Die Taube vom Bologna Centrale (Italien 5)

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, das sagt sich leicht und oft. Aber wenn es einmal ein eindeutiges Beispiel gibt, wird aus dem banalen Satz eine tiefe Wahrheit. Man reagiert nie situationsgenau, sondern ferngesteuert von Erinnerungsfetzen.

Ich steige auf dem Bahnhof Bologna Centrale aus dem Schnellzug von Lecce und steuere ohne Nachdenken das Café Emma B. auf dem Bahnsteig 6 ovest an. Rolltreppe hinunter, ein langer, hell ausgeleuchteter Kachelgang, Rolltreppe hinauf, weiter durch den alten Teil des Bahnhofs, Rolltreppe wieder runter, Gang, Rolltreppe hinauf. Eigentlich liegen auf dem Weg dorthin drei Cafés, aber mein Koffer rollt ganz leicht auf vier Rollen wie von selbst zu Emma B. Das Gehirn-GPS ist auf Emma B. eingestellt, das hat sich eingeprägt.
Vor fünf Tagen habe ich dort schlaftrunken in den frühen Morgenstunden bei einem Zwischenaufenthalt einen köstlichen Cappuccino getrunken, 1,20 Euro, wahrscheinlich woanders auch nicht weniger gut und ebenso günstig. Das Lokal heißt anders, wie richtig, habe ich nicht wahrgenommen oder vergessen. Sicher, da war eine Reklame von Illy-Kaffee.

Aber auf dem Bildschirm im Lokal und draußen vor dem Bahnsteig läuft in Endlosschleife eine Wahlwerbung der Kandidatin Emma Bonino, liberal, für Frauen, für Europa, mehr Europa, das ist alles, was ich verstehe. Noch dazu ein sehr schlecht gemachter Clip. So kann man nicht gewinnen, nirgends. Hat die keine Medienexperten? Emma Bonino ist doch kein Neuling, ein Altgestein in der Politik. War sie nicht einmal eine feministische Führungsfigur? Es klingelt leicht, aber ich weiß nicht, wohin genau ich sie tun soll. Es flimmert alles schnell verzerrt und unscharf über den Bildschirm, durchkreuzt von Werbung für Pasta und Pampers.
Weil ich nach sieben Stunden nikotinfreien Sitzens im Rapido Bianco eine Zigarette rauchen will, stehe ich wie drei andere Gäste vor dem Lokal. Emma Bonino läuft noch immer über die Bildschirme zwischen Reklame für Pasta, Pampers und Kaugummi. Ich wende mich ab und sehe ein reales Bild.

Auf einem der Tische sitzt eine Taube. Was heißt Taube, sie ist der letzte Rest einer Taube, ein Wrack von einer Taube, eine Ruine wie Palmyra. Sie ist nur der Rest einer Form, ein Umfang, kopflos, einbeinig und breit gefiedert. Warum ich sofort annehme, dass es ein Täuberich ist, weiß ich nicht. Er ist Cristoforo Colombo für mich, der Colombo. Das schwarz-weiss-grau gesprenkelte Gefieder ist struppig wie das Fell eines Straßenhundes oder einer Hyäne, was bei Federvögeln eigentlich gar nicht möglich ist. Zausig, verklebt, mit vielen Spitzen nach außen, igelartig. Auf jeden Fall liegen die Federn nicht am Körper an, sondern sind dauernd nach allen Richtungen gesträubt und zucken, obwohl er allein und unbeweglich dasteht, leicht geduckt, an ein braunes Kästchen mit Illy-Servietten gelehnt.

Nach einer Bewegung mit meiner Zigarette hebt der Täuberich den Kopf aus dem Hals – also er hat einen Kopf und rote Augen darin – und trippelt auf einem Bein zwei Schritte aus dem Schatten des Serviettenhalters heraus in meine Richtung. Er flattert kurz auf, als ich aus meinem Rucksack ein Panino herausklaube, es in meiner hohlen Hand in Krümel zerlege und sie auf den Tisch streue. Colombo pickt und pickt und pickt, langsam, alles auf dem einen roten Beinchen, so schnell er kann, bis die Mitstreiter kommen. Einige Krumen fallen durch die Ritzen auf den Boden.
Das muss ein Signal sein, als gäbe es ein unsichtbares Alarmsystem. Aus allen Richtungen kommen im Hoch- und Tiefflug andere Tauben herangeflogen und übernehmen den Kampfplatz. Mein Täuberich versucht, sich hinter den Serviettenhalter zurückzuziehen, aber immer mehr Artgenossen fallen in Sturzflügen über ihn her. Kann man ihn noch mehr zerzausen? Ich leide und brauche eine Pause.

Gehe ins Lokal und hole mir einen becchiere di vino rosso – enorme 3 Euro im Gegensatz zu den 1,20 für den Cappuccino.
Italien, das Land der Weine? Nicht gut, auch nicht ganz schlecht, aber sauer wie ein Brünnerstraßler, immerhin auch auf dem Bahnhof in einem Stielglas und nicht in einem Plastikbecher. Da fallen die Bilder wie Kalenderblätter. Die jüngste Abgeordnete aller Zeiten von der radikalen Partei, Jugoslawien-Tribunal, für Abtreibung, für Drogenbetreuung, gegen Rassentrennung. Skandale überall, immer extrem mutig.

Als ich wieder rauskomme, ist mein Colombo allein, sitzt wieder an den Serviettenständer gelehnt, das Köpfchen mit den roten Augen auf mich gerichtet. Gibt‘s noch was? Ja klar, ich hab noch ein halbes Panino. Es schmeckt ihm, gestern noch aus dem Panificio von maestro Fortunato in Gagliano. Aber sehe ich richtig? Aus dem Bauch kommt langsam der Rest eines zweiten Beinchens hervor, etwas kürzer, unten breit und gelb wie ein Entenfuß. Ich bin so fasziniert, dass ich vergesse zu fotografieren. Tatsächlich, neben den drei roten Krallen hat er einen kleinen, gelben, breiten Entenfuß aus Plastik mit einer Schiene oder einer Stütze wie von einem Leukoplastwickel. Ist das denn möglich? Sehe ich richtig? Der becchiere kann nicht schuld sein, das ist weniger als ein Achtel. Wer hat ihm dieses Ersatzbein gebastelt? Er kann es nicht selbst gemacht haben, auch nicht seine Genossen, also kann es nur ein Mensch gewesen sein. Welcher Mensch? Ein Tierarzt, eine mildtätige Sanitäterin der Bahnhofstaubenmission?

Es erinnert mich an meine Orchidee zu Hause, deren Auswuchs ich kürzlich beim Gießen leicht geknickt und mit Zahnstocher und Bindfaden bandgiert habe – weiß genug, wie schwierig schon bei einer ruhig stehenden Pflanze – und mich daran erfreue, dass sie meine Therapie annimmt, weiter wächst und sogar Knospen ansetzt. Aber bitte, wer um Gottes Willen, hätte diesem grindigen Täuberich sein verletztes Bein schienen sollen? Verletzt in einer zugehenden Schwenktür, mit einem Kabel, durch einen Koffer, ein Kippfenster, einen bösen Menschenmutwillen? Ich paffe kurz und heftig und lasse mich ein in alle möglichen Schicksale des Colombo, während er seine Brösel verteidigt. Er wird immer besser, flinker und wendiger. Er kann den Entenfuß sogar ein bisschen aufstellen und ihn wie einen Schild benützen.

Wieder einige Panini-Krümel gestreut, sie fallen durch die Ritzen des Tisches, er flattert auf den Boden, andere Tauben sind schneller, scheuchen ihn und pecken auf ihn hin. Ist da nicht auch ein Spucken beim Pecken dabei? Warum ist das Gefieder sonst so verklebt? Naja, es gibt noch viel anderen Dreck. Ich versuche, ihn mit meinen Füßen zu schützen und streue ihm die Krumen in eine Ecke zwischen zwei Mistkübeln.
Je mehr er frisst, desto lebendiger wird er, er fängt sogar an, zurückzupecken auf die jungen Eindringlinge. Sie müssen immer alles im Auge haben. Das geschiente Bein mit dem gelben Entenfuß wird immer beweglicher, wie mir scheint, hat er ein Scharnier oder so etwas wie ein Knie an der Schiene? Fast kein Hinken mehr, dafür wird sein Schnabel länger, und er verteidigt seine Brösel immer besser. Den Entenfuß verwendet er als Schild und Waffe. Einmal holt er weit aus und klatscht einer frechen, jungen Taube eine in die Seite rein, dass alle auffliegen. Ha, der wird einmal mein Champion.

Ich bin mitten drin in seinen Revierkämpfen. Hier, du bekommst etwas Besseres aus meinem dick belegten Brot, etwas von der Salami, vom Käse, dem Paradeiser, der Gurke – Cristoforo nimmt alles und erwacht zum Leben. So, mein Lieber, hier noch eine Nachspeise für uns beide, und ich teile mit ihm die letzten zwei Stück Mannerschnitten – mag man eben.
Eigentlich ist er ein imposant großer Täuberich. Vielleicht war er einmal der Padre Padrone vom Bologna Centrale, der Große Gatsby, der Leopard, Gattopardo, der Garibaldi. Ohne ein Wissen zu haben, bin ich überzeugt, dass es unter den Tauben eine Hierarchie gibt.
Bravo, Colombo! Mein Colombo! Ich bin bei dir!

Obwohl ich immer und überall fotografiere, habe ich doch glatt angesichts des Colombo darauf vergessen, so eng fühlte ich mich mit seinem Schicksal verbunden und identifizierte mich mit seinem Überlebenskampf.
Mir ist inzwischen so kalt geworden, dass ich versuche, meine zwei, zweifelsfrei intakten Beine einzuziehen und mit den Füßen aufzustampfen. Natürlich vertreibe ich damit alle Tauben, so schnell, dass ich nicht einmal mitbekomme, wohin sich mein Colombo getrollt hat.

Kaum ist dieser Spuk vorbei, gerate ich in den nächsten.
Im abstoßend hässlichen, kaum geheizten Warteraum komme ich zu einem Sitzplatz gleich neben dem Denkmal für die Opfer des Bombenanschlags am 2. August 1980 – 85 Menschen waren durch den faschistischen Terror ums Leben gekommen. Eine weiße Marmortafel an der Wand, lange Kolonnen mit den Namen der Ermordeten in Goldbuchstaben, auf dem Boden ein Bombenkrater im alten Mosaikboden, in dessen Mitte ein weiße Rose liegt, frisch, von einer Mutter, am Rand ein immergrünes Kranzgebinde, offizell mit Tricolore-Schleife. Mit den Namen der Hunderten von Verletzten könnte man den ganzen Bahnhof austapezieren. Ich studiere die Daten hinter den Namen, sehr viele junge Leute, 18, 19, 24, 29, Schüler, Studenten, Pendler am frühen Morgen des 2. August vor 35 ½ Jahren. Einige Touristen machen vor der Absperrung Selfies. Wenn es nicht Italiener wären, könnte ich selbst zum Terroristen werden.

Die Temperatur liegt um die null Grad, es soll nur ja niemand auf die Idee kommen, das sei eine Wärmestube. Obdachlose, Sandler, einfache Aufwärmer oder Rastende werden nicht hereingelassen, an der Tür kontrollieren zwei bewaffnete Wächter die Tickets – angezogen und ausgerüstet wie Robocops, wenn jemand kein offensichtliches Reisegepäck hat. Trotzdem sitzt in der Reihe mir gegenüber ein alter Mann, der nur einen Krückstock und ein Nylonsackerl bei sich hat, keinen Koffer, keine Reisetasche. Und nach Reise sieht er auch sonst nicht aus.

Eine dünnes Sakko mit Hemd und Pullover darunter, worin man auch an einem Herbsttag frösteln könnte, ausgelatschte Nike-Turnschuhe, eine schlotternde Trainingshose, am Kopf ein buntbesticktes Käppchen, um den Hals geschlungen ein abgenudelter indischer Seidenschal, ehemals vielfärbig. Althippie, Künstler? Er ist offensichtlich kein Reisender, warum lassen ihn die Securities hier in Ruhe sitzen? Aber ein Gesicht, ja Antlitz muss man sagen, edel, ebenmäßig, wie ein altrömischer Senator in weißem Marmor, wie viele Generationen aus dem alten Geschlecht der Auguster oder Julianer.

So kann Marc Aurel ausgesehen haben, als er in Carnuntum in seinem Lager saß und seine Lebensbeichte schrieb. Vielleicht ist der Mann der letzte Stoiker, ein später Verwandter des Seneca oder Epiktet, der als Einziger die Lösung des Welträtsels weiß. Die ganze Zeit sitzt er unbeweglich da in leicht vornübergebeugter Haltung, nicht einmal die Augen bewegt er, eine Skulptur, hager bis zur Magerkeit, aber unter dem fein getrimmten Bart eine gesunde Sonnenbräune. Vom Leben auf der Straße, in den Parks, den Arkaden und an den Uferpromenaden des Reno?

Um Punkt 22 Uhr holen die Robocops dicke Ketten aus einem Schrank hervor, breiten sie aus, zeremoniell und genüsslich schlingen sie sich diese rasselnd um die Schultern. Die Wachablöse schließt zuerst die äußeren, dann die inneren Türen zu. Ich blinzle erst nur schlaftrunken und ungläubig durch die öde Halle. In welcher Hölle bin ich gelandet. Unter dem Klirren der Ketten springen die Menschen im Warteraum auf und lassen sich hinaus in die Kälte scheuchen. Freiwillig, keine großen Gesten, kein Protest, ein eingespieltes Ritual. Danach gibt es auf dem gesamten Bahnhofsareal keine Sitzgelegenheit mehr, nicht oben im alten Teil, nicht unten in den modernen, hell ausgeleuchteten Korridoren, durch die noch einige Passagiere hasten.

Vielleicht ist es dort unten noch grausamer, weil septisch sauber und kachelglatt, grell ausgeleuchtet von Neonlampen an den Decken wie eine ewig lange, nicht enden wollende Verhörzelle oder ein Operationssaal von zynischen Schlächtern, keine einzige Sitzgelegenheit, nicht einmal an den Wänden darf man sich anlehnen, geschweige denn in einen Winkel legen. Ständig wird patroulliert und verscheucht. Sogar das Gepäck hat es besser als die Menschen. In der deposito bagagli ist es bacherlwarm. Ich studiere alle Aufschriften so lange, bis der Diensthabende hinter einem Verschlag hervorkommt und sich nachhaltig räuspert. Es nützt mir zwar nichts, aber für so viel Eleganz liebe ich die Italiener.

Kaum auszudenken, was ich in Wien zu hören hätte bekommen: Schauns weida. Wauns ka Gepäck abzugem haum, schleichns Ihna. Do is ka Wärmestubm.
Da lob ich mir doch die Taubengesellschaft. Geschäfte und Lokale sperren eins nach dem anderen zu, nur noch Putztrupps und Carabinieri sind unterwegs. Die Passagiere verteilen sich auf die Bahnsteige oder verlaufen sich überraschend schnell. Wohin nur? Wie die Tauben finden sie ihre unsichtbaren Mauerritzen, Turmgiebel, Regenrinnen und Kanalschächte. Auch mein alter Römer. Nur wenige Schritte kann ich ihm folgen. Ich hätte ihn gern zu einem Kaffee eingeladen und mehr über ihn erfahren. Weg war er, wie vom Erdboden verschluckt, samt seiner Krücke und dem dünnen Sackerl.

Auf dem Vorplatz eine kurze, ungemütliche Zigarette, der Kaffee in der Thermoskanne ist nur noch lauwarm und bitter-schal, das Wasser fast aus – da gerate ich in Versuchung, ein Zimmer im Hotel „I-PERIALE“ gegenüber zu nehmen, das mit einer Leuchtschrift auf dem Dach lockt. Nein, nur nach Hause! Ich habe eine sauteure Fahrkarte gekauft. Sehnsüchtig sehe ich den niedrig fliegenden Flugzeugen nach. Noch nie habe ich mich so nach einer Nordrichtung gesehnt. Ein Polizeipanzer rollt langsam vorbei und dreht mehrere Runden über den Bahnhofsplatz, während Menschen auf die Autobusse zusteuern. Alles normal, gute Nacht, Europa!

Auf dem Bahnsteig 4 soll um 22 Uhr 57, carozza 410, sed. 95F, der Zug aus Rom nach München/Wien ankommen. Das habe ich seit meiner Ankunft memoriert und mehrmals die Auf- und Abgänge geprobt. Mehr Zigaretten kann ich auf dem Vorplatz nicht mehr rauchen. Die vollbesetzten Polizeipanzer werden auch schon langweilig, vor allem weil nicht zu erkennen ist, wem sie gelten, auch wenn die Außerirdischen manchmal über den leeren Platz stiefeln. Gegen jede Hoffnung schaue ich noch einmal bei Emma B. vorbei, an der Türe schwere Ketten, die Tische davor weggeräumt, kein Colombo mehr und auch keine anderen Tauben. Habe ich je einen unwirtlicheren, unmenschlicheren Bahnhof kennengelernt? Mir kommt keine Erinnerung, aber vielleicht ist auch mein Gehirn schon eingefroren. Ja doch, einmal im olympischen Dorf „Paradiestal“ oberhalb von Sarajewo im Winter 1994. Aber um Gottes Willen, ich bin doch in Bologna! Auch das ist eine Art von Krieg.

Also bleibt nur noch Binario 4, centrale, Zug 22 428 von Rom nach München und Wien Hbhf. Ich übe auswendig carrozza 410, Sitz 95F, gehe dabei auf und ab und starre hinauf auf den Bildschirm. Erst rit,. verspätet 5 Minuten, dann 10, 15, Rit. Kaum wage ich mehr hochzuschauen, da springt es auf 25min. Verzweiflung kommt hoch. Mir ist saukalt. Gegenüber ein Mann auf seiner mächtigen Putzmaschine hat Spaß am Taubenscheuchen. Und hier wieder ein Sandler, halbnackt bis zum Steiß, rührt sich nicht, ich sehe seinen nackten Rücken und frage mich nur kurz, warum ihm nicht kalt ist und ich so friere. Er erregt nur Ekel und Irritation. Zum Glück wird er mich nicht um Zigaretten angehen, er raucht eine nach der anderen. Würde ich mit ihm die Panini teilen, so wie mit Colombo?

Der Bahnsteig ist schlecht beleuchtet von einem einzigen grellen Scheinwerfer über der Rolltreppe. Dort suchen Passagiere ihren Zug nach Milano. Auch verspätet und mehrmals auf verschiedenen Bahnsteigen angezeigt. Sie rasen herum und diskutieren aufgeregt. Vielleicht wird ihnen davon warm? Der Rest des binario 4 centrale liegt im Dunkeln. Auf der Metallbank sitzt noch immer der Mann. Bei meinen Versuchen, mich aufzuwärmen, Koffer schieben und rollen, Knie beugen und Füße auf den Boden stampfen, Beine abwechselnd öffnen und schließen, Arme hochklappen, oben klatschen und runter an die Oberschenkel schlagen, es funktioniert noch, das Aufwärmen wie vor einem Völkerballspiel im Sportverein. Ich bin schon mehrmals an ihm vorbeigekommen.

Ein Sandler. Langes, dichtes, graues Haar, er raucht ohne Unterbrechung, vorne ein Sporthemd, unten wabbelnde Hosen, seine Füße stehen auf dem Asphalt, die Schuhe neben ihm so wie eine halbleere Reisetasche. Für den Täuberich hatte ich schnell einen Namen, das letzte Brötchen, viel Mitgefühl und Anteilnahme an seinem Leben. Für den da gar nichts, nur Momentaufnahmen, klickklickklick, Registrierungen.

Aber auch diese Erkenntnis stammt von später und die Erschütterung. Zu meiner Entschuldigung – drei Stunden davor mit Colombo war mir noch nicht so sterbenskalt.
Ich friere in meinen Daunenklamotten und festen Wildlife-Schuhen so entsetzlich wie nie zuvor, auch nicht in Sibirien oder am Eismeer. Beuge Knie, stampfe die Füße, schmeiße Beine und Arme in die Höhe, trotzdem kommt keine Wärme auf. Die Tafel springt auf Rit. aus Roma 30 Minuten. Nein, das halte ich nicht aus. Gehe ins Hotel. Aber verdammt, ich habe 99 Euro bezahlt, und das nur für einen Sitz. Kofferrollen den Bahnsteig rauf und runter, Achterschleifen um Säulen, Papierkörbe, Metallbänke herum samt Körperübungen an jedem Ende.

Meine in der kalten Mühlviertler Kindheit eingeübte Methode versagt zum ersten Mal: Atem anhalten, alle Körperteile anspannen, loslassen, anspannen, loslassen. Anspannen bis in die Zehen hinein und alle Gesichtsteile. In meiner Kindheit hatte ich die Überzeugung mit dieser Reibungsenergie das kleine Kraftwerk am Gießenbach am Laufen halten zu können. Am Bologna Centale keine Spur von Wärme. Eine junge Italienerin, unterwegs nach Milano, macht es mir nach, wir lächeln einander zu, sie hat kein Feuer, dann rauchen wir eine gemeinsam, obwohl es am Bahnsteig verboten ist.

Bei meinen Kofferwanderungen komme ich einmal zu nahe an dem Menschenwrack vorbei und nehme einen Geruch von Scheiße wahr, frisch, scharf, warm. Gerade den angeschissenen Hosen entströmt. Er aber sitzt völlig ruhig da, pafft eine Zigarette nach der anderen und gräbt mit der anderen Hand in seinem dichten, grauen Haar, die Füße in Socken neben den Schuhen auf dem Boden. Um den linken Knöchel ist lose eine Flasche gewickelt, sie endet irgendwo unter der Bank.

Ich überschlage kurz, was ich noch im Rucksack habe: ein gut belegtes Panino und ein leeres, eine Packung Reiswaffel, eine Orange, eine Schachtel Philadelphia-Streichkäse, ein Eckerl Parmesan, ein hart gekochtes Ei, als Jause für unterwegs; eine Schachtel mit glasiertem Mandelgebäck, je ein Glas Akazienhonig und schwarze Oliven, und eine Riesentafel Mandel-Trauben-Schokolade – Apulien-Mitbringsel für Agnes, meine Katzensitterin. Gar nicht so wenig, das könnte unter anderen Umständen ein kleines Picknick abgeben.
Vielleicht war er der Wunderornithologe, der dem Colombo sein Entenbein gebastelt hat? Es ist schon eher Wahn, richtig denken kann ich nicht mehr. Warum, verdammt nochmal, ist ihm nicht kalt oder zeigt er es nicht? Mich packen Ingrimm und Neid.

Ich trage an meinem Körper eine dicke Daunenjacke, zwei Unterhemden, eine Bluse, eine gesteppte Fleecejacke, einen Wollpullover bis in die Kniekehlen, an den Füßen festes Schuhwerk mit Filzeinlagen und zwei Paar Socken. Oben eine dicke Strickmütze, einen Schal, modisch ausladend wie eine Pferdedecke und natürlich Handschuhe.
Trotzdem friere ich bis zum Erbrechen – oder wird es ein Herzinfarkt oder Schlaganfall? Habe noch nichts davon erlebt. Wie kündigt sich so etwas an? Friert man mehr, wenn man Kälte an einem Ort nicht erwartet, sie einen überfällt wie Wegelagerer? Oder doch noch vor dem Sterben ein böser Anschlag auf die ÖBB und trenitalia. Dieser Gedanke hält bei allen rasenden Rachegelüsten nicht warm.

Als der Zug kurz vor Mitternacht endlich einfährt, wird der Sandler munter; er schlüpft in seine Schuhe, stopft die Fasche in einen Socken und bindet die losen Schnüre zu. Er zieht seine Jacke an, die ich vorher für einen roten Fetzen neben ihm gehalten habe. Er schultert seine Tasche, steht plötzlich aufrecht und hat ein Billett in der Hand, so wie ich auch. Als der Zug einrollt, stehen wir kurz nebeneinander, er genauso suchend wie ich. Oh Gott, denke ich noch, weniger als ein Gedanke, bitte, nicht in mein Abteil.

Ich laufe weiter, suche carrozza 410, noch einmal steht er neben mir, ich rieche Scheiße, komme mit meinem Koffer knapp rauf über die Stufen und finde den Sitz 95F, in einem Sechserabteil, so alt und hässlich, wie ich schon vor vierzig und mehr Jahren mit den ÖBB gereist bin, diese unseligen, in der Mitte zusammenschiebbaren Sitze, die immer auseinanderrutschen. So was gibt‘s noch in Betrieb? Da ist schon ein junger Japaner, der im Abteil residiert wie in einem High-Tech-Studio. Aber er ist höflich, entfernt blitzschnell alle seine ausgebreiteten Geräte und legt sich unter einer Kabeldecke schlafen. Er wird in Bruck an der Mur aussteigen. (Was macht ein Japaner in Bruck an der Mur?)

Wo der Sandler untergekommen ist, kriege ich nicht mehr mit. Von Bologna bis zum Brenner, drei Stunden ohne Halt und Kontrolle in der Wärme eines WC. Oder wo sonst?
Aber das ist eine Frage von sehr viel später, als Herz, Hirn und Gebeine schon wieder etwas aufgetaut waren.
Bis zum Brenner bin ich nicht mehr aufgewacht. Ich habe von Colombo und seinem geheimnisvollen Entenbein geträumt: Hoppauf, Colombo, gib‘s ihnen, das ist dein Brot! Vom Sandler nicht. Das Verschieben der Waggons nach Rosenheim/München/Wien scheint endlos. Als ich kurz aus dem Fenster luge, sehe ich, wie zwischen Schneebergen ein Mann von zwei vermummten Polizisten abgeführt wird. Es ist dunkel, er erscheint mir kleiner, aber das rote Blouson und die dünne Tasche glaube ich schon einmal gesehen zu haben.

Wien, 23./ 24.2.18

Veronika Seyr
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