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Du stehst vor dem Spiegel, zupfst dir ein paar Haarsträhnen zurecht, vermeidest dabei, auf deine Spiegel-Hände zu sehen. Nicht schon wieder kontrollieren, ob sie zittern! Du zwingst dich, stattdessen in deine Spiegel-Augen zu schauen, was es nicht besser macht, dir sieht pure Angst und Aufregung entgegen, du zwinkerst, massierst dir kurz die Schläfen, bemühst dich, dir einen unaufgeregteren Ausdruck zuzulegen.

„Reiß dich gefälligst zusammen“, flüsterst du deinem Spiegelbild zu, „du triffst dich mit Freunden. Das ist etwas Schönes, etwas Schönes! Nichts, wovor du Angst zu haben brauchst“, kommst dir lächerlich vor, wendest dich abrupt von dir selbst ab, gehst aus dem Badezimmer.
‚Was hast du denn erwartet?‘, rügst du dich innerlich streng. ‚Dass du zu einem neuen Menschen mutiert bist? Zu einem mit einem anderen Wesenskern, frei von Angst und Selbstzweifel? Dummkopf! Du musst deine Emotionen aushalten, sie annehmen, gutheißen. Wie oft hast du dies in den Therapien gehört und besprochen? Und doch hoffentlich auch verstanden?! Heute – jetzt! – geht es darum, bereit zu sein, wieder bei null zu beginnen.‘

Aber: Heute –  jetzt! – fühlst du dich genauso unsicher wie seit frühester Kindheit, wie deine ganze Jugendzeit hindurch. Einzige Ausnahme: rund fünf Jahre, in denen du völlig anders gewesen bist. Und die vor vier Monaten mit einem Zusammenbruch geendet haben.

Für den Einstieg in diese fünf Ausnahmejahre hat es keinen bestimmten Auslöser gegeben. Du wolltest und konntest diese diffuse Angst einfach nicht mehr ertragen, die sich in all deinem Tun, bei sämtlichen Anlässen alles übertünchend in den Vordergrund gedrängt hat. Hast begonnen, Tranquilizer zu nehmen. Ab Mittag mit Alkohol gemischt. Was für eine Befreiung: du – entspannt, angstfrei! Mit der richtigen Dosis, der richtigen Mischung:
Endlich dem Ich-Bild entsprechen, welches du von dir selbst hast!
Endlich dieses Ich leben können, weil die verdammte Gehemmtheit, unter der es vergraben war, nun verdrängt ist!
Endlich das Gefühl haben, ‚normal‘ und unbeschwert zu sein!
Endlich wie all die anderen – die Selbstbewussten, die Lebensfrohen – leben!
Endlich sein, wie andere dich haben wollen!

Und ja, wie witzig und schlagfertig, wie beliebt du nun warst! Im Handumdrehen hast du dir den Ruf einer Lustigen, Verrückten, Überdrehten erworben, auch den einer Unberechenbaren, die sich zeitweise rar – und damit interessant – macht, eine, die man oft tage-, wochenlang nicht erreicht, und die dann plötzlich wieder auftaucht. Was du in den Tagen, an denen du verschollen warst, durchgemacht hast, hat niemand erfahren.
Denn natürlich konnte es auf Dauer nicht gutgehen. Der Klassiker: Wie unzählige andere Süchtige brauchtest du mehr und mehr, hast die Dosis gesteigert, hast versucht, dir deine Sucht zurechtzubiegen, sie vor den anderen verborgen.

Keiner deiner Freunde wusste von deiner Medikamentenabhängigkeit, niemand von deiner Verzweiflung, deinem Suizidversuch. Nur deinen übermäßigen Alkoholkonsum haben sie alle miterlebt. Deine Exzesse waren legendär. Außer David hat dich jedoch niemand darauf angesprochen. David, der Freund seit Kindertagen, hat oft versucht, dir ins Gewissen zu reden, woraufhin du ihn gemieden hast. Du hast nicht mehr mit ihm telefoniert, ihm nicht mehr geschrieben, ihn nicht mehr zu zweit, sondern nur mehr inmitten der Gruppe getroffen.

Und jetzt eben. Alles auf Anfang. Anne weiß als Einzige davon. Gestern hast du es ihr erklärt, nur kurz am Telefon, als du das erste Mal seit Monaten wieder einen Anruf von einem der Freundesgruppe angenommen hast. Es war zufällig ihrer.

„Ich bin mir nicht sicher“, hast du gemeint, als Anne dich drängte, du müsstest unbedingt endlich wieder mit ihnen ausgehen, alle würden dich vermissen, sich Sorgen um dich machen, Jonas, Max, Ines, Mira, Jan, vor allem David.
„Aber das ist es ja“, hast du leise gesagt. „Sie werden wissen wollen, wo ich gewesen bin, warum ich anders bin, warum ich keinen Alkohol mehr trinke. Ich weiß nicht, ob mir das nicht zu viel werden wird.“
„Aber du musst dich doch niemandem erklären“, hat Anne entgegnet. „Alle werden sich freuen, dich wieder zu sehen. Wir sind deine Freunde, Malin, und nicht deine Richter.“
Schließlich hast du halbherzig gesagt: „Okay, vielleicht schau ich morgen bei euch vorbei.“
Doch Anne hat gelacht: „Nicht vielleicht! Ich hole dich morgen um 20 Uhr ab, wir gehen gemeinsam. Und wenn du nur für ein Stündchen mitkommst.“

Nun ist es 20 Uhr. Nun läutet es an der Tür. Nun rast dein Herz. Du läufst in den Vorraum, räusperst dich, drückst auf den Knopf der Gegensprechanlage, sagst:
„Hi, Anne, ich komme runter!“
Hörst Anne sagen: „Malin, lass mich kurz rauf bitte, es ist dringend …“
So war es zwar nicht ausgemacht, aber du öffnest Anne die Haustür, siehst dich im Wohnzimmer um. Ein paar Zeichnungen von dir liegen ausgebreitet auf dem Tisch. Zu spät, sie wegzuräumen, du hörst Anne die Stufen rauflaufen, schon steht sie vor dir, gerade rechtzeitig setzt du ein Begrüßungslächeln auf.

„Hey, Malin“, umarmt sie dich kurz, eilt, während du nach Worten suchst, schon an dir vorbei in deine Wohnung, Richtung Klo. Wenig später hörst du sie im Badezimmer laut singen.
Lächelnd, ihr Makeup aufgefrischt, kommt sie retour, lässt sich entspannt und theatralisch seufzend auf deine Couch fallen. „Du, Malin, ich weiß eh, dass du nicht mehr trinkst, aber ich brauche jetzt voll dringend einen Schnaps! Jonas will nämlich eine Aussprache – ach, weißt du überhaupt, dass wir seit Tagen Stress miteinander haben?!“
Du schüttelst den Kopf, sagst leise: „Ich habe keinen Alkohol zuhause.“
„Och, shit, ja, klar – kein Drama – obwohl“, sie kichert, „das ist sowas von ungewohnt, Malin, du und kein Alkohol. Dir ist wohl tatsächlich ernst damit?“, ruft, bevor du antworten kannst: „Hey, hast die du gezeichnet?“, nimmt kurz eine deiner Zeichnungen in die Hand, sagt: „Echt cool.“

Du holst Luft, um Anne zu erzählen, wie froh du darüber bist, nach vielen Jahren wieder zu dieser Kraftquelle gefunden zu haben, dass du beim Zeichnen und Malen entspannen kannst, du dabei vergisst, zu beobachten, ob deine Hände zittern …
Doch Anne ist inzwischen aufgesprungen, geht schnellen Schrittes in den Vorraum. „Dann wollen wir jetzt los, nicht, Malin? Das mit Jonas und mir erzähle ich dir unterwegs.“
War sie schon immer so? Dass sie keine Antworten abwartet? Dich kaum ansieht, dich nicht wirklich wahrnimmt? Du wunderst dich.

Und während du Anne zuhörst, die dir auf dem Weg zum Lokal ausführlich das Problem – unbegründete Eifersucht – zwischen ihr und Jonas erläutert, konzentrierst du dich zugleich darauf, deine Angst unter Kontrolle zu haben, registrierst unerwartet einen Funken Gelassenheit in dir, freust dich darüber.

Doch der Funken verfliegt sofort, als ihr ‚euer‘ Lokal betretet. Zu viele bekannte Gesichter, zu laut, zu grell, zu viel. In Sekundenschnelle verschwindet Anne, stürzt sich auf Jonas und in seine Umarmung, ist nicht mehr vorhanden für dich, ist nun die Hälfte eines ausschließlich auf sich selbst konzentrierten Paares. Du zwingst dich, in die Runde zu lächeln, antwortest angestrengt auf Begrüßungen und Fragen:
„Jep, bin wieder da.“
„Ja, gut geht’s.“
Setzt dich zwischen Mira und Jan, die dich zu ihnen winken, dir Platz machen. Fängst einen warmen Blick von David auf, der vis-a-vis von dir sitzt, erwiderst unsicher sein Lächeln.

Annalena, die Kellnerin, kommt, fragt dich: „Wie immer?“
Du schüttelst den Kopf. „Ein Mineral, bitte.“
„Was ist denn mit dir los?“, fragt Jan sofort laut. „Alles okay mit dir, Süße?“
„Aber ja, natürlich.“ Du bemühst dich um eine klare Stimme.
„Du wirkst so anders. Du bist doch nicht etwa krank“, steigt Mira jetzt in Jans Tenor ein.
„Mann, checkt ihr es nicht“, ruft Max, der sichtlich betrunken ist. „Malin ist schwanger!“
„Ihr spinnt ja alle“, sagt Anne, sich kurz von Jonas’ Lippen lösend, „lasst Malin in Ruhe, sie ist weder schwanger noch krank.“
Du nickst verlegen, antwortest Mira, die dich etwas leiser, aber vorwurfsvoll fragt, warum du auf keine ihrer Nachrichten geantwortet hast, mit:
„Sorry, es tut mir leid.“ Mehr fällt dir nicht ein. Mira sieht dich stirnrunzelnd an, sagt dann: „Schon okay“, dreht sich von dir weg und Ines zu, flüstert ihr etwas ins Ohr, Ines lacht laut auf, die beiden prosten sich zu, trinken.

 Es wird nicht leichter für dich, du bleibst angespannt, hältst die Stimmen und Stimmungen der anderen nur schwer aus. Alle reden durcheinander, Anne und Jonas streiten nun lautstark und lustvoll, Wortfetzen dringen zu dir. Du bemühst dich, aber dir gelingt kein Einstieg in ein Gespräch, zu sprunghaft sind die Themenwechsel. Wohltuend sind einzig Davids Blicke, die dir jedes Mal, wenn du zu ihm siehst, signalisieren, dass er sich freut, dass du da bist – so, wie du bist.

Von den anderen aber fühlst du dich unangenehm beobachtet. Speziell von Jan und Mira. Beide starren auf deine rechte Hand, die stark zittert, als du dir Mineralwasser einschenkst. Du umklammerst das Glas mit beiden Händen, stellst es dann wieder hin, ohne davon getrunken zu haben, ziehst die Ärmel deines Pullovers über deine Hände.

Als Max Annalena zuruft: „Eine Runde Tequila für alle!“, stehst du auf, flüchtest aufs Klo, siehst mehr Erschöpfung als Angst in deinem Spiegel-Gesicht, überlegst, wie du am unauffälligsten gehen kannst. Dass du dich nicht wieder zu ihnen setzen wirst, ist dir klar. Keine Sekunde hältst du es mehr aus in dieser Runde.

Du bleibst hinter Mira stehen, sagst: „Ich muss jetzt gehen.“ Der Satz kommt einfacher als gedacht über deine Lippen.
„Kommt nicht in Frage“, sagt Mira, „du setzt dich sofort wieder hierher zu uns“, sagt es aber in einem spaßig-strengen Tonfall, dem du dich leicht widersetzen kannst.
„Warum schon jetzt, Malin?“, fragt Jan. „Ich will jetzt echt wissen, was mit dir ist. Du bist ja nicht wiederzuerkennen.“
„Malin ist dir keine Rechenschaft schuldig“, sagt David bestimmt, „und sie kann gehen, wann sie will.“ Du siehst ihn dankbar an, wirfst dann ein rasches Tschüss in die Runde, und gehst.

Zuhause nimmst du einen Stift und deinen Zeichenblock, skizzierst Anne, wie sie sich vor wenigen Stunden entspannt auf deiner Couch ausgestreckt hat, zeichnest dich selbst ihr gegenüber, deine hochgezogenen Schultern, deine verschränkten Arme.

Am nächsten Blatt entstehen Mira und Jan im Lokal, zwischen ihnen, wie eingeklemmt, du, dein Wasserglas mit beiden Händen umklammernd. Erst jetzt fällt dir auf, dass du keine Sekunde daran gedacht hast, Alkohol zu trinken. Unerwartet durchflutet dich Stolz und Freude. Als du Max biertrinkend zeichnest, ist für dich klar, dass du dich in dieser Gruppenkonstellation nie wieder treffen wirst. Das passt nicht mehr. Einzig zu David gibt es eine gute Verbindung. Dir wird innerlich warm, während du ihn zeichnest, seinen strahlenden Blick, sein Lächeln, denkst daran, wie oft er und du als Kinder gemeinsam gemalt habt, damals beide am liebsten Pferde, Katzen, Hunde. Ob David auch jetzt noch zeichnet? Du weißt es nicht. So lange Zeit bist du ihm ausgewichen, hast nicht mit ihm geredet. Viel zu lange.

Du nimmst dein Handy, fotografierst die Zeichnung, die du von ihm gemacht hast, schickst sie ihm nach kurzem Zögern, gehst dich dann duschen, schaust danach aufs Handy. Eine Nachricht von David. Du öffnest sie.
David hat dein Gesicht skizziert. Es wirkt sensibel, verletzlich. So, wie du bist. Deine Gesichtszüge auf seiner Zeichnung sind zart, der Ausdruck deiner Augen klar und – ja, schön. Im unteren linken Eck des Bildes steht das heutige Datum und zwei Worte: stay strong.

Dir kommen die Tränen. Du fühlst dich verstanden. Du fühlst dich erkannt. Überlegst nur ganz kurz, schreibst ihm: David, möchtest du telefonieren? Und spürst, wie dein Herz nicht angst-, sondern freudvoll etwas schneller schlägt, als gleich darauf dein Handy läutet.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 25227

Schatzkisten

An einem Sommertag, beim Durchqueren eines Parkes, überfällt sie mich wieder. Unerwartet wie immer. Heute wortwörtlich aus heiterem Himmel. Nach Luft ringend lasse ich mich auf die nächstbeste Bank sinken, nehme unscharf wahr, dass eine kleine, schmale Gestalt im linken Eck der Bank sitzt.

Ich atme so laut und regelmäßig wie mir möglich ein und aus, während ich panisch in meiner Handtasche meine Pillendose suche, als ich eine helle Kinderstimme links von mir fragen höre:

„Warum schnaufst du denn so komisch?“

Endlich finde ich die Dose, öffne sie mit zitternden Händen, entnehme zwei der Pillen und schlucke sie.

„Schenkst du mir auch so ein rosarotes Zuckerl?“ Schon wieder diese Kinderstimme.

Ich trinke meine kleine Wasserflasche in großen Schlucken leer, schaffe es dann, zu murmeln:

„Nein, das sind nämlich Medikamente – keine Zuckerl.“

„Bist du krank? Was hast du denn?“

„Möchtest du nicht spielen gehen?“, frage ich matt und deute mit meinem Kopf vage zu dem eingezäunten Kinderspielplatz gleich gegenüber der Bank, auf der das Kind und ich sitzen.

Es antwortet fröhlich: „Doch! Später dann.“

Ich ringe nach Luft. Wann wirken endlich die Tabletten?!

„Was hast du denn für eine Krankheit?“

„Angst“, höre ich mich nun tatsächlich ungewollt antworten, und denke, dass ‚Panikattacke‘ ein unmögliches, ein hässliches Wort ist, ein Wort, das ein Kind wohl nicht verstehen würde.

Schweigen nun im linken Bank-Eck. Dann rückt das Kind näher zu mir. Sehr nahe. Aus den Augenwinkeln sehe ich lange hellblonde Haarsträhnen, ein blaugeblümtes Kleid.

„Du hast bestimmt keine Schatzkiste bei dir, stimmt’s?“, flüstert es neben mir.

Warum quält mich ausgerechnet jetzt, in meinem miserablen Zustand, dieses nervige Kind mit lästigen Fragen?

„Hast du eine Schatzkiste in deiner Tasche?“, insistiert das Mädchen.

Erschöpft schüttle ich meinen Kopf.

„Siehst du!“, ruft es triumphierend. „Darum hast du Angst! Weil du keine Schatzkiste mithast!“

„Schau!“ Ich sehe, wie das Mädchen einen bunten Rucksack auf ihren Schoß nimmt, darin herumkramt und etwas herausnimmt. Dann hält sie mir direkt eine kleine Holzkiste vors Gesicht.

„Das ist meine Schatzkiste.“ Feierlich öffnet sie die Kiste. Ich sehe blaue Knöpfe darin. „Das sind Knöpfe von Mamis Kleid. Das Kleid hat meine Mami am allerliebsten angezogen, als ich noch in ihrem Bauch drinnen war. Meine Mami und ich haben alle Knöpfe runtergeschnitten und in die Schatzkiste gelegt. Es sind 15 Knöpfe. Mami hat gesagt, jeder von den Knöpfen ist ein Sim- Simbol dafür, wie lieb sie mich hat. Wenn ich traurig bin oder Angst habe, soll ich die Knöpfe anschauen und angreifen, dann werde ich keine Angst mehr haben und nicht mehr traurig sein. Das hat Mami gesagt.“

Zum Glück wirken die Tabletten endlich. Ich fühle mich etwas besser.

„Eine schöne Idee von deiner Mami“, sage ich.

„Ja! Und weißt du, ich habe noch andere Schatzkisten von meiner Mami zuhause. Eine mit Briefen von ihr. Die kann ich aber noch nicht lesen. Und eine mit Fotos. Und eine mit Muscheln vom Strand –“

„Deine Mami hat dich sehr lieb. Du hast großes Glück“, stoppe ich erschöpft ihren Redeschwall.

„Ja!“, lacht das Mädchen glücklich.

Dann schaut sie mich aus großen grünen Augen ernst an.

„Hat deine Mami dich denn nicht lieb? Hast du kein großes Glück? Hast du keine Schatzkisten von ihr bekommen?“

Ungewollt drängen sich in mir blitzartig hässliche Szenen von früher – Schläge, Streit, lieblose Blicke und Worte – auf. Ich schüttle den Kopf.

„Hast du überhaupt von irgendjemandem eine Schatzkiste bekommen?“, ruft das Mädchen nun entsetzt.

„Nein“, sage ich. Und bevor ich erklären kann, dass das kein Problem für mich ist, kommt eine junge, blonde Frau schimpfend auf die Kleine neben mir zu: „Ronja, was fällt dir ein! Mache das nie wieder! Ich habe dich auf dem Spielplatz gesucht! Du kannst doch nicht einfach weglaufen!“

„Aber ich bin doch nicht weggelaufen! Ich bin hier gesessen“, verteidigt sich das Mädchen.

Die blonde Frau seufzt, sagt dann: „Ach, komm – wir gehen jetzt einkaufen und besprechen das unterwegs.“

„Ja, aber warte – gleich – ich muss noch ganz schnell etwas machen!“, springt das Kind auf und läuft auf den Spielplatz.

„Beeile dich, Ronja!“, ruft ihr die Frau nach.

„Jaa -a!“

Nochmals seufzend setzt sich die junge Frau auf die Bank neben mich, schweigt. Endlich spüre ich die volle Wirkung der Tabletten, ich fühle mich ruhiger innerlich. Es ist nur mehr der übliche diffuse Angstrest, der nie verschwindet, der immer da ist, in mir.

Ich bin imstande, zu sagen: „Ihre Tochter hat so liebevoll von Ihnen gesprochen, mir eine Schatzkiste gezeigt – “

„Ronja ist nicht meine Tochter“, unterbricht mich die Frau.

„Ach –“, sage ich verwirrt.

„Meine Schwester ist vor knapp einem halben Jahr gestorben. An Darmkrebs. Seitdem lebt ihre Kleine bei mir. Ronjas Vater hat sich vertschüsst, als sie noch nicht mal geboren war.“

Ich kann nichts sagen, muss das eben Gehörte erst verarbeiten.

Und da läuft Ronja mit roten Wangen auf uns zu, ihr bunter Rucksack hüpft auf ihrem Rücken auf und ab, in ihrer rechten Hand hält sie eine grüne Jausenbox.

„Okay, Ronja, dann gehen wir jetzt endlich“, sagt die junge Frau, steht auf, nickt mir zu und geht den Kiesweg voraus.

Ronja stellt sich dicht vor mich und legt mir die grüne Box auf den Schoß.

„Für dich!“, sagt sie feierlich. „Das ist deine Schatzkiste. Damit du keine Angst mehr hast. Ich habe echt schöne Sachen auf dem Spielplatz gefunden. Obwohl ich nur so wenig Zeit zum Suchen hatte.“

Sie winkt mir vergnügt zu und läuft ihrer Tante nach.

„Danke, Ronja!“, rufe ich ihr nach, gerührt und perplex. „Ich freue mich! Sehr!“

Sie dreht sich noch einmal zu mir um, strahlt übers ganze Gesicht. Dann greift sie nach der Hand ihrer Tante, und ich sehe ihnen nach, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwunden sind, die beiden, Hand in Hand, die Kleine hüpfend und plappernd, immer wieder zu ihrer Tante aufsehend. Meine Hände liegen auf meiner grünen Schatzkiste. Keine Spur von Angst ist mehr in mir.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 25191

Die geschenkte Zeit

An jenem denkwürdigen Tag wachte Isidor spät auf. Müde blickte er auf den Wecker auf dem Nachttisch. Der kleine Zeiger erreichte schon 09:43 Uhr. Erschrocken stellte er fest, dass er verschlafen hatte.
Isidor stand auf und rannte ins Bad, um sich zu erfrischen. Nach einer schnellen Dusche putzte er sich die Zähne, zog sich an und nahm seine Aktentasche.
Schon 10:17 Uhr – er musste sofort zum Auto.

Die Müdigkeit war verflogen, jetzt dachte Isidor nur daran, so schnell wie möglich zu seinem Arbeitsplatz zu kommen. Er rannte zum Wagen, den er in der Nähe geparkt hatte, und sprang hinein wie in ein Fluchtfahrzeug. Doch als er versuchte, den Motor zu starten, stotterte dieser nur.
„Lass mich jetzt bitte nicht im Stich!“, bettelte er, doch sein sonst so zuverlässiges Gefährt hustete nur.
Dann muss ich mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, beschloss er.

Isidor rannte nach Hause und hastete hinunter in den Keller. Dort lehnte sein altes Fahrrad vernachlässigt in einer schummrigen Ecke. Er machte sich daran, das Fahrradschloss zu öffnen. Doch was war das? Die Kette war aus dem Zahnrad gesprungen!
Stimmt, da war etwas, erinnerte er sich, ich wollte ja das Fahrrad nach der letzten Tour reparieren. Hätte ich das bloß nicht vor mir hergeschoben! Dann eben der Bus.

Isidor eilte zur nächsten Bushaltestelle, die zwei Häuserblocks entfernt war. Er wartete fünf Minuten, zehn Minuten, nach fünfzehn Minuten verlor er die Geduld.
Was ist denn heute los? Nicht einmal auf den Bus ist Verlass, ärgerte er sich innerlich. Ohne auf den Fahrplan zu achten, verließ er entnervt die Haltestelle.
Wie es aussah, musste er zu Fuß zur Arbeit gehen. Nun gut – er wollte sich ohnehin wieder mehr bewegen.
Es regnete leicht. Der Asphalt glänzte. In den Pfützen bildeten die Regentropfen kleine Kreise.

Die erste Besprechung des Tages hatte er bereits verpasst. Die Kollegen würden gerade ihren zweiten Kaffee trinken, wenn er ankam. Sie würden den Kopf schütteln, wenn er keuchend und schwitzend zur Tür hereinkäme. Die zweite Besprechung war ebenfalls in Gefahr.
Isidor hatte einen Weg von etwa zwanzig Minuten vor sich. Leider hatte er im Durcheinander nach dem Aufstehen sowohl sein Mobiltelefon als auch seine Armbanduhr zu Hause vergessen. In einer Bäckerei fragte er nach der Uhrzeit.
„Es ist 10:53 Uhr“, antwortete die Verkäuferin. Sie stand hinter der Theke, in der viele verschiedene Gebäckstücke und Brotsorten präsentiert waren.
„Was darf’s denn sein?“
„Nichts, danke. Ich muss dringend zur Arbeit.“
„Ja, ja, die schwer arbeitende Bevölkerung hat es nicht leicht. Vor allem, wenn man arbeiten muss, während andere die Füße hochlegen“, sagte sie verständnisvoll.
„Ja, danke“, erwiderte Isidor, „ich muss dann weiter.“
„Einen schönen Tag noch“, rief die Verkäuferin ihm gut gelaunt hinterher.
„Einen entspannten Tag“, antwortete er und wunderte sich, warum die Frau so viel Verständnis gezeigt hatte.

Heute war doch ein gewöhnlicher Werktag, an dem niemand die Füße hochlegte. War die Verkäuferin komplett durcheinander?
Isidor ging zielstrebig weiter, schaute sich aber genauer um. So etwas, es waren nur wenig Menschen unterwegs. Gar nicht, was er von einem normalen Arbeitstag gewohnt war. Auch der Straßenverkehr war für gewöhnlich dichter. Waren alle Werktätigen schon in ihren Büros und auf den Baustellen?
Er musste jemanden nach dem Tag fragen. Ein älterer Herr im karierten Anzug kam ihm mit einem aufgespannten Regenschirm entgegen.

„Guten Tag, entschuldigen Sie die Störung. Können Sie mir bitte sagen, welchen Wochentag wir heute haben?“
„Heute ist ein Sonntag, guter Mann“, antwortete der Gefragte verdutzt. Isidor lachte schallend.
„Habe ich etwas Witziges gesagt?“, fragte der Mann verwirrt.
„Nein, ganz und gar nicht“, beruhigte ihn der Glückliche. „Sie haben mir den Tag gerettet.“
„Ich verstehe zwar nicht warum, aber es freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte“, sagte der Mann heiter.

Isidor kaufte sich in einer Eisdiele zwei Kugeln Erdbeereis. Der Regen hatte aufgehört. Hinter den grauen Wolken trat schüchtern die Sonne hervor. Isidor spazierte mit dem Eis fröhlich in einen Park und setzte sich auf eine Bank. Seine Aktentasche legte er neben sich. In seiner Nähe führte eine Ente ihre watschelnden Küken zum Teich. Er lehnte sich zurück, genoss sein Eis und freute sich über die geschenkte Zeit.

Dario Schrittweise
dario-schrittweise.org

aus: „Kaleidoskopische Welten: Kurzgeschichten, Miniaturen und szenische Texte

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 25108

Das Champions-League-Finale

Ich:
Heute ist das Champions-League-Finale. Schaust du, Karin?

Karin schüttelt den Kopf.

Blonde Frau:
Das ist wohl eher etwas für Männer.

Ich:
Nein, meine Frau schaut genauso mit. Sie, der Bub und ich sitzen begeistert vor dem Fernseher.

Blonde Frau:
Sie hat wohl keine Wahl.

Ich:
Doch, hat sie, sie tut das freiwillig. Sie kennt auch die Spielregeln

Blonde Frau:
Interessant. Auch Abseits?

Ich:
Klar.

Die blonde Frau geht weg. Karin ist schon weg.

Vier Fußballspieler – der Ball darf nicht den Boden berühren – am 20. März 2024 im Europapark

Vier Fußballspieler – der Ball darf nicht den Boden berühren – am 20. März 2024 im Europapark

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 25061

Dem extrem heißen Sommer sprachlich geschuldet

Transpirieren Sie mich nicht so an
Ich schwitze selber genug
Wünsche Ihnen ein paar schattige Abschnitte
an diesem hitzetollen Tag
Möge Ihnen Ihr Achselkuss-Deo nie ausgehen
in diesem hochheißen Sommer
Schatten suchen, die Schwüle verfluchen
Viel Flüssiges für die Nieren und kein heftiges Transpirieren
Möge die pralle Glutsonne Ihre mit niedrigem Schutzfaktor eingecremten
Glatzköpfe verschonen
Schweißminimierte Tropennacht, das Hitzekollertagwerk ist
vollbracht!
Möge deine Desodorierung den Kampf gegen das Achselschwitzen
gewinnen
Immervolle Eisbecher auf einer Sprühnebelterrasse
ein Ort für dich an diesen Höllentagen

Wilfried Ledolter

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 24142

Alle Tage

Er sah die Welt, wie er sie sehen wollte. Nicht wie sie war, so interessierte sie ihn nicht. Seine Sinne waren fehlgeleitet, sie zeichneten falsche Signale auf. Das wusste er, und war froh darüber. Den ganzen Tag traf er so nette Menschen, alle Tage. Und dabei sah er doch immer nur aus den Fenstern seiner Wohnung hinaus.

Von ganzem HERZEN nur das Allerbeste für dich. - und - das goldene Blatt

Von ganzem HERZEN nur das Allerbeste für dich. – und – das goldene Blatt

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 24123

Très chic

In der Modeabteilung eines Einkaufszentrums sah ich eine Verkäuferin. Außerordentlich elegant gekleidet, in einem braunen Blazer, einem Oberteil in Leopardenfelloptik und einer schwarzen Lederjeans. Als ich sie auf die schöne Hose ansprach, streckte sie ihr Bein aus und bedankte sich. Als sie sich wieder umgedreht hatte, wünschte ich ihr noch alles Gute.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 23189

Was soll ich dir sagen?

Ich weiß nicht,
was soll ich dir sagen?
Nie geht es gerade,
sondern immer in Schleifen.
Gut oder schlecht, wichtig oder unwichtig,
Stückwerk.
Immer ist da jemand, der dich braucht.

Die goldene Bogenschützin auf der Heckscheibe

Die goldene Bogenschützin auf der Heckscheibe

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 24004