Schlagwort-Archiv: ärgstens

image_print

Die Schwertschluckerin vom Kapuziner-Boulevard - Teil II

Halt! Kennen Sie schon Teil 1 dieser Geschichte?

Es geschah im Spätwinter. Sie war erst vierzehn. Unausgeschlafen trottete sie durch die grauen Straßen. Das Einzige, was sie wahrgenommen hatte, waren ihre trüben Gedanken und Ängste vor der kommenden Nacht. Und vielen darauf folgenden. Plötzlich war ihre Abwesenheit durch eine schrille Stimme durchdrungen worden. Ihre erwachte Aufmerksamkeit lenkte sich auf eine Menschenmenge auf dem Marktplatz vor zwei Pferdefuhrwerken, die mit khakifarbenen Abdeckhauben versehen waren und ziemlich ärmlich wirkten. Die Stimme schien aus der Mitte der Versammlung zu erklingen. Sie folgte ihr sofort, denn sie hatte etwas Verheißungsvolles an sich. Während sie sich durch die Masse an Körpern drängte – wobei sie jede Menge spöttische und sogar hasserfüllte Bemerkungen erntete –, hörte sie den Wörtern des noch unsichtbaren Sprechenden zu:
„... etwas noch nie Gesehenes und Erlebtes. Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen versprochen, Ihre kostbare Zeit nicht zu vergeuden, und ich halte stets mein Wort.“ Da räusperte er sich. Nach viel Ellbogenarbeit gelangte Jeanne endlich zu der ersten Reihe und konnte sein pausbäckiges Gesicht mit den vor Kälte roten Wangen sehen.
„Hier und jetzt werden Sie Zeugen von den unglaublichen Fähigkeiten faszinierender Individuen, die in der Lage sind, fantastische, unbeschreibliche Handlungen durchzuführen.“

Jeanne war von der Art seiner Ausdrücke gefesselt. Sie war sich sicher, dass gleich etwas auf sie zukam, was ihren Lebensverlauf ändern würde. Sie wusste bloß noch nicht, inwiefern.
Da kamen sie zum Vorschein. Einer nach dem anderen traten sie aus dem vorderen Fuhrwerk hervor: ein schnurrbärtiger Mann, der dicke Ketten mit der bloßen Kraft seiner massiven Oberarm- und Brustmuskeln zerriss. Eine übernatürlich biegsame Frau, die bäuchlings liegend, mit ihren zierlichen Füßen einen roten Ball in den Nacken legen konnte. Und zuletzt ein Schwertschlucker, der erst einen Dolch und dann einen langen Degen in seiner Kehle verschwinden ließ, sodass nur noch der elfenbeinerne Griff aus seinem Mund hochragte. Indes hing sein Pferdeschwanz gerade herunter, als sei er zu der nun unsichtbaren Klinge geworden.

Der Sprecher, der allem Anschein nach auch der Patron der Truppe war, trat mit seinem kugelförmigen Körper wieder vor und bat ergebenst um Spenden, damit ihre Gruppe weiterbestehen könne. Die Artisten hatten sich aufgereiht und verbeugten sich mehrmals vor dem Publikum. Jeanne war begeistert, während die Menge nur wenige Centimes entbehrte und sich zusehends auflöste. Die Münzen prallten auf das Pflaster und erzeugten dabei ein leises Klirren, das von dem erneut entstandenen Stimmengewirr des Marktplatzes verschluckt wurde. Alle gingen weiter ihren Obliegenheiten nach und die magische Vorstellung war sofort vergessen. Die Künstler schienen nicht besonders enttäuscht zu sein. Es war eindeutig nicht das erste Mal, dass sie so ungeschätzt blieben. Was sie aber nicht ahnen konnten, war, dass sie ein junges Mädchen von einer düsteren Zukunft erlöst und ihm Hoffnung gegeben hatten.
Ohne eine Notiz von ihr genommen zu haben, verschwanden sie in demselben Gefährt.

Jeanne ging beiseite, setzte sich auf eine steinerne Treppenstufe der Kirche und wartete. Es war sehr kalt. Ihr Atem, eine winzige Wolke, stieg empor. Sie schlug die Arme um ihren Oberkörper, um sich zu wärmen, und drückte ihre bebenden Beine fest zusammen. Es half nichts. Sie musste aushalten.
Irgendwann wird es wieder warm, sagte sie sich und nickte überzeugt. Sie legte eine Entschlossenheit an den Tag, die man von einem so jungen Wesen nicht erwarten würde. Aber ihr psychisches Alter war weit fortgeschrittener als ihr physisches, wie es immer der Fall ist, wenn ein Kind frühzeitig und auf eine brutale Weise mit dem hässlichen Gesicht des Lebens konfrontiert wurde.
Und dann geschah es. Der Muskulöse entstieg dem Pferdewagen – er hatte einen dicken Pelzmantel um die breiten Schultern geworfen – und trug die Sachen, die sie beim Auftritt gebraucht hatten, in das kleinere Fuhrwerk, das dahinter stand. Dann setzte er sich an die Zügel. Der Patron erschien an den Zügeln des anderen Pferdes, setzte sich bequem hin und nahm sie in seine kleinen Hände. Langsam fuhren sie ab.

Jeanne lief ihnen nach und wartete auf einen günstigen Moment, um von Passanten ungesehen hineinzuklettern. Jetzt oder nie!, blitzte der Gedanke in ihrem schwirrenden Kopf. Schon befand sie sich zwischen einer Truhe aus Eichenholz, einigen Stapeln Kleidungsstücken und einem Korb mit Proviant. Sie hüllte sich in die Kleider. Es fühlte sich an wie in einem warmen Traum.
Ich hab’s gemacht, ich hab’s tatsächlich gemacht, bestätigte sie sich.
Sie bereute nicht, ihre wenigen Habseligkeiten zu Hause gelassen zu haben. Am liebsten hätte sie auch ihre Vergangenheit abgekappt und vergessen.
Nach einer Weile wagte sie, die Truhe aufzumachen. Bedächtig hob sie den schweren Deckel und schaute hinein. Die Truhe enthielt nur die Requisiten. Eine davon war der Degen des Schwertschluckers. Er war in ein blaues Satintuch eingewickelt. Sie holte ihn heraus, wickelte ihn aus und betrachtete sorgfältig seine Eigenschaften, während sie sein Gewicht auf ihren Handtellern wog.
Der Griff aus Elfenbein war wunderschön. Eine Rarität, deren Anfertigung an ein Wunder des menschlichen Könnens grenzte. Dann sah sie eine Inschrift entlang der Klinge eingraviert, die in einer ihr unbekannten Sprache verfasst war. Als sie mit ihrer Betrachtung fertig war, wickelte sie den Degen wieder ein und legte ihn zurück in die Truhe, deren Deckel sie beim Heruntersetzen etwas zu laut zuschlug. Ängstlich schaute sie zum Rücken des Fahrers. Zum Glück hatte er nichts gehört. Die samtene Berührung des Tuches blieb noch lange an ihren Fingerkuppen haften. Bald bekam sie riesigen Hunger. Im Proviantkorb befanden sich unter anderem zwei Tafeln dunkler Schokolade, die sie mit schlechtem Gewissen verzehrte.

Der Pfad wurde holperig. Sie befanden sich im Wald. Allmählich wurde ihr von dem ganzen Geholper unwohl im Magen. Ein Gefühl von Übelkeit bemächtigte sich ihrer, bis es nicht mehr zum Aushalten war. Sie beugte sich über das Holztürchen des Wagens und übergab sich reichlich, aber das Geräusch der rollenden Räder übertönte es. Erschöpft sank sie zurück und schlief tief ein. Als man sie entdeckte, waren sie bereits weit weg von Avignon. Sie sagte nur ihren Vornamen. Erstaunlicherweise wurde sie herzlich aufgenommen.
Sie hatte keine besonderen Talente, aber sie machte sich nützlich, indem sie bei allem Möglichen half.

In den folgenden Jahren lehrte der Schwertschlucker – sein Name war Pierre – sie gründlich seine Kunst. Nur eines gab er nicht preis, nämlich was die Inschrift an der Klinge bedeutete. Am Anfang musste sie mit dünnen, langen Karotten so viel üben, dass sie einen wunden Gaumen und Hals bekam, aber diese Übungen waren notwendig, um den Brechreiz unterdrücken zu können. Denn das war das A und O dieses Berufs. Ein Würgen im falschen Moment könnte die Speiseröhre aufschlitzen. Bald darauf war sie so weit, mit scharfen Gegenständen anzufangen. Sie wurde sehr gut darin.
„Du wirst mich eines Tages ersetzen“, sagte Pierre ihr voller Stolz. Dass dieser Tag so bald heranrücken würde, verschwieg er leider. Denn bei einem Bühnenauftritt – sie hatten sich mittlerweile hochgearbeitet – verletzte er sich lebensgefährlich. Sie konnte seinem letzten an sie gerichteten Blick ablesen, dass er es absichtlich gemacht hatte, würde sein Geheimnis aber nie verraten. Sie nickte ihm leicht zu. Er starb hinter den Kulissen mit einem zufriedenen Lächeln im faltigen Gesicht.
Das alles schien jetzt so lange her zu sein.
Zeit ist seltsam, dachte sie wehmütig.

Es bleibt spannend: Mit Teil 3 geht es ins Finale der Geschichte.

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 21128

 

 

 

 

Die Schwertschluckerin vom Kapuziner-Boulevard - Teil I

Jeanne hielt vor dem farbenfrohen Plakat an, das sie schon auswendig kannte. Gedanklich ging sie noch einmal die Künstlernamen durch:
Marie, „Das Puppengesicht“
„Goliath“, der stärkste Mann des Jahrtausends
Drillings-Akrobaten aus Mumbai
Lorette, die schmalste Taille der Welt
Esmeralda, die einbeinige Flamenco-Tänzerin aus dem sonnigen Spanien
Abdulwahab Hassen Adem Al Khaled, der Schlangenbeschwörer –
und noch viele mehr. Dazwischen war auch sie selbst: „Jeanne d’Arc“, die Schwertschluckerin.

Es war ihr Geburtstag, aber keiner wusste es. Sie hatte es niemandem gesagt. Sie verstand das große Aufheben um dieses Thema nicht. Was war schon dabei, geboren zu werden? Zwei Menschen verschiedenen Geschlechts kamen kurzzeitig zusammen, Frau wurde schwanger, trug das Kind im optimalen Fall neun Monate in ihrem Inneren herum und gebar es schließlich in die Welt, in die man nicht eingeladen wurde. Ihrer Ansicht nach gab es nichts zu beglückwünschen.
Ich bin der Beweis der Sünde meiner Eltern, dachte sie ohne jegliche Gemütsbewegung.
Es war Mitte Januar, für diese Jahreszeit war es erstaunlich warm. Sie trug eine dunkelbraune Nerzstola, ein schlichtes blutrotes Kleid und eine kleine weiße Handtasche, die sie in einem Ramschladen gekauft hatte. Von den eleganten Hütchen, Gesichtsschleiern, seidenen Abendhandschuhen und anderen angesagten Damen-Accessoires hielt sie im Gegensatz zu ihren Artgenossinnen nichts.

Langsam wurde es dunkler und allmählich leuchteten die Kohlenfadenlampen der Straßenlaternen mit einem leisen Surren auf. Sie mochte es zu beobachten, wie die Fäden in der Lampe sich anfangs glimmend erhitzten.
„Elektrizität.“ Dieses knisternde Wort ließ sie auf ihrer Zunge genüsslich zergehen.
Schon seit Jahren lebte sie in Paris, der Stadt ihrer Kindheitsträume. Sie war enttäuscht, denn sie hatte viel Elend und Unglück anderer beobachten können. Selbst hier, im vermeintlichen Zentrum des Universums. Sie hatte einen Mann in einem Rinnstein bewusstlos liegen sehen, befleckt von seinem eigenen rosafarbenen Erbrochenen, sie sah ein schmutziges, barfüßiges Kind sich unter die Räder einer vorbeifahrenden Kutsche werfen. Auf dem Pont Neuf sah sie ein Ehepaar heftig streiten und den Mann weggehen, während die Frau stehen blieb und sich ernsthaft überlegte, in die eiskalte Seine zu springen. Dann bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde und ging raschen Schrittes fort.

Tagtäglich erblickte sie ausgemergelte Hunde, die umherstreunten, in der immerwährenden Hoffnung, einen Bissen, ein kleines Zeichen der Liebe irgendwo in der großen Stadt zu finden. Überall wühlten ältere Menschen im Müll nach etwas Essbarem, ohne jegliche Aussicht auf die ersehnte Erlösung. Katzen mit verzweifelten Augen huschten stets umher, schlüpften in schmutzige Winkel und jagten nach ein bisschen Leben, das ihre abgemagerten Körperchen unentwegt verließ.
Jede Tonlage der seelischen und körperlichen Qual war ihr mittlerweile vertraut geworden.

Sie wusste, was für ein Glück sie hatte, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu haben. Aber es genügte ihr nicht, um selig zu sein.
Wie kann jemand sein Leben in vollen Zügen genießen, wenn er von so viel Not und Kummer umgeben ist?, fragte sie sich manchmal, aber nie fand sie eine Antwort darauf.
Jetzt hegte sie einen neuen Traum – Amerika. Selbst der Klang dieses Wortes erfüllte sie mit der Zuversicht, dass es einen Ort auf dieser Erde gibt, wo keiner leiden muss. Ein Paradies auf Erden. A-merika, Am-eri-ka, Am-erika, Ame-rika, Ameri-ka. Sie spielte damit, wie ein Kind mit einem Welpen spielt, einem Welpen, der groß und kräftig wachsen und das Kind mit seinem Leib beschützen wird.
In der Provence aufgewachsen, träumte sie öfter von der magischen Hauptstadt, die damals so fern und unerreichbar schien. Aber jetzt war sie ja da.
Ich kann alles, was jemand schon vor mir geschafft hat, sagte sie sich beruhigend.
Jede Gasse, jede Nebenstraße und jeden Durchgang kannte sie bereits. Sie hatte jede Ecke dieses Monstrums abspaziert, und es schien ihr nichts mehr anbieten zu können. Sie musste nur noch ein paar Monate ausharren, dann hätte sie genug Geld gespart, um auf einen Dampfer zu steigen und diesem verfaulten Kontinent ein Adieu ins schmutzige Gesicht zu werfen.

Sie hatte noch mehrere Stunden Zeit bis zu ihrem Auftritt. Mit ihrem männlichen Gang schlenderte sie durch das abendliche Montparnasse. Der Himmel tauchte die ganze Umgebung in ein sanftes Violett. Im Schaufenster einer neuen Gemäldegalerie las sie den ihr gut bekannten Namen: Vincent van Gogh. Daneben war sein Selbstporträt.
Dieser Mann war ihr stärkster Eindruck gewesen, als sie ein Neuankömmling in Paris war. Sie erinnerte sich sehr lebhaft an die Szene:
Es war auf der Rue d’Odessa. Ein rothaariger Mann mit rostfarbenen Bartstoppeln und einem entrückten Blick. Seine Hände ruhten in den Taschen einer abgetragenen Leinenhose. Sein Kopf war tief gesenkt, als ob er sich zwischen seinen schmächtigen Schultern verstecken wollte. Sie blieb stehen und schaute ihm nach. Zweifellos war er eine sonderbare Erscheinung. Plötzlich hörte sie jemanden seinen Namen rufen.
„Van Gogh, Sie haben Ihre Bilder vergessen!“ Ein älterer Mann im marineblauen Anzug lief ihm hinterher, ein Gemälde in jeder Hand.

Die Gestalt, deren Namen sie jetzt kannte, hielt an und drehte sich halb um. Sein Gesichtsausdruck vermittelte totale Müdigkeit und Lustlosigkeit gegenüber allem.
Ein Abgrund von einem Mann, hatte sich Jeanne sofort gedacht.
Der Mann im Anzug ging mit großen Schritten auf ihn zu und hielt ihm seine Gemälde hin. Aber Van Gogh schüttelte wortlos den Kopf.
„Nehmen Sie sie, ich habe Ihnen doch gesagt, ich kann nichts damit anfangen!“, sagte der Mann gereizt.
Van Gogh schaute zu ihm auf, denn er war fast einen Kopf kleiner.
„Ich auch nicht.“ Dann drehte er sich um und ging. Diese besondere Stimme mit ihrem entrückten Klang blieb für immer in Jeannes Gedächtnis haften. Es war wie ein leiser Schrei, der im Getöse und in kranker Betriebsamkeit des menschlichen Alltags so leicht überhört wird.
Der ältere Mann blieb einige Zeit stehen und schaute dem Gehenden nach, dann sah er sich beide Bilder an, murmelte etwas unzufrieden vor sich hin und ging resigniert zurück in seine Galerie.

Nach einigen Monaten hatte Jeanne den Galeristen aufgesucht, denn sie konnte keine Ruhe finden. Sie wollte unbedingt wissen, was aus Van Gogh geworden war. Sie betrat die Galerie mit einem Herzklopfen, als ob ihr eigenes Schicksal davon abhinge. Von dem Galeristen erfuhr sie, dass Van Gogh sich kürzlich das Leben genommen hatte.
„Ich hoffe sehr für ihn, dass es keine Hölle gibt. Er hat hier genug gelitten“, sagte der Mann voller Reue. Aber was änderte das schon für den Verkannten ...
„Und die Gemälde, was haben Sie damit gemacht?“, fragte Jeanne schockiert.
Der Mann schaute ihr mit seinen wässrigen, hellblauen Augen tief in die Seele hinein.
„Sie sind fort, ich habe sie sofort entsorgt.“ Er ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Dabei haben sie schon einen großen Wert. Ich möchte gar nicht daran denken, was sie nach Jahren kosten werden.“ Das war es also, was ihn am meisten bedrückte, sein Gewinnverlust!
Jeanne verließ wütend das Gebäude und verlor sich in der Menschenmenge.

Vor seinem Selbstporträt stehend, fing sie an, verachtungsvoll zu lachen, über all jene, die sein Talent nicht rechtzeitig erkannt hatten und zu spät begannen, ihn zu vergöttern.

Es dauerte Jahre, bis sie mit der Truppe in diese „Festung“ namens Paris hineinkutschierte, denn der Patron wartete zögernd auf die richtige Aufstellung. Er wollte mit seinen außergewöhnlichen Figuren die Herzen der Bewohner dieser Stadt, vor der er große Ehrfurcht hegte, schlagartig erobern. Erst als er endlich mit der Konstellation zufrieden war und genug Mut und Überzeugung aufbrachte, gab er halb scherzhaft den Befehl: „Auf zum euch gebührenden Ruhm, meine Krieger!“
Bis dahin waren sie viel durchs Land gereist. Bourgogne, Normandie, Bretagne. Sie durfte anf den Stränden von Cannes und Nizza spazieren und ihre vergänglichen Fußabdrücke in den Sand zeichnen. Sie aß im Hafen von Le Havre Brötchen mit Matjesfilet und Zwiebelringen, während wie verrückt gewordene Möwen sie kreischend angriffen.

Nur ihren Heimatort, Avignon, aus dem sie zuvor geflüchtet war, besuchten sie nie wieder. Sogar jetzt wusste sie nicht, ob es nur ein Zufall war oder es sich zwischen ihr und dem Patron um eine unausgesprochene Vereinbarung handelte. Aber sie war ihm für die Ersparnis dieses Ärgernisses sehr dankbar, denn sie hätte auf gar keinen Fall dahin zurückkehren wollen. Nicht mal als eine junge erwachsene Frau, die durch die Welt reiste, neue Freunde und Weggefährten gefunden hatte, die sie ohne Zweifel bis zum Letzten beschützen würden. Sie fürchtete, sie hätte selbst den zufälligen Anblick ihres Peinigers nicht ertragen können, sich vor ihm wieder wie ein machtloses Kind gefühlt und wäre vor Schmerz vergangen. Dies alles blieb ihr erspart.

Sie erinnerte sich öfters ihrer Flucht und musste voller Selbstzufriedenheit schmunzeln. Es war ein großer und richtiger Schritt gewesen, um die Herrin ihres eigenen Lebens zu werden, um das sie sonst vollständig beraubt wäre. Ein Teil davon war sogar für immer fort. Sie wollte den Rest retten und tat es auch.

In Teil 2 der Geschichte erfahren Sie, wie es weiterging.

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 21127

 

In tiefster Ergriffenheit

Hinweis der Redaktion:
Dieser Text kann verstörend wirken, er thematisiert Krieg, Leid und Tod.

 

Granaten, Martin, Deckung, runter …

Ich bin Willi Schuster, Schütze im 1. Westfälischen Feldartillerie-Regiment Nr. 7. Ich bin Willi Schuster, Schütze im 1. Westfälischen Feldartillerie-Regiment Nr. 7. Ich bin …

Ich kann nichts sehen.

Martin, bist du da? Ich höre Schreie, bist du das? Ich will dich rufen, Martin, aber ich kann nicht, ich kann nicht sprechen, ich sehe nichts, nur Schmerz ist in meinem Gesicht. In meinem Mund, in meiner Nase, überall ist Blut. Ich kann es schmecken. Martin, ich höre dich, ich höre dich rufen. Martin, ich bin hier, halte durch, gleich kommt jemand, gleich wird man uns helfen, Martin. Deine Schreie, Martin, sie werden sie hören.

Mir ist so kalt, ich kann mich nicht bewegen, ich spüre meine Arme nicht, meine Beine nicht, alles ist so kalt.

Mutter, ich habe dein Tuch bei mir, Mutter, das wollene Tuch, das du mir zum Abschied gegeben hast. Du hast gesagt, darin hättest du mich nach meiner Geburt eingewickelt. Es soll mir Glück bringen, hast du gesagt. Ich habe es hier, Mutter, das Tuch, unter meiner Jacke, aber es wärmt mich nicht. Mutter, mir ist so kalt.

Johanna, meine Beine, ich spüre sie nicht, ich glaube, meine Beine sind weg. Ich will meine Beine nicht verlieren. Ich brauche meine Beine. Wie soll ich arbeiten, wie soll ich mauern ohne Beine? Johanna, Liebste, kannst du dir vorstellen, wie viele Häuser wir zerstört haben in diesen Kämpfen? Viel mehr Häuser habe ich zerstört, als ich in den ganzen Jahren gebaut habe. Und all die Menschen, die in den zerstörten Häusern lebten, wo sind die hin?

Weißt du, wie sehr ich dich vermisse, Geliebte? Du bist so schön, du bist das schönste Haus für mich. Deine Haut ist der feinste Verputz, dein Körper gerade und fest, von perfekter Statik. Deine Augen sind weit geöffnete Fenster, dein Mund die verheißungsvollste Tür.

So lange habe ich keinen Brief mehr von dir bekommen, Johanna, ich wüsste so gern, ob unser sehnlicher Wunsch sich erfüllt. Bekommen wir ein Kind, Liebste? Seit wir das letzte Mal zusammen waren, Johanna, sind so viele Wochen vergangen, wenn du ein Kind erwartest, würdest du es jetzt wissen.

Martin, ich höre dich nicht mehr, Martin, schrei, damit sie uns finden! Es wird schon dunkel oder ist das das Blut in meinen Augen? Martin, Kamerad, bitte, gib einen Laut von dir.

Es ist so dunkel, ich kann mich nicht bewegen. Martin, lebst du noch? Martin, Kamerad. Ich kann nichts sehen, nicht sprechen, nichts spüren, nur das Feuer in meinem Gesicht und in meinem Körper. So gerne würde ich schlafen, aber das Brennen in mir ist zu heiß. Glühend wie flüssiges Eisen.

Ich will nicht sterben, hier im Graben. Im Dreck. Bitte, Martin, so schrei doch so laut du kannst, damit sie uns finden. Schrei für mich mit, Martin. Die Nässe dringt in meine Jacke, sie sickert in meine Unterwäsche, mir ist kalt, ich fühle nur Kälte und diesen Schmerz. Der Gestank nach Blut ist in meiner Nase wie einbetoniert. Ich kann mein Wasser nicht halten, Mama, wie ein kleiner Bub mach ich in die Hose, Mama.

Kamerad Karl-Heinz aus Köln, Karl-Heinz Denkert, der hat all seine Schuhe verschenkt, bevor er in die Schlacht zog, als der Befehl kam. Alle seine Schuhe, überzeugt, er würde seine Beine verlieren im Kampf. Er war so sicher, dass er schwer verwundet würde, Johanna, all seine Schuhe hat er an uns verteilt. Er ließ es sich nicht ausreden, so sicher war er. Als er zurückkam, Johanna, hatte er seine Beine noch. Aber sein Leben hatte er verloren.

Ich will meine Beine nicht verlieren. Ich spüre sie nicht mehr, auch meine Arme nicht.

Johanna, ich will bei dir sein, dich wieder im Arm halten, ich will nicht hier sterben. Ich will wieder auf den Bau, das Gerüst hinaufklettern, Häuser bauen, nicht zerstören. Ich will unser Kind aufwachsen sehen, mit meinem Sohn um die Wette rennen, nur so zum Spaß, nicht davonlaufen vor Granaten und Maschinengewehrsalven. Ich will deine Stimme hören, Johanna, dein Lachen, nicht dein Weinen vor mir sehen, deine Tränen bei unserem Abschied.

Mutter, ich habe dir versprochen, ich komme wieder, Mutter, ich hab versprochen, ich passe auf mich auf, aber Mutter, da habe ich noch nicht gewusst, dass hier die Hölle ist. Mutter, so muss die Hölle sein, dieses Schlachten, diese Schreie, dieser Donner und dieser Rauch, diese Schmerzen. Mutter, das ist die wahre Hölle, nicht das, was sie dir in der Kirche erzählen.

Hier ist nur Tod. Tote Menschen, tote Pferde, totes Land. Johanna, ich weiß nicht mehr, wie eine Amsel singt, ich habe vergessen, wie eine Rose riecht, ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie eine Rose aussieht. Hier gibt es keine Vögel mehr, keine Blumen.

Der Heinrich, als es den traf, sein Blut spritzte über uns alle. Nie werde ich diese Bilder vergessen, ich seh es, ich kann nichts anderes sehen als diesen Anblick, Heinrich, den es zerreißt, von der Granate getroffen direkt vor meinen Augen. Mutter, die Hölle kann nicht schlimmer sein als das hier. Wir sausen in den Tunnel, der kein Licht am Ende hat.

Der Tod arbeitet hier am Fließband: Der dicke Petersen, der kleine Finkenwald, grad 18 war er, Hansen, der so gerne Flieger geworden wäre, Mikula, der so gut kochen konnte, Geislinger, der große, dünne, dem keine Hosen passten, Maschewski, der Bergarbeiter aus Bochum, der sein Gesicht nie mehr sauber kriegte, Fritz Hahner und Friedrich Molzbach, die beiden Unzertrennlichen, die auch der Tod nicht auseinanderbrachte – alle tot. Mutter, alle sind sie tot. Auch Karl Pietrulla, mein Schulfreund, erinnerst du dich an ihn, Mutter, er liebte deine Butterbrote, mitten in die Stirn haben sie ihn getroffen.

Schlacht, das kommt von schlachten, Menschen abschlachten, das ist es, was sie tun in diesem Krieg, Menschen schlachten.

Ich hab den Kommandeur gesehen, wie er Briefe geschrieben hat, Hunderte Briefe waren das, die er schicken musste an die Angehörigen, Mütter und Väter, Frauen und Kinder all der Gefallenen. Mutter, ich will nicht, dass du so einen Brief bekommst, ich hab dir versprochen, dass du keinen solchen Brief bekommen wirst. Mutter, ich will mein Versprechen halten, ich will nicht sterben, Mutter.

Halt durch, Martin, unser Leutnant, der wird uns suchen lassen, ganz sicher. Er ist ein guter Mensch, keiner, der seine Männer im Stich lässt. Er wird uns retten wie die Katze, das kleine, graue Tier mit der weißen Pfote, das plötzlich in unserem Unterstand auftauchte. Es suchte sich unseren Leutnant aus als Zuflucht. Wir alle, dreckig und müde, waren gerührt, erinnerst du dich, Martin? Aber der Leutnant, der hatte Tränen in den Augen, ich hab sie gesehen. Und dann hat er einen Kameraden, den Hans Winterberg aus Düsseldorf, den hat er ausgewählt, ihm das Kätzchen in die Arme gedrückt und ihn nach hinten, hinter die Front geschickt. Vielleicht ahnte er den Gasangriff, der dann kam. Johanna, er hat einen Mann von der Front abgezogen, um eine Katze zu retten. So ein Leutnant, der sowas macht, der lässt doch seine Männer nicht hier im Dreck liegen. Martin, ich bin sicher, sie kommen gleich. Bestimmt werden sie gleich aufhören zu schießen, dann können die Sanitäter kommen, Martin. Bald wird es auch hell, dann finden sie uns. Sie schießen schon seit so vielen Stunden, irgendwann müssen sie doch damit aufhören.

Ich habe noch immer den Knopf von deiner Bluse, Johanna, weißt du noch? Ich trag ihn immer bei mir. Ich denk an das Grübchen, das du hast in deiner Kniekehle, Johanna, Geliebte, ich möchte so gerne meinen Mund auf dieses Grübchen drücken.

Da, Regen auf meinem Gesicht, er wäscht das Blut aus meinen Augen, ich kann dich sehen, Johanna, mein geliebtes …

Johanna, lächle. Johanna, nicht weinen. Johanna, verzeih mir …

 

 

Damvillers, 15. Juni 1916                               

Verehrte Frau Schuster,

ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Ehemann, Wilhelm Schuster, am 8. Juni vor Verdun für Kaiser und Vaterland den Heldentod starb. Er musste nicht leiden und glitt ohne Schmerzen in den Tod. Sie dürfen überzeugt sein von seiner hohen Tapferkeit und seiner treuen Pflichterfüllung.
Da aufgrund heftiger Kämpfe eine Überführung nicht möglich ist, wurde er hier an Ort und Stelle bestattet.

Seien Sie unserer allerherzlichsten Teilnahme versichert.
In tiefster Ergriffenheit,
Nachtigal, Regimentskommandeur

 

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 21098

Sie müssen das verstehen oder: Wie viele Zinken hat ein Kamm

Ich meine, Sie müssen das verstehen.
Ich liebe meinen Giorgio.
Mein Giorgio. Ein Bild von einem Mann. Ich weiß, wie sehr andere Frauen mich um diesen Mann beneiden. Und er liebt nur mich. Wir sind jetzt seit drei Jahren verheiratet und wahnsinnig glücklich. Er ist voller Glut und Leidenschaft, seine Augen verfolgen mich mit Sehnsucht und Verlangen, wann immer ich in seiner Nähe bin. Und wir sind fast immer zusammen, in Giorgios Frisiersalon. Er ist berühmt in unserer Stadt, alle wollen einen Termin bei meinem Giorgio. Giorgio mit den dunklen, feurigen Augen und der sanften Stimme. Es ist, als würde er mich streicheln, wenn er mit mir spricht. Giorgio, mein Giorgio, mit seinem vollen, glänzenden, pechschwarzen Haar – ich liebe ihn.

Aber ich hasse seinen Kamm!
Alle paar Minuten, immer wieder zieht Giorgio den Kamm aus der Hosentasche und kämmt sich damit seine Haare. Manchmal kommt es mir vor, als würde er ihn sofort wieder herausholen, sobald er ihn in die Tasche gesteckt hat.  Die Haare, die immer völlig glatt sind, nie verstrubbelt oder zerzaust. Auch der stärkste Sturm schafft es nicht, dass Giorgios Frisur durcheinandergerät. Niemals liegt auch nur ein einzelnes Haar nicht dort, wo es sein soll – und dennoch, Giorgio zieht schon wieder seinen Kamm und fährt durch seine Haare. Ich meine, das ist doch manisch, ein Tick, das ist nicht normal.

Ich habe im Guten mit ihm gesprochen, mit Giorgio, beim Frühstück, bei der Arbeit, sogar im Bett, nachdem wir …, Sie wissen schon, weil ich dachte, da sei Giorgio besonders weich gestimmt und ich könnte erreichen, dass er diese Kämmerei sein lässt.
Ich habe gebettelt: „Liebster“, habe ich gesagt, „Liebling, du siehst so gut aus, deine Haare liegen perfekt. Warum kämmst du dich schon wieder?“ Dabei habe ich ihn bewundernd und liebevoll angesehen. Es half nichts. Immer wieder erscheint der Kamm – ich hasse ihn. Ich meine, das hält man doch nicht aus.

Also habe ich seinen Kamm fortgeworfen in den Müll. Er holt sich einen neuen. Schließlich sitzt Giorgio ja quasi an der Quelle, in seinem Salon gibt es Kämme in allen Größen, Formen und Farben. Ich habe seinen Kamm im Garten in den Komposthaufen gesteckt, ganz tief hinein. Giorgio hat einen neuen Kamm.

Giorgio ist ein überaus ordentlicher Mann, geradezu besessen von Ordnungswahn. So sehr, dass er natürlich nicht verstehen kann, wie etwas von seinen Sachen einfach verschwindet.
„Ich hatte ihn doch hier hingelegt. Ich verstehe nicht, wo mein Kamm ist. Ich kann ihn nicht finden“, sagt er ein ums andere Mal und schaut mich dabei an, als müsse ich ihm helfen können. Aber ich schweige natürlich.
Und trotz aller Verwunderung holt er sich immer wieder einfach einen neuen Kamm aus dem Laden.

Danach habe ich seinen Kamm im Garten vergraben.
Den nächsten Kamm habe ich im Häcksler zerhackt – das war ein gutes Gefühl …
Am nächsten Tag hatte Giorgio wieder einen Kamm.

Ich habe einen Kamm von der Autobahnbrücke geworfen, den nächsten ein paar Tage später auf den Bahnschienen platziert.
Ich habe einen Kamm im Rhein versenkt (das fiel mir schwer, wegen der Umweltverschmutzung, verstehen Sie).
Und jedes Mal, am Nachmittag, wenn im Laden gerade die Hölle los ist, nimmt Giorgio einen neuen Kamm aus seiner Tasche und zieht sich den ohnehin perfekten Scheitel nach.

In einer Nacht bin ich schreiend aufgewacht. Ich kann mich noch an meinen Traum erinnern: Ich habe von Kämmen geträumt, Kämme, die mich verfolgen, wie tausend Tausendfüßler sind sie hinter mir hergelaufen, ich konnte rennen und rennen, sie ließen nicht ab von mir.

Ich liebe meinen Giorgio, aber das geht einfach zu weit. Das hält keine Frau aus.
Es muss etwas geschehen. Während Giorgio seine Morgentoilette macht, nehme ich seinen Kamm und träufele Sekundenkleber zwischen die Zinken. Bis Giorgio aus dem Bad kommt, ist der Kleber getrocknet und der Kamm unbrauchbar. Ich weiß, es wird nichts nützen, bis zum Mittag wird er einen neuen haben.

Am nächsten Tag besorge ich mir in der Apotheke Haarentfernungsmittel, mir ist jetzt alles egal, und verteile von der Creme großzügig auf seinem neuen Kamm.
Ich beobachte gespannt, was geschieht, als Giorgio diesen Kamm benutzt. Ich weiß nicht genau, wie das Mittel wirkt und vor allem nicht, wie schnell. Ein wenig tut es mir leid, Giorgios Haare sind so schön und ich liebe es, mit meinen Händen hineinzugreifen und darin zu wühlen – Giorgio mag das gar nicht und … Sie ahnen es. Aber es müssen Opfer gebracht werden, wenn ich ein Leben ohne Kamm führen will.

Nur, es passiert nichts, und als ich nach einigen Tagen immer noch keine Veränderung auf Giorgios Kopf feststellen kann, lese ich endlich die Packungsbeilage des Entfernungsmittels: Das Mittel muss großflächig aufgetragen werden und lange Zeit einwirken. Wie soll das gehen, wie soll ich das erreichen? Es ist zum Haare-Ausreißen.

Beim Abendessen beobachte ich, wie Giorgio den Kamm durch seine glänzenden vollen Haare zieht. Sehnsüchtig denke ich an die Packung mit dem Haarentfernungsmittel, die noch in meiner Hosentasche steckt.
Giorgio löffelt seine Minestrone und lobt mich für die gut gewürzte Suppe: „Du bist die beste Köchin der Welt, meine geliebte Chantal“, sagt er und ich könnte wieder einmal dahinschmelzen.
Da klingelt das Telefon und Giorgio geht in den Flur.

Mir geht die Warnung aus der Packungsbeilage nicht mehr aus dem Kopf.  Die Warnung, dass das Mittel giftig ist und man es keinesfalls schlucken oder auf die Schleimhäute aufbringen darf. Es sei besonders gefährlich, da es geschmacksneutral sei und daher versehentlich verschluckt werden könne.
Ich meine, Sie müssen das verstehen, dieser Kämmtick ist wirklich nicht mehr auszuhalten …

Drei Wochen nach der Beerdigung meines über alles geliebten Mannes kommen seine Brüder, um mir beim Ausräumen seiner Schränke zu helfen. Wir wollen seine Sachen für einen guten Zweck spenden, das wäre ganz in seinem Sinn gewesen. In den Taschen seiner Hosen, Jacken und Hemden finden wir 37 Kämme!
Ich meine, jetzt verstehen Sie, oder?

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 21056

Brunnen

Du bist weg
Amseln wurden vom Dach geschossen
es singt keiner mehr
Regentropfen unter meiner Haut
ich quelle auf
Im Brunnen sitzt der Frosch
hat sich daran gewöhnt
Hoch will ich wieder,
raus aus der Dunkelheit
nasser Verbitterung

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 21017

Das Ende der Welt

Hier geht es nicht mehr weiter. Ich stehe vor einer fugenlosen dunkelgrauen Mauer, die anscheinend unendlich hoch ist. Das ist das Ende der Welt. Ich kann nur zurückgehen oder hierbleiben und verhungern. Die Wahl fällt mir leicht.

Brennende Kerzen in der Pfarrkirche Maria im Dorn zu Beginn der Allerseelennacht 2020 in Feldkirchen

Brennende Kerzen in der Pfarrkirche Maria im Dorn zu Beginn der Allerseelennacht 2020 in Feldkirchen

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 20130

Eheliche Pflichten

Hinweis der Redaktion:
Dieser Text kann verstörend wirken, er thematisiert Nötigung beziehungsweise Gewalt.

Mit halb geschlossenen Augen ließ sich Susanna ins Bett fallen, rollte sich auf die Seite und deckte sich zu. Erleichtert sog sie den Duft des Kissens ein und freute sich auf den Schlaf. Endlich war alles erledigt. Die Kinder waren im Bett, das Geschirr abgewaschen und das meiste Spielzeug weggeräumt.

Gerade, als sie in den Schlaf gleiten wollte, spürte sie eine streichelnde Hand auf ihrem Oberarm. Oh nein, dachte sie. Nicht schon wieder. Die Hand glitt zu ihrer Hüfte hinab und kreisend über den Bauch hinauf zu ihrer Brust. Wie immer, mechanisch, nach Schema F. Ein Männerkörper rückte nach, schmiegte sich an ihren Rücken, Lippen küssten ihre Haare und flüsterten ihr ins Ohr: „Wir haben es schon lange nicht mehr gemacht.“
Herr, lass diesen Kelch an mir vorübergehen, betete Susanna. Aber das hatte nicht einmal damals bei Jesus funktioniert. Warum also sollte Gott jetzt ihr Gebet erhören?

Die Hand begann, ihre Brust zu kneten.
Susanna wusste, dass Widerstand zwecklos war. Das letzte Mal, als sie Nein gesagt hatte, hatte er drei Tage lang nichts mit ihr geredet und ihr eisige Blicke zugeworfen.
Ein erigierter Penis rieb an ihrem Hintern, die Hand begann indes, schmerzhaft an ihrer Brustwarze zu zwirbeln. Dann schob sie Susannas T-Shirt über ihren Kopf und zog ihre Hose aus. Es war haargenau die gleiche Prozedur, seit über zwei Jahren.
Sie atmete tief ein und aus und versuchte, sich zu entspannen. Es ist alles gut, sagte sie zu sich selbst, du musst das jetzt nicht tun, du kannst auch jederzeit Nein sagen, genieße es doch einfach.
Doch Susannas Körper hatte die Lügen schon lange satt. Als die Hand ihren Oberschenkel umfasste und ihn um die männliche Hüfte legte, spürte sie, wie sie plötzlich stocksteif wurde. Was stellte er sich vor? Dass sie nach einem zweiminütigem Vorspiel feuchtfröhlich ob des Eindringens jubeln würde?

„Du bist so trocken“, hauchte die Stimme in ihr Ohr. Die Hand führte zuerst die ihre zwischen die Beine und steckte ihr dann einen Finger in ihren Mund. Er schmeckte nach Zigaretten und pakistanischem Essen. Susanna ekelte sich. Erfolglos versuchte sie, irgendeinen Tropfen Lust aus sich herauszupressen.
Die Hand mit dem nassen Finger fuhr über ihre Brust weiter hinunter zu ihrem Schoß, um den großen Showdown vorzubereiten.
Penetrant. Penetration. Penis. Ein penetrant penetrierender Penis, philosophierte Susanna, als der Moment gekommen war. Schmerz. Noch ein Schmerz. Ein dritter Schmerz noch, dann wurde es endlich leichter.

Rhythmisches Stöhnen drang aus dem Mund. Unsanft riss die Hand an ihrer Brust. Susanna hoffte, dass es bald vorbei war.
„Ficke ich dich gut?“
Auch das noch! Susanna dachte an den Witz, in dem der Mann beim Sex sagt: „Los, du Schlampe, sag mir dreckige Sachen!“ und die Frau antwortet: „Bad, Küche, Klo …“
„Jetzt sag schon, ficke ich dich gut?“
Nein, du fucking nervst. „Oh ja, du bist einfach gut“, stöhnte sie halbherzig.
„Los, sag mir noch mehr! Ist mein Schwanz groß genug? Ficke ich dich richtig?“
„Ja, du bist der Wahnsinn“, heuchelte sie.

Susanna reichte es. Sie wusste, dass sie den Weg bis zum bitteren Ende gehen würde müssen. Aber zum Glück kannte sie auch die Abkürzung.
Sie begann zu keuchen und sich zu winden. „Oh Gott, ich komme“, stöhnte sie schließlich halbherzig, krallte ihre Hände in die Laken und zuckte mit dem Bauch. Welch grottenschlechte Vorstellung, dachte sie. Das hatte sie wirklich schon einmal besser hinbekommen.
Schlecht oder nicht, die Vorstellung verfehlte nicht ihr Ziel und getreu der üblichen Choreographie verließ der eben noch penetrant penetrierende Penis ihren Körper und kotzte einen letzten Schwall Ekel auf ihren Oberschenkel.
Die Hand griff nach der Küchenrolle, riss einige Stücke ab und reichte zwei davon an Susanna. Außer dem stinkenden Sperma hatte sie nicht allzu viel abzuwischen und so gab sie demonstrativ eines zurück und zog sich an.
„Wohin gehst du?“
„Rauchen. Ich komme gleich wieder.“

Sie zog ihre Jacke an und trat in die frische, kühle Nachtluft hinaus. Susanna atmete tief ein und aus, bevor sie eine Zigarette aus der Packung zog, sie anzündete und den beißenden Rauch bis tief in ihre Lunge hinab inhalierte.
War sie jetzt eigentlich vergewaltigt worden? Oder genötigt? Wie hatte es überhaupt so weit kommen können? Früher, vor etlichen Jahren, hatten sie doch solchen Spaß im Bett gehabt.
Erinnerungsfetzen flogen durch ihren Kopf. Ich liebe dich. Mein Asylantrag. Heirate mich. Ich werde immer für dich da sein.
Damals. Leidenschaft. Unsicherheit. Verzweiflung. Hochzeit. Du gehörst mir. Du meinst wohl, du gehörst zu mir? Nein. Du gehörst mir.

Sie hatte es wohl schon kommen gesehen und doch nicht wahrhaben wollen. Und dann. Wenn sie nicht seinen Willen tat. Er hatte sie nie geschlagen. Was er ihr antat, war weiße Folter. Psychoterror vom Feinsten. Soziale Isolation. Demütigungen. Schweigen. Tödliche Blicke. Geringschätzige Bemerkungen. My personal Guantanamo.
Nach außen hin ein treu sorgender, liebender Familienvater. Nach innen ein abscheulicher, blutrünstiger Tyrann, ein Vampir, der im Laufe der Jahre ihre gesamte Lebenskraft ausgesaugt hatte und nun mit dem traurigen Rest seine niedrigsten Gelüste befriedigte.
Wobei. Susanna hatte schon lange gemerkt, dass sein Höhepunkt genauso gespielt war wie der ihre. Er war einfach ein Schauspieler, der stets lachen, weinen oder ejakulieren konnte, wie es seine Rolle gerade verlangte. Es ging ihm weder um ihr Vergnügen noch um seines, sondern nur um die Gewissheit, der Beste im Bett zu sein, jederzeit in der Lage, die Puppe tanzen zu lassen.
Immerhin hatte er sie dieses Mal dabei nicht angespuckt. Oder war in die hinteren Regionen vorgedrungen.

Sie überlegte, ob sie ihn irgendwie anzeigen konnte. Wegen irgendwas. Sexueller Nötigung oder so. Herr Inspektor, ich muss mit ihm schlafen, sonst redet er nicht mehr mit mir. Und dann schaut er so bös. Dabei blickt sie in ein verständnisloses Polizistengesicht. Im Gegensatz dazu seine Aussage, weinend, schluchzend, Herr Inspektor, ich liebe doch meine Frau, nein, nie im Leben würde ich ihr etwas tun.
Und daheim dann …
Der Gedanke ließ Susanna erschaudern. Sie dämpfte ihre Zigarette aus und ging wieder hinein.
Er lag schlafend im Bett, mit offenem Mund, schnarchend, nur bedeckt von einem Stückchen Küchenrolle an seinem besten Stück. Angewidert warf Susanna eine Decke über ihn.

Sie überlegte, ob sie weinen sollte. Oder kotzen. Oder beides. Doch weder standen Tränen in ihren Augen noch hob sich ihr Magen. Und da sie also weder weinen noch kotzen konnte, beschloss sie, einfach etwas anderes zu tun.
Nämlich, sich scheiden zu lassen.

Katharina DeVille

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 20088

Das bisschen Mensch

Etwas war in ihm verloren gegangen. Eine Art Antwort auf alles, was ihm das Leben entgegengeworfen hatte. Es war nichts Konkretes gewesen, kein festgelegtes Mantra oder durchdachte Überzeugung, mehr ein Gefühl für die Dinge. Er hatte es immer in sich getragen, manchmal hatte es stärker, manchmal schwächer in ihm gehallt. Nun war es verschwunden.

Es hatte nichts damit zu tun, dass er unzufrieden war. Er war schon öfters unzufrieden gewesen, war traurig, war verletzt und ängstlich gewesen, hatte sich manchmal unzureichend und ungeliebt gefühlt. Aber nun gab es eben neben all diesen Regungen kein Gegengewicht, das ihn in Balance gehalten hätte.

Im Nachhinein dachte er, dass es so gewesen sein muss, als ob man etwas verliert, wenn man am Strand spazieren geht. So ganz nebenbei. Man ist mit dem Partner oder Hund beschäftigt, mit dem Tosen der Natur und all den Dingen, die einem durch den Kopf gehen. Eigentlich ist man ganz bei sich, aufmerksam, und trotzdem verliert man etwas. Vielleicht ist es ein Schlüssel, der aus der Hosentasche gerutscht ist. Vielleicht ein Haarband oder ein Feuerzeug. Man merkt es erst gar nicht, weil es so viele andere Sachen gibt, die einen umgeben. Wenn es etwas Wichtiges war, merkt man es hinterher, wahrscheinlich sogar sehr rasch. Manchmal hat man Glück und kann seine Schritte zurückverfolgen und findet es wieder, wenn es noch nicht von der Flut mitgerissen worden ist.

Er hatte kein Glück gehabt. Obwohl er seine Schritte zurückverfolgte, nachdachte, was schiefgelaufen war und wo es angefangen hatte, fand er es nicht wieder. Sein Hausarzt schrieb ihn krank, gab ihm Antidepressiva, empfahl ihm einen Psychotherapeuten und besprach die Möglichkeit einer Kur.

Am ersten Tag zuhause tat er das, was er immer tat, wenn er etwas verloren hatte: Er ging zusammen mit seinem Hund am Strand spazieren. Er vergrub seine Hände tief in den Jackentaschen, zog die Schultern hoch und stapfte los. Der schneidend kalte Wind trieb ihm die gewohnten Tränen in die Augen, und er sah nur verschwommen die brachliegende Weite vor sich. Meer, Himmel, Strand – alles grau, alles kalt und verlassen. Nur das bisschen Mensch mit seinem Hund.

Er bemerkte es erst, als er fast davorstand. Etwas Rotes mit etwas Weißem. Er bückte sich und hob den Turnschuh auf. Weinrotes Leder, abgewetzt und abgetragen. Die lose herabhängenden Schnürsenkel waren mehr beige als weiß, wie er nun sah. Reflexhaft sah er sich um. Doch natürlich war da niemand, bis auf seinen treuen Gefährten, der den Wellen nachjagte. Keine Fußspuren am Boden, kein zweiter Schuh.

Das Leder war innen wie außen trocken. Also war der Turnschuh weder vom Meer angespült worden noch konnte er länger als ein paar Stunden hier gelegen haben. Gestern Abend hatte es geregnet, danach nicht mehr. An der Sohle klebte etwas Sand.

Er blickte in die endlosen Wellen hinaus. Wie konnte man einen Schuh verlieren? Ging man einfach so mit nur einem Schuh weiter, gedankenverloren und ohne es zu merken? Oder hatte das Meer den Rest bereits verschluckt? Und wie viel Rest mochte da noch gewesen sein?

Inzwischen war ihm kalt geworden, er fühlte, wie seine Finger klamm wurden. Er stopfte den Turnschuh in eine Jackentasche und sah noch eine Weile aufs Meer hinaus. Dann pfiff er nach seinem Hund und trat den Rückweg an.

Zuhause setzte er Tee auf und rief die Küstenwache an, die im Winter nur Notbetrieb hatte. Zögerlich sprach er ihnen aufs Band, auch wenn er nicht genau wusste, was er eigentlich sagen wollte. Er berichtete von seinem Fund und der Tatsache, dass ihm das alles sehr merkwürdig vorkam. Es war schließlich nicht der gelegentliche Krempel, den das Meer anschwemmte, weil manche Leute ihren Dreck dort abluden. Es war auch keine Geldbörse, kein Ring oder Buch, nichts, was einem aus der Tasche fallen könnte. Es war ein Schuh.

Als er aufgelegt hatte, setzte er sich aufs Sofa und stellte den Turnschuh vor sich auf den Tisch. Er hatte etwas gefunden, auch wenn es nicht das war, wonach er gesucht hatte.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 20068

 

Schwarzweiß

Er fuhr in der U-Bahn, kurz nach sieben, er hatte einen Sitzplatz. Er spielte auf seinem Handy herum, immer die gleiche Szenerie hinter den Waggonfenstern. Die meisten Leute fuhren zur Arbeit, so wie er, manche hatte das Nachtleben in den Morgen entlassen, kein Augenkontakt, das ist nicht üblich in der Großstadt. Er stand mit seinem Aktenkoffer in der Hand auf, bevor die Bahn bremste. Er stieg aus. Über eine Rolltreppe wechselte er in die obere Etage, rechts stehen, Jugendliche drängelten von hinten, he!, der Mann wich von links nach rechts aus, jetzt erkannte man ihn nicht mehr als Provinzler. Die Anzeige auf dem Bahnsteig zeigte, dass die Bahn dieser Linie in zwei Minuten einfahren würde. Von rechts, wusste er. Er war Ernst Reinhardt, 32 Jahre alt, Büroangestellter, ledig, keine Kinder.

Eine junge Frau in Schwarz, mit einem Nietengürtel, blickte in seine Richtung und setzte sich in Bewegung. Er war das Zentrum ihrer Augen. Ernst bemerkte die Frau. Er sah sie auf sich zugehen. Gleichzeitig sah er sie auf dem Gehweg neben einer belebten Straße stehen und sich lebhaft mit einem jungen Mann unterhalten. Der Mann packte ihren rechten Unterarm, worauf sie ihm einige Geldscheine aushändigte. Diese Szene war in Schwarzweiß. Dieselbe Frau, die sich ihm real und in Farbe näherte, befand sich irgendwie in seinem rechten Gesichtsfeld, das schwarzweiße Erlebnis geschah irgendwie links, Ernst konnte es nicht näher definieren, die Zeit war zu knapp. „Haben Sie eine Zigarette?“ Bleich, aber jetzt nur in Farbe stand sie vor ihm, das zweite Bild war verschwunden. „Tut mir leid, ich rauche nicht.“ Sagte sie gedämpft „Arschgesicht“ beim Weggehen vor sich her?

Ein seltsames Erlebnis, so etwas war Ernst noch nie passiert. Seine Augen wiesen keine organischen Fehler auf. Er sah ja klar und deutlich und in allen Farben, was da war. Nur gerade vorhin war es, als sähe er dieselbe Person in einer anderen Zeit, wohl in der Vergangenheit, zuerst sein Geld hergeben müssen und dann nichts mehr für eine Zigarette zu haben, dargestellt in Schwarzweiß. Weil sie etwas von ihm wollte, dadurch teilte sich sein Blick. Eigentlich eine gute Schutzfunktion, aber sie kann sicher auch sehr anstrengend werden. Sie müsste den Grad der möglichen Bedrohung erkennen, das wäre wichtig. Als Politiker wird man ja sonst verrückt. Na ja, dachte Ernst, vielleicht war es auch nur eine einmalige Sache. Seine U-Bahn fuhr gerade ein. Sitzplatz war keiner frei, diesmal musste er, sich an einer Stange festhaltend, stehen. Rumpelrumpelrumpel. Zrrrr, die Räder kreischten, die Geschwindigkeit abbauend. Zisch, die Schiebetür ging auf. Ein paar Meter noch im Menschenstrom, die Oberfläche erreicht. Frische Luft und ein wenig Sonne. Über den Platz zum Firmengebäude aus Beton und Stahl und Glas. Die beiden Empfangsdamen saßen hinter einer transparenten Trennwand, die rechte, korpulentere, Ernst kannte ihren Namen nicht, aber sie kannte seinen, „Herr Reinhardt“, rief sie und winkte mit der rechten Hand.

Plötzlich war es wieder da, dieses Schwarzweißbild vor dem linken Auge. Die korpulente Empfangsdame wurde angerufen, „Schlütter“, meldet sich auf ihrem Headset der Chef der Personalabteilung, „schicken Sie bitte den Reinhardt unverzüglich, nachdem sie ihn gesehen haben, zu mir.“ „Wird erledigt, Herr Doktor.“ „Herr Reinhardt“, rief sie, farbig nun für beide Augen, Herr Dr.“ „Schlütterli“, unterbrach Ernst, „will mich dringend sprechen. Ich weiß schon.“

„Aber woher?“, erkundigte sich die Empfangsdame. „So eben.“

„Unsere Firma hat Probleme, wie Sie wissen, Herr Reinhardt, und Sie sind als einer der Letzten zu uns gestoßen“, eröffnete ihm Schlütterli, scheinbar beschäftigt Figuren auf einen Block kritzelnd. Ja natürlich, es war ja schon klar gewesen, als die dicke Gute-Morgen-Frau ihn gerufen hatte, die Rückblende war nur noch die Bestätigung gewesen. Und wie gerade soeben sein linkes Auge in Schwarzweiß gesehen hatte, wie der Geschäftsführer Schütterli robust und unmissverständlich niedergemacht hatte- „Misten Sie aus in Ihrem Menschenmaterial. Die Kosten müssen runter! -, das war der Grund, der Auslöser, das brachte ihm Hintergrundwissen, mit dem er aber nichts anfangen konnte und das seine Situation nicht verbesserte: Er hatte gerade seinen Job verloren.

Schlecht also, ja, aber nicht abgrundtief, höllennah.

Er war ein guter Mann im produktiven Alter, er lebte in einer Großstadt, er würde bald etwas Neues finden. Bis dahin sollten das Arbeitslosengeld und die Ersparnisse für alle anfallenden Kosten langen. Und er hatte diese neue Eigenschaft gewonnen, von der er jedoch nicht wusste, wie er sie sich zunutze machen konnte.

Er kaufte sich Bier und etwas zu essen in einem Supermarkt. Die Waren lagen auf dem Förderband. Bei dem Sackerl mit den Clementinen fehlte der Barcode. Die Kassiererin blickte leicht verzwickt, als sie die volle Bierkiste sah. „Einen Moment bitte, ich muss den Preis herausfinden“, sagte sie und ging in die Obst- und Gemüseabteilung. Und Ernst sah in Schwarzweiß auf seinem linken Auge, wie der Mann der Kassiererin sie in einer Wohnung schlug, zuerst mit der flachen Hand ins Gesicht, mit der Faust in den Bauch, er riss sie an den Haaren, er trat sie, mit glänzenden Säuferaugen und in einem kaum verständlichen Singsang brüllend, dann wollte er sie nehmen, sie wehrte sich, sie ließ ihn nicht, dann schlug er ihr mit der Faust ins Gesicht, mehrmals, mit viel Kraft, daraufhin ließ sie ihn. Inzwischen war die Kassiererin wieder in Farbe zur Kassa zurückgekehrt und rechnete die Waren ab. Nur noch diese eine Kassiererin war hier. Sie war sehr stark geschminkt, was nicht zu ihrem biederen Typ zu passen schien.

Zuhause betrank er sich. Eigentlich aß er nur, um eine gute Unterlage zu haben und so noch mehr trinken zu können. Zwölf Tage war er noch in der Firma angestellt, aber ab sofort freigestellt, dann ginge es raus in die freie Wildbahn, Arbeitsmarkservice, Bewerbungen schreiben, anrufen, Vorstellungsgespräche, alte Kontakte reaktivieren. Er könnte eigentlich unverzüglich mit alldem anfangen, aber, nein, er wollte, und er hatte es sich auch verdient, jetzt einmal eine Pause machen, „den Akku aufladen“ wie es so kindskopfschön technisch heißt.

Dann lief es doch nicht so glatt. Beim Arbeitsmarktservice waren nur schlechtbezahlte Stellen zu haben, und auch die waren sofort vergeben. Bewerbungen schrieb er fleißig, fasste telefonisch nach, aber er wurde selten eingeladen, und dann war er einer von Dutzenden, die diesen Job wollten und brauchten. Er kam nicht zum Zug. Seine alten Bekannten sahen in ihm keinen Vorteil mehr, vertrösteten ihn oder ließen ihn gleich links liegen und widmeten sich lieber ihren Familien. Auch wurde sein linkes in die Vergangenheit sehendes Auge immer seltener aktiv, da er eben nur noch wenig zu bieten hatte und darum kaum noch jemand etwas von ihm wollte.

Er sah viel fern, Spielfilme, Dokumentationen, aber auch Spieleshows, Soaps, und Kindersendungen, je mehr Zeit verstrich, desto mehr Blödsinn schaute er, Tag und Nacht, sein Schlaf- und Wachrhythmus war zerbrochen. Wozu er eigentlich noch ein Handy hatte, wusste er gar nicht. Niemand rief ihn mehr an. Im Fernseher waren wenigstens Menschen. Fernsehen gegen die Einsamkeit.

Gerade lief so eine Gerichtsshow, die einem Drehbuch folgte, mitten am Nachmittag. Ernst hatte die Vorhänge zugezogen, damit der Bildschirmkontrast stärker war. Er rauchte eine Zigarette, er hatte damit wieder angefangen. Plötzlich verstand er die Handlung nicht mehr. Er bemühte sich genau zuzuhören. Die Sätze der Akteure ergaben keinen Sinn. Ihm war schwindlig geworden. Die Zigarette war nur noch Asche. Er drehte ganz langsam den Kopf, was sehr mühsam war. Da sah er sein Gesicht im Spiegel, alle Farbe war aus ihm gewichen. Es war das Gesicht eines Toten, der noch lebte.

Er hatte einen Schlaganfall erlitten. Der Scan in seinem Gehirn zeigte große weiße Flecken, das waren die zerstörten Areale, es war wie auf einer uralten Weltkarte, wo so viele Gebiete noch Terra incognita waren. Sein Sprachzentrum war betroffen, er kniff die Augen zusammen und ließ die wichtigsten Gedanken zusammenströmen, um einfache Worte zu formen, selten reichte es für kurze Sätze, und auch seine Motorik war angeschlagen, seine Beine an ihm wirkten wie Prothesen. Er wurde als zu fünfundneunzig Prozent behindert eingestuft. Alles Schöne lag hinter ihm. Und das mit 32.

Wenn er jetzt durch die Stadt stakste wie auf viel zu kurzen Stelzen, sah sein linkes Auge nur noch schwarzweiß, wenn ihn eine Bettlerin um einen Euro bat. Die allermeiste Zeit war alles in Farbe und so, wie es war. Lange Wege zu Fuß strengten ihn an, er saß oft auf Parkbänken, Lokale waren ihm zu teuer. Gerne schaute er den Enten in den Teichen zu und beobachtete, wie im Herbst immer mehr Blätter auf dem Boden lagen. Er lernte seine Stadt sehr genau kennen, achtete auf kleine Dinge. Besonders mochte er die alten Viertel der kleinen Leute, wo die oft baufälligen Häuser nicht abgerissen worden waren, weil es unrentabel war, dort neu zu bauen.

Langsam ging er durch eine Seitengasse zwischen Mietshäusern mit abblätterndem Putz, verwitterten Fensterrahmen und teils gebrochenen Scheiben. Der Abend brach gerade an. Nach zweihundert Metern war eine Straßenbahnhaltestelle. Von dort würde er seinen Heimweg beginnen. Vor dem Eingangstor eines Hauses stand eine blonde, leicht füllige Frau mit einem Gesicht, das früher wahrscheinlich recht schön gewesen war. Sie fixierte Ernst. Er sah sie, rechts in Farbe und links in ihrer schwarzweißen Vergangenheit. Sie war dort nicht alleine, sie war viel jünger, und ein Baby war bei ihr, ihr Baby. Das Baby war krank, das Baby lag im Sterben, die Frau weinte. „Haben Sie Kind?“, artikulierte Ernst mühevoll die Worte. „Nein, nicht mehr, leider“, antwortete die Frau.

„Ich kann helfen“, sagte Ernst schnaubend. Und jetzt sahen beide seiner Augen schwarzweiß. Er lag mit seiner Statur in einem Kinderbett, er war krank, schwer krank, er würde sterben. Daneben hielt die Frau ihr Baby, das Baby lachte vierzähnig und versuchte, die Nase der Mutter zu fassen. Und die Mutter lachte ebenfalls.

Der Gerüstbauer

Der Gerüstbauer

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 20258

Rosaphob

Hinweis der Redaktion:
Dieser Text thematisiert Gewalt und enthält Verstörendes,
unabdingbar aus der Sicht des betroffenen Protagonisten.

Ich war sieben, als es begann.

‚He, Alois!‘, sagte Mutter zu mir.

Ich lag auf dem Boden in der Stube, mitten in den Staubfuseln, die schon an Altersschwäche zu sterben drohten. Ob die älter waren als ich?

‚Komm schon her, wenn ich es dir sage!‘

Das Superman-Comicheftchen legte ich beiseite und folgte dem wie immer forschen Befehl meiner Mutter.

‚Vater ist wieder besoffen und zu nichts mehr im Stande. Spiel ein wenig mit mir. Du darfst nebenbei ein bisschen fernsehen.‘

Dabei lag sie auf der zerschlissenen Couch, hatte ihre Beine angewinkelt und weit auseinandergespreizt. Ihre Oberschenkel erinnerten mich an das Werbemännchen einer französischen Reifenmarke. Kein Höschen. Nur ein hautenges T-Shirt, das ihre dicken Titten viel zu stark zur Geltung brachte und ein viel zu kurzer Rock, den sie viel zu weit nach oben schob.

‚Fass mich an, genau hier!‘

Ich starrte in ihr glänzendes Rosa, dann in ihr rundes Gesicht, mit den rosa bemalten Lippen und den vor Vorfreude leuchtenden rosa Backen.

‚Ich mag das.‘

‚Aber, ich …‘

‚Los Alois, mach schon, deine Hand, steck sie rein!‘

Widerspruchslos und schmatzend verschwand meine kindliche Hand in ihrer überdimensionalen Vagina, während Vater in der Küche am Tisch seinen Rausch auspennte. Mutter stöhnte. Im Fernsehen lief der rosarote Panther und versuchte, mich von meiner Handarbeit abzulenken.

‚Tiefer rein!‘

Paulchen, Paulchen mach doch weiter.

‚Wieder raus!‘

Heut ist nicht alle Tage.

‚Schneller!‘

Ich komm wieder, keine Frage.

Paulchen Panther kam wieder. Jeden Freitagnachmittag. Und ich versenkte meine kleine Faust in Mutters haariger, rosa Muschi. Jeden verfickten Freitagnachmittag. Seit dieser Zeit bin ich hochgradig rosaphob. Erdbeerjoghurt aß ich nur mehr auf strikten Befehl meines Vaters.

‚Jedes Kind mag Erdbeeren. Also iss das Scheißjoghurt, Alois!‘

Ich kotzte es postwendend auf die Resopalplatte unseres Küchentisches. Vater drückte mein Gesicht in das Erbrochene, damit ich mir merkte, dass sich das nicht gehörte und ich erfahren durfte, wie gut Erdbeerjoghurt eigentlich schmeckte. Eine Kombination aus Schweißausbrüchen, Herzrasen und trockenem Mund überfiel mich jedes Mal, wenn ich in der Schule nur in die Nähe der vielen in rosa getünchten Mädchen kam.

‚Alois, was glotzt du so, du Trottel?‘

Die Gören glaubten, mein eindringliches Stieren wäre ein plumper Annäherungsversuch. Dabei waren es panische Abwehrversuche, Fluchtinstinkt. Auch die Lehrerin stand irgendwie auf Rosa. Lippen. Fingernägel. Alles in verdammtem Pink.

‚Stotter nicht so rum, Alois, ich hab dich was gefragt!‘

Keine Ahnung, was sie wissen wollte. Ich war außerstande, mich auch nur auf irgendwas zu konzentrieren, außer die mir gefährlich näherkommenden rosa Fingernägel. Mir war, als witterte ich sogar Frau Lehrerins rosafarbenes Geschlechtsorgan durch ihren knöchellangen Baumwollrock hindurch. Fürs unerlaubte plötzliche Verlassen des Klassenzimmers musste ich Nachsitzen. Fürs Nachsitzen belohnte mich Mutter mit einer zusätzlichen Massage ihres Genitalbereiches. Dieses Mal leider ohne den rosa Panther zur Ablenkung, weil es war ja erst Donnerstag.

Obwohl Paulchen Panther die abscheulichste Farbe in seinem Namen trug, war er mein bester Freund. Ohne ihn hätte ich sicher nicht überlebt. Damals hatten wir noch keinen Farbfernseher. Der Panther stolperte in freundlich-neutralem Mausgrau von einem Fettnäpfchen ins nächste. Paulchen war spitze. Paulchen war lustig. Paulchen lenkte mich ab, wenn meine Faust mal wieder in Mutters Möse steckte.

Beim Klassenausflug in den Münchner Zoo wurde mir meine Rosaphobie erneut zum Verhängnis. Dabei wollte ich lediglich den armen eingesperrten Affen helfen. Sie mussten sich den ganzen Tag lang unzählige Flamingos ansehen, die in nächster Nähe auf ihren Solettistelzen herumstolzierten. Wenn unter den vielen Affen nur einer war, der nur halb so rosaphob war wie ich, dann konnte er diesen Anblick sicherlich nicht ertragen. Also versuchte ich, die Flamingos mit aus der Distanz geworfenen, faustgroßen Steinen zu verjagen. Als einer umfiel, kam ein Zooheini, brüllte mich an und donnerte mir eine, dass ich – wie der Flamingo – flach dalag und mich im Off befand. Sterne umkreisten mich. Gottseidank nur grüne und blaue.

Das war das erste Mal, dass Vater mir auf die Schulter klopfte und sich dabei vor Lachen beinahe anpisste. Hatte ich doch tatsächlich dem schwulen Flamingo aus zehn Metern Entfernung den Garaus gemacht. Vielleicht wurde ja doch noch was aus mir?

Als ich zehn war, begann ich Paulchen Panther zu hassen. Das war an dem Tag, als wir unseren ersten Farbfernseher bekamen. Ich stellte fest, dass Mutters Fotzenrosa dem von Paulchen erschreckend ähnlich war. Noch bevor Mutter mich auffordern konnte, ihr meine Hand da unten reinzustecken, saß ich am Klo, kotzte und heulte, weil Paulchen, mein einziger Verbündeter, sich plötzlich mit Mutter gegen mich verschworen hatte. Mein Kotzen und Heulen ersparte mir jedoch nicht die anschließende obligatorische Handarbeit.

Dass ich mich selbst mit fünfzehn noch keinem Mädchen näher als nötig näherte, begründeten Vater und Mutter mit meiner Lahmarschigkeit, meiner Unfähigkeit Freunde zu finden, meinem ungepflegten Äußeren und meiner Fettleibigkeit im Allgemeinen. Meine Schüchternheit, meine Schweigsamkeit, mein übertriebener Drang zur Selbstbefriedigung, meine nicht vorhandenen Eier und meine grundsätzliche pubertäre Dummheit kamen – aus ihrer Sicht – erschwerend hinzu.

Dass ich schlicht und ergreifend Panik hatte, irgendwann mit einer rosa Vulva in Kontakt zu geraten, wenn ich mich mit Mädchen abgab, konnten sie nicht ahnen. Wem hätte ich denn sagen sollen, was Mutter und ihre Libido jeden Freitagnachmittag von mir verlangten, wenn der rosarote Panther im Fernsehen lief? Wem, außer meinem Vater?

Noch nie habe ich so ein irres, schallendes Gelächter von ihm gehört. Nicht einmal über den toten schwulen Flamingo und auch nicht über seine eigenen schlechten Witze hat er sich je so amüsiert. Sein fetter, gedrungener Körper bebte vor Lachen und schien mir kurz vor einer Explosion. Wie der kugelrunde Typ bei Monty Python’s ‚Der Sinn des Lebens‘. Leider hatte ich kein Minzblättchen bei der Hand. Kurz vor dem Platzen hielt er inne, schaute mich mit großen offenen Augen an und sorgte dafür, dass sich sein Handabdruck nachhaltig in meinem Gesicht verewigte und mir gleichzeitig sechzig Prozent meines Hörvermögens abhandenkamen.

Als ich mich wieder hochrappelte und gerade vor ihm stand, stellte ich fest, dass Vater lediglich fetter war als ich. Ich war fünfzehn, stabil gebaut und vollgepumpt mit aufgestautem Hass. Er war also nicht größer, dafür war er langsamer als ich. Erheblich sogar. Denn bis er sich sammeln konnte, seine von meiner rechten Faust zertrümmerte Nase realisierte samt dem Blut, das in Bächen über seinen Schnauzer und sein Doppelkinn rann, war ich längst aus dem Haus getürmt. Mitgenommen hatte ich das Bewusstsein, nie wieder von Vater geschlagen oder von Mutter missbraucht zu werden.

Zwischenzeitlich ist Vater tot. Schon seit Jahren. Hat sich totgesoffen, totgeraucht und totgefressen. Da musste gar keiner nachhelfen. Was genau letztendlich in seinem Totenschein stand, weiß ich gar nicht. Und Mutter, kein Gramm leichter als mein toter Vater, verendete vor wenigen Stunden auf ihrer Couch, zufällig bei meinem ersten Besuch seit über zehn Jahren.

Offiziell verreckte sie an Herzversagen, wie mir der Arzt gerade mitgeteilt hat. Mit dieser Diagnose kann ich gut leben. Der Amtsarzt bemerkte die ziemlich frischen Kratzer, die mir Mutter mit ihren noch immer pink lackierten Fingernägeln verpasst hatte, als sie gegen das rosa Plüschkissen in ihrem Gesicht kämpfte.

Machst ja manchmal schlimme Sachen.

Am Ende meinte der Amtsarzt teilnahmslos ‚Warst lange weg, Alois. Beileid‘.

Über die wir trotzdem lachen.

Mir war, als schaute er mich etwas länger an als nötig, fragte sich vermutlich, ob ich …? Dann presste er seine Lippen zusammen, sagte leise ‚Pfüat Gott‘ und ging. Als dann alle weg waren, der Amtsarzt, der Pfarrer, die Leute vom Beerdigungsinstitut und meine fette tote Mutter endlich in einem passenden XXL-Kunststoffsarg aus der Wohnung gekarrt worden war, ging ich aufs Klo und erleichterte mich. Ich spritzte mir eiskaltes Wasser ins Gesicht und erfreute mich an meinem freundlich-befriedigten Grinsen im Spiegel.

In diesem Moment fasste ich den Entschluss, mich selbst zu therapieren. Ich musste mich lediglich einer Überdosis Rosa aussetzen. Vielleicht für ein paar Stunden, ein paar Tage oder länger. Egal. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich es schaffen konnte, schließlich hatte ich heute schon für Minuten ein rosa Kissen in der Hand und mich kratzende rosa Fingernägel im Gesicht. Und ich habe überlebt. Ich!

Ich malte mir aus, wie ich bei Aldi Erdbeerjoghurt kaufte und Donuts mit rosa Zuckerguss. Das wollte ich dann alles im Zoo bei den Flamingos genießen, bevor ich mir im Münchner Rotlichtviertel für eine Stunde eine dunkelhäutige Nutte kaufen wollte, bei der das vaginale Rosa noch stärker zum Ausdruck kommen müsste, als ich es mir in meinen schlimmsten Albträumen vorgestellt hatte. Vielleicht gelang es mir sogar, ihre Möse zu berühren? Vielleicht konnte ich sogar an ihr schnuppern, lecken? Mein Gott, alles war möglich. Euphorie überkam mich. Freudenschweißperlen sammelten sich auf meiner Stirn. Ich brauchte jetzt ein wenig Rosa. Jetzt! Sofort! Vorab, um mich einzustimmen, mich warm zu machen, so wie Fußballer es vor jedem Spiel tun. Mutters rosa Pillen, die ich im verschmierten Spiegelschrank fand, schienen perfekt. Ohne jeglichen Würgereflex warf ich die erste ein.

Wer hat an der Uhr gedreht?

Die zweite machte schon fast Spaß und bei der vierzehnten oder fünfzehnten fühlte ich mich wie ein geiler, schwuler, rosa Flamingo.

Ist es wirklich schon so spät?

Dann schaltete ich den Fernseher ein und zappte solange, bis Paulchen Panther über den Bildschirm spazierte.

Mit dem Paul ist Schluss für heut'!

 

Helmut Loinger

Erstveröffentlichung in der Literaturzeitschrift "Spurwechsel", Nr. 4, 2017

www.verdichtet.at |Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 20038