Loblied auf eine Zwergenbahn II (Italien 4)

Abreise 19.2., 10 Uhr 07 zurück nach Lecce,
statt 14 Tage 4 Tage, Flucht in den Norden

Seit ich um 3 Uhr 45 aufwachte, rauscht schwerer Regen nieder, senkrechte Ströme aus Scheffeln, ab und zu weht eine Sturmböe volle Gießkannen waagrecht gegen die Fenster. Unter Heulen, Klappern und Ächzen vom Balkon her bleibt wenig von der Italianita übrig. So geht das schon mit einer Ausnahme den vierten Tag. Der Entschluss ist gefasst, der Koffer gepackt, die Panini-Jause im Rucksack verstaut, die Thermoskanne voll mit Kaffee für die nächsten 24 Stunden auf diversen Bahnhöfen und in trenitalia.

Ich bin anfangs der einzige Passagier im Triebwagen, später steigen zwei junge Afrikaner zu, die Handys halten, laut mit Buon Giorno grüßen und nach einigem Herumspielen einschlafen. Die Wiesen und Ackerfurchen stehen voll Wasser, von der Terracotta rötlich-braun gefärbt. Wintergetreide wächst halbhoch und hellgrün, in langen Reihen Stängelkohl, Brokkoli, Salat, Artischocken und anderes Gemüse, das ich nicht kenne. Frühlingsblumen wie bei uns vielleicht in zwei Monaten, Klatschmohn, Löwenzahn, Hahnenfuß, alles so grün und bunt, wie es die nächsten sieben, acht Monate unter der gnadenlosen Sonne nicht mehr sein würde.

Uralte Olivengiganten so weit das Auge reicht, nicht wenige davon ihrer Kronen beraubt, um zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Das tödliche Bakterium Xylella wütet seit fünf Jahren in Apulien, eingeschleppt mit Kaffeepflanzen aus Mittelamerika. Die Wissenschaft hat bisher keine Rettung gefunden. Braune, dürre Zweige, kaum noch irgendwo ein durchgehendes silbriges Blätterdach, wie es die alten Götter schon kannten. Es sieht aus wie mitten im Krieg, eine Dauerschlacht. Ich habe in Artikeln von der Seuche gelesen, aber dies zu sehen, ist unendlich trauriger und grausiger. Apokalypse.

Ein kluger Freund hat mich vorgewarnt – die ökologische Katastrophe sei ein Abbild der ethischen. Ich habe ihm nicht geglaubt und ihn belächelt. Ach, du alter Schwarzseher! Welch ein böser Fehler. Ich sehe es mit eigenen Augen – keine Zeit, keine Epoche, kein Regime, kein Krieg hat es bisher zustande gebracht, das Land zugrundezurichten. Wer von den Baumriesen noch lebt, den höre ich gleichsam aus den Seen zu ihren Füßen schlürfen, röchelnd in den letzten Zügen. Schreckensgestalten, wie sie dastehen mit den wenigen nach oben gestreckten Ästen, Trauerbilder ihrer selbst, die altehrwürdigen Götter sind gestürzt und zu lächerlichen Schatten verkommen.
Der prophetische Mailänder meinte, das Ende sei nahe, aber der einzige Trost sei, dass wir zwei Alten das Ende nicht mehr erleben werden.

Die Apulier sind wahrlich keine ökologischen Musterschüler. Es liegen sicher noch mehr Abfälle herum als Feldsteine. Sind das die selben Menschen, die seit Jahrhunderten mühsam die Felsbrocken aus der Erde klauben und sie zu Trulli und Mauern aufstapeln, die dann genau hinter diesen Mauern ihren Dreck abladen? Es ist nicht der landwirtschaftliche Abfall, sondern der Industriemüll, der den Anblick so besonders grässlich macht. Alte Autoreifen, Kühlschränke, TV-Antennen, ein verbogener Wäscheständer, Kanister, Plastik in jeder Form und Farbe: Eimer, Stühle, Flaschen, Planen. Am schlimmsten aber sieht es aus, wenn man versucht hat, diese Berge zu verbrennen. Bunt und schwarz gefleckte Narben in der Landschaft.

Wenn man nichts weiß und keinen zum Fragen hat, kann man sich in die wüstesten Vermutungen versteigen. Warum versagt ihr ansonsten untrügliches Talent und Gefühl für Formen und Ästhetik hier so schändlich? Ist den Bauern die Industrieproduktion so fremd, dass sie ihre Überreste abspalten und nicht als solche wahrnehmen? Aber besser so als umgekehrt, sage ich mir zum Trost und lache grimmig über unser zum verinnerlichten moralischen Gesetz gewordenes Umweltbewusstsein. Man sagt der Natur ja eine fast unendliche Anpassungsfähigkeit nach. So entwickle ich die Fantasie, dass die Ohrwaschelkakteen imstande sind, die Industrieabfälle in ihre fleischigen Körper aufzunehmen und zu verarbeiten. Möglich allerdings, dass dann die Kaktusfeigen, die ficcetini, nach Schmieröl und Blech schmecken.

Ich registriere an mir immer noch das selbe alte Entzücken, wenn an Bäumen Orangen und Zitronen wachsen oder die Erde darunter mit Fallobst bedeckt ist. Frisch wie gestern die Erinnerung, als Zitrusfrüchte bei uns selten waren und nur einzeln auftauchten als etwas Aufregendes, Exotisches aus unbekannten, weit entfernten, aber unsagbar schönen Ländern. Sehnsuchtsorte – Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh‘n? Geheimnisvolle Boten, geballte Versprechungen, ihnen einmal in den Süden entgegenreisen zu können. Diese unsäglichen Freuden der Kindheit, wenn im Nikolaussackerl neben Kletzen, Affenbrot und Nüssen die erste Orange oder Mandarine auftauchte. Wir, die zur Bescheidenheit erzogenen Nordländler, die sich schon freuten über die sauren Frühäpfel, die Klaräpfel, die Gute Luise, Gravensteiner, Schafsnasen, Renette, Boskoop und vielleicht sogar einen honigsüßen Cox Orange.

In Lecce kaufe ich an einem Straßenstand drei Riesenorangen, fast eineinhalb Kilo schwer, die noch Stängel und Blätter dranhaben. Wortlos erkennt der Verkäufer meine kindliche Freude, steckt extra noch einige glänzende Ästchen ins Sackerl und strahlt mich im Besitzerstolz aus seinen Zahnstummeln an. Warum bekommen wir in unseren Breiten nie solche Köstlichkeiten zu kaufen? Süß, saftig, fleischig, sommerduftgetränkt. Allein vom Riechen könnte man satt und glücklich werden!
Die Italiener haben schon recht, dass sie diese Göttergeschenke für sich behalten und uns nur den Ausschuss schicken. Geschmackssymphonien zerplatzen im Mund, zerstäuben gegen den Gaumen und steigen in die Nase. Eine einzige Orange hält meinen Gaumen von Lecce über Brindisi, Bari, Tarni, Foggia und Termoli, am Gargano vorbei bis nach Pescara in Entzücken, während rechts vor den Fenstern die grau-grüne Adria unter einem Februarsturm kocht und schäumt, Gischtfontänen aufsteigen und gegen die Wellenbrecher toben, bis die Finsternis alles verschluckt. Ciao, bella Italia!

Wien, 22.2.18

Gewidmet Klara Obereder

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18125

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