In tiefster Ergriffenheit

Hinweis der Redaktion:
Dieser Text kann verstörend wirken, er thematisiert Krieg, Leid und Tod.

 

Granaten, Martin, Deckung, runter …

Ich bin Willi Schuster, Schütze im 1. Westfälischen Feldartillerie-Regiment Nr. 7. Ich bin Willi Schuster, Schütze im 1. Westfälischen Feldartillerie-Regiment Nr. 7. Ich bin …

Ich kann nichts sehen.

Martin, bist du da? Ich höre Schreie, bist du das? Ich will dich rufen, Martin, aber ich kann nicht, ich kann nicht sprechen, ich sehe nichts, nur Schmerz ist in meinem Gesicht. In meinem Mund, in meiner Nase, überall ist Blut. Ich kann es schmecken. Martin, ich höre dich, ich höre dich rufen. Martin, ich bin hier, halte durch, gleich kommt jemand, gleich wird man uns helfen, Martin. Deine Schreie, Martin, sie werden sie hören.

Mir ist so kalt, ich kann mich nicht bewegen, ich spüre meine Arme nicht, meine Beine nicht, alles ist so kalt.

Mutter, ich habe dein Tuch bei mir, Mutter, das wollene Tuch, das du mir zum Abschied gegeben hast. Du hast gesagt, darin hättest du mich nach meiner Geburt eingewickelt. Es soll mir Glück bringen, hast du gesagt. Ich habe es hier, Mutter, das Tuch, unter meiner Jacke, aber es wärmt mich nicht. Mutter, mir ist so kalt.

Johanna, meine Beine, ich spüre sie nicht, ich glaube, meine Beine sind weg. Ich will meine Beine nicht verlieren. Ich brauche meine Beine. Wie soll ich arbeiten, wie soll ich mauern ohne Beine? Johanna, Liebste, kannst du dir vorstellen, wie viele Häuser wir zerstört haben in diesen Kämpfen? Viel mehr Häuser habe ich zerstört, als ich in den ganzen Jahren gebaut habe. Und all die Menschen, die in den zerstörten Häusern lebten, wo sind die hin?

Weißt du, wie sehr ich dich vermisse, Geliebte? Du bist so schön, du bist das schönste Haus für mich. Deine Haut ist der feinste Verputz, dein Körper gerade und fest, von perfekter Statik. Deine Augen sind weit geöffnete Fenster, dein Mund die verheißungsvollste Tür.

So lange habe ich keinen Brief mehr von dir bekommen, Johanna, ich wüsste so gern, ob unser sehnlicher Wunsch sich erfüllt. Bekommen wir ein Kind, Liebste? Seit wir das letzte Mal zusammen waren, Johanna, sind so viele Wochen vergangen, wenn du ein Kind erwartest, würdest du es jetzt wissen.

Martin, ich höre dich nicht mehr, Martin, schrei, damit sie uns finden! Es wird schon dunkel oder ist das das Blut in meinen Augen? Martin, Kamerad, bitte, gib einen Laut von dir.

Es ist so dunkel, ich kann mich nicht bewegen. Martin, lebst du noch? Martin, Kamerad. Ich kann nichts sehen, nicht sprechen, nichts spüren, nur das Feuer in meinem Gesicht und in meinem Körper. So gerne würde ich schlafen, aber das Brennen in mir ist zu heiß. Glühend wie flüssiges Eisen.

Ich will nicht sterben, hier im Graben. Im Dreck. Bitte, Martin, so schrei doch so laut du kannst, damit sie uns finden. Schrei für mich mit, Martin. Die Nässe dringt in meine Jacke, sie sickert in meine Unterwäsche, mir ist kalt, ich fühle nur Kälte und diesen Schmerz. Der Gestank nach Blut ist in meiner Nase wie einbetoniert. Ich kann mein Wasser nicht halten, Mama, wie ein kleiner Bub mach ich in die Hose, Mama.

Kamerad Karl-Heinz aus Köln, Karl-Heinz Denkert, der hat all seine Schuhe verschenkt, bevor er in die Schlacht zog, als der Befehl kam. Alle seine Schuhe, überzeugt, er würde seine Beine verlieren im Kampf. Er war so sicher, dass er schwer verwundet würde, Johanna, all seine Schuhe hat er an uns verteilt. Er ließ es sich nicht ausreden, so sicher war er. Als er zurückkam, Johanna, hatte er seine Beine noch. Aber sein Leben hatte er verloren.

Ich will meine Beine nicht verlieren. Ich spüre sie nicht mehr, auch meine Arme nicht.

Johanna, ich will bei dir sein, dich wieder im Arm halten, ich will nicht hier sterben. Ich will wieder auf den Bau, das Gerüst hinaufklettern, Häuser bauen, nicht zerstören. Ich will unser Kind aufwachsen sehen, mit meinem Sohn um die Wette rennen, nur so zum Spaß, nicht davonlaufen vor Granaten und Maschinengewehrsalven. Ich will deine Stimme hören, Johanna, dein Lachen, nicht dein Weinen vor mir sehen, deine Tränen bei unserem Abschied.

Mutter, ich habe dir versprochen, ich komme wieder, Mutter, ich hab versprochen, ich passe auf mich auf, aber Mutter, da habe ich noch nicht gewusst, dass hier die Hölle ist. Mutter, so muss die Hölle sein, dieses Schlachten, diese Schreie, dieser Donner und dieser Rauch, diese Schmerzen. Mutter, das ist die wahre Hölle, nicht das, was sie dir in der Kirche erzählen.

Hier ist nur Tod. Tote Menschen, tote Pferde, totes Land. Johanna, ich weiß nicht mehr, wie eine Amsel singt, ich habe vergessen, wie eine Rose riecht, ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie eine Rose aussieht. Hier gibt es keine Vögel mehr, keine Blumen.

Der Heinrich, als es den traf, sein Blut spritzte über uns alle. Nie werde ich diese Bilder vergessen, ich seh es, ich kann nichts anderes sehen als diesen Anblick, Heinrich, den es zerreißt, von der Granate getroffen direkt vor meinen Augen. Mutter, die Hölle kann nicht schlimmer sein als das hier. Wir sausen in den Tunnel, der kein Licht am Ende hat.

Der Tod arbeitet hier am Fließband: Der dicke Petersen, der kleine Finkenwald, grad 18 war er, Hansen, der so gerne Flieger geworden wäre, Mikula, der so gut kochen konnte, Geislinger, der große, dünne, dem keine Hosen passten, Maschewski, der Bergarbeiter aus Bochum, der sein Gesicht nie mehr sauber kriegte, Fritz Hahner und Friedrich Molzbach, die beiden Unzertrennlichen, die auch der Tod nicht auseinanderbrachte – alle tot. Mutter, alle sind sie tot. Auch Karl Pietrulla, mein Schulfreund, erinnerst du dich an ihn, Mutter, er liebte deine Butterbrote, mitten in die Stirn haben sie ihn getroffen.

Schlacht, das kommt von schlachten, Menschen abschlachten, das ist es, was sie tun in diesem Krieg, Menschen schlachten.

Ich hab den Kommandeur gesehen, wie er Briefe geschrieben hat, Hunderte Briefe waren das, die er schicken musste an die Angehörigen, Mütter und Väter, Frauen und Kinder all der Gefallenen. Mutter, ich will nicht, dass du so einen Brief bekommst, ich hab dir versprochen, dass du keinen solchen Brief bekommen wirst. Mutter, ich will mein Versprechen halten, ich will nicht sterben, Mutter.

Halt durch, Martin, unser Leutnant, der wird uns suchen lassen, ganz sicher. Er ist ein guter Mensch, keiner, der seine Männer im Stich lässt. Er wird uns retten wie die Katze, das kleine, graue Tier mit der weißen Pfote, das plötzlich in unserem Unterstand auftauchte. Es suchte sich unseren Leutnant aus als Zuflucht. Wir alle, dreckig und müde, waren gerührt, erinnerst du dich, Martin? Aber der Leutnant, der hatte Tränen in den Augen, ich hab sie gesehen. Und dann hat er einen Kameraden, den Hans Winterberg aus Düsseldorf, den hat er ausgewählt, ihm das Kätzchen in die Arme gedrückt und ihn nach hinten, hinter die Front geschickt. Vielleicht ahnte er den Gasangriff, der dann kam. Johanna, er hat einen Mann von der Front abgezogen, um eine Katze zu retten. So ein Leutnant, der sowas macht, der lässt doch seine Männer nicht hier im Dreck liegen. Martin, ich bin sicher, sie kommen gleich. Bestimmt werden sie gleich aufhören zu schießen, dann können die Sanitäter kommen, Martin. Bald wird es auch hell, dann finden sie uns. Sie schießen schon seit so vielen Stunden, irgendwann müssen sie doch damit aufhören.

Ich habe noch immer den Knopf von deiner Bluse, Johanna, weißt du noch? Ich trag ihn immer bei mir. Ich denk an das Grübchen, das du hast in deiner Kniekehle, Johanna, Geliebte, ich möchte so gerne meinen Mund auf dieses Grübchen drücken.

Da, Regen auf meinem Gesicht, er wäscht das Blut aus meinen Augen, ich kann dich sehen, Johanna, mein geliebtes …

Johanna, lächle. Johanna, nicht weinen. Johanna, verzeih mir …

 

 

Damvillers, 15. Juni 1916                               

Verehrte Frau Schuster,

ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Ehemann, Wilhelm Schuster, am 8. Juni vor Verdun für Kaiser und Vaterland den Heldentod starb. Er musste nicht leiden und glitt ohne Schmerzen in den Tod. Sie dürfen überzeugt sein von seiner hohen Tapferkeit und seiner treuen Pflichterfüllung.
Da aufgrund heftiger Kämpfe eine Überführung nicht möglich ist, wurde er hier an Ort und Stelle bestattet.

Seien Sie unserer allerherzlichsten Teilnahme versichert.
In tiefster Ergriffenheit,
Nachtigal, Regimentskommandeur

 

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 21098

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Ein Gedanke zu „In tiefster Ergriffenheit

  1. robert müller

    Echt grauslich. Grauslich echt!!!!
    Das sollten die Idioten lesen, die "für ihren Glauben" in den Krieg, in das geplante Morden, ziehen. Und die Waffenfabrikanten, und die dafür "zuständigen" Politiker !!!!!!!
    Ich werde es wieder lesen, wenn ich unzufrieden bin oder einmal glaube, dass es mir nicht gut geht.

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