Dienst nach Vorschrift oder Die Geschichte der „Os“

Ausgesprochen nervös schien sie zu sein, aber das konnte nur er bemerken, weil er sie sehr gut beobachtet hatte in all den Jahren, seit sie seine Vorgesetzte geworden war. Ihr Businessanzug saß perfekt, das helle Haar war hochgesteckt und untadelig frisiert worden, darauf achtete sie immer. Eine Abweichung in dieser Hinsicht hätte Alarmstufe rot bedeutet. So aber konnte er aus ihren fahrigen Handbewegungen und der hektischen Art, das nun zu Erledigende zu erklären, schließen, dass die Ampel für sie wohl bereits kurz davor, auf Dunkelorange, stand.

Es war in seinem Verantwortungsbereich schon länger gemunkelt worden, dass die Finanzprüfung, die sie in Kürze zu durchlaufen haben würden, nun besonders gründlich vorgenommen werden würde, von ihnen unbekannten Personen diesmal, und dass die Geschäfte mit einer bestimmten osteuropäischen Einrichtung wohl besser ungeprüft bleiben sollten. Irgendjemand hatte Insiderinformationen zugespielt bekommen, die Spekulationen blühten.
Ihm war es recht, wenn alles vage blieb und er sich nicht äußern musste. Wozu hatte er denn beim Aufstieg auf der Karriereleiter zurückhaltend agiert, anderen den Vortritt gelassen und sich selten explizit geäußert? Er hatte gewusst, warum. Dass das dicke Ende irgendwann kommen musste, war ihm klar. Ihr, seiner Chefin, war das offensichtlich erst in den letzten Tagen zur Gänze bewusst geworden.

So stand sie nun vor ihm und erläuterte kurz, dass jene Dokumente vom Frühjahr, die mit einem „O“ versehen seien, gesondert behandelt und auf keinen Fall so wie die anderen einfach an die Prüfer weitergegeben werden sollten. Vielmehr sollten die „Os“, wie sie diese Dokumente nannte,  unwiederbringlich verschwinden. Unleserlich gemacht werden für alle Zeiten. Sonst käme das die Firma teuer zu stehen, und einzelne Personen desgleichen. Ob er das verstanden habe?

Und wie er verstanden hatte. Sie war schön, wenn sie aufgeregt war. Er hatte sie immer begehrt. Vielleicht noch mehr, seit er einen unmissverständlichen Korb von ihr bekommen hatte, damals, zu Beginn ihres Aufstiegs. Sein Kollege hatte mehr Glück gehabt als er, der konnte sich zumindest ein paar Monate ihrer Gunst erfreuen. Soweit er wusste, war danach niemand mehr in den Genuss gekommen, zumindest keiner aus der Firma.
Allerdings hätte es wirklich nicht sein müssen, dass sie seine per E-Mail erfolgte Essenseinladung vor allen anderen Anwesenden ausgeschlagen hatte, das war kränkend für ihn gewesen. War ihr das nie klar geworden? Zumindest hätte sie danach ein bisschen freundlicher sein können.
Und selbst jetzt, wo er der Einzige war, den sie ins Vertrauen zog bei diesem wichtigen Unterfangen, bemühte sie sich nicht gerade um ausgesuchte Höflichkeit.
Egal, er würde seinen Job schon erledigen, das hatte er immer getan. Und das sagte er ihr auch.
Sie erwiderte nur kurz, das sei gut so, sie hätte mit der Löschung der elektronischen Daten wahrlich mehr als genug am Hals. Und Abgang.

Kurz darauf ging er ans Werk, schleppte, nachdem die anderen alle gegangen waren, die Stapel mit den Ausdrucken des fraglichen Zeitraums auf seinen Schreibtisch, sortierte gewissenhaft nach „O“-Dokumenten und normalen, bis er zwei schöne Stapel hatte, der „O“-Stoß etwa halb so hoch wie der andere. Die anderen legte er beiseite, dann nahm er sich die „Os“ vor.

Der Prüfer fand zwei Wochen später auf seinem Schreibtisch jede Menge Material vor. Das hatte er schon vorhergesehen und daher die Tage davor Platz geschaffen. Er freute sich auf diesen Fall.
Was immer diese Firma zu verbergen hatte, er würde sich auf dessen Spur begeben. Und dass da etwas war, was er nicht sehen sollte, davon ging er aus.
Nach einem Vormittag emsigen Sichtens und Systematisierens lachte der Prüfer plötzlich laut auf.
In Händen hielt er ein Dokument, auf dem offensichtlich geschwärzt worden war, eine kleine Stelle rechts oben war so unleserlich gemacht worden. Abgesehen davon, dass so etwas jeden Prüfer stutzig machen würde, war ihm sofort klar, worauf er da bereits nach dieser kurzen Sichtung gestoßen war.
Den Rest des Tages suchte er einfach diejenigen Blätter heraus, die Schwärzungen zeigten, und der Fall war gelöst. Fast war er ein bisschen enttäuscht, dass ihm die allermeiste Arbeit bereits abgenommen worden war.
Irgendjemand hatte es ihm da verdammt einfach gemacht.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 15029

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