Am Weg

Die zufällige Anordnung der Songs und Tondokumente raubte ihr den letzten Nerv. Wer immer diese Shuffle-Funktion erfunden hatte, er hatte die Höchststrafe verdient. Und diese war klarerweise das stundenlange Anhören dieser niederträchtigen Mischung aus (wenn auch gutem) Heavy Metal, Spanischlektionen, Gedichtrezitationen und dazwischen schon mal dem einen oder anderen ausgelutschten Popsong aus den Neunzigern.
Auch das gemeinsame eifrigste Mitsingen bei Letzteren half nichts: Es war und blieb ein völlig anödendes Ausharren in dieser Mistkarre, die sie von A nach B bringen sollte, wobei das B hoffentlich einladender sein würde als das nun eiligst zu verlassende A.
Aushalten, durchhalten, bis zum Anhalten an sich halten mit Ausfällen aller Art. Der Fahrer des Kleinlieferwagens bestach nicht nur durch die Vielfalt seiner MP3-Inhalte, sondern auch durch beharrliches Schweigen, um ebendiesen Hörgenuss nicht zu gefährden. Ihr Versuch eines Gesprächsbeginns wurde unterbunden, gleich am Anfang, und dann traute sie sich auch nicht mehr.
Als er, der Karl hieß, schließlich nach zwei oder drei Stunden begann, ein One-Hit-Wonder - nicht gänzlich unmusikalisch übrigens - durch Mitsummen zu unterstützen und schließlich lauthals bei dessen Refrain mitzusingen,  witterte sie ihre einzige Chance, auf dieser mehrstündigen Fahrt endlich auch einmal den Mund aufmachen zu dürfen. Sie stimmte also ein, es harmonierte nicht gerade bestens, und falls dieses Duo jemals eine Chance auf Erfolg haben sollte, so war diese damals jedenfalls noch nicht abzusehen.

So fuhren sie in die Nacht, die düster war. Dunkelheit auch in Elviras Herz und Hirn. Sie war niemals zuvor so unsicher gewesen, was sie erwarten würde. Der freundliche Idiot neben ihr kostete sie keine enervierenden Gedanken, der tat, was getan werden musste: Er fuhr, und das nicht schlecht. Kein einziges Mal hatte sie sich bisher gefürchtet, und das sollte etwas heißen, denn sie war ängstlich, um nicht zu sagen überängstlich, was den Straßenverkehr und seine Tücken betraf. Der Mann fuhr routiniert, er schien auch nicht müde zu werden, und falls doch, gab es ja da diesen Lautstärkeregler, der noch lange nicht ausgereizt war. Und die nächste Metal-Nummer kam bestimmt.

Sie hatte nicht ahnen können, dass sie, nach nur drei Monaten an Ort A, diesen mit Grausen vor ihr selbst und dem, was sie sich hatte antun lassen, verlassen würde, fluchtartig und mit einem schalen Geschmack im Mund, der ihr signalisierte: wieder nicht rechtzeitig gewehrt, neuerlich zu viel mit sich geschehen haben lassen, Ja signalisiert statt Nein! geschrien, die Hände hinter dem Rücken zu Fäusten geballt, nach vorne hin gelächelt, das falsche Lächeln, das sie selbst aufs Gröbste schwächende, das sie längst hatte ablegen wollen. So einfach war das alles nicht. Alte Gewohnheiten, die lauerten überall. Beim Einstellungsgespräch, wo ungehörige Fragen gestellt und leider auch von ihr beantwortet wurden (Kinderwunsch? Natürlich nicht…); bei der Vermieterin der supergünstigen Wohnung, die nur „inländische und saubere Bewohner“ haben wollte; bei der durch die Mitfahrbörse vermittelten Fahrerin, die immer nur gestichelt und gewitzelt hatte über Elviras Ambitionen (aber die Mitfahrgelegenheit war eben günstig…). Elvira schien es, als sei die Liste endlos. Und so wurde Elvira im Laufe der Zeit immer kleiner und dünner, fast unsichtbar, und jedes Ja kostete sie das nächste Nein, als ob sie ein Guthaben aufbrauchen würde, die Widerstandskraft schwand völlig und so war sie an Bert geraten, in diesem geschwächten Zustand, allein und ohne Verbündete in A, so konnte er das nutzen, zu seinen Gunsten, was sonst.

Nun war sie also auf der Flucht aus A, vor Bert, dem Mann ihrer Träume, im Auto mit Karl, und wusste nur, sie wollte nach B. In B sollte alles anders werden. Sie wollte stark sein, für sich einstehen, nichts und niemandem zustimmen, das oder der ihr zuwider war. Was für ein Leben! Ein freies, ein selbstbestimmtes Leben würde es sein, nicht mehr gelenkt durch den Willen anderer, solcher, die sie zwangen, sich zu verbiegen. Nein, nicht einmal zwangen, die es einfach als gegeben hinnahmen, dass sie sich beugen würde. Und wie recht sie hatten. Aber nicht in B. Ein Ortswechsel, das war der Anfang. Und dann ein neuer Job. Ein neuer Mann eher nicht, noch nicht. Für so etwas musste man stark genug sein, gefestigt, um sich diesen Versuchungen nicht gleich wieder auszusetzen. Ach, was war eine starke Schulter für eine Verlockung für eine unsichere Frau. Unglaublich, aber wahr.

Elvira hatte genug Zeit, vor sich hin zu grübeln. Die Musikquälerei ließ sich ganz gut ausblenden, nach der langen Fahrt. Vielleicht hätte sie doch den Zug nehmen sollen. Aber dann wäre ihr Hab und Gut alleine unterwegs nach B, und den Fahrer, den Karl, den kannte sie ja kaum. Was, wenn er ihr Zeug einfach irgendwo abstellte, um es später einem windigen Dealer zum Verkauf anzubieten? Obwohl, Tante Erikas Tassen und Onkel Edwins Ohrensessel, naja, ein richtig gutes Geschäft wäre es wohl ohnehin nicht geworden. Sei es wie es sei, sie war eben jetzt am Weg. Warum nach B?

In B, wurde ihr gesagt, sei alles anders. Da hätten die Einwohner ein neues Modell entwickelt, ein Dorf, in dem alles geteilt würde, vom Einkommen angefangen bis zu den Häusern, der anfallenden Arbeit, den Kindern. Ackerbau, Viehzucht, Wald- und Wiesenpflege sowie Wildhege gehörten zur Ausbildung der Neuankömmlinge. Darauf aufbauend Koch-, Näh- und Schusterkurse für jedermann und kreative Betätigung beim Dekorieren der Häuser, innen und außen, und bei Bedarf spirituelle Führung durch jene, die in dieser Materie (oder war es Nicht-Materie?) schon weit vorangeschritten waren. Wer darüber hinaus auswärts tätig sein wollte, im Sinne von Erwerbsarbeit, wurde ermutigt, und wer in der dörflichen Gruppe bleiben mochte, war ebenso willkommen.

So stellte sie sich das Leben vor. Entscheidungsfreiheit. Keine Arbeitgeber, die alles ausreizten, was zu holen war, keine Immobilienbesitzer, die sie zu ebenjenem Frondienst bei den Blutsaugern zwangen, keine Kreditgeber, die pressten und quetschten, was möglich war, und selbst das noch, was eigentlich schon längst nicht mehr mach- und leistbar war.
Man könnte es sicher auch Flucht nennen, was sie hier angetreten hatte. Aber es war eher ein Befreiungsschlag. Und nicht Bert, dem ja nicht einmal bewusst gewesen war, was er da angerichtet hatte, wollte sie davonfahren, sondern ihr selbst, der Elvira der Vergangenheit, und ihrer Vernetzung in den unglaublichen Abhängigkeiten, die A für sie bereitgehalten hatte.

Elvira erschrak, als Karl plötzlich die Regler runterdrehte und sich räusperte. Er schlug eine Pause vor, sei müde geworden. Dass sie sich mitten in einem Waldstück befanden, befremdete Elvira etwas. Wo wollte er hier rasten? Sie hätte sich eher eine Raststation ausgesucht, oder ein Gasthaus am Weg, aber er wollte ein Nickerchen machen, dazu war der kaum erleuchtete Straßenabschnitt wohl die beste Wahl. Da hatte er schon recht, der Karl. Elvira überlegte gerade, ob das schon zu ihrer neuen Entscheidungsfreiheit gehören sollte, hier zu protestieren, überlegte es sich aber anders. Karl parkte am Straßenrand, da war eine Ausweichstelle, so schmal war die Fahrbahn hier.

Er drehte an seinem Fahrersitz herum, um ihn in eine angenehme Schlafposition zu bringen, Elvira überlegte, wie sie die Pause sinnvoll nutzen könnte, an Schlaf war nicht zu denken, denn Karl wollte seine MP3-Files weiterhören, das brauche er zum Dösen. Eigenartig, dass das, was zum Fahren und Wachsein gut sein sollte, auch dem Gegenteil, der Entspannung, dienen konnte. Anscheinend machte da die Lautstärke den gravierenden Unterschied, denn er stellte nochmals etwas leiser, just als Klaus Kinski anhob, das schöne Villon-Gedicht mit dem Erdbeermund auf seine völlig unnachahmliche Art zu rezitieren.
Elvira erstarrte. Die Shuffle-Funktion hatte ihr dieses Meisterwerk bisher vorenthalten, es war neu für sie und doch eindeutig nicht. Es gehörte der alten Elvira an, das Erinnern an die letzte Situation, in der sie es gehört hatte. Bert war es gewesen, der das Gedicht ganz bewusst ausgewählt hatte. In dem besonderen Moment, bevor er um ihre Hand angehalten, ihr die Sterne vom Himmel und dazu passend den Himmel auf Erden versprochen hatte. Wie gerne hätte sie ja gesagt, zur Ehre Kinskis, zu der Aussicht auf Berts gemeinsamen Himmel für alle Zeiten. Allein, es war zu viel. Sie konnte nicht, nicht das letzte Bisschen, das von ihr noch übrig war, an Bert verschenken, für immer. Lieber weg. Ganz woanders hin. Nach B.

Der Karl, natürlich, der hatte keine Ahnung von der Vorgeschichte, die Elvira gerade bewegte, Elvira, die sich ja eigentlich von A hatte entfernen wollen und nun zumindest geistig wieder genau dort gelandet war, wo der Ausgangspunkt zu finden war. Karl nahm ihre Unruhe wahr und interpretierte sie falsch. Er dachte, Elvira hätte das Gedicht inspiriert, sich ihm anzunähern, und er wollte ihr den Weg etwas verkürzen, indem er ein Stückchen nach rechts in ihre Richtung rutschte, mit einem wohligen Seufzer, der sie ermuntern sollte. Elvira bemerkte die Zeichen, hörte die Einladung, sah sein Becken sich ihr entgegenrecken, und sie erstarkte. Das war es, was sie gewollt hatte. Sie wusste es nun. Keine Heirat. Keine gemeinsame Eigentumswohnung. Keinen immerergebenen, angetrauten Bert. Einen einladenden Kleinlastkraftwagenfahrer, der nichts von ihr wollte als ihren Erdbeermund. Wie wunderbar einfach doch das Leben sein konnte. Vielleicht blieb er ja dann auch noch ein bisschen, der Karl, mit ihr, in B.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15089

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert