Die Schwertschluckerin vom Kapuziner-Boulevard - Teil I

Jeanne hielt vor dem farbenfrohen Plakat an, das sie schon auswendig kannte. Gedanklich ging sie noch einmal die Künstlernamen durch:
Marie, „Das Puppengesicht“
„Goliath“, der stärkste Mann des Jahrtausends
Drillings-Akrobaten aus Mumbai
Lorette, die schmalste Taille der Welt
Esmeralda, die einbeinige Flamenco-Tänzerin aus dem sonnigen Spanien
Abdulwahab Hassen Adem Al Khaled, der Schlangenbeschwörer –
und noch viele mehr. Dazwischen war auch sie selbst: „Jeanne d’Arc“, die Schwertschluckerin.

Es war ihr Geburtstag, aber keiner wusste es. Sie hatte es niemandem gesagt. Sie verstand das große Aufheben um dieses Thema nicht. Was war schon dabei, geboren zu werden? Zwei Menschen verschiedenen Geschlechts kamen kurzzeitig zusammen, Frau wurde schwanger, trug das Kind im optimalen Fall neun Monate in ihrem Inneren herum und gebar es schließlich in die Welt, in die man nicht eingeladen wurde. Ihrer Ansicht nach gab es nichts zu beglückwünschen.
Ich bin der Beweis der Sünde meiner Eltern, dachte sie ohne jegliche Gemütsbewegung.
Es war Mitte Januar, für diese Jahreszeit war es erstaunlich warm. Sie trug eine dunkelbraune Nerzstola, ein schlichtes blutrotes Kleid und eine kleine weiße Handtasche, die sie in einem Ramschladen gekauft hatte. Von den eleganten Hütchen, Gesichtsschleiern, seidenen Abendhandschuhen und anderen angesagten Damen-Accessoires hielt sie im Gegensatz zu ihren Artgenossinnen nichts.

Langsam wurde es dunkler und allmählich leuchteten die Kohlenfadenlampen der Straßenlaternen mit einem leisen Surren auf. Sie mochte es zu beobachten, wie die Fäden in der Lampe sich anfangs glimmend erhitzten.
„Elektrizität.“ Dieses knisternde Wort ließ sie auf ihrer Zunge genüsslich zergehen.
Schon seit Jahren lebte sie in Paris, der Stadt ihrer Kindheitsträume. Sie war enttäuscht, denn sie hatte viel Elend und Unglück anderer beobachten können. Selbst hier, im vermeintlichen Zentrum des Universums. Sie hatte einen Mann in einem Rinnstein bewusstlos liegen sehen, befleckt von seinem eigenen rosafarbenen Erbrochenen, sie sah ein schmutziges, barfüßiges Kind sich unter die Räder einer vorbeifahrenden Kutsche werfen. Auf dem Pont Neuf sah sie ein Ehepaar heftig streiten und den Mann weggehen, während die Frau stehen blieb und sich ernsthaft überlegte, in die eiskalte Seine zu springen. Dann bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde und ging raschen Schrittes fort.

Tagtäglich erblickte sie ausgemergelte Hunde, die umherstreunten, in der immerwährenden Hoffnung, einen Bissen, ein kleines Zeichen der Liebe irgendwo in der großen Stadt zu finden. Überall wühlten ältere Menschen im Müll nach etwas Essbarem, ohne jegliche Aussicht auf die ersehnte Erlösung. Katzen mit verzweifelten Augen huschten stets umher, schlüpften in schmutzige Winkel und jagten nach ein bisschen Leben, das ihre abgemagerten Körperchen unentwegt verließ.
Jede Tonlage der seelischen und körperlichen Qual war ihr mittlerweile vertraut geworden.

Sie wusste, was für ein Glück sie hatte, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu haben. Aber es genügte ihr nicht, um selig zu sein.
Wie kann jemand sein Leben in vollen Zügen genießen, wenn er von so viel Not und Kummer umgeben ist?, fragte sie sich manchmal, aber nie fand sie eine Antwort darauf.
Jetzt hegte sie einen neuen Traum – Amerika. Selbst der Klang dieses Wortes erfüllte sie mit der Zuversicht, dass es einen Ort auf dieser Erde gibt, wo keiner leiden muss. Ein Paradies auf Erden. A-merika, Am-eri-ka, Am-erika, Ame-rika, Ameri-ka. Sie spielte damit, wie ein Kind mit einem Welpen spielt, einem Welpen, der groß und kräftig wachsen und das Kind mit seinem Leib beschützen wird.
In der Provence aufgewachsen, träumte sie öfter von der magischen Hauptstadt, die damals so fern und unerreichbar schien. Aber jetzt war sie ja da.
Ich kann alles, was jemand schon vor mir geschafft hat, sagte sie sich beruhigend.
Jede Gasse, jede Nebenstraße und jeden Durchgang kannte sie bereits. Sie hatte jede Ecke dieses Monstrums abspaziert, und es schien ihr nichts mehr anbieten zu können. Sie musste nur noch ein paar Monate ausharren, dann hätte sie genug Geld gespart, um auf einen Dampfer zu steigen und diesem verfaulten Kontinent ein Adieu ins schmutzige Gesicht zu werfen.

Sie hatte noch mehrere Stunden Zeit bis zu ihrem Auftritt. Mit ihrem männlichen Gang schlenderte sie durch das abendliche Montparnasse. Der Himmel tauchte die ganze Umgebung in ein sanftes Violett. Im Schaufenster einer neuen Gemäldegalerie las sie den ihr gut bekannten Namen: Vincent van Gogh. Daneben war sein Selbstporträt.
Dieser Mann war ihr stärkster Eindruck gewesen, als sie ein Neuankömmling in Paris war. Sie erinnerte sich sehr lebhaft an die Szene:
Es war auf der Rue d’Odessa. Ein rothaariger Mann mit rostfarbenen Bartstoppeln und einem entrückten Blick. Seine Hände ruhten in den Taschen einer abgetragenen Leinenhose. Sein Kopf war tief gesenkt, als ob er sich zwischen seinen schmächtigen Schultern verstecken wollte. Sie blieb stehen und schaute ihm nach. Zweifellos war er eine sonderbare Erscheinung. Plötzlich hörte sie jemanden seinen Namen rufen.
„Van Gogh, Sie haben Ihre Bilder vergessen!“ Ein älterer Mann im marineblauen Anzug lief ihm hinterher, ein Gemälde in jeder Hand.

Die Gestalt, deren Namen sie jetzt kannte, hielt an und drehte sich halb um. Sein Gesichtsausdruck vermittelte totale Müdigkeit und Lustlosigkeit gegenüber allem.
Ein Abgrund von einem Mann, hatte sich Jeanne sofort gedacht.
Der Mann im Anzug ging mit großen Schritten auf ihn zu und hielt ihm seine Gemälde hin. Aber Van Gogh schüttelte wortlos den Kopf.
„Nehmen Sie sie, ich habe Ihnen doch gesagt, ich kann nichts damit anfangen!“, sagte der Mann gereizt.
Van Gogh schaute zu ihm auf, denn er war fast einen Kopf kleiner.
„Ich auch nicht.“ Dann drehte er sich um und ging. Diese besondere Stimme mit ihrem entrückten Klang blieb für immer in Jeannes Gedächtnis haften. Es war wie ein leiser Schrei, der im Getöse und in kranker Betriebsamkeit des menschlichen Alltags so leicht überhört wird.
Der ältere Mann blieb einige Zeit stehen und schaute dem Gehenden nach, dann sah er sich beide Bilder an, murmelte etwas unzufrieden vor sich hin und ging resigniert zurück in seine Galerie.

Nach einigen Monaten hatte Jeanne den Galeristen aufgesucht, denn sie konnte keine Ruhe finden. Sie wollte unbedingt wissen, was aus Van Gogh geworden war. Sie betrat die Galerie mit einem Herzklopfen, als ob ihr eigenes Schicksal davon abhinge. Von dem Galeristen erfuhr sie, dass Van Gogh sich kürzlich das Leben genommen hatte.
„Ich hoffe sehr für ihn, dass es keine Hölle gibt. Er hat hier genug gelitten“, sagte der Mann voller Reue. Aber was änderte das schon für den Verkannten ...
„Und die Gemälde, was haben Sie damit gemacht?“, fragte Jeanne schockiert.
Der Mann schaute ihr mit seinen wässrigen, hellblauen Augen tief in die Seele hinein.
„Sie sind fort, ich habe sie sofort entsorgt.“ Er ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Dabei haben sie schon einen großen Wert. Ich möchte gar nicht daran denken, was sie nach Jahren kosten werden.“ Das war es also, was ihn am meisten bedrückte, sein Gewinnverlust!
Jeanne verließ wütend das Gebäude und verlor sich in der Menschenmenge.

Vor seinem Selbstporträt stehend, fing sie an, verachtungsvoll zu lachen, über all jene, die sein Talent nicht rechtzeitig erkannt hatten und zu spät begannen, ihn zu vergöttern.

Es dauerte Jahre, bis sie mit der Truppe in diese „Festung“ namens Paris hineinkutschierte, denn der Patron wartete zögernd auf die richtige Aufstellung. Er wollte mit seinen außergewöhnlichen Figuren die Herzen der Bewohner dieser Stadt, vor der er große Ehrfurcht hegte, schlagartig erobern. Erst als er endlich mit der Konstellation zufrieden war und genug Mut und Überzeugung aufbrachte, gab er halb scherzhaft den Befehl: „Auf zum euch gebührenden Ruhm, meine Krieger!“
Bis dahin waren sie viel durchs Land gereist. Bourgogne, Normandie, Bretagne. Sie durfte anf den Stränden von Cannes und Nizza spazieren und ihre vergänglichen Fußabdrücke in den Sand zeichnen. Sie aß im Hafen von Le Havre Brötchen mit Matjesfilet und Zwiebelringen, während wie verrückt gewordene Möwen sie kreischend angriffen.

Nur ihren Heimatort, Avignon, aus dem sie zuvor geflüchtet war, besuchten sie nie wieder. Sogar jetzt wusste sie nicht, ob es nur ein Zufall war oder es sich zwischen ihr und dem Patron um eine unausgesprochene Vereinbarung handelte. Aber sie war ihm für die Ersparnis dieses Ärgernisses sehr dankbar, denn sie hätte auf gar keinen Fall dahin zurückkehren wollen. Nicht mal als eine junge erwachsene Frau, die durch die Welt reiste, neue Freunde und Weggefährten gefunden hatte, die sie ohne Zweifel bis zum Letzten beschützen würden. Sie fürchtete, sie hätte selbst den zufälligen Anblick ihres Peinigers nicht ertragen können, sich vor ihm wieder wie ein machtloses Kind gefühlt und wäre vor Schmerz vergangen. Dies alles blieb ihr erspart.

Sie erinnerte sich öfters ihrer Flucht und musste voller Selbstzufriedenheit schmunzeln. Es war ein großer und richtiger Schritt gewesen, um die Herrin ihres eigenen Lebens zu werden, um das sie sonst vollständig beraubt wäre. Ein Teil davon war sogar für immer fort. Sie wollte den Rest retten und tat es auch.

In Teil 2 der Geschichte erfahren Sie, wie es weiterging.

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 21127

 

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