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Großstadtepisode

Durch die nasse, vom Regen belegte Scheibe erscheint die Außenwelt wie ein verwackeltes Bild, eine verschwommene Fotografie; die Lichter der Stadt sind nur grelle Punkte auf trübem Hintergrund. Der Regen hält schon seit Stunden an, das heftige Gewitter ist nach der drückenden Hitze der vergangenen Tage eine Wohltat; die Natur wird bald wieder in kräftigen Farben erstrahlen. Scheinbar geräuschlos gleitet das Taxi durch die nächtlichen Straßen Wiens, durch das offene Fenster dringt die frische, abgekühlte Luft in das Innere des Wagens. Die berühmten Gebäude der Ringstraße sind, wenn, nur schemenhaft erkennbar. Die Nacht erscheint, trotz des Wetters, friedlich – es ist, als ob der Regen die Atmosphäre reinigt. Man sieht hauptsächlich Straßenbahnen, Busse und Taxis auf den Straßen. Wer kann, vermeidet einen langen Aufenthalt im Freien, denn selbst Schirme und Regenmäntel vermögen die Wassermassen kaum abzuwehren. Und doch wirkt das Unwetter heilsam, befreiend. Mia liebt Sommergewitter, die sie an die Unschuld ihrer Kindheitssommer erinnern, die sie zum Großteil am Land bei ihren Großeltern verbracht hat.

Seine Stimme hat verzweifelt geklungen, als er sie angerufen und gebeten hat, vorbeizukommen.

Es sind einige Monate vergangen, seit sie sich zum letzten Mal gesehen haben:  Ein Mann und eine Frau sind aus entgegengesetzten Richtungen zu einem kleinen Taxistand am Schwedenplatz geeilt, den sie zeitgleich erreicht haben, um sich das einzige Taxi zu sichern. Augen weiteten sich, wussten nicht, wohin sie blicken sollten, als Marco und Mia sich wieder gegenüberstanden. Er hatte in den Wochen zuvor ein paar Mal versucht, sie zu erreichen, vergebens. An jenem Abend überließ Marco Mia das Taxi – sein Blick war bedauernd, als Mia wortlos einstieg, ohne ihm anzubieten, sich das Taxi zu teilen. Doch sie hatte ihm nicht in die Augen schauen können, seine Nähe nicht ertragen. Das war vor drei Wochen, mittlerweile hat der Frühsommer Einzug gehalten. Deshalb ist sie noch immer überrascht, dass sie seinen Anruf angenommen, seiner Bitte nachgekommen ist und jetzt im Taxi zu ihm fährt. Und sie hat schmunzeln müssen, als sie den Taxistand neben der U-Bahn erreicht hat – im einzigen Taxi erblickt sie ein vertrautes Gesicht; sie kann ihre Freude darüber, Ahmed wiederzusehen, nicht verbergen. Auch Ahmed lächelt und steigt aus, um sie herzlich zu begrüßen. „Wohin geht die Fahrt?“, fragt er schließlich, „kenne ich den Weg schon?“ Mia nickt und lächelt – er hält ihr wieder die Türe auf, so wie bei all den Fahrten zuvor. Und Mia erinnerte sich …

Sie hatte Marco über eine Freundin kennengelernt, die gegenseitige Sympathie war vom ersten Augenblick an unbestreitbar. Sie hatten sich über viele Wochen getroffen, waren sich nähergekommen, ohne die Dinge jemals zu definieren – vielleicht war das ihr erster Fehler gewesen. Er hatte sie immer wieder überrascht, mit Dingen, die sie ihm erzählt hatte.

Es war ein ebenso stürmischer Samstagabend gewesen, an dem er sie zum Essen eingeladen hatte; sie hatten viel herumgealbert, es sich gut gehen lassen, bis es beinahe Mitternacht war und sie ein Taxi gerufen hatten. Es hat eine halbe Stunde gedauert, bis das Taxi endlich das altehrwürdige Grand Hotel erreicht hatte, in dessen Sushi-Bar Unkai Marco und Mia zum Abendessen verabredet waren. Die beiden trafen sich seit Monaten regelmäßig, keiner konnte die tiefe Zuneigung dem anderen gegenüber wirklich verbergen, doch standen sie sich noch mit ihren Unsicherheiten, den emotionalen Altlasten im Weg, beide waren Meister im Vermeiden eines ernsten Gespräches. Immer wieder fiel der Blick des Fahrers Ahmed auf das gegensätzliche Paar, welches schon einige Mal mit ihm gefahren war: Die junge Frau trug ihr dichtes, dunkelblondes Haar offen, es reichte bis weit über ihre Schultern. Ihre Gesichtszüge waren weich, passten zu den warmen Rundungen ihres Körpers, ihre vollen Lippen waren zu einem sanften Lächeln geformt, während ihr Kopf vertrauensvoll halb auf der Schulter, halb auf der Brust ihrer Begleitung ruhte. Der junge Mann flößte ihm Respekt ein, obwohl er kaum jemals sprach. Sein Blick ruhte beinahe ununterbrochen auf der jungen Frau neben ihm; gelegentlich schweifte er ab, die Umgebung absuchend, ständig auf der Hut, nach einer potenziellen Gefahr Ausschau haltend. Der dichte, dunkle Bart war gepflegt, verlieh ihm zusätzlich eine respekteinflößende Ausstrahlung, das kantige Gesicht wirkte ungerührt, ließ keine Interpretation zu, die dunklen Augen waren wachsam.

Es herrschte überraschend wenig Verkehr für einen Samstagabend, sie erreichten ihr Ziel, ein mittelgroßes Haus mit Garten in Altmannsdorf, schneller als erwartet. Dieselbe Adresse wie immer, Ahmed erkannte das Gebäude. Das Paar hatte während der Fahrt nicht mit ihm oder miteinander gesprochen, aber Ahmed nahm jede Fahrt, wie sie kam. Er war seit vielen Jahren Taxifahrer, über zwanzig Jahre, also beinahe sein ganzes Berufsleben, und immer in der Nachtschicht. Er hatte unzählige Menschen an ihr nächtliches Ziel gebracht, wenig überraschend waren ihm nur wenige Fahrgäste in Erinnerung geblieben, darunter auch dieses Paar. Die beiden harmonierten, ergänzten sich in ihrer Männlichkeit und Weiblichkeit perfekt. Er hatte den Mann schon oft gefahren, immer in unterschiedlicher Begleitung – nur die dunkelblonde, mollige junge Frau war wiederholt an seiner Seite. Und nur bei ihr, das hatte Ahmed im Laufe der Zeit festgestellt, wirkte der junge Mann wie ein Soldat, der ein kostbares Gut zu schützen hat. Keine der anderen Frauen hatte er je so vertraulich an sich lehnen lassen, oder war in deren Gegenwart so reserviert, im Beobachtungsmodus. Sie waren wie Puppen, mit denen man nicht lange spielt. Ob sie von den anderen Frauen wusste? Und ob der Mann sich an ihn erinnerte? Nichts in beider Auftreten deutete darauf hin.

Marco schreckte kurz auf, als das Fahrzeug zum Stillstand kam, so sehr war er in Gedanken versunken gewesen, während das sanfte, rhythmische Trommeln der Regentropfen auf dem Autodach Mia eingelullt hatte – sie war an seiner Schulter eingedöst. Der Taxifahrer kam Marco bekannt vor, ihm schien, als hätte ihn dieser oft gefahren, wenn er mit diversen Liebschaften den Heimweg angetreten hatte. Er beschloss, den Taxifahrer nach seiner Nummer zu fragen, es konnte nicht schaden, einen direkten Draht zu haben, der Mann erschien diskret, unaufgeregt. Mia, die durch seine hastige Bewegung aus dem Halbschlaf aufgewacht war, blickte sich verschlafen um, nur langsam, müde realisierte sie, dass sie schon bei Marcos Haus angekommen waren, und stieg aus. Während sie schon zum Haus ging, sprach Marco noch kurz mit Ahmed, ehe er ihr folgte.

Marco liebte Mias mollige Figur, ihr dichtes, dunkelblondes Haar, ihre großen Brüste, die sich während des Aktes immer wild bewegten. Er konnte seinen Kopf stundenlang zwischen ihnen vergraben, ihre sinnliche Weiblichkeit einatmen. Sie war alles, was er so bisher nicht kannte: auf reizende Weise in manchen Belangen unerfahren, warmherzig, uneigennützig, freigiebig, präsenter und aufmerksamer als jede andere Frau, die er bis jetzt kennengelernt hatte. Er fühlte sich ruhig, angenommen in ihrer Gegenwart. Doch was, wenn es ein Trugschluss war? Sie war leise, klar, bestimmt – doch was, wenn wieder alles schiefging? Die lauten, überbrodelnden, besitzergreifenden, manchmal vulgären Frauen waren ihm immer schon vertraut, ein Muster, das er kannte. Das Sanfte, Bedachte, Aufmerksame verwirrte, ängstigte ihn. Noch konnte sein rastloses Herz keine Ruhe finden, keine Entscheidung treffen.

Als sie bei der Haustüre ankamen, waren beide durchnässt – noch immer regnete es in Strömen. Marco war froh über die kurze Unterredung mit Ahmed, sie würde seine amourösen Aktivitäten sehr vereinfachen. Sobald sich die Türe hinter ihnen schloss, umarmte Marco Mia von hinten, küsste ihren Hals zärtlich, fuhr mit seiner Zunge daran entlang. Sie erschauderte – selbst überrascht von der zwischen ihnen bestehenden Anziehung. „Ich will mit dir duschen“, flüsterte Marco und drehte Mia mit einer sanften, aber bestimmten Bewegung um, um sie zu küssen. Ihre Lippen schmeckten nach Gin Tonic, sie war  die einzige Frau in seinem Umfeld, die nicht rauchte. Unter dem warmen Wasser kamen sich die beiden wieder näher: Marcos erfahrene Hände wanderten über Mias sanfte Rundungen, seiften sie ein – sie lehnte sich mit geschlossenen Augen an ihn, genoss die sanfte Massage ihrer großen Brüste, war erfreut über seine deutlich wachsende Erregung, die sie zwischen ihren Schenkeln spürte. Sie liebte es, sich ihm hinzugeben, sich seiner Führung zu überlassen.

Es regnete noch, als die beiden aus der Dusche kamen, die Regentropfen trommelten rhythmisch gegen die Fensterscheiben. Marco lenkte Mias Schritte ins Schlafzimmer; er liebte es, Mia zu verwöhnen, ihre Lust mehrfach zu entfachen und sie danach verschwitzt, aber glücklich im Arm zu halten. Ob sie etwas von den anderen Frauen ahnte, vielleicht dachte, dass sie exklusiv zusammen seien? Marco konnte sie sich nicht mit einem anderen Mann vorstellen, aber sich auch nicht dazu entschließen, nur mit ihr zusammen zu sein. Ein Teufelskreis.

Die Wochen vergingen, immer öfter brachte Ahmed die, wie er fand, wunderschöne mollige Frau nach Altmannsdorf; ein privater Deal mit Marco; der Zuverdienst kam bei drei Kindern gelegen. Manchmal unterhielten sie sich, über das Wetter, Urlaubspläne, Alltägliches … Doch ihr von den anderen Frauen zu erzählen, das brachte Ahmed nicht über sich. Mia war gespalten, Ahmed bemerkte während den Fahrten häufig ihren nachdenklichen Blick aus dem Fenster, sie vermutete nur, dass sie nicht die Einzige war, dass es vielleicht nicht reichte für einen gemeinsamen Alltag. Manchmal überlegte sie, ob sie den Fahrer nach anderen Frauen fragen sollte, vielleicht hatte er etwas mitbekommen, doch immer wenn sie kurz davor war, verließ sie der Mut.

Manchmal bemerkte sie Marcos sehnsuchtsvollen, suchenden Blick, der auf ihr ruhte, doch ohne ein eindeutiges Bekenntnis wollte sie ihm keine tiefere Bedeutung beimessen. Er schickte ihr seit geraumer Zeit ein Taxi, wenn sie verabredet waren, immer den ruhigen, bedachten Fahrer aus jener stürmischen Nacht. Das Taxi war immer schon vorausbezahlt, es behagte ihm nicht, wenn sie, vor allem in den Abendstunden, alleine unterwegs war, sie sollte sicher sein.

Es war ein stürmischer Augustnachmittag, ein verregneter Samstag, als Mia erstmals eine andere Frau sah, eine Bestätigung für ihre Vermutung erhielt. Die Ferien machten sich bemerkbar, es herrschte kaum Verkehr auf den Straßen, das Taxi erreichte sein Ziel früher als geplant. Als das Taxi zum Stehen kam, lachte Mia noch über einen Witz, den Ahmed gemacht hatte, als ihr Blick auf die Frau fiel, die gerade Marcos Grundstück verließ. Ihr Herz verkrampfte sich für einige Sekunden, während ihre Augen sich mit Tränen füllten. Ahmed wusste nicht, was er sagen sollte, als er die Situation erkannte – hätte er doch früher etwas sagen sollen?

„Willst du zurückfahren?“, fragte er leise, um irgendetwas zu sagen, „die Fahrt geht auf mich!“ „Nein“, antwortete Mia kopfschüttelnd, „da muss ich durch!“ Mit diesen Worten stieg sie aus, nicht ohne noch einmal dankbar lächelnd zurückzublicken.  Das Schweigen zwischen Marco und Mia war an diesem Abend laut, bis Mia schließlich die eine Frage stellte, die ihr am meisten in der Seele brennt: Gab es die anderen Frauen von Anfang an? Marco schwieg, bis er schließlich ehrlich gestand: Ja, aber du warst aber die Einzige, die regelmäßig gekommen ist, weil du mir etwas bedeutest, alle anderen waren immer nur für eine Nacht, wenn überhaupt. 

Mia verließ das Haus wortlos, ohne auf Marcos Angebot einzugehen, ihr ein Taxi zu rufen, damit sie nicht öffentlich fahren musste; der Weg zur nächsten Nachtbus-Station war weit. Sie war überrascht – Ahmed hatte gewartet, wenige hundert Meter von Marcos Haus entfernt, für den Fall der Fälle hatte er seine Pause genommen. Mia weinte lautlos, während das Taxi durch den Regen fuhr – wieder einmal.

Erneut fährt das Taxi lautlos durch die stürmische Nacht, Mia hat keine Ahnung, was sie erwartet, sie kann sich nicht vorstellen, was Marco von ihr möchte. „Ahmed, hast du in der letzten Zeit viele Frauen zu ihm gefahren?“, fragt sie schließlich. Ahmed antwortet nicht, aber ihre Blicke treffen sich im Rückspiegel. Mia hat es geahnt, fragt nicht weiter nach. Als sie vor Marcos Haus ankommen, gibt Ahmed Mia eine Karte – er hat ihr seine Nummer aufgeschrieben. „Melde dich, wenn du etwas brauchst“, sagt er, sein Ton klingt väterlich. Er parkt einige Meter weiter, nachdem Mia ausgestiegen ist. Für den Fall der Fälle.

Mia steht eine Weile vor dem Haus, im Wohnzimmer brennt Licht, hinter der Terrassentür aus Glas ist eine Silhouette wahrnehmbar. Doch sie bringt es nicht über sich, zur Haustüre zu gehen und zu läuten. Schließlich dreht sie sich um, sieht das Taxischild in der Dunkelheit der Nacht und geht auf das geparkte Auto zu. Ihr Handy läutet mehrfach, bis sie es schließlich abstellt. Noch ist die Zeit zu reden nicht gekommen.

Cornelia Hell

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Atempause

Behutsam, leicht und leise
fall ich in deine Atempause.
Fühl mich auf ganz besond‘re Weise
von ihr beschützt, bin hier zuhause.
Schließ meine Poren,
werd ganz still, weil ich,
so inniglich an dich geschmiegt
die Hast besiegt, wie neugeboren
ganz in Ruh mit dir zusamm‘
die Zeit schaun will.
In liebender Nachinnensicht
besinnend auf der Herzen Schlag,
fühl ich auf ganz besond‘re Weise
wie schon im nächsten Atemlicht
ein neues Wunder blühen mag.

Claudia Lüer

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Denkt die Frau

Wo bist du, wenn du nicht bei mir bist?
Machst du Überstunden?
Viel Arbeit mit deiner Sekretärin, ja?
Aber ich kenne das: Würde ich mich vor das Bürogebäude stellen,
wären alle Fenster schwarz.
Erzähl mir nichts, erzähl mir nichts,
aber frag ich dich?, nein ich frag dich nicht.
Wer bin ich denn, dass ich dir nachspioniere?
Nein, so weit bin ich nicht, lang noch nicht.
Doch warum denk ich an dich?
Es tut mir doch nicht gut, überhaupt nicht gut.
Ich werd Folgendes tun: Ich zeichne dich auf ein Blatt Papier
und radiere dich dann aus.
Von dir wird nichts bleiben,
und ich werde aufgehört haben, an dich zu denken.

Der Krokodilradiergummi

Der Krokodilradiergummi

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 25107

Freundschaft Plus

Claras Kopf ruht auf Sandros dicht behaarter Brust; sie hat ihre Augen geschlossen und genießt seine zärtlichen Streicheleinheiten auf ihrem Rücken. Sie fühlt sich in seinen Armen so sicher, geborgen, wie noch nie bei einem Mann. Ihre rechte Hand ruht neben ihrem Kopf auf seiner Brust, ihre linke unter seinem Rücken. Sie fühlt sich ruhig, versucht, den Moment nicht zu zerdenken. Er riecht nach Sandelholz und Schweiß – beruhigend, wie sie findet. Als sie für einen Moment die Augen öffnet, stellt sie fest, dass seine geschlossen sind, auch seine kreisenden Handbewegungen auf ihrem Rücken werden immer langsamer. Er scheint bald einzuschlafen.

Keiner der beiden hat es so weit kommen lassen wollen, vor allem, weil beide genug Gründe finden, warum nicht mehr als Freundschaft zwischen ihnen sein soll, wenn überhaupt.

Clara betrachtet ihn im dämmrigen Abendlicht, das durch das große Fenster ins Wohnzimmer fällt: Er wirkt verletzlich, selbst im Halbschlaf scheint er auf der Hut zu sein, den Schutzschild hochgezogen, obwohl er ihr schon überraschend viel gezeigt, erzählt hat. Er hat sie in den letzten Monaten immer wieder weggestoßen, manchmal so hart, dass sie sich gefragt hat, warum sie noch hier ist. Und dann hat sie sich daran erinnert, dass auch sie ihm diesbezüglich nichts schuldig geblieben ist. Sie streichelt sanft seinen Oberkörper, ehe sie vorsichtig aufsteht, um auf den Balkon hinauszugehen. Vom fünften Stock sieht man einige der Stadtberge, deren Gipfel mit dem Horizont in einer zärtlichen Umarmung zu verschmelzen scheinen. Die frische Luft des winterlichen Abends riecht nach Regen – für die Nacht war ein Unwetter angesagt. Clara liebt stürmische Nächte, seit sie denken kann, hilft ihr das Geräusch gegen Fenster prasselnder Regentropfen beim Einschlafen.

Clara schließt die Augen, atmet tief durch, als sie spürt, wie sich Sandros Arme sanft, vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, von hinten um ihre Hüfte legen. Entspannt lehnt sie sich zurück, die Augen noch immer geschlossen. Wie beruhigend seine Präsenz ist; sie zwingt sich, nicht daran zu denken, dass er vielleicht auch mit anderen Frauen solche Momente teilt. Doch wenn dem so ist – sehen auch sie den verletzten Jungen, der noch in dem starken Mann vorhanden ist? „Komm rein, Süße“, flüstert er, „es ist kalt. Ich mache uns eine Suppe warm.“ Süße. Unverbindlich, scheinbar nah, doch nie zu nah, selbst in den intimen Momenten nicht. Doch seine Augen verraten ihn immer – die Sehnsucht danach, jemandem wieder wirklich nahe zu sein. Ob es nun sie oder eine andere Frau ist – der Wunsch, Liebe, Zuneigung, eine Beziehung zuzulassen, anzukommen.

Als Sandro den Topf mit der Suppe auf den Herd stellt, beginnt es zu stürmen – Clara geht zur offenen Balkontüre, um die regenschwangere, feuchte Luft einzuatmen. Es riecht nach frischem Toast, sie liebt den Duft der erfrischten, gereinigten Luft. Sie muss unwillkürlich an ihre auf dem Land, bei den Großeltern verbrachten Kindheitstage denken; die Gewitter sind, besonders im Sommer, so viel anders als in der Großstadt. Sie wendet sich wieder Sandro zu, der gerade Suppe in zwei Teller schöpft. Clara lächelt, sie genießt seine Fürsorge, die Kleinigkeiten, wie die Tatsache, dass er sie immer zudeckt, wenn sie sich einen Film ansehen, er sie zur U-Bahn bringt, wenn sie abends in ihre Wohnung fährt, und immer nachfragt, ob sie gut heimgekommen ist. Sie fühlt sich gut aufgehoben, vermisst ihn, wenn sie sich länger nicht sehen – auch wenn sie sich das nicht eingestehen möchte.

Als er ihr einen Teller reicht, erschrickt sie ob der Hitze des Porzellans und manövriert sich vorsichtig zur Couch. Kurz muss sie daran denken, wie sie sich vor wenigen Monaten per Mausklick über eine Dating-App, zu der eine Freundin sie überredet hatte, kennengelernt haben. Gerade als sie ihr Profil hatte löschen wollen, hatte ihr Telefon sie über eine neue Gefällt-mir-Angabe benachrichtigt, die sie nach kurzem Zögern erwidert hatte. Denn eigentlich fand sie ihn schon beinahe zu attraktiv, ausschlaggebend war sein Hund gewesen. Schon nach einer kurzen Unterhaltung hatten sie Nummern ausgetauscht, und sich verabredet – um Mitternacht vor dem Dom in der Innenstadt. Sie hatten bis in die Morgenstunden gesprochen, sich dem anderen völlig offenbart.

„Ich bin gespannt, ob du deine Meinung ändern wirst“, sagt Sandro schmunzelnd, als er den Film in den DVD-Player einlegt, „Herr der Ringe ist der beste Film überhaupt!“ „Das werden wir sehen“, antwortet Clara schmunzelnd, als sie seine Freude darüber, dass sie sich seinen Lieblingsfilm ansehen werden, bemerkt. Sie ist selbst gespannt, denn eigentlich ist sie kein Fan des Fantasy-Genres, will der Verfilmung aber dennoch eine Chance geben – zumindest dem ersten Teil. Ohne dass die beiden es bemerken, verrinnen die Stunden, als sie auf die Uhr sehen, ist es vier Uhr in der Früh und sie haben sich die ganze Trilogie angesehen. Zu ihrer eigenen Überraschung stellt Clara fest, dass sie am Ende sogar Tränen in den Augen hat. Sandro ist gerührt, als er im fahlen Licht der alten Stehlampe einen Blick auf sie wirft. Besonders das Ende hat sie mehr als erwartet berührt. Sanft streichelt er ihren Unterarm, drückt sie an sich und küsst ihren Scheitel. „Du Liebe“, flüstert er, „komm, lass uns schlafen gehen.“ Clara nickt und folgt ihm ins Schlafzimmer. Sie schläft gerne in seinen Armen ein.

Es vergehen einige Wochen, Sandro und Clara treffen sich mit ansteigender Häufigkeit, schreiben beinahe jeden Tag. Clara versucht, nicht zwischen den Zeilen zu lesen, dennoch erwischt sie sich selbst manchmal in Tagträumen. Der Winter hat die Großstadt dunkel werden, aber nicht zur Ruhe kommen lassen. Nur der Alltag ist von Zeit zu Zeit entschleunigt, die freien Tage ruhiger, in der Stille der eigenen vier Wände, weil das kalte Wetter nicht dazu einlädt, sich lange im Freien aufzuhalten, wenn man nicht gerade Glühwein und Punsch trinkt oder Wintersport betreibt. Clara kommt endlich dazu, auszumisten, Bücher zu lesen, die schon viel zu lange unbeachtet auf ihrem Nachttisch neben dem Bett liegen.

Es ist ein kalter, dunkler Abend, Clara hastet müde von der Arbeit nach Hause, wieder ist sie länger als geplant geblieben, ihre Überstunden häufen sich. Sie ist froh, dass sie – im Gegensatz zu Sandro – weder einen Hund noch ein anderes Haustier hat, obwohl sie gerne wieder einen Hund hätte, so wie früher, in ihrer Jugend, bevor sie nach Wien gezogen ist. Es ist schon dunkel, sie mag es nicht, alleine in dieser abgelegenen Gegend unterwegs zu sein. Um diese Jahreszeit behagen ihr die Manager-on-Duty-Dienste nicht, die sich beinahe immer länger als geplant ziehen. Was macht diese Zeit mit den Menschen, dass die meisten von ihnen zu degenerieren und Hausverstand und Eigenverantwortung abzugeben scheinen, sobald sie ihre eigenen vier Wände verlassen?

Sandro wirkt ihr gegenüber unentschlossen zugetan, als er ihr an diesem Abend die Wohnungstüre öffnet. Ihr Gefühl hat sie noch nie getäuscht. Eine seltsame Unruhe überkommt sie, als sie nach dem Duschen wieder in seine kleine Wohnküche kommt. Er wirkt seltsam in sich gekehrt, abwesend. Hat sie etwas falsch gemacht, ihn verärgert? Oder verschweigt er ihr etwas?

Doch sie will nicht fragen, ihre Intuition rät ihr, abzuwarten – noch ist es nicht so weit, dass die Dinge sich ändern, ihre Geschichte enden soll. Sie sprechen noch über ihren anstehenden Geburtstag Mitte Jänner, er möchte unbedingt dabei sein, ihr Umfeld endlich kennenlernen. Beide haben an den Weihnachtsfeiertagen und über den Jahreswechsel Dienst. Clara stört sich nicht daran, sie hat keine eigene Familie und zu ihren Eltern fahren möchte sie nicht. Doch zum ersten Mal seit vielen Jahren empfindet sie Ruhe, das Blatt scheint sich gewendet zu haben. Sie ist in ihrem Job angekommen, hat sich zu einer exzellenten Führungskraft entwickelt. Mit verblüfftem Stolz registriert sie die immer häufiger werdenden Abwerbe-Angebote auf LinkedIn – manche Headhunter sind schon beinahe aufdringlich.

Es sind nur noch wenige Tage bis zu ihrem Geburtstag, als Clara mit ihrer liebsten Kollegin und Freundin Mara auf dem Heimweg von einem Tanzkurs ist und sie spontan beschließen, noch etwas trinken zu gehen. Die beiden Frauen arbeiten seit drei Jahren zusammen, haben das Hotel, in dem sie arbeiten, mit eröffnet: Mara als Restaurantleiterin, Clara als Rezeptionsleiterin und Direktionsassistentin. Die ähnlich klingenden Namen haben sie von Anfang an amüsiert, mittlerweile sind sie unter den Kollegen nur noch als dynamisches Duo bekannt und arbeiten reibungslos zusammen. Doch Claras Herz wird schwer, als sie am nahe an der U-Bahn gelegenen Einkaufszentrum vorbeikommen, in dem Sandro als leitender Sicherheitsmitarbeiter arbeitet – sie hat ausgeblendet, dass er an diesem Abend Dienst haben könnte. Denn dieser Moment offenbart, was sie schon länger befürchtet hat: Sandro hat gerade Pause – die er in der Umarmung einer Kollegin genießt.
Ihre Blicke kreuzen sich kurz – und Clara drängt ihre Kollegin zum raschen Weitergehen, in der Hoffnung, dass er, wenn sie später zur U-Bahn muss, nicht gerade wieder Pause hat.

„Können wir reden?“ Sandros Whatsapp-Nachricht erreicht sie, als sie sich gerade setzen. Ihr Magen verkrampft sich, die junge Frau glaubt für einen kurzen Moment, sich übergeben zu müssen. Die Nachricht lässt sie unbeantwortet – ebenso wie die folgenden beiden. Clara ist froh um Maras Anwesenheit, die ihre Geschichte kennt – und ist dankbar für ihre Ablenkungsversuche. Die beiden lachen, für eine Weile vergisst sie das Gesehene. Es ist beinahe Mitternacht, als sie aufbrechen – Sandro ist nicht zu sehen, als sie zur U-Bahn-Station gehen.

Clara weint sich in den Schlaf, als sie endlich in ihrem Bett liegt, erleichtert, dass sie am nächsten Tag frei hat. Sie hat nur wenige Stunden geschlafen, als ein Läuten an der Türe sie weckt; es ist gerade fünf in der Früh. Der Blick durch den Spion verrät ihr, dass Sandro vor der Türe steht – zögerlich öffnet sie. Er sieht erschöpft aus, müde.

„Clara“, flüstert er, „es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du es so erfährst, ich wollte es dir an deinem Geburtstag sagen, beim Verabschieden!“ „An meinem Geburtstag?“, fragt Clara kalt, „um den Abend zu ruinieren?“ „Warum bist du böse? Es ist ein Tag wie jeder andere!“ „Für dich vielleicht, ich mag meinen Geburtstag, und das möchte ich auch weiter tun. Es ist besser, wenn du gehst!“ Sandro ist überrascht von ihrer tränenlosen Kälte, sieht sie einen Moment lang schweigend an. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du dich in mich verliebt hast?“, will er schließlich noch wissen. „Weil ich es mir selbst nicht eingestehen wollte – nicht konnte!“, mit diesen Worten schließt sie die Türe und sinkt leise weinend zu Boden. Doch während die Tränen fließen, spürt sie, dass auch Erleichterung langsam einsetzt, ein kleines bisschen.

Clara schläft den Großteil des Tages, lässt ihr Handy auf lautlos. Erst spät liest die junge Frau Sandros Nachricht, ob er dennoch zu ihrer Geburtstagsfeier kommen kann, zumindest kurz, um ihr sein Geburtstagsgeschenk zu überreichen. Doch sie will ihn nicht sehen – sich nicht mit ihm auseinandersetzen, antwortet nur kurz  und schaltet ihr Handy aus.

In den nächsten Wochen zieht sie sich merklich zurück, lässt die Tränen zu – Tränen, die dafür stehen, dass sie nicht zulassen konnte, nicht mutig genug war, zu sich zu stehen. Löscht ihn auf Facebook, als sich sein Beziehungsstatus ändert, räumt die ganze Freundesliste auf – was sie schon lange tun wollte. Doch langsam lässt der Schmerz nach, manchmal in großen Schritten, manchmal kaum merklich. Clara beginnt langsam, sich wieder frei zu fühlen, eine lange verloren geglaubte Motivation findet sie wieder. Mara sieht ihre Freundin wieder lachen, spürt ihre Leichtigkeit zurückkehren.

Nur wenige Monate später sieht sie ihn zufällig, ohne dass ihr Herz in Aufruhr gerät, als er vor einer Bäckerei steht, auf jemanden zu warten scheint. Er bemerkt sie ebenfalls, selbst aus der Distanz erkennt er die Veränderung in ihrer Haltung, es scheint, als wolle er auf sie zugehen, als eine Frau mit zwei Kaffeebechern zu ihm kommt. Ihr Blick verfinstert sich, als sie erkennt, wem sein Blick in diesem Moment gilt. Energisch zieht sie an seinem Arm, doch Sandro zögert, ehe er seinen Blick von Clara abwendet.

Clara fragt sich für einen Moment, ob sie wirklich ein Fehler waren, oder ob sie nur vorläufig in unterschiedliche Richtungen gehen.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 25094

Ein alter Freund

Sarah hätte nicht überraschter sein können, hätte sie ihn nach so vielen Jahren auf der Straße getroffen. Die Nachricht war im Spamordner ihrer Facebook-Mailbox gelandet, weshalb sie diese nicht gleich gelesen hatte. Zwei Jahrzehnte waren vergangen, seit sie sich an einem heißen Nachmittag im Juli kennengelernt hatten; sie war siebzehn gewesen, er einundzwanzig. Jener Sommer, der letzte vor ihrer Matura, war verheißungsvoll gewesen. Alex und sie waren stundenlang mit dem Auto durch die Gegend gefahren, hatten an Seeufern gegrillt, mit Erlaubnis ihrer Mutter sogar gezeltet.

So verging jener unschuldige Sommer wie im Flug, die Zeit rieselte durch ihre Finger wie Sand. Nach intensiven Monaten war schließlich auch ihr letztes Schuljahr vorbei; noch einmal wollte sie ganz frei sein, ehe sie für ihr Studium von Salzburg nach Wien zog. So wie es sein sollte – ein schön gerader, vorgezeichneter Weg. Alex und sie fuhren mit seinem Auto für drei Wochen nach Litauen, auch um ihre Familie zu besuchen, vor allem aber, um das Land ein wenig zu entdecken.

Schließlich wagte er am Ende ihrer Reise, einige Tage vor ihrer Rückfahrt, einen sanften Vorstoß und küsste sie während eines Morgenspazierganges an der Ostsee. Schüchtern erwiderte sie seine Annäherung, ließ sich von ihm führen. Doch sie war ihm dankbar, dass er sie nie zum letzten Schritt drängte, wohl spürend, dass sie noch nicht bereit war. Die nachfolgenden Wochen, bis es schließlich Zeit war, den Zug nach Wien zu nehmen, verflogen rasch; die Bilder jener Wochen verließen Sarah nie. Doch er hatte sie gewarnt, er hatte immer Angst davor, zu bleiben, wenn es ernst wurde; vielleicht wollte er auch deshalb den letzten, körperlichen Schritt nicht gehen.

Es war ein bewölkter, schwüler Montag, als Sarah am Bahnsteig wartete; ihre Mutter und ihr Vater waren mit ihrem Gepäck mit dem Auto gefahren, sie wollte zusammen mit Alex den Zug nehmen. Doch auch kurz vor Abfahrt des Zuges erreichte sie nur seine Mailbox; wenige Tage später nur noch die Ansage, dass unter dem Anschluss kein Teilnehmer bekannt sei.

Sarah war zugegebenermaßen erstaunt darüber, wie sehr sie sich über seine Nachricht freute. Sie telefonierten in den nächsten Wochen viele Male per Video über Whatsapp, lachten viel, sprachen stundenlang über sein Leben in Rom, ihres in Wien, nur nicht über jene Wochen vor zwanzig Jahren. Sie hatten sich beide verändert, natürlich, die Jahre gingen an niemandem spurlos vorbei.
Doch eines schien sich nicht geändert zu haben – er wirkte noch immer rastlos, haltlos. Auch wenn sie keine Erklärung bekam – er deutete an, dass es seit zwanzig Jahren niemanden länger als eine Nacht an seiner Seite gegeben hatte.

Es war ein verregneter, kalter Herbstabend, als sie wieder für ein Telefonat verabredet waren. Doch als Sarah zum Telefon griff, wusste sie schon, dass niemand abheben würde.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 25088

Angsthase adieu

Moderne altmodisch gedacht – treffen sich zwei per Mausklick statt per Kupplerin. Bloß ein paar wenige Sätze in den Bildschirm getippt, und spontan vor dem großen, alten, alles überragenden Dom verabredet.

Die U-Bahn ist voller Nachtschwärmer, Spätschichtler und Exzentriker, entweder noch hellwach oder schon im Halbschlaf, manchmal hochschreckend, in der Hoffnung, die eigene Station noch nicht verpasst zu haben. Seine Stimme – noch immer ein Schauer über ihrem Rücken, wenn sie an das kurze Telefonat denkt. Dann endlich, nach wenigen Stationen, erreicht sie, etwas zu früh, ihr Ziel. Im Stimmengewirr der nachtaktiven Menge wartet sie nervös neben dem alten, schweren, hölzernen Tor des Doms. Ob die Realität das verheißungsvolle Versprechen halten oder brechen wird?

Durch die nächtliche Beleuchtung erhält das alte, pompöse Gebäude eine unheimliche Aura, die Anna, unsere Protagonistin, immer wieder aufs Neue faszinierend findet.

Schließlich sieht sie ihn – Valerio, unser Protagonist, erscheint auf der Bildfläche. Von ihrem Standort aus blickt sie genau auf den Auf- beziehungsweise Abgang zur U-Bahn-Station. Nervös lächelnd kommt sie ihm entgegen – sie sieht aus wie auf ihren Bildern: warme Rundungen, langes Haar, das im Laternenlicht dunkelblond erscheint, ein sanftes Lächeln, unsicher – darf er Beschützer sein?

Die junge Frau weiß sofort, dass sie in seiner Gegenwart sicher ist, ein Blick in seine ruhigen, dunklen Augen genügt. Als er sie umarmt, lässt sie es geschehen, sich von der Vertrautheit einfangen. Die Finger in die des anderen eingehakt schlendern sie durch die nächtlichen, von der Sommerhitze pulsierenden Gassen Wiens. Schließlich führen ihre Schritte sie zum Donaukanal, der unter dem spärlichen Licht der Laternen seines nächtlichen Weges fließt. Die Lichter der umliegenden Lokale und Straßenlichter spiegeln sich auf der sonst, ob der späten Stunde, unsichtbaren Wasseroberfläche.

Sie finden ihren Platz auf der obersten Stufe einer zum Wasser hinabführenden Treppe. Zwei zerkratzte Herzen haben sich gefunden, die Worte überschlagen sich, als sie aus den noch jungen Mündern fließen, bis alles erzählt ist. Und doch halten sie von Zeit zu Zeit schweigend inne, sich fragend, was gerade passiert, woher dieses Vertraute gerade kommt. Die gelegentlichen Ströme vorbeiziehender Nachtschwärmer lassen kurz aufhorchen, innehalten. Bricht der Zauber ob des kurzen Einfalls der restlichen Welt? Doch nichts bricht, nur zwei Köpfe, die sich wieder aneinanderschmiegen, Hände, die sich finden, nacheinander greifen. Die lange Nacht ist kurz, die Stunden schnell vergangen. Als Valerio auf die Uhr blickt, ist es halb vier. Langsam setzt bei beiden die Müdigkeit ein, weshalb sie aufbrechen, noch am Donaukanal entlangspazieren, bis zur nächsten U-Bahn noch einige Umwege nehmend. Die Nacht trägt sie, doch schon bald muss sie dem neuen Tag weichen. „Darf ich dich bis vor deine Haustüre bringen?“, fragt Valerio, „ich möchte nicht, dass du alleine um diese Uhrzeit fahren musst!“ Anna nickt, lächelt – freut sich. Sie küssen sich erneut, wie so oft in den letzten Stunden.

Wenige Tage vergehen, Valerio holt Anna zum ersten Mal von der Arbeit ab. In der Hand hat er einen Strauß Lilien, sich erinnernd, dass sie ihre Lieblingsblumen erwähnt hat. Das Strahlen in ihren Augen freut ihn, doch die abwehrenden Worte, sie hätte diese liebevolle Geste nicht verdient, treffen ihn. Warum ist sie so hart zu sich selbst, anstatt es anzunehmen, die vorhandene Freude überhand nehmen zu lassen? Wochen, Monate vergehen, im Schein zwei sich näherkommender Leben. Valerios Herz klopft jedes Mal vor Freude, wenn er merkt, dass Anna sich ihm öffnet, doch ihr häufiges, nachfolgendes Verschließen trifft ihn umso mehr. Jedes Mal. Manchmal, wenn Anna Valerio beobachtet, reut sie ihre Angst, gleichzeitig fühlt sie, dass auch seine Angst größer wird. Fühlt immer einen kleinen Stich in ihrem Herzen, wenn er von Freundschaft plus spricht und doch so viel Zuneigung zeigt, sie beschützen will.

Es ist ein ungewöhnlich warmer Oktoberabend, als Anna Valerio zufällig sieht – wer wohl die Frau ist, mit der er scheinbar so vertraut ist? Als er Anna entdeckt, zuckt er zusammen, verabschiedet sich rasch und kommt auf sie zu. Zum ersten Mal löst Betretenheit Vertrautheit ab, auch wenn keiner der beiden darüber spricht. Anna lächelt, verabschiedet sich schnell, ehe Valerio viel sagen kann. Schweigend blickt er ihr nach – die Zuneigung zu ihr und die Angst vor Enttäuschung ringen miteinander. Doch zeigt sich, die Angst ist zu vertraut, die Komfortzone zu bequem. Das Herz wird wehmütig, wenn der Wind sich dreht – wenn gefühlt werden soll, was nicht gefühlt werden will.

Der Ton der Nachrichten verändert sich in den nächsten Tagen, der Blick scheint durch sie hindurchzusehen. Anna fühlt sich wieder wie das kleine Mädchen, das nicht gesehen wurde, wenn es seinen Eltern etwas erzählen wollte. Und die Nähe fühlt sich falsch an – Anna wehrt sich sichtlich mehr als sonst.

Es regnet, als Anna und Sarah im Regen von der Arbeit zur nahegelegenen Shopping-Mall hasten. Anna ist müde, hat sich dennoch von ihrer Freundin und Kollegin zu einem Kaffee überreden lassen, ehe sie den Heimweg antreten. Gerade als sie das Einkaufszentrum, in dem sich ihr Lieblingscafé befindet, betreten wollen, fällt Annas Blick auf den eine andere Frau küssenden vertrauten Mann. Er erschrickt, als er hochblickt, so hätte sie es nicht erfahren sollen. Nicht so, nicht hier, am besten gar nicht, denkt er, er wollte keine Tränen. Anna ist regungslos, nur für einen kurzen Moment, ehe sie weitergeht, ohne Valerio und die Frau weiter zu beachten. Unterdrückte Tränen, während in ihr alles schreit und tobt …

Vergiss ihn, sagt der Verstand. Doch das Herz klopft, wehrt sich die Vernunft übertönend. Anna ist schweigsam, abwesend. Sarah fragt nicht nach, hat es mitbekommen, will nicht weiter in der Wunde stochern.

Eine Hand streift Annas Unterarm, als sie das Gebäude verlassen – Valerios Blick ist sehnsuchtsvoll distanziert, er will etwas sagen, sich erklären, um den erwarteten Gefühlsausbruch zu besänftigen. Anna verabschiedet sich von Sarah und sieht Valerio an, ohne sich anmerken zu lassen, dass ihr Herz zu zerspringen droht. Doch die Erklärung ist lahm – es fühlt sich gerade richtig an. Anna schüttelt nur den Kopf, verlässt die Szene wortlos, weil Herz und Verstand die Worte fehlen, sie nichts mehr hören will. Doch das Herz lässt sich nicht leicht trösten, die Intuition nicht überlisten. Die Wochen vergehen wortlos, intensiv. Ein vermissendes Herz, Augen, die Augen in der Menge suchen. Doch die vertrauten Blicke kreuzen sich nicht, bis Anna ihren letzten Arbeitstag hat. Und schließlich das vernichtende Facebook-Update: Valerio ist in einer Beziehung.

Die Monate vergehen, langsam hält der Frühling Einzug, verzaubert die Welt mit seiner unschuldigen Schönheit. Ohne Annas Wissen fragt sich Valerio oft, wie es Anna geht, vermisst das Gefühl, das er hatte, wenn er mit ihr zusammen war. Anna wünscht sich oft, sie wäre mutiger gewesen, hätte seine Zuneigung vorbehaltlos angenommen.

Doch bleibt es am Zufall hängen, den ersten Schritt zu machen, da die beiden es nicht wagen, zum Telefon zu greifen. Es ist ein milder Frühlingsabend, als Anna in die U-Bahn steigt und einem bekannten Gesicht gegenübersteht. Sie lächelt, ohne es bewusst wahrzunehmen – genau wie Valerio. Und dieses Mal flüstern beide: Angsthase adieu …

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 25087

Die Liebenden

Wir waren die Liebenden.
Wir drehten und drehten uns wie ein Hurrikan.
Und die Fliehkräfte zogen uns auseinander,
bis jeder wieder für sich war.

Das Fenster der zwei Liebenden - von ANGELINA BLEIWEIß, KRISTINA HOHENWARTER, BRG VIKTRING - am 19. Juli 2023

Das Fenster der zwei Liebenden – von ANGELINA BLEIWEIß, KRISTINA HOHENWARTER, BRG VIKTRING – am 19. Juli 2023

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 25086

Auszeit

Ihre Begegnung war flüchtig, nahezu beiläufig. Schlicht, unspektakulär, und doch auf einer Seelenebene, die eine ganz besondere Tiefe erspüren lässt. Wie selbstverständlich trafen sie sich, als hätten sie sich verabredet. Um sich noch ein einziges Mal in die Augen zu sehen. Vielleicht ein letztes Mal. Nichts deutete auf eine belanglose Zufälligkeit hin. Vielmehr schien es lange geplant und doch unerwartet, vertraut und doch fremd, verbindend und doch trennend zu sein.

Für einen Moment stand die Zeit still. Als hätte jemand die Zeiger ihrer Armbanduhren festgehalten, um Schicksal zu spielen, während sich ihre Herzen einmal von innen nach außen kehrten und in sonst verborgene Tiefen blicken ließen.

Im Vorbeigehen treffen sich ihre Blicke, die eine Geschichte erzählen, Gelebtes und Ungelebtes preisgeben. Ein Lächeln, noch zurückhaltend. Erstmal abwarten. Prüfen, ob es sich in Vertrautes vortasten, Wärme verbreiten kann. Bewegungen in Zeitlupe. Innehalten. Den Moment einfangen und für immer festhalten. Vertrauten Duft einatmen. Erinnerungen wachrufen. Die vollen Lippen, leicht vorgeschoben, nicht zu viel, gerade richtig. Sinnlichkeit wecken. Der linke Mundwinkel ein kleines Stück höher als der rechte. Sein Gesicht, auch mit den Spuren des Alters, immer noch schön. Falten, die von dem Leben erzählen, das vergangen ist, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen haben. Von zwanzig langen Jahren. Fragen schießen wie Blitze durch ihren Kopf. Träumst du immer noch die gleichen Träume? Welcher Mensch steht dir so nah, dass er dich verletzen darf? Wie sehen deine Kinder aus? Was bewegt dich? Denkst du manchmal noch an uns?

Dann fliegen ihre Gedanken in diese längst vergangene Zeit, die – in ein schwarzweißes Gewand gehüllt – vor ihr steht, unverfroren anklopft, um ihr noch einmal einen kurzen Besuch abzustatten. Sie möchte eindringlich daran erinnern, dass es noch etwas gibt, das erst zur Ruhe kommt, wenn es noch einmal Beachtung findet, um mit Haut und Haar durchdrungen zu werden. Bis es sich kompromisslos einfügt, aufhört zu strampeln, in Freiheit losgelassen und ein akzeptierter Teil ihrer ganz persönlichen Geschichte werden kann.

Schlagartig wurde ihr die Dringlichkeit, den Finger in ihre tiefste Wunde legen zu müssen, bewusst. Den Schmerz noch einmal auszuhalten, ihm direkt in die Augen zu sehen, um ihn zu besänftigen. Damit sie die Zügel in der Hand halten konnte, nicht er, und endlich ihren Frieden finden würde.

Es war eine besondere Liebe, die sie damals verband. Sie kam nicht urplötzlich aus dem Nichts, um mit Macht einzuschlagen und dann monatelang den Verstand zu rauben. Vielmehr loderte ihr Feuer auf kleiner Flamme, dafür beständig, verlässlich und in einem kräftigen Rotorange, das ein solides Fundament formte und bis in die Wurzeln wärmte.

Sie kannten sich aus Kindheitstagen, und ihre Liebe war von Anfang an ganz selbstverständlich da. Stark und unanfechtbar hüllte sie ein, schützte, versicherte und schweißte nah und vertraut zusammen. Sie war Gesetz. Man musste nicht viele Worte davon machen. Sie verströmte ihren ureigenen Duft, der sie auf mystische Weise heiligsprach und unverwundbar machte. Ein Geschenk des Lebens.

Vielleicht hatten sie diese Kostbarkeit verkannt, waren zu gleichgültig und unachtsam mit ihrem wertvollen Schatz umgegangen. Hatten der Selbstverständlichkeit, die nach und nach den Glanz raubte, immer den Vortritt gelassen. Vielleicht waren sie zu jung, zu ausgehungert für eine Liebe in dieser Schlichtheit und Eleganz. Denn es kam der Tag, an dem sich das Band zwischen ihnen lockerte, weil es eine andere Beschaffenheit annahm. Jeder hatte eigene Pläne und spürte auf eine selbstbezogene, kompromisslose Art die Lust auf das Leben. Sie breitete sich aus, im Bauch, im Herzen, strömte unaufhaltsam in jede Faser und ließ unbändige Kräfte wachsen, bis das Band zwischen ihnen dünn und porös wurde, weil jeder mit Macht in eine andere Richtung zog.

So trennten sich ein erstes Mal ihre Wege. Auch wenn es schmerzte, war es notwendig. Es war wie ein innerer Ruf, dem ungefragt Folge zu leisten war und der kein Zögern zuließ. Vielleicht war ihre Liebe zu alltäglich für diesen Schritt in die Mitte des Farbkreises, auf der Suche nach sich selbst und nach seinen eigenen Grenzen. Bereit, Kostbarkeiten leichtfertig aufzugeben für einen Sprung in ein Blütenmeer, um mit allen Sinnen zu entdecken und aufzusaugen, was Leben ist. Abenteuerlich hochschießende Flammen wurden interessanter als kleinere, in Beständigkeit flackernde.

Sie hatten sich nichts vorzuwerfen. Denn nur wer sich von der Fülle betören lässt, hat wieder ein Auge für das Gänseblümchen am Wegesrand, das gerade durch seine Schlichtheit berührt und mit seiner Blüte auch für längere Zeit Freude schenkt. Was ist daran falsch, der eigenen Stimme zu folgen? Zu experimentieren, zu kosten, zu genießen und nach drei Schritten voran auch mal wieder vier Schritte zurückzugehen? Das ist Leben! Und wie tragisch wäre es doch, am Ende dazustehen und sich eingestehen zu müssen, dass die Suppe zu fad schmeckt, weil nicht die gesamte Palette des Gewürzspektrums zum Einsatz kam.

Nun, sie hatten beides. Jeder ging seinen eigenen Weg, der ihnen eine Gewürzvielfalt bot, und suchte gleichzeitig die urvertraute Nähe, die in dem jeweils anderen zu finden war. Sicherheit und Altbewährtes wirkten ausgleichend zum unvorhersehbar unruhigen Wellengang.

Es war wie ein unaufhaltsamer Sog, der sie immer wieder zusammenführte. Anfangs in Form von Briefen. Unverfängliche, formelle Geburtstagsgrüße oder Urlaubskarten, die zeigten, dass man immer noch an den anderen dachte. Kurz, aber regelmäßig bemühten sie sich damit um das Wahren einer Freundschaft, die durch die Entfernung wieder mehr Wertschätzung und Qualität erfuhr. Die Frequenz dieser schriftlichen Kontakte wurde mit der Zeit dichter, der Inhalt immer intimer. Sie begannen, sich ihre Sorgen und Nöte mitzuteilen, sodass ihre Briefe schon bald zu einem verlässlichen Rettungsanker heranreiften, den man herbeisehnte, brauchte, wie die Luft zum Atmen, und ohne den man eines Tages nicht mehr sein wollte. Sie behüteten ihn, wie einen kostbaren Schatz, pflegten und schätzten ihn. Und die Distanz wickelte ihn in ein Papier von besonderem Glanz, das auf eine unerschütterliche Weise seine Unfehlbarkeit unterstrich.

Die Treffen, die den Briefen folgten, waren eine selbstverständliche Weiterführung ihrer Beziehung, eine unscheinbare Steigerung an Intensität, die es nicht zu hinterfragen galt. Sie waren der nächste Schritt in eine richtige Richtung, die natürlicherweise Sinn ergab. Im Nachhinein betrachtet, lief es sogar von Anfang an darauf hinaus, und es schien, als dienten all die zaghaft formulierten Zeilen einzig und allein dazu, eine neue Ebene der Berührung und des Gesprächs von Angesicht zu Angesicht Realität werden zu lassen.

Von nun an trafen sie sich in jedem Sommer. Es war wie ein regelmäßig wiederkehrender Urlaub am gleichen Ort, den man in- und auswendig kannte und gewohnheitsgemäß jedes Jahr wieder aufsuchte, weil man sich auf genau das freute, was einen dort erwartete. Den Salat Nizza in der Pizzeria am Kirchplatz mit genau dem Dressing, das man lieben gelernt hatte und wonach sich die sensibilisierten Geschmackszellen seit Wochen so sehr sehnten. Alle Details hatten sich in die Sinne gebrannt und wollten wieder belebt werden. Die stumpfe Gewohnheit schien in ihnen eine ungeahnte Quelle an Lebendigkeit zum Sprudeln zu bringen, die einen ganzen Schwarm Schmetterlinge in ein aufgeregtes Flattern versetzen konnte, was ein unbändiges Glücksgefühl verströmte.

Jedes Jahr zur gleichen Zeit lebten sie eine Auszeit von ihrem Leben, das sie bis zum Anschlag überreizte, forderte und jegliches Fühlen in ihnen lahmlegte. Sie ließen die Zeit stillstehen, genossen Momente der Ruhe und Muße, während sie in einer schillernd bunten Seifenblase innig beisammen waren, redeten, schwiegen, liebten und lebten. Körper und Seele wurden reingewaschen von allen Belastungen, die Zellen erneuert und Grenzen im Denken und Fühlen aufgehoben. Es war wie ein Paradies, in dem das Gänseblümchen durch eine Vielzahl anderer Blütenschönheiten seine höchste Stufe der Veredelung erfuhr.

Ein zeitlich befristetes Paradies jedoch, von dem man sich jedes Mal, wenn der Sommer sein Ende fand, wieder verabschieden musste. Doch überraschenderweise war es niemals mit Schmerz verbunden. Vielleicht mit einer kleinen Prise Wehmut, die aber durch ihre Schnelllebigkeit kaum Gewicht erhielt. Denn schon nach kurzer Zeit hatte sich in vielerlei Hinsicht ein gewisser Grad an Sättigung eingestellt. Man war ausgefüllt mit Glück, hatte genug Ruhe und Zweisamkeit getankt, den Blick wieder für das Wesentliche geschärft und war bereit für einen neuen Farbanstrich. Es erinnerte an eine reife Frucht, die dankbar darüber war, endlich gepflückt zu werden, bevor sie schonungslos vom Baum fiel, um aufzuplatzen und dann keine Beachtung mehr zu finden. Und die Schmetterlinge fielen wieder in einen Dornröschenschlaf.

Ihr Abschied voneinander verlief in den meisten Fällen wortlos und karg. Wie ein zu kurz geratener Haarschnitt. Eine schnelle Umarmung, eine flüchtige Berührung, während die Körper bereits halb abgewandt waren. In ihren Augen formten sich schon die Bilder dessen, was sie in ihrem für kurze Zeit auf Standby geschalteten Leben erwartete. Das puristische Verabschiedungsritual stand in keinem Verhältnis zu ihrem lebendig symbiotischen Beisammensein der vorausgegangenen Wochen. Fast vermittelte es den Eindruck, als wollten sie voreinander fliehen, um sich voller Freude und Lust dem Kontrastprogramm auf dem anderen Kanal zuzuwenden. Als müssten sie sich gewaltsam und möglichst unbeschadet aus ihrer gegenseitigen Anziehung befreien, sich wegreißen von dem, was vor einer Sekunde noch als eine lebenserhaltende Maßnahme definiert war. Weil es außerhalb der Seifenblase plötzlich an Bedeutung verlor. Oder aber, weil es gerade dort erst bedeutungsvoll wurde, mehr als sie es sich eingestehen wollten. Und mehr als sie in dieser Episode, die das Leben für sie schrieb, zulassen konnten, weil es alles auf links gekrempelt hätte, was so wunderbar perfekt und schnörkellos eingerichtet war.

So hätte es problemlos weitergehen können, noch viele lange Sommer. Jedes Jahr zur gleichen Zeit die Repeat-Taste drücken und immer wieder das gleiche Programm abspulen lassen. Doch ein unvorhersehbares, einschneidendes Ereignis beendete ihre traumhaften Auszeiten abrupt, noch bevor Ermüdung oder Abnutzung die Chance bekommen hatten, sich auf leisen Sohlen zur Tür hereinzuschleichen.

Das Schicksal zeigte kein Erbarmen und schlug ihnen mit geballter Faust mitten ins Gesicht. Ein ungeborenes Kind zu verlieren, zählt wohl zu den härtesten Prüfungen im Leben einer Frau. Manch eine zerbricht daran. Geburt und Tod – die entscheidenden Momente des Lebens – geschehen gleichzeitig. Das Herz zerreißt, der Körper rebelliert, schmerzt und versteht nicht, was da passiert. Jede Zelle trauert und will nicht loslassen. Die eigene, bisher unbekannte Angst vor dem Sterben erscheint zum Greifen nah.

Sie fühlte, wie ein Teil von ihr mitstarb und für immer fortging. Sie war bereit, auch den anderen Teil zu geben, für einen einzigen, kostbaren Moment mit ihrem Kind. Die unstillbare Sehnsucht danach, es in ihren Armen zu wiegen, zerfraß ihre Sinne und raubte ihr den Verstand. Die Leere in ihrem Bauch war unerträglich. Sie wollte niemandem begegnen, der über Alltägliches berichtete. Sie wollte ungestört sein mit ihren Gedanken an ihr Kind. Manchmal verhielt sie sich so, als wäre es noch in ihrem Bauch. Das Herz konnte nicht folgen und wurde vom Verstand im Stich gelassen.

Sie war allein mit ihrer Trauer, denn er hatte Aufgaben und Pflichten, musste seine Rolle spielen in dem Film fernab ihrer gemeinsamen Zeit. Sie vermisste es, von ihm gehalten zu sein. Allein eine Berührung hätte genügt, um in diesen bitteren Stunden ein wenig Trost zu spenden. Sie sehnte sich danach, gemeinsam zu trauern, dem schrecklichen Schmerz den Raum zu geben, der ihm gebührte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so verletzbar und schutzlos gefühlt und so unverstanden vom Rest der Welt.

Doch sie musste akzeptieren, dass die Trauer ihre Wege trennte. So nah sie ihr Kind noch vor einiger Zeit zusammengebracht hatte, so weit entfernt fühlte sie sich jetzt. Sie war allein mit ihren unberechenbaren Gefühlsschwankungen, Ängsten und Zweifeln, die dieser riesengroße Verlust in ihr auslöste. Mit Macht überfiel sie eine unbändige Einsamkeit, und ihr trauerndes Herz schlotterte.

Viel Zeit musste ins Land gehen, bis sie begriff, dass ihr nichts anderes übrig blieb. Ein weiteres Mal trennten sich ihre Wege, und sie wusste, dass es endgültig war, auch wenn ihr Herz noch damit haderte. Doch das Erlebte hatte über ihre gemeinsame Zeit einen dunklen Schatten geworfen, der sich auch in ihrer Seele spiegelte und Tag für Tag wie ein schwerer Stein auf ihr lastete. Auch wenn sie längst eine andere geworden war. Sie war einer schweren Aufgabe er-wachsen, und die Flügelschläge wurden allmählich leichter. Mehr als jemals zuvor war sie imstande, sich auf sich selbst zu besinnen, an sich zu glauben und aus sich heraus Kraft zu schöpfen. Die harte Arbeit aus der Krise heraus leitete noch weitere Umbrüche ein. Sie war im Fluss und wurde vom Leben getragen, was ihr genug Vertrauen schenkte, um wieder hoffnungsvoll in die Zukunft blicken zu können.

Dann prallten sie aufeinander, diese verschiedenen Leben, um endlich heil und ganz zu werden. Sie waren es müde, so zu tun, als gäbe es den anderen nicht; gehörten sie doch beide konkurrenzlos in den Fluss des Lebens.

Sie hatte die Wahl, stehen zu bleiben, um ihm stundenlang ihre Geschichten zu erzählen, die einen Band in ihrer gemeinsamen Buchreihe des Lebens gefüllt hätten. An das gemeinsame Stück Weg anzuknüpfen, eine Brücke zu bauen hin zu vertrauter Nähe, nach all der Zeit. Ausbaufähig. Doch wozu? Ihre Geschichte war abgelebt. Eine Fortsetzung gab es nicht. Es wäre ein hilfloser Versuch gewesen, die verstrichenen Jahre außer Acht zu lassen, so zu tun, als hätte es danach nichts mehr gegeben.

Tiefe Traurigkeit beschlich schlagartig ihr Herz. Weil sich die Uhr nun mal nicht zurückdrehen lässt. Selbst damals hatte sie nicht so sehr damit gehadert wie in diesem Moment. „Schau! Ich möchte dir meinen größten Lebensschatz vorstellen. Das Beste, das ich jemals vollbracht habe“, wollte sie sagen, als ihr Blick zu ihren beiden Kindern wanderte, die fünf Meter entfernt mit seinem kleinen Hund spielten. „Es könnten unsere sein“, hätte sie dann noch angefügt, in der Hoffnung, dass sie der Klang ihrer Stimmen einander näherbringen würde.

Doch die höhere Macht, die Schicksal spielte, ließ die Zeiger ihrer Armbanduhren los, und die Zeit lief unaufhaltsam weiter. Erbarmungslos. So beließen sie es dabei, nur ihre Herzen sprechen zu lassen, und bemerkten erstaunt das feine, dünne Band, das immer noch zwischen ihnen bestand. Wahrscheinlich über das Leben hinaus.

Dann ging ein jeder seines Weges, ohne sich noch einmal umzudrehen. Darüber staunend, welche Tiefen des Herzens auch eine längst zu Ende gelebte Liebe spüren lassen kann, wenn der Moment dafür gekommen ist. Doch die Weggabelung, vor der sie einst standen, lag längst hinter ihnen. Damals hatte sie sich für einen eigenen Weg entschieden. Ohne ihn. Und zum ersten Mal konnte sie sich, ohne innerlich zerrissen zu sein, eingestehen, dass es gut war.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 25079

 

Schneewittchen

Nicht du hast sie verlassen,
sondern sie dich, stimmt’s?
Du wirst sie nur noch von hinten sehen,
und das mit ihrem neuen Freund,
der viel größer ist als du und tausendmal reicher,
wie bei Schneewittchen und den sieben Zwergen.
Sie ist zwar nicht Schneewittchen, doch du bist ein Zwerg.

Das Gemälde von Schneewittchen und den sieben Zwergen um 120,-

Das Gemälde von Schneewittchen und den sieben Zwergen um 120,-

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 25058