalisten, meint aber, sie enttäuschen zu müssen – er gäbe heute keine Feuerrede (Gelächter, Bravorufe). Was der Magister dann folgen lässt, ist auch wirklich bloß eine vergnügliche Freiluftstunde in Geschichte. Er erhebt die Heldenberg-Gedenkstätte zum österreichischen Walhalla, schildert den Werdegang Radetzkys bis zum ruhmreichen Sohn Österreichs, zitiert Grillparzer: „Glück auf, mein Führer, führ den Streich – in deinem Lager ist Österreich!“ (Der Dichter meinte den Feldmarschall), setzt etwas unvermittelt Radetzkys historische Bedeutung mit derjenigen einer von sowjetischen Besatzungsmächten nach Russland verschleppten Niederösterreicherin gleich, stützt diese offensichtlich von ihm erkannte Ähnlichkeit mit einer von ihr entworfenen Schleife für einen Kameradschaftsbund, die eilfertig und zur besseren Sichtbarkeit auf ein Mikrophon gelegt wird,  und kommt so eher zufällig auf die Behandlung der österreichischen Nachkriegszeit  im Kontext objektiver Geschichtsbetrachtung zu sprechen. Hier fragt er sich bestürzt, wo die Feministinnen denn seien, wenn es um das Schicksal zigtausender vergewaltigter Frauen ginge, schlägt vor, sich, statt auf deren und gewisser „Gutmenschen“ verfälschende Sehweise der Vergangenheit, ganz auf Berichte von Zeitzeugen zu verlegen, von denen in der anwesenden Versammlung ja einige, Gott sei Dank, noch am Leben wären, und fordert gewiss in deren Sinne, dass „…freie Meinungsäußerung nicht zum halsbrecherischen Unternehmen wird!“
Schließlich endigt er aber mit der beruhigenden Feststellung: „Diese Radetzky-Feier ist ein lebender Beweis dafür, dass hier die Unabhängigkeit zu Land und in der Luft …“, wiederholt: „… Zu Land und in der Luft – gewährt ist.“ (Einige überzeugen sich mit Blicken.) Er knüpft daran rasch noch an, dass zur weiteren Verteidigung dieser Unabhängigkeit der Ankauf von Abfangjägern einfach unerlässlich sei, und entfernt sich rasch vom Pult.
(Gedämpftes Klatschen.)

Nach nochmaligem Abfeuern der Kanone beginnt ein Militärkaplan zwischen auf einem Tisch vorbereiteten Kandelabern und Kirchengerät das Kyrieeleison zu murmeln, verlässt das Lateinische, um aus dem Lukas-Evangelium von Jesus bei den Pharisäern zu berichten, die ihn einluden, um ihn zu bespitzeln. Er ermutigt, sich wie der Christus ebenfalls nicht den Mund verbieten zu lassen, auch wenn Zeitgeist und Spitzeltum das opportun erscheinen ließen, spricht mit zunehmender Verve vom im Gange befindlichen Verfall sittlicher Werte, der der Eroberung eines Landes durch fremde Mächte immer vorausginge, und erwähnt als Beispiel für diesen Prozess als pornographisch zu bezeichnende Aufklärungsliteratur an den Schulen, die selbst einen Lenin erröten lassen würde.
Zwar wäre es nicht immer leicht, gegen derartige Umtriebe das Wort zu erheben, und brächte oft Benachteiligung mit sich, aber: „Gott hilft uns, wenn andere ihre Waffen zücken …“ Nach einer Klage über eine gewisse revolutionäre Schichte, die verdiente Veteranen zu Verbrechern verurteile, mahnt er: „Jenen, die uns beobachten, nicht Anlass zu Ärgernis zu geben, sondern zeigen: Es ist uns ernst damit (…).“Der Rest ist unverständlich.

Unter weiterem Kanonendonner fällt der Feldprediger wieder ins Lateinische.

Ein untersetzter Herr in Anzug breitet sorgfältig ein Taschentuch auf den Kiesboden, nimmt den Hut ab und kniet sich Richtung Mausoleum, um eine Art Stoßgebet zu verrichten.

Im selben Moment bewegt sich auf dieses eine Delegation von der Ehrenhalle zu, schreitet eilig durch die inzwischen zum Teil verlassenen Bierbänke, um im Inneren des Obelisken die Kranzniederlegung zu begehen.

Ein Kind ruft beim Anblick der sich zur abschließenden Parade formierenden Verbände und zweier Reiter in Dragoneruniform begeistert in sein Handy: „Ja! Zinnsoldaten sind hier. Weißt du, wie viele? Es sind Tausende!“

Unweit davon eröffnet ein Veteran einem jungen Fotografen, er, der Veteran, wäre damals bei der SS gewesen, und zwar bei der Totenkopfbrigade, krempelt zum Beweis seinen Ärmel hoch und zeigt seine Tätowierung.

Als die an der Kranzniederlegung Beteiligten im hellen Mittagslicht blinzelnd wieder der Gruft entsteigen, um wieder ihre Plätze auf den Stufen einzunehmen, hat sich ein Großteil der Besucher zur am Eingang der Anlage stattfindenden Weinverkostung begeben.

Ungeachtet des von dort herübertönenden Lärms ziehen, unter der Marschmusik sich abwechselnder Militär- und Bürgerkapellen, die Abteilungen diverser Verbände abschließend an den Stufen der Ehrenhalle vorbei, auf denen nach wie vor die Ehrengäste und Garden ausharren. Unter ihnen auf der untersten Stufe und sozusagen in Reichweite befindet sich Ewald Stadler, der den schwer tragenden Fahnenträgern freundlich zulächelt.

Am Nachmittag desselben Tages verkündet Vizekanzlerin Riess-Passer den Medien, dass sie und weitere freiheitliche Minister von ihrem Regierungsamt zurücktreten. Am nächsten Tag kündigt die schwarz-blaue Regierung Neuwahlen an.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25045

 

 

Im Jahr 2024 in Möderndorf

Es muss um 1850 sein,
hier in Möderndorf,
aber dann stehen da Autos,
und die Menschen sind bunt gekleidet.
Eine der niedrigsten Bevölkerungsdichten
Europa gibt es hier,
dennoch ist es das Jahr 2024.

Stromleitungen in Möderndorf über Wiesen und Weizenfelder am 22. Juni 2024

Stromleitungen in Möderndorf über Wiesen und Weizenfelder am 22. Juni 2024

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25038

Der Wind der Julier

Mathilda zieht sich ein zweites Paar Wollsocken über ihre Schlafsocken an und in eine dicke Lammfelljacke gehüllt schürt sie das Feuer im Ofen der Stube. Die Kälte wollte in diesem Winter nicht weichen, seit Wochen war das Tal von einer dichten Schnee- und Eiskruste verhüllt. Ihre Finger sind klamm und steif, und sie kann nur mit Mühe Wasser in den Kessel füllen. Aus der Kammer nebenan hört sie leises Wimmern und Husten, die Tochter ist wach. Augustin, der Hund, der in diesem Winter im Haus schlafen darf und der in einer Ecke zusammengerollt geschlafen hat, erhebt sich und tapst zum Bett der Kleinen. Ihm entgeht es nie, wenn ein Kind von Mathilda in Nöten ist.

Aus einigen Lagen Decken und Fellen holt Mathilda die kleine Agatha hervor, zieht Haube, Fäustlinge und Überwurf fest um das Mädchen und stillt das fiebernde Kind. Matthias, der drei Jahre ältere Bruder, der im anderen Bett des Zimmers liegt, öffnet die Augen und steckt sich den Daumen in den Mund. Das Feuer knistert im Ofen, Wasserdampf steigt aus dem Kessel auf und taucht den kleinen, dunklen, verrußten Raum in einen feinen Nebel, das Kerzenlicht am Tisch flackert.

„Wir müssen heute Holz sammeln und Hagebutten ernten, Matthias, hörst du? Du musst mir helfen. Agatha braucht Hagebuttentee, damit sie gesund wird. Unsere Vorräte gehen zur Neige und der Winter ist hartnäckig in diesem Jahr.“

Matthias hüpft von der Pritsche und zieht sich rasch an. Aus der Truhe neben dem Tisch holt er Brot und Käse, ein kleines Stück Geräuchertes und zwei Becher. Mathilda beobachtet ihren Sohn liebevoll und atmet tief durch. Seit dem Tod ihres Mannes im Herbst davor konnte sich ihr Herz nur mehr selten erwärmen, und wenn, dann nur durch den Anblick der beiden Kinder.

Nachdem Mathilda die Hühner, Schafe und Schweine im Stall nebenan gefüttert hat, setzt sie sich mit ihrem Sohn an den Tisch und sie essen die spärliche Mahlzeit. Seit Wochen sind sie und der Kleine hungrig aufgewacht und hungrig zu Bett gegangen. Zum Glück hatte sie noch genug Milch in ihren Brüsten für die kleine Agatha.

Ein sachtes, dunkles Knarzen und gleichmäßiges Poltern ist aus der Richtung des Dobratsch zu hören, als sich Mutter und Kinder auf den Weg machen. Die Tochter fest eingehüllt und mit Tüchern an ihren Bauch festgebunden, stapfen sie mit hohen Stiefeln durch den Schnee.

„Hast du das gehört, Matthias? Dobraci grummelt wieder!“ Der Sohn sieht seine Mutter an und schüttelt leicht den Kopf. „Nein, Mutter, ich höre nichts.“ Sie marschieren entlang des teilweise vereisten Flusses und die Wasserkristalle an der Oberfläche bilden einen glitzernden Nebel. Langsam nähern sie sich dem Fuße des Berges, an dessen Hang Hundsrosen wachsen. Der Hund bleibt schwanzwedelnd vor ihnen stehen und hält inne. Hebt einen Fuß und lauscht. Auch er scheint etwas im Inneren des Berges zu vernehmen. Mathilda stellt den kleinen Korb hin und Sohn und Mutter pflücken die letzten Hagebutten der Sträucher. Augustin streift durch die Büsche und sucht nach Beute, er muss sich selbst versorgen.

Wieder knarzt und pocht es aus dem Berg, die Erde scheint leicht zu beben und der Hund schießt nun winselnd aus dem Gebüsch. Ein starker Wind zieht über die Julischen Alpen kommend in ihre Richtung und wirbelt Schnee auf. Das Kopftuch von Mathilda entschwindet in die Lüfte.

„Was ist das, Mutter? Kommt ein Schneesturm?“, der Sohn klammert sich an das Kleid der Mutter und schiebt sich den Daumen in den Mund. „Ich weiß es nicht, Matthias. Ich höre den Groll des Dobraci schon länger poltern. Jede Nacht werde ich wach davon.“

„Was sprichst du da, Frau! Was für einen Groll hörst du?“ Der Bauersfrau nähert sich mit Riesenschritten der Pater des Dorfes, der wohl ihren letzten Satz noch vernommen hat.

„Gott zum Gruße, Hochwürden.“ Sie senkt ihren Kopf und drückt ihre Kinder an sich.

„Was treibt dich hier heraus bei diesem Wetter, Witwe? Und wieso ist dein Haupt nicht bedeckt?“ Der Pater stemmt seine Fäuste in die Seiten, unter seiner dicken Lammfelljacke quillt ein beachtlich großer Bauch hervor. Seine buschigen Augenbrauen sind zusammengezogen und seine hellgrauen Augen funkeln. Mit einer hastigen Bewegung fegt er dem Jungen die Mütze vom Kopf. „Benehmen, meine Junge! Benehmen! Nimm die Mütze ab, wenn ich mit euch spreche!“ Mathilda drückt ihren Sohn an sich und blickt dem Pastor nun in die Augen, ihr Kinn leicht nach vor gereckt, atmet sie tief ein und aus und die Atemluft malt Kringel in die Sphäre.

„Meine Tochter Agatha hat seit Tagen Fieber, Hochwürden. Wir suchen hier nur Hagebutten für das kranke Kind, und Feuerholz für den Ofen, es geht zur Neige.“ Mit zittriger und etwas zischender Stimme schmeißt sie dem Pfarrer die Worte vor die Füße. Dieser kratzt sich am Ohr und macht einen Schmollmund.

„Soso, Hagebutten. Die Witwe hat Kräuterwissen? Ist sie gar im Pakt mit dem Teufel, Ketzerei? Und warum war sie mit den Kindern nicht beim letzten Gottesdienst?“

„Ich sagte doch, dass die Kleine krank ist. Ich konnte deshalb nicht zur heiligen Messe.“ Der Pastor stapft zwei Schritte näher an Mathilda heran, sodass er dicht vor ihr zu Stehen kommt. Sein weingetränkter Atem schlägt ihr ins Gesicht. Die kleine Agatha beginnt plötzlich zu husten und zu weinen, als der Pfarrer zu sprechen beginnt.

„Der Gutsherr hat mir berichtet, dass du die Abgaben als Hufenbäurin nicht mehr leisten kannst. Es hat den Anschein, als kommst du den Pflichten der Kindererziehung nicht ausreichend nach, sie zu gehorsamen, gottesfürchtigen und bescheidenen Menschen zu erziehen! Ich rate dir, nach Einhaltung des Trauerjahres wieder zu heiraten, ansonsten nimmt das ein schlimmes Ende mit dir, Weib!“ Die letzten Worte spuckt er angewidert aus, er rümpft die Nase und rotzt in den Schnee.

Mathilda wendet sich jäh ab, greift nach dem Korb mit den Hagebutten und stapft mit ihren Kindern zurück ins Dorf. Der Erdboden scheint nun wieder leicht zu beben und das Donnern aus dem Berg und der beißende Wind aus den Julischen Alpen legt zu. In ihren Augen sammeln sich Zornestränen, sie weiß es geschickt, sie zu unterdrücken: Kinn nach vor, Rücken gerade, tief atmen.

Auf dem Heimweg muss sie an ihren verstorbenen Mann denken, der nach etlichen Jahren mit Missernten, eisig kalten Wintern und nach dem Heuschreckeneinfall vor drei Jahren den Mut nie verloren hat. Er war Bauer aus voller Überzeugung und beide schufteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf dem kleinen Hof, um die Abgaben an den Gutsherren rechtzeitig leisten und um die Familie ausreichend ernähren zu können. Sie weiß, dass sie es alleine nur schwer schaffen kann, denn sie hat keine Unterstützung von Nachbarn und Frauen aus der Umgebung, die sie nur als „die fremde Frau aus Italien“ bezeichnen, weil sie die Schöne, Unnahbare war, die den heimischen Bauern geheiratet hat, den andere wollten.

In der Nacht pfeift ein eisiger Schneesturm ums Haus, der an den Fensterläden zerrt und das Vieh im Stall unruhig werden lässt. Mathilda, Matthias und Agatha liegen eng aneinandergeschmiegt unter vielen Decken, der Hund liegt vor dem Bett, hechelt und spitzt die Ohren. Der Donner, der nun durchs Tal poltert, kommt nicht vom Himmel, er kommt aus dem Inneren des Berges. Mathilda kann es bis in ihre Magengrube fühlen. Tisch und Stühle in der Stube nebenan zittern sachte, die Becher in der Truhe schlagen aneinander. Die Kinder schlafen, nur Mathilda, der Hund und das Vieh im Stall sind hellwach.

Am nächsten Morgen liegt die Schneedecke dicht vor der Haustür und eine grelle Wintersonne scheint vom Himmel, als wäre nichts gewesen. Einzig den Schafen, Hühnern und Schweinen ist nicht wohl zumute und der Hund läuft aufgeregt um den Hof. Mathilda bereitet Hagebuttentee und der Sohn holt die letzten Brot- und Käsereste aus der Truhe. Die Kirchenglocken rufen zum Morgengebet und die Dorfbewohner stapfen durch die Schneewehen zur Messe.

Mathilda tritt vor das Haus und ihre Blicke schweifen über den eindrucksvollen Dobratsch, der sich wie ein Herrscher über das Tal zu beugen scheint. Weiter westlich liegen die Julischen Alpen, die Julier, die nun von der Sonne hell ausgeleuchtet im Hintergrund verharren, als hätten sie noch etwas zu erledigen an diesem Tag. Wieder spürt Mathilda ein leichtes Beben unter ihren Füßen, ein beharrliches Knarzen und ein Stöhnen vom Berginneren.

„Was ist denn bloß los, Dobraci?“, flüstert sie. Eine plötzliche Übelkeit macht sich in ihr breit und sie muss würgen. Ihr Herz beginnt zu rasen und der Atem stockt in ihrer Brust. Mathilda läuft ins Haus, verstaut das spärliche Hab und Gut in ein großes Tuch, packt ihre Tochter ins Tragetuch und drängt ihren Sohn zur Eile. Sie öffnet die Stalltür und entlässt das Vieh in die Freiheit.

„Mutter, Mutter, die Erde wackelt!“, schreit der kleine Matthias. Sie laufen zur Kirche, reißen die Türen auf und Mathilda ruft ins Gotteshaus: „Ein Erdbeben, sofort raus hier!“

Dann geht alles ganz schnell. Mathilda läuft mit ihren Kindern und dem Hab und Gut das Dorf entlang Richtung Passstraße. Sie weiß, sie muss weg von hier. Einige Schafe und der Hund laufen hinter ihr her. Lautes Geschrei von den Dorfbewohnern ist zu hören, aber sie ist längst auf dem Weg. Sie ist unterwegs in ihre alte Heimat Venetien, zu einem kleinen Dorf am Meer, während hinter ihr der Dobratsch zornig stürzt. Einhundertfünfzig Millionen Kubikmeter Gesteinsmassen schüttet der Berg ins Tal hinab. Die nahe gelegene Stadt steht durch das Erdbeben in Flammen, Flüsse treten über die Ufer und Klöster, Kirchen und Gutshäuser werden zu Ruinen.

Mathilda erreicht mit ihren Kindern nach zwei Tagen Fußmarsch ihr Heimatdorf geschwächt, aber lebend. Der Zorn des Dobratsch hat ihr das Leben gerettet, denn einige Wochen später wird die Pest nach Österreich ziehen und Jahrzehnte danach findet in Kärnten der erste Hexenprozess statt.

Angelehnt an die wahre Begebenheit des Bergsturzes vom Dobratsch am 25. Jänner 1348.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

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