Kategorie-Archiv: Carmen Rosina

image_print

Laubbläser im Sturm

Wo, mein Guter
Ist dein Sancho Panza?
Könntest ihn gut brauchen
Wenn ich dich so sehe
Laubblasend
Am windigsten Tag der Woche

Deine Rosinante hat dich
Wohl im Stich gelassen
Statt ihr trägst du die schwere Bürde
Laubbläser zu sein
Ist keine Kleinigkeit

Die Passanten passieren
Bei dir wirbeln die Blätter
Auch ohne dein Zutun
In jede Richtung
Außer die, die du möchtest

Das Laub ist gelb
Dein Laubbläser auch
Der Himmel blau
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Dass die Blätter dir folgen werden

Noch tun sie
Wie der Wind ihnen geheißen
Du bläst dagegen an
So geräuschvoll
Mit Hochdruck

Ein Herr mit Hut
Setzt sich auf eine Bank
In deinem Park
Er sieht dir zu
Du ihm nicht

Er tut auch nichts
Außer dir zusehen
Wie langweilig
Er würde so gerne
Das Laub verblasen

Dein Laub bekommt er nicht
Mit Verlaub
Das ist deines
Er schaut enttäuscht
Du bläst ihm den Hut vom Kopf

Er plustert sich auf
Es bläht sich der Hals
Der Hut nimmt seine Chance wahr
Er ist dahin
Besser im Sturmgebraus umtost
Als auf faden Köpfen zu sitzen

So ein Idiot, sagt der Mann.
Mein Held, sagt der Hut.

Carmen Rosina

Vielleicht interessiert Sie auch, wie es mit dem Laubbläser im Regen und dem Laubbläser im Schnee weitergegangen ist?

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg| Inventarnummer: 16145

Drei Episoden und die Wahrheit

Da geht ein sportlich gekleideter Mann vor mir. Plötzlich beginnt er zu laufen, hastet Richtung Fußgängerübergang, die Ampel steht auf Rot. Er ignoriert die Warnfarbe, blickt einmal kurz nach rechts, dann nach links, wieder nach rechts und läuft einfach weiter, über die Fahrbahn. Drüben angekommen, bleibt er stehen. Atmet schwer, sieht über die Straße zu mir herüber, auf die Zurückgebliebene, steht einfach da, auf der anderen Seite und wartet aufs Grünwerden der Fußgängerampel. Inzwischen ist er wieder zu Atem gekommen.
Es ist grün, ich quere die Fahrbahn, er auch. In der Mitte der Straße sehe ich ihn fragend an. Er lächelt und schüttelt den Kopf, mehr für sich als für mich, und geht in die Richtung zurück, aus der er ursprünglich gekommen ist.

Eine Frau bewegt sich langsam schwankend vor mir. Sie scheint mit ihren High Heels noch auf Kriegsfuß zu stehen. Passenderweise zeigen sich diese angriffslustig in grellem Pink. Darauf abgestimmt erscheint ihr Mund üppig geschminkt, wie in schreiende Farbe getunkt. Was will er damit sagen? Was will sie damit sagen? Mir offensichtlich nichts, sie lächelt und schwankt hüftschwingend weiter.

Ein Kind wirft den Ball. Er landet wieder in meinem Garten. Der Bub schreit mir fröhlich zu: „Nochmal bitte!“ Sicher, ich werfe den Ball zurück. Er kann es nicht lassen, immer wieder ballert er so haargenau an unserem gemeinsamen Zaun entlang, dass das Geschoß bei mir landet. Seufzend erhebe ich mich zum x-ten Mal aus meiner Liege. Das Buch fällt zu Boden, der Ball rollt vor meine Füße. Ich trete ihn diesmal ordentlich, sodass er höher als sonst über den Zaun fliegt. Gleich noch ein Stückchen weiter, in den anderen Garten. Ich höre den Buben aus etwas weiterer Entfernung schreien: „Bitte den Ball! Die Nachbarin war’s!“ (Genau, die Nachbarin war’s. Ich bin die Nachbarin, die Bälle in anderer Menschen Gärten schießt …) Kurz darauf ertönt seine Stimme wieder, mit erfreulichem, weil mich nicht mehr betreffendem Abstand: „Nochmal bitte!“

Da frage ich mich plötzlich, wie diese drei Personen, mit denen ich an jenem Tag zu tun hatte, wohl sind oder auch, wie sie einmal waren, bis sie so wurden, wie sie nun sind.
Nach reiflicher Überlegung komme ich zu dem Schluss: Es gibt mehrere denkmögliche Varianten (und unzählige denkunmögliche noch dazu), ich gehe sie der Reihe nach durch.

Der Mann: Er hatte sich etwas zu beweisen. Er suchte die Gefahr. Bei Rot über die Straße zu rasen, hatte ihm einen Nervenkitzel verursacht, noch gesteigert durch die Gewissheit, erstauntes Publikum wie mich vorzufinden.
Oder er war einfach zu spät dran gewesen und dann draufgekommen, dass er nochmal zurück musste, den Schlüssel vergessen hatte, oder eine Herdplatte in Verdacht, nicht abgedreht worden zu sein.

Die Frau: Sie glaubte, eine maximale Wirkung zu erzielen, wenn sie auf Farbe und Höhe setzte. Sie war oft übersehen worden und machte sich nun größer und bunter, als sie tatsächlich war, um mehr Aufmerksamkeit zu erhalten.
Oder aber sie war tatsächlich eine grelle, starke, ja, auch schreiende Person und ehrlich genug, dies sofort zu signalisieren: Wenn du damit nicht klarkommst, bin ich kein Umgang für dich! Ich gefalle mir, wie ich bin und lasse mich sicher nicht unterkriegen. Da geht es um mehr als um Lockbehübschung oder Kriegsbemalung.

Der Bub: Er wollte sich reiben, er wollte meine Geduld austesten. Er warf so oft den Ball über die gemeinsame Grenze, bis mir der Geduldfaden riss und ich über das Ziel hinausschoss. Er hatte mich provoziert und war damit erfolgreich gewesen. Darum wandte er sich dann den anderen Nachbarn zu, um deren Nervenstärke zu testen und sich dabei heimlich ins Fäustchen zu lachen.
Oder es war ihm unglaublich langweilig, bei ihm war niemand zu Hause, er freute sich, dass er mit jemandem reden konnte. Er suchte Kontakt, fand ihn auch wiederholt, und als er merkte, dass das zu viel des Guten war, suchte er anderweitig nach menschlichem Austausch (des Balles und von Worten). Eigentlich war es ein Ballspiel über die Zäune hinweg, aus diesem Blickwinkel betrachtet.

All diese Überlegungen bringen mich an einen Punkt, und zwar an einen, an dem ich über mich selbst nachdenken muss, nolens volens.
Bin ich die, die Menschen aufgrund einer Situation, aufgrund einer kurzen Szene einschätzen muss? Will ich etwa „die Wahrheit“ finden? Oder kann ich es bleiben lassen? Kann ich meiner so sicher sein, dass ich nicht bewerten muss, wer oder was auch immer meinen Weg kreuzt? Kann ich das, „nicht werten“?

Ich fange einmal damit an, meine eigene Rolle nicht zu bewerten, das ist das Einfachere. Ich hab hier einfach drei Episoden erzählt. Und nicht eine davon ist wahr.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 16131

Ein gefährliches Alter

Ja, das haben Sie, Fräulein. Sie sind nicht richtig alt. Und richtig jung sind Sie auch nicht. Genau im Kinderkrieg-Alter, um genau zu sein. Also wir suchen etwas Bleibendes, Dauerhaftes, Beanspruchbares, etwas Lohnendes, etwas Kalkulierbares.

Nein, so haben sie es natürlich nicht gesagt, eh klar. Aber gemeint. Und ich hab weder gesagt, dass ich kein Fräulein bin, noch dass es sie einen feuchten Dreck angeht, ob ich einmal auch Mutter sein will oder nicht. Noch nicht. Die können mich mal.

So bin ich also wieder auf der Suche nach etwas Bleibendem, Dauerhaftem, etwas, was mich beansprucht, aber nicht zu sehr, etwas, was mein Leben finanziert, etwas Kalkulierbarem. Und außerdem möchte ich gerne wissen, ob ich einmal Mutter sein werde oder nicht. So verschieden sind meine Fragen also gar nicht von jenen, die in den Köpfen derer kreisen, die ich verachten muss.
Ich komme folglich zu dem zwingenden Schluss: Ich bin in einem gefährlichen Alter.

Wohin mit mir?  Erst einmal ab in das Gewohnte, die vier eigenen Wände, es sind zwar tatsächlich viel mehr, aber da hat sich wohl jemand die genaue Zählung ersparen wollen. Oder es waren damals wirklich nur vier Wände, in denen die Menschen gewohnt haben, als diese Floskel entstanden ist. Nein, das mit dem Fokussieren ist nicht so einfach. Vielleicht war es damals leichter, als die Menschen tatsächlich noch in vier Wänden wohnten, also von exakt vier Mauern begrenzt waren, nicht mehr. Weniger geht sowieso nicht. Und die waren sicher nicht so hoch wie heutzutage, das kommt noch dazu.

Es kommt heute sicher niemand vorbei, das kann ich mir nicht vorstellen. Es ist zwar Freitagabend, übrigens der Abend nach dem fünfzehnten Vorstellungsgespräch in diesem Halbjahr, aber wer soll denn da vorbeikommen. Ich müsste rausgehen, um andere Menschen zu treffen. Dafür bräuchte ich Geld, das ich nicht habe. Vielleicht hätte ich mehr davon, wenn ich in nur vier Wänden wohnen würde, bestimmt sogar.

Es kommt doch jemand vorbei. Sachen gibt es. Er will bei mir übernachten. Soll sein, er braucht nichts zu bezahlen. Er hat nicht einmal vier Wände. Er hat gar keine eigenen Wände mehr. Null Wände. Ich habe keine Einwände. Er soll ruhig bei mir schlafen.

Beim gemeinsamen Frühstück erzählt er mir, dass er sich auf den Sommer freut. Eigentlich will er nämlich nicht mehr bei Bekannten übernachten. No offence, sagt er noch. Er ist nämlich mal ein Engländer gewesen, bevor er ein Niemand wurde, ein Staatenloser. Er hat also nicht nur keine Wände, sondern auch kein Land mehr, das behaupten könnte, er gehöre ihm. Die Freiheit sieht trotzdem anders aus. Meint er. Er muss es wissen. No offence.

Na gut, weiter geht es. Nächster Termin beim AMS. Wieder keine Ernte eingefahren, die Bemühungen der Betreuer haben nicht gefruchtet, sie sind schon recht frustriert. Wohl, weil ich in einem gefährlichen Alter bin. Oder weil es überhaupt sehr anstrengend ist, Menschen wie mich irgendwo reinpassend zu machen. Hm. Ich bin ihnen nichts neidig, wie meine Freundin immer sagt.
So einfach kann ich es mir aber auch wieder nicht machen. Ich muss schon selbst was tun. Ich geh jetzt erst mal heim, in die eigenen vielen Wände. Ein bisschen Anstarren, wird schon werden. Den Bus spare ich mir heute.
Beim nächsten Mal wird es härter werden, angekündigt ist es schon. Sie werden mir auch andere Jobs anbieten, die nichts mehr mit dem zu tun haben werden, wofür ich mich ausgebildet habe. Ich kann dann alles machen, abwaschen, putzen, finden sie, dabei mache ich lieber Dreck als ihn wegzumachen. Aber das wissen die noch nicht. Ich sage es ihnen besser nicht. Und in einem gefährlichen Alter bin ich auch. Widerspenstig außerdem.

Wenig brauche ich, das ist gut. Nicht so wenig wie der ehemalige Engländer, aber Kartoffeln esse ich gerne auch mehrmals pro Woche. Obwohl die Bioqualität nicht ganz billig ist. Ach, einen gewissen Standard möchte ich schon gerne halten.

Diesmal kommen zwei vorbei, ein älteres Geschwisterpaar. Sie können es sich leisten, mir Geld fürs Leihen meiner Schlafcouch zu geben. Ich kenne sie schon lange, damals waren sie noch kein älteres Geschwisterpaar, sondern ein mittelaltes. Sie sind freundliche Menschen; vor die Wahl gestellt, mit wem von ihnen allen ich dauerhaft wohnen wollen würde, wären sie momentan meine Favoriten.

Sie schnarchen nicht, sie essen leise. Beim Klogang schließen sie die Tür, bevor sie irgendetwas anderes machen. Ich weiß das sehr zu schätzen. Sie sind nicht so lange hier, dass ich ihre Fernsehgewohnheiten studieren hätte können. Ich glaube, wir kämen gut aus miteinander. Dass ich keinen Fernseher mehr habe, würde die Sache sogar noch vereinfachen, im Fall der Fälle. Kein Streit ums Programm. Was sie sonst so machen, außerhalb meiner vielen Wände, kann ich nicht sagen. Ich kann ja nicht mal sagen, was ich sonst so mache, abgesehen von meinen AMS-Terminen und Vorstellungsgesprächen.

Ah, was Neues. Ich mache einen Motivierungskurs. Zur Motivation nämlich. Ich ziehe mich dafür genauso an, als wolle ich zu einem Bewerbungsgespräch, das wollten sie so. Und bereue es sofort. Dort ist nämlich einer, der auch motiviert werden soll, so wie ich. Nur ist er cool angezogen, nicht so bieder wie ich. Er sieht aus wie ein Rockstar. Wie ein Rockstar früher ausgesehen hat. Knallenge Lederhosen. Drüber ein Etwas von einem T-Shirt, ein lockeres, abgefucktes Ding, und da drüber ist eine Jacke geworfen, die so speckig ist, dass sie fast so schön glänzt wie das schwarze Lederding, in dem seine langen Beine stecken. Die Füße übrigens in unspektakulären ausgelatschten Billigturnschuhen, aber das ist mir egal. Kann ich ausblenden, problemlos.

Wie auch das gesamte Motivationsprogramm, ebenso mühelos. Ist für die Katz‘. Brauche ich nicht. Ich bin ausreichend motiviert. Zumindest reicht es aus, um jeden zweiten Tag aufzustehen und mir diesen Mist zu geben. Der Ex-Rockstar langweilt sich dort auch sehr schön. Manchmal gähnt er mir verschwörerisch zu. Da klopft mein Herz dann jedes Mal ganz wild.

So kann es ein Weilchen dahingehen, von mir aus. Gelegentlich schaut wieder jemand bei mir zu Hause vorbei. Forcieren möchte ich das Übernachten aber gerade nicht. Irgendwie laugt es mich aus, wenn so viele andere Menschen, noch dazu verschiedene, in meinen vielen Wänden und damit notgedrungen auch um mich sind. Früher hat mir das nichts ausgemacht. Meine Adresse geht anscheinend noch selbsttätig reihum, aus der Zeit, in der das für mich noch gepasst hat. Das mit dem Zuverdienst kann ich mehr denn je brauchen, doch die Anstrengung ist unterbezahlt, finde ich mittlerweile.

So geht es mir auch mit jedem Jobangebot, das für mich ausgegraben wird. Der Arbeitsmarkt verlangt mir inzwischen auch schon einiges ab, ohne dass ich ihm noch wirklich angehöre. Von der Ferne ruft er mich. Und er stresst mich ganz schön damit.

Es ist geschehen, der schöne Gelangweilte hat mich angesprochen, er hat mich gefragt, ob ich auch was vom Automaten möchte, und ich hab gleich gesagt, ich geh einfach mit und schau mal. Das war einigermaßen schlagfertig in Anbetracht der Umstände, dass ich jedes Mal nervös werde, wenn er mich nur ansieht, zufällig. So sind wir zum Automaten geschlendert, schön langsam, man hat schließlich Motivationspause und keine Eile, so schnell zurückzukommen. Und dann waren wir uns einig, dass eine Cola-Dose nicht so viel kosten sollte, schon gar nicht, wenn sie in einem Automaten herumlungert, der nur zwei Gänge entfernt von einem Motivationskurs für Langzeitarbeitslose steht und zum Konsumieren verführt.

So was von einig waren wir uns, und schließlich haben wir uns eine Dose geteilt, haben sie zwischen uns und unseren sehr kleinen Schlucken und durstigen Mündern hin- und hergereicht, im stillen Einvernehmen und Gedanken daran, dass eine Rotweinflasche besser wäre, irgendwie. Dann auch die Schlucke größer, bestimmt.

Und dann sind wir Richtung Kurszimmer zurückgegangen, der Schöne und ich, und ich wollte aufs Klo, weil ich schon dringend musste, vor dem Kurs, dann ja wieder so lange sitzen. Ich dachte, er geht in seins, weil er auch musste, aber nein, er geht nicht in seins, weil er lieber in Frauenklos pinkelt. Die Männerklos sind ihm zu dreckig, sagt er. Aha.

Tja, und kaum bin ich fertig und er auch, rauschen die Spülungen hier und dort in den benachbarten Kabinen und ich wasche mir die Hände, da steht er hinter mir, weil ich schneller am Waschtisch bin … Da streckt er seine langen Fast-Musiker-Hände nach vorn zum Waschbecken und zu meinen unter mein genau richtig warmes Wasser, steht dabei noch direkter hinter mir, ich spüre schon die glatte Lederhose sich an meine Jeans schmiegen (ja, inzwischen hab ich im Kurs auch andere Sachen an, Schluss mit Blusen und Blazern …). Und auf einmal waschen seine Hände die meinen und meine die seinen, und seine Hose und meine Hose wollen keinen Millimeter Luft zwischen einander lassen. Und das wollen wir auch nicht.

Im Nachhinein gesehen war es wohl nicht besonders gescheit, gemeinsam in eine der Kabinen zurückzuhasten, den Inhalten der jeweiligen Hosen ihren Willen und die Beinkleider runter zu lassen, zur Vereinigung von Leder und Baumwolle am Boden und sonstigem auf dem Klodeckel. Aber was ist schon gescheit. Es ging einfach nicht anders und anders sollte es auch nicht sein. Hand in Hand haben wir nachher das Klo verlassen. Ich musste nochmal schnell ins Kurszimmer, weil ich meine Tasche dort hatte und entschuldigte mich, mir sei schlecht geworden und mein Kurskollege bringe mich  heim.

Ich glaube fast, er hat wie ich gerade ein gefährliches Alter. Da kann alles Mögliche passieren, habe ich mir sagen lassen.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: ü18 | Inventarnummer: 16099

 

 

 

 

Nordsee-Exkurs

Eine spröde Geliebte ist sie, die Nordsee. Hat sie den gerade angekommenen Bewunderern eben noch zugeblinzelt, sich in der Abendsonne schmeichelndem Licht präsentiert, so entzieht sie sich den erlebnisgierigen Blicken alsbald wieder. Was schert sie der Verehrer, sie überzieht ihn erst mit düsteren Wolkengebilden – soll er sich doch der Ehre, an ihrer (Küsten-)Seite zu weilen, würdig erweisen, testen will sie ihn und seine standhaften Absichten, so scheint es.

Wer sich davon nicht abhalten lässt, weiterhin die Schönheiten der Angebeteten zu suchen, dem bietet sie gleich die Gelegenheit, sich zu bescheiden, sich abzukühlen von der glühenden Begeisterung, am besten durch ausgiebige Regengüsse der eher unangenehmen Art.

Noch immer auf ein Einsehen der Holden hoffend, flüchtet sich der (im doppelten Wortsinn) arme Tropf in seine bescheidene Behausung. So ihrem Zugriff entzogen, lässt sie sich etwas Neues einfallen, ihn zu prüfen: Windböen, die sich gewaschen haben, umbrausen ab da den Werber.

Es müsste eine sehr stürmische, heftige, um nicht zu schreiben rasende Liebelei sein, der sich der Besucher so hingeben könnte. Doch – er zögert. Er wankt in seiner aufrechten Bewunderung, es ist ein bisschen gar viel verlangt, allem Unbill zu trotzen und dabei anhaltend Begeisterung zu empfinden, zu erleben, zu äußern. Da denkt er an andere Küsten, an andere Meere, an andere Strände, die einem nicht ganz so viel abverlangen, also etwas einfacher zu haben sind.

Sie merkt es sofort, dass der Strom der Anbetung abzuschwellen beginnt, sie nimmt wahr, dass sie mitnichten die einzige Option auf einen verträumten Urlaubsflirt ist. Und schon zaubert sie aus einem ihrer Ärmel einen der gigantischsten Sonnenuntergänge, die das durchschnittliche Mitteleuropäerauge jemals zu sehen bekommen hat.

Halb versöhnt zieht der Verehrer nächsten Tags von dannen, gen Süden. Nicht ohne dass sie ihm, dem Treulosen, in der Nacht noch einmal ordentlich den Marsch geblasen hätte, versteht sich.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16097

 

 

Eine Erinnerung an alte, junge Zeiten

Sie hatte es wieder getan. Einen Mann vergrault, mit dem sie gemeinsame Zeiten in einer Beziehung gehabt hatte. Das Warum war zu klären, aber nicht jetzt. Nun hieß es erst einmal weiterleben, überleben, ohne über der Grübelei völlig verrückt zu werden.
Wäsche waschen, das ist gut. Das ist fällig und gut. Dann putzen, das Bad. Jawohl. Schließlich die Stücke der Gurke, die er ins Wohnzimmer gepfeffert hatte bei seinem unfreiwilligen Abgang, auflesen und in den Biomüll werfen. Diesen runtertragen.
Es geht ja. Kein Problem. Sie zitterte zwar noch am ganzen Leib, aber was war das schon gegen das Davor. Sie hatte ihr Herz im gesamten Körper schlagen gespürt, und das war keine Einbildung gewesen. Sie wusste, wenn sie das jetzt aussprach, war es vorbei. Und sie tat es, obwohl ihr ganzer Körper in Alarmbereitschaft war. Wie würde er reagieren? Das konnte sie nicht wissen.
Sie bat ihn, den Schlüssel zu ihrer Wohnung zurückzugeben. Nachdem sie ihm gesagt hatte, sie sehe keine gemeinsame Zukunft mehr. Für sie sei es zu Ende. Und es tue ihr leid.
Drei Jahre diesmal. Recht lange gemeinsame Jahre, in denen viel passiert war. Keiner konnte etwas dafür. Sie waren immer sehr verschieden gewesen, aber jetzt, nachdem der Lack ab war, traten die Unterschiede unübersehbar deutlich zutage.
Von Anfang an war klar gewesen, dass das keine Beziehung auf Lebenszeit sein konnte.

Und nun dachte sie sich, dass keine einzige Beziehung eine auf Lebenszeit sein konnte, zumindest für einen der beiden Beteiligten. Denn einer blieb ja immer übrig. Also war dessen Lebenszeit noch nicht abgelaufen, aber die Beziehung zu Ende. Das Über-den-Tod-hinaus einmal geschenkt, das glaubte doch kein Mensch, dass er einem Toten zugeneigt war, in der Liebe der Lebendigen. Erinnerungen, ja, Gedenken auch, Dankbarkeit, Schmerz, sicher, aber Weiterlieben konnte man nur, wenn da etwas zurückkam, Gegenüberliebe sozusagen, sonst keine Liebe, sondern Verlust der Liebe. Keine Illusion, das Band bestand, solange beide es in Händen halten konnten. Sobald es einem entglitt, und der musste dafür noch nicht einmal gestorben sein, war es vorbei.

Warum sie, der Beziehungsmensch schlechthin, immer wieder infrage stellen musste, ob das alles gut sei für sie, so wie es war, ob es genügte. Ob das Band hielt, was es versprach. Sie wusste es nicht, aber eines wusste sie: Es war dringend zu hinterfragen.
Sich selbst bedenken, das ist wohl die schwierigste Übung. Das eigene Gehirn dazu benutzen, um darüber nachzudenken, wie das Denkwerkzeug funktioniert. Warum diese Windung diese Wende herbeigeführt hat. Warum sie jetzt, als frischer Single sozusagen, darüber nachdachte, weshalb sie diese Beziehung gehabt hatte, die schon Vergangenheit war. Das hätte ein bisschen früher vermutlich mehr geholfen. Selbstkritik durchaus angebracht.

Ihr Gehirn war und blieb ihr ein Rätsel. Warum hatte sie die Gurke erwähnen müssen, ja, müssen? Das musste ihm ja wie Hohn erschienen sein. Seine Freundin macht Schluss mit ihm, möchte den Wohnungsschlüssel zurück, und zu guter Letzt fragt sie ihn, ob er die Gurke wieder mitnehmen möchte. Die hatte er an dem Abend mitgebracht, um sie zum gemeinsam zuzubereitenden Salat beizusteuern. Die in einem Akt der Resignation, Aggression und Verzweiflung von ihm zu Boden geschleuderte vermaledeite Gurke lag nun vor ihren Füßen.
Da weinte sie, um die Gurke, um sich selbst, um das Komplizierte im Leben.
Sie wollte kein Beziehungsmensch mehr sein. Es war ihr zu anstrengend, es setzte ihr zu sehr zu.

Um eine Beziehung durchzustehen, musste man hartgesotten sein. Man musste einiges aushalten können. Man musste die Befindlichkeiten des Partners miterleben, mittragen, war den Launen ausgeliefert, den eigenen, denen des anderen.
Man bekam dafür – ja, was? Geborgenheit, Zugehörigkeit, Zärtlichkeit. Obwohl, wenn sie sich die meisten der ihr bekannten Beziehungen betrachtete, das mit der Zärtlichkeit war wohl irgendwo am Weg verlorengegangen. Wie das verhindern, das Abdriften in die jeweiligen Niederungen? Den Partner als selbstverständlich anzusehen, war ihrer Meinung nach der Anfang vom Ende. Um etwas Selbstverständliches muss man sich ja nicht mehr bemühen. Oder danken wir der Sonne dafür, dass sie aufgeht? Die Wenigsten.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 16063

Zwischen Welten

„Nochmal, Petra nochmal!“ Der Ruf des Ausbildners und Verantwortlichen schallte durch den hohen Raum, brach sich an den schmucklosen Wänden, ließ alle anderen auf sie starren. Man sah es ihnen an: Sie waren froh, dass nicht der eigene Name gefallen war, wie ein Urteil, hart, harsch, fordernd, keine Widerrede duldend.
Sie setzte sich mit gesenktem Kopf in Bewegung Richtung Absaugung, kam dort an, ein Knopf wurde gedrückt, die Maschine startete sofort. Sie spürte den kraftvollen Sog, unmittelbar auf der Haut, auf den Muskeln, in allen Gliedern, bis ins Innerste hinein, alles krümmte sich in ihr zusammen, und dann war es wieder vorbei. Zweimal die ganze Prozedur, die sie hasste, wie sie fast alles hier hasste.

Vielleicht hätte sie nicht den Kapuzenpulli anziehen sollen zum Arbeiten, wurde sie denn nie schlauer? Da verfingen sich zwangsläufig Späne und Staub, und solches war Grund genug, sie nochmals zu säubern, auch wenn beim ersten Mal nichts mehr sichtbar gewesen war.
Oder sie mochten sie einfach nicht, gut, sie mochten keinen hier, aber es gab welche, die sie noch ein klein wenig weniger mochten als andere, und sie gehörte sicherlich zu dieser Gruppe.
Sie war verlegen, fuhr sich mit beiden Händen über ihren Kopf, als sie von der Maschine abtrat, strich sich über die kurzgeschnittenen Haare, es erschien wie ein flüchtiges Streicheln. Wer sonst sollte es tun?
Das Gefühl war nicht neu für sie, sie war einsam hier, wie alle anderen auch. Immer wieder wurden sie angehalten, Beziehungen zueinander zu unterlassen, sie könnten ja doch jederzeit getrennt werden, in anderen Ausbildungslagern landen, und Abschiede gehörten zum Alltag. Und schließlich mussten sie sich ja auf die neuen Aufgaben konzentrieren, es sollte ja etwas werden aus ihnen allen. Wertvolle Mitglieder der Gesellschaft, so hörten sie es jeden Tag, morgens und abends. Sie war gespannt, wann es endlich so weit war. Wertvoll fühlen wollte sie sich tatsächlich, das wäre einmal ein neues Gefühl für sie gewesen.

Irgendwann, nach Wochen, Monaten war dann auch ihre Frist abgelaufen, und sie war diejenige, die es zu verabschieden galt. Es ging kurz und formlos vonstatten: Ihre Habseligkeiten waren längst gepackt, ein Zubringerdienst (in dem Fall, um sie wegzubringen) informiert, das Tor öffnete sich für sie und damit eine Tür in das nächste Leben. Eines, das sie leben wollte, um jeden Preis.
Mit ihrer Ausbildung und dem Zeugnis, das sie im Lager erhalten hatte, hatte sie tatsächlich gute Chancen auf einen beschissenen Job. Die Werkstatt sah der Ausbildungsstätte sehr ähnlich, ein paar Bilder hingen hier an den Wänden, und die Chefs trugen eine andere Art Uniform, Anzug mit Krawatte nämlich, doch „freies“ Arbeiten hatte sie sich anders vorgestellt.
Irgendwie war nach wie vor alles mit Lärm verbunden, eine Qual für sie, die die Stille sehr liebte.
Dem Wecker im Heim folgten die Sirene zu Arbeitsbeginn, das Rattern der Maschinen, das Brüllen der Vorarbeiter und der Krach beim Einsortieren der bearbeiteten Güter. Dann die Riesenstapler, die die Gegenstände wegbrachten, das Fluchen der Fahrer, die Mittagssirene. So ging es fort bis zum Abend, dann die Schlusssirene. Wo war sie da nur hingeraten? Ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft war sie nun. „Geglückte Resozialisierung“ stand auf dem ersten Monatsbericht, der an ihre Ausbildungsstätte erging, das war die Bestnote, das Höchste, was man erreichen konnte in ihrer Ausgangslage. Der Job war ihr somit gesichert.

Das Haupthaar wuchs wieder, sie musste draußen keine Mütze mehr tragen, die sie bisher immer bei sich gehabt hatte, um sich nicht zu verkühlen. Sie konnte ihre Haarspitzen schon im Gesicht spüren. Sie begann, alles leichter zu nehmen, je routinierter sie die Arbeit erledigen konnte. Im Geiste war sie weit weg, sehr weit weg von allem.
Dieses System funktionierte bestens, rein körperliche Anwesenheit bei völliger gedanklicher Freiheit. Sie perfektionierte das Ganze, bereiste Steppen, Wüsten, Dschungel und Bergtäler, unterhielt sich mit Wanderern, die sie auf ihren Reisen traf; erstaunlicherweise waren einige aus ihrer Ausbildungsgruppe dabei, und sie vermeinte alle zumindest vom Sehen zu kennen. Diejenigen, die ihr am cleversten erschienen waren, benutzten offensichtlich dieselben Pfade wie sie, die Ziele mussten sich bei ihnen allen also zumindest ähneln.
Die Ausbildung mit ihren ausgeklügelten Methoden hatte anscheinend bei ihnen eine gemeinsame Nebenwirkung, derer sich die Verantwortlichen nicht bewusst waren. Und ihre Schützlinge würden sich hüten, etwas davon zu verraten.

Viele waren auf dem Weg, mit der Zeit wurden es noch mehr, und die Gespräche waren erfrischend, überraschend, die Geister frei und die Neugierde aufeinander groß. Die Sirenen, die den Arbeitstag unterteilten, sollten sich noch als sehr nützlich erweisen, denn nur deren anhaltender, durchdringender Ton konnte sie von einer Reise zurückholen, und das auch immer mühevoller.
Dass sie so vertieft in ihre Arbeit erschien und die Pausensignale kaum wahrnahm, wurde ihr als besonderer Eifer ausgelegt und ihre Einsatzbereitschaft lobend erwähnt.
So kam es dazu, dass sie zu der neuen Stanzmaschine abgestellt wurde, wo sie keinen direkten Vorgesetzten neben sich hatte, sondern relativ unbehelligt von äußeren Einflüssen ihrem Tagwerk nachgehen konnte.

Das kam wiederum ihren Reisen zugute, und sie traf sich nun gezielt mit Gleichgesinnten, seit einigen Tagen mit einem jungen Mann aus ihrer damaligen Ausbildungseinheit. Ihr Treffpunkt war eine Quelle, die in ein ausgespültes Steinbecken sprudelte, inmitten der Berge. Sie konnten dort ruhen, trinken, die Sonne schien immer, wenn sie sich trafen, und sie freute sich auf jeden neuen Arbeitstag. Ihm ging es ebenso, hatte er ihr anvertraut; er war ein paar Hundert Kilometer von ihrer Arbeitsstätte bei Grabungen beschäftigt, und die Treffen mit ihr gelangen ihm inzwischen mühelos, wie ihr.
Eines wie immer schönen Tages hatte er eine Überraschung für sie mitgebracht: ein Buch, das laut ihm alle Sprachen der Welt beinhalten sollte. Als sie kurz über seine Behauptung nachdachte, war sie verwundert, denn ihrer Meinung nach hätte das eigentlich ein schweres, großes Buch sein müssen, oder vielmehr ein ganzer Berg Bücher, doch es sah unscheinbar aus, ein schmales graues Bändchen, und als sie es öffnete, erkannte sie sofort, dass ihr Gefährte recht hatte: Es gab nicht mehr viele Sprachen, es gab nur noch wenige Worte, die überhaupt ausgesprochen wurden, das Bändchen enthielt mehr oder weniger Anweisungen für den Alltag, in den verbliebenen drei Sprachen, in denen sich die Menschen weltweit verständigten. Da sie bislang nur eine einzige Weltsprache beherrschte, nahm sie sich vor, bei jedem Treffen mit ihrem Freund ein wenig aus dem Buch zu lernen, und sehr schnell hatte sie den Inhalt intus. Sie war nun drei- und somit totalsprachlich, und es war eine ziemlich einfache Übung gewesen.

Sie war gerade ins Gespräch mit ihrem Freund vertieft und verwendete zu Übungszwecken eine der neu erlernten Weltsprachen, als sie jemand Dritter von hinten ansprach, in ihrer Ausgangssprache. Eigentlich waren sie immer nur zu zweit und ungestört gewesen an ihrem lauschigen Ort, drum erschreckte sie diese Störung und brachte sie aus dem Konzept. Sie antwortete in der neuen Sprache, die sie gerade im Gespräch mit ihrem Freund verwendet hatte, auf die Frage, warum sie denn nicht mit ihm, dem Hinzugekommenen, spreche, ob sie denn nicht gehört habe, was er gesagt habe. Sie stammelte ein „Ich weiß nicht …“, sehr viel mehr war gerade nicht in ihrem Kopf zu finden.

Sie war durcheinander, murmelte, verzweifelt nach den richtigen Worten in der richtigen Sprache suchend, in der dritten Sprache dann noch ein „Entschuldigen Sie bitte …“, als sie sich beinahe übergangslos in der Maschinenhalle wiederfand, die Quelle war weg, ihr Freund ebenso, und der Vorarbeiter sah sie erstaunt an. Einerseits schien er positiv überrascht zu sein, andererseits folgte dem Erstaunen gleich ein Wutausbruch:
„Solche Versager, Stümper, das steht in keinem Bericht, dass du totalsprachig bist! Und steht an der Stanzmaschine! Längst brauchen wir einen Übersetzer für die Lieferungen aus den anderen Teilen. Und sie steht da bei der Stanzmaschine! Unglaublich ist das. Und das nennen sie lückenlose Bestandsaufnahme und Dokumentation! Dass ich nicht lache!“
Er teilte kurzerhand jemand anderen für ihre Arbeit ein und nahm sie an der Hand, marschierte mit ihr zur Büroetage und ins Vorzimmer des Chefs.
Nachdem sie ein Weilchen gewartet hatten, wurden sie vorgelassen in die luxuriösen Räume, wo alle wichtigen Entscheidungen getroffen wurden. Sie hatte keine Ahnung, was nun mit ihr geschehen würde.
Doch alles wurde gut. Sie sah ihren Freund, er saß auf einem warmen Stein am Rande der Quelle und sagte zu ihr: „Schön, dass du wieder da bist. Du warst so plötzlich weg, ich habe mir schon Gedanken gemacht.“ Sie lächelte ihn an.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16011

Am Weg

Die zufällige Anordnung der Songs und Tondokumente raubte ihr den letzten Nerv. Wer immer diese Shuffle-Funktion erfunden hatte, er hatte die Höchststrafe verdient. Und diese war klarerweise das stundenlange Anhören dieser niederträchtigen Mischung aus (wenn auch gutem) Heavy Metal, Spanischlektionen, Gedichtrezitationen und dazwischen schon mal dem einen oder anderen ausgelutschten Popsong aus den Neunzigern.
Auch das gemeinsame eifrigste Mitsingen bei Letzteren half nichts: Es war und blieb ein völlig anödendes Ausharren in dieser Mistkarre, die sie von A nach B bringen sollte, wobei das B hoffentlich einladender sein würde als das nun eiligst zu verlassende A.
Aushalten, durchhalten, bis zum Anhalten an sich halten mit Ausfällen aller Art. Der Fahrer des Kleinlieferwagens bestach nicht nur durch die Vielfalt seiner MP3-Inhalte, sondern auch durch beharrliches Schweigen, um ebendiesen Hörgenuss nicht zu gefährden. Ihr Versuch eines Gesprächsbeginns wurde unterbunden, gleich am Anfang, und dann traute sie sich auch nicht mehr.
Als er, der Karl hieß, schließlich nach zwei oder drei Stunden begann, ein One-Hit-Wonder - nicht gänzlich unmusikalisch übrigens - durch Mitsummen zu unterstützen und schließlich lauthals bei dessen Refrain mitzusingen,  witterte sie ihre einzige Chance, auf dieser mehrstündigen Fahrt endlich auch einmal den Mund aufmachen zu dürfen. Sie stimmte also ein, es harmonierte nicht gerade bestens, und falls dieses Duo jemals eine Chance auf Erfolg haben sollte, so war diese damals jedenfalls noch nicht abzusehen.

So fuhren sie in die Nacht, die düster war. Dunkelheit auch in Elviras Herz und Hirn. Sie war niemals zuvor so unsicher gewesen, was sie erwarten würde. Der freundliche Idiot neben ihr kostete sie keine enervierenden Gedanken, der tat, was getan werden musste: Er fuhr, und das nicht schlecht. Kein einziges Mal hatte sie sich bisher gefürchtet, und das sollte etwas heißen, denn sie war ängstlich, um nicht zu sagen überängstlich, was den Straßenverkehr und seine Tücken betraf. Der Mann fuhr routiniert, er schien auch nicht müde zu werden, und falls doch, gab es ja da diesen Lautstärkeregler, der noch lange nicht ausgereizt war. Und die nächste Metal-Nummer kam bestimmt.

Sie hatte nicht ahnen können, dass sie, nach nur drei Monaten an Ort A, diesen mit Grausen vor ihr selbst und dem, was sie sich hatte antun lassen, verlassen würde, fluchtartig und mit einem schalen Geschmack im Mund, der ihr signalisierte: wieder nicht rechtzeitig gewehrt, neuerlich zu viel mit sich geschehen haben lassen, Ja signalisiert statt Nein! geschrien, die Hände hinter dem Rücken zu Fäusten geballt, nach vorne hin gelächelt, das falsche Lächeln, das sie selbst aufs Gröbste schwächende, das sie längst hatte ablegen wollen. So einfach war das alles nicht. Alte Gewohnheiten, die lauerten überall. Beim Einstellungsgespräch, wo ungehörige Fragen gestellt und leider auch von ihr beantwortet wurden (Kinderwunsch? Natürlich nicht…); bei der Vermieterin der supergünstigen Wohnung, die nur „inländische und saubere Bewohner“ haben wollte; bei der durch die Mitfahrbörse vermittelten Fahrerin, die immer nur gestichelt und gewitzelt hatte über Elviras Ambitionen (aber die Mitfahrgelegenheit war eben günstig…). Elvira schien es, als sei die Liste endlos. Und so wurde Elvira im Laufe der Zeit immer kleiner und dünner, fast unsichtbar, und jedes Ja kostete sie das nächste Nein, als ob sie ein Guthaben aufbrauchen würde, die Widerstandskraft schwand völlig und so war sie an Bert geraten, in diesem geschwächten Zustand, allein und ohne Verbündete in A, so konnte er das nutzen, zu seinen Gunsten, was sonst.

Nun war sie also auf der Flucht aus A, vor Bert, dem Mann ihrer Träume, im Auto mit Karl, und wusste nur, sie wollte nach B. In B sollte alles anders werden. Sie wollte stark sein, für sich einstehen, nichts und niemandem zustimmen, das oder der ihr zuwider war. Was für ein Leben! Ein freies, ein selbstbestimmtes Leben würde es sein, nicht mehr gelenkt durch den Willen anderer, solcher, die sie zwangen, sich zu verbiegen. Nein, nicht einmal zwangen, die es einfach als gegeben hinnahmen, dass sie sich beugen würde. Und wie recht sie hatten. Aber nicht in B. Ein Ortswechsel, das war der Anfang. Und dann ein neuer Job. Ein neuer Mann eher nicht, noch nicht. Für so etwas musste man stark genug sein, gefestigt, um sich diesen Versuchungen nicht gleich wieder auszusetzen. Ach, was war eine starke Schulter für eine Verlockung für eine unsichere Frau. Unglaublich, aber wahr.

Elvira hatte genug Zeit, vor sich hin zu grübeln. Die Musikquälerei ließ sich ganz gut ausblenden, nach der langen Fahrt. Vielleicht hätte sie doch den Zug nehmen sollen. Aber dann wäre ihr Hab und Gut alleine unterwegs nach B, und den Fahrer, den Karl, den kannte sie ja kaum. Was, wenn er ihr Zeug einfach irgendwo abstellte, um es später einem windigen Dealer zum Verkauf anzubieten? Obwohl, Tante Erikas Tassen und Onkel Edwins Ohrensessel, naja, ein richtig gutes Geschäft wäre es wohl ohnehin nicht geworden. Sei es wie es sei, sie war eben jetzt am Weg. Warum nach B?

In B, wurde ihr gesagt, sei alles anders. Da hätten die Einwohner ein neues Modell entwickelt, ein Dorf, in dem alles geteilt würde, vom Einkommen angefangen bis zu den Häusern, der anfallenden Arbeit, den Kindern. Ackerbau, Viehzucht, Wald- und Wiesenpflege sowie Wildhege gehörten zur Ausbildung der Neuankömmlinge. Darauf aufbauend Koch-, Näh- und Schusterkurse für jedermann und kreative Betätigung beim Dekorieren der Häuser, innen und außen, und bei Bedarf spirituelle Führung durch jene, die in dieser Materie (oder war es Nicht-Materie?) schon weit vorangeschritten waren. Wer darüber hinaus auswärts tätig sein wollte, im Sinne von Erwerbsarbeit, wurde ermutigt, und wer in der dörflichen Gruppe bleiben mochte, war ebenso willkommen.

So stellte sie sich das Leben vor. Entscheidungsfreiheit. Keine Arbeitgeber, die alles ausreizten, was zu holen war, keine Immobilienbesitzer, die sie zu ebenjenem Frondienst bei den Blutsaugern zwangen, keine Kreditgeber, die pressten und quetschten, was möglich war, und selbst das noch, was eigentlich schon längst nicht mehr mach- und leistbar war.
Man könnte es sicher auch Flucht nennen, was sie hier angetreten hatte. Aber es war eher ein Befreiungsschlag. Und nicht Bert, dem ja nicht einmal bewusst gewesen war, was er da angerichtet hatte, wollte sie davonfahren, sondern ihr selbst, der Elvira der Vergangenheit, und ihrer Vernetzung in den unglaublichen Abhängigkeiten, die A für sie bereitgehalten hatte.

Elvira erschrak, als Karl plötzlich die Regler runterdrehte und sich räusperte. Er schlug eine Pause vor, sei müde geworden. Dass sie sich mitten in einem Waldstück befanden, befremdete Elvira etwas. Wo wollte er hier rasten? Sie hätte sich eher eine Raststation ausgesucht, oder ein Gasthaus am Weg, aber er wollte ein Nickerchen machen, dazu war der kaum erleuchtete Straßenabschnitt wohl die beste Wahl. Da hatte er schon recht, der Karl. Elvira überlegte gerade, ob das schon zu ihrer neuen Entscheidungsfreiheit gehören sollte, hier zu protestieren, überlegte es sich aber anders. Karl parkte am Straßenrand, da war eine Ausweichstelle, so schmal war die Fahrbahn hier.

Er drehte an seinem Fahrersitz herum, um ihn in eine angenehme Schlafposition zu bringen, Elvira überlegte, wie sie die Pause sinnvoll nutzen könnte, an Schlaf war nicht zu denken, denn Karl wollte seine MP3-Files weiterhören, das brauche er zum Dösen. Eigenartig, dass das, was zum Fahren und Wachsein gut sein sollte, auch dem Gegenteil, der Entspannung, dienen konnte. Anscheinend machte da die Lautstärke den gravierenden Unterschied, denn er stellte nochmals etwas leiser, just als Klaus Kinski anhob, das schöne Villon-Gedicht mit dem Erdbeermund auf seine völlig unnachahmliche Art zu rezitieren.
Elvira erstarrte. Die Shuffle-Funktion hatte ihr dieses Meisterwerk bisher vorenthalten, es war neu für sie und doch eindeutig nicht. Es gehörte der alten Elvira an, das Erinnern an die letzte Situation, in der sie es gehört hatte. Bert war es gewesen, der das Gedicht ganz bewusst ausgewählt hatte. In dem besonderen Moment, bevor er um ihre Hand angehalten, ihr die Sterne vom Himmel und dazu passend den Himmel auf Erden versprochen hatte. Wie gerne hätte sie ja gesagt, zur Ehre Kinskis, zu der Aussicht auf Berts gemeinsamen Himmel für alle Zeiten. Allein, es war zu viel. Sie konnte nicht, nicht das letzte Bisschen, das von ihr noch übrig war, an Bert verschenken, für immer. Lieber weg. Ganz woanders hin. Nach B.

Der Karl, natürlich, der hatte keine Ahnung von der Vorgeschichte, die Elvira gerade bewegte, Elvira, die sich ja eigentlich von A hatte entfernen wollen und nun zumindest geistig wieder genau dort gelandet war, wo der Ausgangspunkt zu finden war. Karl nahm ihre Unruhe wahr und interpretierte sie falsch. Er dachte, Elvira hätte das Gedicht inspiriert, sich ihm anzunähern, und er wollte ihr den Weg etwas verkürzen, indem er ein Stückchen nach rechts in ihre Richtung rutschte, mit einem wohligen Seufzer, der sie ermuntern sollte. Elvira bemerkte die Zeichen, hörte die Einladung, sah sein Becken sich ihr entgegenrecken, und sie erstarkte. Das war es, was sie gewollt hatte. Sie wusste es nun. Keine Heirat. Keine gemeinsame Eigentumswohnung. Keinen immerergebenen, angetrauten Bert. Einen einladenden Kleinlastkraftwagenfahrer, der nichts von ihr wollte als ihren Erdbeermund. Wie wunderbar einfach doch das Leben sein konnte. Vielleicht blieb er ja dann auch noch ein bisschen, der Karl, mit ihr, in B.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15089

Dienst nach Vorschrift oder Die Geschichte der „Os“

Ausgesprochen nervös schien sie zu sein, aber das konnte nur er bemerken, weil er sie sehr gut beobachtet hatte in all den Jahren, seit sie seine Vorgesetzte geworden war. Ihr Businessanzug saß perfekt, das helle Haar war hochgesteckt und untadelig frisiert worden, darauf achtete sie immer. Eine Abweichung in dieser Hinsicht hätte Alarmstufe rot bedeutet. So aber konnte er aus ihren fahrigen Handbewegungen und der hektischen Art, das nun zu Erledigende zu erklären, schließen, dass die Ampel für sie wohl bereits kurz davor, auf Dunkelorange, stand.

Es war in seinem Verantwortungsbereich schon länger gemunkelt worden, dass die Finanzprüfung, die sie in Kürze zu durchlaufen haben würden, nun besonders gründlich vorgenommen werden würde, von ihnen unbekannten Personen diesmal, und dass die Geschäfte mit einer bestimmten osteuropäischen Einrichtung wohl besser ungeprüft bleiben sollten. Irgendjemand hatte Insiderinformationen zugespielt bekommen, die Spekulationen blühten.
Ihm war es recht, wenn alles vage blieb und er sich nicht äußern musste. Wozu hatte er denn beim Aufstieg auf der Karriereleiter zurückhaltend agiert, anderen den Vortritt gelassen und sich selten explizit geäußert? Er hatte gewusst, warum. Dass das dicke Ende irgendwann kommen musste, war ihm klar. Ihr, seiner Chefin, war das offensichtlich erst in den letzten Tagen zur Gänze bewusst geworden.

So stand sie nun vor ihm und erläuterte kurz, dass jene Dokumente vom Frühjahr, die mit einem „O“ versehen seien, gesondert behandelt und auf keinen Fall so wie die anderen einfach an die Prüfer weitergegeben werden sollten. Vielmehr sollten die „Os“, wie sie diese Dokumente nannte,  unwiederbringlich verschwinden. Unleserlich gemacht werden für alle Zeiten. Sonst käme das die Firma teuer zu stehen, und einzelne Personen desgleichen. Ob er das verstanden habe?

Und wie er verstanden hatte. Sie war schön, wenn sie aufgeregt war. Er hatte sie immer begehrt. Vielleicht noch mehr, seit er einen unmissverständlichen Korb von ihr bekommen hatte, damals, zu Beginn ihres Aufstiegs. Sein Kollege hatte mehr Glück gehabt als er, der konnte sich zumindest ein paar Monate ihrer Gunst erfreuen. Soweit er wusste, war danach niemand mehr in den Genuss gekommen, zumindest keiner aus der Firma.
Allerdings hätte es wirklich nicht sein müssen, dass sie seine per E-Mail erfolgte Essenseinladung vor allen anderen Anwesenden ausgeschlagen hatte, das war kränkend für ihn gewesen. War ihr das nie klar geworden? Zumindest hätte sie danach ein bisschen freundlicher sein können.
Und selbst jetzt, wo er der Einzige war, den sie ins Vertrauen zog bei diesem wichtigen Unterfangen, bemühte sie sich nicht gerade um ausgesuchte Höflichkeit.
Egal, er würde seinen Job schon erledigen, das hatte er immer getan. Und das sagte er ihr auch.
Sie erwiderte nur kurz, das sei gut so, sie hätte mit der Löschung der elektronischen Daten wahrlich mehr als genug am Hals. Und Abgang.

Kurz darauf ging er ans Werk, schleppte, nachdem die anderen alle gegangen waren, die Stapel mit den Ausdrucken des fraglichen Zeitraums auf seinen Schreibtisch, sortierte gewissenhaft nach „O“-Dokumenten und normalen, bis er zwei schöne Stapel hatte, der „O“-Stoß etwa halb so hoch wie der andere. Die anderen legte er beiseite, dann nahm er sich die „Os“ vor.

Der Prüfer fand zwei Wochen später auf seinem Schreibtisch jede Menge Material vor. Das hatte er schon vorhergesehen und daher die Tage davor Platz geschaffen. Er freute sich auf diesen Fall.
Was immer diese Firma zu verbergen hatte, er würde sich auf dessen Spur begeben. Und dass da etwas war, was er nicht sehen sollte, davon ging er aus.
Nach einem Vormittag emsigen Sichtens und Systematisierens lachte der Prüfer plötzlich laut auf.
In Händen hielt er ein Dokument, auf dem offensichtlich geschwärzt worden war, eine kleine Stelle rechts oben war so unleserlich gemacht worden. Abgesehen davon, dass so etwas jeden Prüfer stutzig machen würde, war ihm sofort klar, worauf er da bereits nach dieser kurzen Sichtung gestoßen war.
Den Rest des Tages suchte er einfach diejenigen Blätter heraus, die Schwärzungen zeigten, und der Fall war gelöst. Fast war er ein bisschen enttäuscht, dass ihm die allermeiste Arbeit bereits abgenommen worden war.
Irgendjemand hatte es ihm da verdammt einfach gemacht.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15029

Neulich im Heldenbüro

Da saßen sie wieder, die beiden Kollegen, zwei gestandene Mannsbilder, und hatten recht wenig zu tun. Das war kein Wunder und hatte mit der Entstehungsgeschichte ihres Arbeitsplatzes zu tun.
Ihre Abteilung war gegründet worden, als das Heldentum grassierte, die Vorkommnisse diesbezüglich unüberschaubar geworden waren und die Sehnsucht nach Ordnung im Heroen-Chaos übergroß. Angefangen hatte alles mit einem Ägypter, der sich als Superheld gerierte, sich auf Hochhäusern fotografieren und filmen ließ, während er zum Schein Abflüge machte, um die Menschheit, oder zumindest einen Teil davon, zu retten. Es kam, wie es kommen musste: In Zeiten der sozialen und sonstigen Netzwerke verbreitete sich die Kunde von dem Wundersamen rasch, Nachahmer waren schnell zugange, und so bevölkerten erst Dutzende, dann Hunderte und später Tausende Helden diesen Planeten. Leider gingen so die echten, die richtigen, die wirklich wichtigen dabei komplett unter, ja, wurden kaum noch ernst genommen.
Und so wurde das Heldenbüro gegründet, die „Stabsstelle für echte Helden“, bei der man sich melden und registrieren lassen konnte, nebst Angabe der speziellen Fähigkeiten, auf dass die diesbezüglich bedürftige Menschheit später davon Gebrauch machen konnte.
Leider war nach einem anfänglichen Hype der Zulauf in letzter Zeit recht bescheiden gewesen, und so vertrieben sich die beiden Bediensteten inzwischen dort recht routiniert die Zeit mit allerlei Spielchen, als eine von mehreren Strategien, den Tag herumzubringen.
Eine andere war ihnen gerade ein bisschen vergällt worden: Besonders jetzt, wo von den drei Kolleginnen nebenan diejenige auf Kur war, die ihnen beiden am besten gefiel, vermieden sie es eher, dem Nebenbüro einen Besuch abzustatten. Alleine der Name der Arbeitsgruppe im Nebenraum wirkte abschreckend auf sie, „Büro für virtuelle Seuchenbedrohung“. Die Damen waren außerdem sehr beschäftigt, im Vergleich zu ihnen beiden, was die Besuche automatisch verkürzte beziehungsweise eindämmte. Aber jetzt, wo die Hübsche sowieso einige Wochen lang nicht hier sein würde, gab es einen Grund weniger, aufzustehen und sich nach nebenan zu begeben. Die anderen beiden Frauen erkundigten sich immer recht zynisch, wo denn die echten Helden blieben, wenn man sie brauchte. Und die beiden Männer drucksten dann herum und wussten keine Antwort.
Nein, dann lieber schön hiergeblieben und sich etwas anderes als Zeitvertreib suchen.
Sie spielten also das schöne, bewährte Spielchen „Wer hat am schnellsten den Längsten?“ und waren recht vergnügt dabei. Es ging darum, mittels Internetrecherche einen möglichst langen Link zu finden, und wer ihn am schnellsten mittels eines Programmes verkürzt und diese „Tiny URL“ dann seinem Kollegen per eMail geschickt hatte (da konnte die Sendezeit sekundengenau beurteilt werden, was oft auch notwendig war, denn sie waren ebenbürtige Gegner), war der Gewinner. Die Rundenanzahl schwankte und wurde vorab vereinbart, und der Gesamtsieger wurde dann vom unterlegenen Kollegen den Rest des Bürotages lang bedient.
Das Spiel war tricky, denn die Zeitvorgabe war brutal, und so waren Konzentration, Erfahrung und Schnelligkeit unbedingt vonnöten, um diese Aufgabe zu meistern.
Sie hatten sich gerade in einen schönen Spielrausch hineingesteigert, zwei Meister ihres Fachs, als es an der Bürotüre klopfte.
Die Türe öffnete sich, und im Türrahmen stand, zu ihrer totalen Verblüffung – Phantomias!

Er hatte es ihnen leicht gemacht und sein blaues Käppi aufgesetzt, auf dem als einzige Neuerung sein Name stand, aber ansonsten sah er genau so aus wie in den Comics ihrer Jugendzeit.
Die beiden Bediensteten sahen sich an. Sie sahen den Besucher an. Phantomias sah sie an.
Der Kollege, der der Tür am nächsten war, sagte zu seinem Gegenüber: „Kurti, du weißt, was das heißt? Das müssen wir melden. Wir brauchen ein neues Büro. Das könnte dann heißen ,Spezialstabsstelle für tierische Helden’ , oder so ähnlich.“
„Ja“, seufzte der andere, „es reißt einfach nicht ab. Und für Sie, lieber Phantomias, heißt das ein bisschen warten, bis wir das neue Büro und die neuen Angestellten haben. Momentan können wir Ihren Fall leider noch nicht bearbeiten. Sie können aber gerne Ihre Kontaktdaten hier lassen. Wir geben Ihnen dann Bescheid, wenn es so weit ist.“

Ja, genau so hat es sich zugetragen, neulich im Heldenbüro.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 15018

Der tolle Mann - ein Fragment

Plötzlich verstand ich sie. Warum sie von ihm nicht loskam, was es war, das sie so unglaublich anzog, über Jahre schon. Und warum es ihr unmöglich war, von ihm zu lassen.

Er war ein echt toller Mann. Er hatte, was die Mehrheit der Geschlechtsgenossen so schmerzlich vermissen ließ: Humor, Scharfsinn, Charme und Ironie in der genau richtigen Dosierung. Darüber hinaus war er feinsinnig und großzügig, einer der wenigen, die sich nicht nur dem eigenen Ego verschrieben hatten, viel zu lange schon. Solche wurden bitter, hart und hartnäckig verschwiegen, vergraben in das Eine, das Einzige, das Ewige, das Selbst. Wie mager diese Ausbeute, was war da schon zu holen? Immer das Gleiche, in unzähligen Varianten, die genauer betrachtet gar keine waren.

Dieser Mann war anders. Er überraschte sie, war spontan und hingebungsvoll, und wenn er etwas mit sich selbst auszumachen hatte, so äußerte er zumindest das, sodass sie es gut nehmen und ihn in Ruhe lassen konnte.
Er hatte nur einen offensichtlichen Haken, dieser Traumprinz, und dieser Haken glänzte golden.

Er gehörte einer anderen. Falls ein Ehering Besitz symbolisieren sollte, und für manche tat er das auch. Wie sie das sah, wusste ich nicht. Ich verstand nur, dass sie bis zu einem gewissen Grad zurückschreckte vor dem letzten Schritt, der einen Frage, dieser einen Entscheidung, vor die sie ihn nie stellte: „Sie oder ich?“

Diese Frage blieb also unbeantwortet, vielmehr ungestellt. Auch wusste sie nicht, wie das Zusammenleben mit ihm war. Wie schwermütig seine Abende ohne sie verliefen, wie wenig er sich mochte und wie gut er an sich selbst leiden konnte.
Das sprühende Charmebündel, das er nach außen gab, war innen nicht gefestigt, eine lose Konstruktion, gebildet, um anderen zu gefallen.
Es klappte ganz gut, das fehlende Fundament zu verbergen, außer, man verbrachte die vielen Tage und Abende und Nächte mit ihm, in denen er zweifelte, meinte, in und an allem zu versagen, nichts wert zu sein und darum auch nicht geliebt zu werden. Wer es dennoch tat, mit dem musste etwas nicht stimmen.

Was half alles Gegenreden, Mutzusprechen, Ermutigen und Ermuntern, wenn die Seele in ihren Grundfesten erschüttert war? Ich wusste nicht, wie es mit ihr gewesen wäre, wenn sie es wirklich versucht hätte, alles, ihr Leben seinen Stimmungsabschwüngen unterordnen, seine Kraft sein wollte, seine Lebenslust, seine Muse. Ich wusste es nicht.

Ich wusste aber, es würde schwer werden, bleischwer. Und ich musste es wissen. Ich hatte es die vielen Jahre versucht, mit diesem tollen Mann, meinem Mann.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 14071