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Morgenstimmung

Qualm aus den Mülltonnen,
eisiger verbrannter Filtergeruch
Tote Bilder schieben sich zwischen die Iris
Vögel singen von Liebe
Menschen laufen hektisch wie Tiger
zur Beute

Grüne Lichter,
eine alte Straßenbahn schiebt Gewicht
mit vielen Umwegen in Richtung Schlafplatz

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen| Inventarnummer: 16175

Zwischen

Zwischen den Sternen,
reiten,
und die Stimmen erklingen von irgendwo
Zwischen den Wolken
liegen die schweren Gewitter
Zwischen dem Rauch
wird die Luft enger

Glück tanzt alleine,
zwischen dem Alleine
Zustand verändert
Zwischen den Zeigern
liegt die Sorglosigkeit

Kinder spielen und tanzen im Luftschloss
zwischen Kerze und Glas
leuchten freundliche Ranken
Duftkerzen beleuchten Träume

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen| Inventarnummer: 16141

Mit Kafka durch Kierling

Der Himmelbauerplatz unterhalb der Kierlinger Kirche ist eine Asphaltfläche mit acht Parkplätzen für Anrainer, weitere vier sind dem Ärztezentrum vorbehalten. Zur Kierlinger Hauptstraße hin, gegenüber der Volksschule, blühen gerade die Linden und setzen sich trotz ihrer Jugend mit ihrem Duft gegen die Autoabgase durch. An der Ostseite steht das Denkmal für den am 3. Juni 1924 im Sanatorium Hoffmann verstorbenen Schriftsteller Franz Kafka, zehn Hausnummern weiter stadtauswärts gelegen. Der grobe Steinblock sieht aus, als wäre ein Meteorit vom Himmel gefallen und hätte sich hier in den Asphalt eingerammt. Aus einer Einbuchtung an der Vorderseite ragt eine schwarz-metallene Büste heraus, es soll wohl Kafka sein. An der rechten Seite ist eine rotgesprenkelte Marmortafel mit vier groben Metallschrauben befestigt, und mit gold-gerahmten Lettern sind die Lebensdaten des Schriftstellers eingraviert: Dr. Franz Kafka, *1883 in Prag, +1924 in Kierling.

Zumindest seit Picasso verlangt niemand eine anatomische Ähnlichkeit, aber die Sehnsucht nach einem Schimmer von einer geistigen Nähe, Anhänglichkeit, sogar Liebe bleibt angesichts dieses Denkmals ungestillt. Es ist in seiner ganzen massiven Erscheinung abweisend und so aufgestellt, das man es unbedingt über- oder darüber hinwegsehen muss.
Oder hat man es etwa absichtlich versteckt? Es hat den Anschein, als habe man sich nur halbfreiwillig zu einer Erinnerungsstätte für den Juden Kafka durchringen können. Auf dem nur ein paar Stufen höheren Kirchenplatz etwa? Nein, da stehen das massive Denkmal für „die Helden beider Kriege“ und eine Schubertlinde. Noch weniger vorstellbar in dem Park, der den palaisartigen Pfarrhof umgibt.

Ich sitze auf einer Bank des Verschönerungsvereins Klbg. neben dem Klotz. Alles ist sehr nett und adrett, offensichtlich gepflegt, ich kann nicht feststellen, ob für den Parkplatz, das Ärztezentrum oder das Kafka-Denkmal; kein Müll, keine Papierln, keine Kippen, und alle Parker gliedern sich brav in die weißen Parkstreifen ein, die Radfahrer in einen raiffeisengelben Ständer. Es wird ein ewiges Geheimnis der Gemeinderatssitzung bleiben, warum man dem Deutsch schreibenden, jüdischen Schriftsteller aus Prag den ansehnlichen Platz vor der Jugendstilkirche, nur fünf Stufen aufwärts, nicht zugestanden hat.
Die letzten Spaziergänge durch das Maital, die letzten Blicke von seinem Balkon in die Hügel, die letzten Gerüche von Straße und Pfingstrosen.
Im Ort gibt es neben dem Sterbehaus noch einen Kafka-Steg und eine Kafkagasse.

Absicht, ja und nein, Gedenkenwollen und doch nicht oder nicht zu sehr, frage ich mich, als ich auf der Bank neben dem Denkmal sitze, an meinem Sandwich nage und aus meiner Thermoskanne lauwarmen Kaffee trinke. Es ist der 3. Juni 2016, ich mache Pause von meinem Raumdienst im Sterbesanatorium an seinem 92. Todestag. Ich bin die dienstjüngste der vier ehrenamtlichen Kafka-Witwen.
Über den Asphaltplatz schaue ich auf die Baustelle der Firma Bosnj. Dom (bosnisches Haus), die gerade einen Wohnkomplex hochzieht, an der Ecke, wo seit 1788 der Gasthof „Zum grünen Baum“ stand, bis er vor einem Jahr abgerissen wurde. Die Arbeiter machen den Dachstuhl fertig und geben ein kakophonisches Konzert aus Hämmern und Elektrobohrern ab. Eine barbarische, aber sicherlich vernünftige Entscheidung der Gemeinde Klosterneuburg-Kierling, die bestimmt Wohnraumbedarf im Grünen hat.

Der Gasthof war schon lange leergestanden. Die Hintergründe kenne ich nicht, aber für mich ist es eine Demolierung von kulturellem Erbgut. Ich erinnere mich gut an dieses Gasthaus, nicht nur das älteste weit und breit mit einem schattigen Garten aus alten Kastanien und Linden, ein hinterbrühliger Ort, an dem man sich Schubert in Gesellschaft seiner Freunde gut vorstellen konnte. Die ganze, sich vier Kilometer lange im öden Autoverkehr windende, Hauptstraße entlang gibt es kein einziges Einkehrlokal mehr. Das erinnert mich daran, dass diese Gemeinde schon früher auch die Überreste der Synagoge abgerissen und stattdessen eine Gedenktafel angebracht hat.
Ob diese verkehrsumbrauste Ecke ein attraktiver Wohnort sein würde, frage ich mich zwischen dem Jausenbrot und den immer noch befremdeten Blicken auf den Kafka-Klotz neben mir, meines Wissens das einzige Monument in Österreich.
Gedankenloser ist nur noch der Wackelstein beim Sanatorium von Matliary in der Hohen Tatra.

Man muss Milde walten lassen und darüber nachdenken, warum bis auf diese zwei Denkmäler – schwankend zwischen Hilflosigkeit und Verhöhnung – keine Kafka-Skulpturen bekannt sind. Wie viele gibt es denn von Shakespeare, Mozart, Goethe, Schiller, Puschkin, Heine, Hugo, Rodin oder Chaplin, alle diese Victorias, Friedriche und Franz Josephe. Und viele andere. Vielleicht kommt das daher, dass bisher niemand Kafka mit einer Skulptur gerecht werden konnte, es gewagt hat, seine schmale, mit 182 Zentimetern hochgewachsene Körperlichkeit in den Raum zu stellen. Vielleicht haben sich viele bekannte und unbekannte Künstler schon an Kafka abgemüht, wer weiß mit welchen Materialien: Stein, Metall, Holz, Gips, Gold, Silber, Porzellan, Glas, Alabaster, Perlmutt, Elfenbein, Bernstein, Sandelholz, Plastik, Papier, Pappe, Titan oder Tüll. Und alles wieder verworfen, in Scham und Demut alle Versuche zerstört und tief eingegraben haben.

Einer, der das nicht getan hat, ist Jaroslav Roda, er hat einen Bronze-Koloss von 3,75 Metern Höhe und 700 Kilogramm Gewicht in Prag aufgestellt. Auf den Schultern eines riesigen leeren Mantels reitet ein Zwerg, der wahrscheinlich Kafka darstellen soll – er ist angeblich der „Beschreibung eines Kampfes“ nachempfunden. Ich persönlich vermisse Kafka-Monumente nicht, mir genügen seine Worte. Vielleicht liegt es auch daran, dass die relativ neue Kunst der Fotografie Kafka am ehesten entspricht.
Es existieren viele dokumentierte Fotografien von Kafka, die meisten aus dem Familien- und Freundeskreis. Bis auf die erzwungenen Kinderbilder, allein oder mit den Schwestern, zeigt er keine Scheu vor der Kamera. Immer schaut er mild-freundlich in die Kamera, er lässt sich mit dem Apparat ein, fast kokettiert er mit ihm und bleibt doch leicht entfernt von der Szene. Man sieht einen überschlanken, gutaussehenden, ausgewählt elegant gekleideten Mann, leicht nach vorne geneigt, mit mild angedeutetem Lächeln, im scharf geschnittenen Gesicht auffallend große Augen, der Kopf oft gekrönt mit einem hohen, breitkrempigen Hut. Auch sein ausgeprägter Hinterkopf und schlanker Hals könnten einen Bildhauer entzücken. Soweit bekannt, ist Kafka nie anderen als Fotokünstlern Modell gestanden.

Die Gedenkstätte im Sterbehaus auf der Kierlinger Hauptstraße 187 – ein Stiegenhaus, zwei Zimmer und ein Balkon – kommt einer adäquaten Würdigung am nähesten. Nachdem sie seit 1982 in düsteren, grindigen Räumen mit einigen Schaukästen dahingedämmert hatte, nahm sich die Kafka-Gesellschaft einer umfassenden Umgestaltung an mit dem Architekten Michael Balgary und der Vizepräsidentin Charlotte Spitzer als von Kafka beseelter Designerin.

Seit der Wiedereröffnung vor zwei Jahren sprechen diese zwei Räume eine vorsichtige, ehrerbietige, weil nichts und niemanden vereinnahmende Einladung aus, sich dem Menschen Franz Kafka, seinem Werk und seinen letzten sechs Lebenswochen zu nähern. Voll und minimalistisch gleichzeitig, als sollten die letzten Atemzüge nicht gestört werden. Fotos, Gegenstände und Dokumente an Wänden und in Vitrinen, die Lebensdaten affichiert, eine nachgebaute Ecke mit einem damals üblichen Spitalsbett, gebrochenes Licht, weiße Laken mit Zitaten, Bücherborde, zeitgemäße Aufnahmen von Kierling und seiner Umgebung, so wie sie Kafka damals gesehen haben könnte.
Etwa den Blick von seinem Sonnenbalkon in den Garten des Sanatoriums und auf den gegenüberliegenden Wienerwaldhang. Man kann ihn betreten und sich einlassen auf die inneren Bilder von den letzten Blicken, man kann seinen Augen nach links zur Kierlinger Kirche folgen, von der jetzt durch nachgewachsene Bäume und Neubauten nur noch das Turmkreuz wahrzunehmen ist; der Bergrücken im Blick geradeaus ist jetzt viel dichter bewachsen als vor 92 Jahren. Er reicht hinunter bis ins Maital, ein großer Name für einen schmalen Weg entlang einem nicht einmal einem Meter breiten Bacherl, das aus Maria Gugging kommt.
Biegt man am großen, neueröffneten Hofer-Markt links zum Maibach ein, kommt man an der Rückseite des Gartens an einer versteckten Pforte vorbei, auf der man, wenn man einen Tipp bekommen hat, noch ein verwittertes und verwachsenes Schild „Sanatorium Hoffmann“ erkennen kann. Da könnte Kafka, gerahmt und gestützt von Dora Diamant und Robert Klopstock, durchgetreten sein auf ihrem Spaziergang zum „Grünen Baum“.

Wenn ich auf diesem Balkon stehe und zum Maibach hinunterschaue, mag ich die Vorstellung, dass Kafka einmal, vielleicht mehrmals, sicher nicht später als Ende April, Anfang Mai 1924, weil er danach schon zu schwach war, durch den Garten, durch die Pforte, durch das Maital zum „Grünen Baum“ und zur Post spaziert ist, Briefe und Karten aufgegeben hat an die Eltern, die Geschwister, an Onkel Siegfried, an Max Brod, Manuskripte an den Verlag.

Sicher bin ich nicht die erste Besucherin, die ein paar Häuser vor dem Sanatorium konsterniert vor der Tischlerei KAFKA stehen bleibt, sich die Augen reibt und überlegt, ob und wer uns da einen Streich spielt. Kafka, tschechisch „Dohle“, war ein häufiger Name der Kategorie Maier/Müller, und der Kierlinger Tischler Kafka jun. hat heute mit dem Versicherungsbeamten und Schriftsteller Dr. Franz Kafka nur so viel zu tun, als er die Inneneinrichtung des Gedenkraumes beigesteuert hat.

Das dreistöckige Haus Nummer 187 auf der Kierlinger Hauptstraße ist ein unscheinbarer, spätklassizistischer Bau, der an der Westseite seltsam abgerissen wirkt, wie ein verstümmelter Stockzahn. Immer wenn ich mich von der Station des 239A an der Lenaugasse dem ehemaligen Sanatorium nähere, bedauere ich, dass ich nicht über die Inbrunst einer Gläubigen verfüge, die sich einem Heiligtum nähert.
Aber sobald ich das Haustor aufsperre, hinter dem eigenartigerweise links immer ein Besen steht, als würde der Odradek aus der Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“ auf mich warten, spüre ich ein hauchfeines Momentum. In einem kindlichen Orakelspiel bemühe ich mich, nicht auf die im Fußboden des Vorhauses eingelassenen Mosaiksteine zu treten: Gleich hinter dem Eingang steht SALVE und drei Stufen höher die Jahreszahl 1901, damit ich die unsichtbaren Fußstapfen nicht zer-störe.
So wie wir als Kinder manche Ritzen zwischen den Steinen ausgelassen haben, damit etwas Bestimmtes eintritt oder ausbleibt. Da ist Kafka darübergegangen. Es gibt auf der ganzen Welt sonst keinen Ort, von dem man das mit Sicherheit sagen kann. Wenn man sich in diesem nüchternen Haus in frühere Zeiten hineinschwelgen möchte, muss man das innerlich tun, mit Hilfe der Vorstellungskraft.
Und dann wieder Kafka lesen.

Am 3. Juni 2016 stehen in prächtigster Rosafülle Pfingstrosenstöcke im Vor- und Hintergarten des ehemaligen Sanatoriums. Eine seiner letzten Sorgen hat er auf einem Sprechzettel festgehalten. Sie gilt der richtigen Behandlung des Pfingstrosenstraußes in seinem Zimmer. Wer hat sie ihm gebracht? Woher stammen sie? Aus dem Sanatoriumsgarten? Wie auch immer: Er hat sie wahrgenommen und genossen. In einer flachen Schale, damit die Stängel nicht am Boden anstehen, so halten sie lange, ewig.

Charlotte Spitzer schneidet die mitgebrachten Pfingstrosen, ihre sind voll und weiß mit gelben Blütenständen, genau nach dieser Anweisung zurecht, verteilt sie in Glasvasen an mehreren Stellen, zündet neben der Fischer-Gesamtausgabe eine dicke Kerze an und zieht sich zur Sterbestunde zum Meditieren auf den Balkon zurück. Im Blick die letzten Blicke.

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 16110

Stoßlos

Nachdem ich heute – nach einem Besuch bei meinem Zahnarzt wollte ich mich bewegen, um mein Blut zum ordnungsgemäßen Zirkulieren zu animieren, auf dass es das Narkosemittel rasch abbauen helfen konnte – über die Tuchlauben gegangen war, freute ich mich darauf, die Hofburg geschwind hinter mir lassen zu können.

Es waren nämlich keine von Fremdenführern geleiteten Gruppen von Touristen auszumachen, welche diesen Führern, wie eine Schafherde ihrem Leithammel, auf Schritt und Tritt folgen, und welche ich überaus grässlich finde. Oft genug setzen sich diese Gruppen aus Menschen zusammen, sowohl fremdländischer als auch offensichtlicher ländlicher Provenienz, welchen, ich kann es nicht anders ausdrücken, ein boviner Gesichtsausdruck zu attestieren ist. Es ist nicht so, dass ich mich an Menschen stören würde, welche ein kuhhaftes Äußeres zur Schau tragen, Gott bewahre. Es ist mir wirklich gleichgültig, wie ein Mensch von Mutter Natur erschaffen wurde, oder wie er sich zurechtmacht. Niemand kann etwas für sein Aussehen, und viele Menschen können es sich nun einmal nicht leisten, sich Kleidung zu kaufen, die mir persönlich als wenigstens einigermaßen stilvoll erscheint, oder wollen dies auch nicht, wenn in den Ländern, aus welchen sie nach Österreich kommen, ihr Kleidungsstil nicht bloß gesellschaftlich akzeptiert, sondern üblich ist.

Ich störe mich an diesen Gruppen aus einem gänzlich anderen Grund. Sie hindern mich nämlich am Gehen, und zwar, um präzise zu sein, am Halten meines Schritttempos. Es ist so, dass ich für gewöhnlich schnell gehe. Dieses schnelle Gehen ist zum einen der Sport, den ich am meisten schätze, und der einzige, den ich betreibe, zum anderen ist es die Art und Weise, die ich als die für mich geeignetste erachte, um Inspiration für mein literarisches Schaffen zu finden.
Ich musste mich also durch gleich zwei Touristengruppen kämpfen, welche ich davor nicht gesehen hatte, denn beide befanden sich im Innenhof der Hofburg. Ich drängte mich an den Menschen vorbei und fragte mich, auf wie vielen Fotos ich zu sehen sei, denn ich habe schon vor geraumer Zeit aufgehört, stehenzubleiben, wenn ich Touristen sehe, die sich gegenseitig ablichten, wenn die Linie zwischen Linse und porträtierter Person meinen Weg kreuzt. Doch gäbe es einen Anlass für mich, wirklich sofort stehenzubleiben, um das Gelingen eines Fotos nicht zu gefährden: Nämlich dann, wenn ein Tourist ein eben defäkierendes Fiakerpferd ablichten möchte. Dafür hätte ich Verständnis, ehrlich. Ich halte dieses Motiv eben für in hohem Ausmaß geeignet, als repräsentative Erinnerung an Wien herzuhalten, zumal das Foto in einer Stadt geschossen werden würde, deren innerster Bezirk ständig erfüllt ist vom Geruch der Hinterlassenschaften dieser Pferde.

Ich überquerte die Ringstraße und bog daraufhin links ab, um den Touristen beim Denkmal für die Kaiserin zu entgehen, also wanderte ich der Fassade des Kunsthistorischen Museums entlang.
Eine Rabenkrähe flog etwa fünf Meter vor mir über den Weg. Ich schaute dem Vogel nach, denn ich bin sehr interessiert an der Ornithologie, und stellte fest, dass er keinen Stoß mehr besaß. Der Terminus Stoß bezeichnet im Übrigen das, was gerne als der Schwanz eines Vogels bezeichnet wird. Die Krähe musste ihres Stoßes schon vor einiger Zeit verlustig gegangen sein, denn ihr Flugverhalten war als völlig normal zu bezeichnen.
Ich fragte mich, wie es wohl dazu gekommen sein könnte, dass die Krähe ihren Stoß verloren hatte, doch gelangte ich zu keiner befriedigenden Antwort. Ich wanderte weiter auf meinen angestammten Wegen der Inspiration, also durch den siebenten Bezirk, der mein Lieblingsbezirk in Wien ist, obgleich ich niemanden persönlich kenne, der in diesem Bezirk wohnt, der charakterlich oder intellektuell einigermaßen interessant für mich wäre.

Ich ging also mit zügigen Schritten durch diesen Bezirk und beobachtete aufmerksam die Menschen und Gebäude, denn durch dieses Dinge-auf-mich-einwirken-Lassen habe ich bereits viele Themen erkannt, über die es zu schreiben lohnt und über die ich dann geschrieben habe. Heute jedoch gelang mir das nicht. Ich betrachtete viele Menschen, alleine oder zu mehreren sitzend, gehend oder laufend, und Bauwerke, las im Vorbeigehen Plakate und sonstige Schriften auf ihren Fassaden, doch sah ich nichts und niemanden, der oder das eine Story wert gewesen wäre.
Kurze Zeit nachdem ich den Scheitelpunkt meiner üblichen Runde hinter mich gebracht hatte, erkannte ich, dass ich bereits etwas gesehen hatte, was es wert war, darüber zu schreiben, und zwar nicht auf meiner eigentlichen Runde durch Neubau, sondern beim Kunsthistorischen Museum, nämlich die Rabenkrähe, der der Stoß fehlte. Obgleich ich keine Erklärung für dessen Fehlen hatte finden können, ließ mich der Gedanke an diesen Vogel nicht los. Ich dachte ständig an dieses Bild, das immer noch vor meinem geistigen Auge stand, während ich alles beäugte, was mich umgab.
Es war das Fehlen eines für das Flugverhalten eines Vogels essenziellen Teils, das jedoch ohne Folgen geblieben war.
„Wie kann es sein”, fragte ich mich, „dass ein Wesen seinem Tagesablauf ohne erkennbare Einschränkungen folgen kann, obwohl diesem Wesen eine so wichtige körperliche Voraussetzung dafür abhandengekommen ist? Wie kann man sich so verhalten, obwohl einem, wenigstens in gewisser Weise, der Boden unter den Füßen weggezogen wurde?”

Ich selbst war lange Zeit nicht in der Lage, einem auch nur einigermaßen geregelten Leben nachzugehen. Mein Tagesablauf war sehr wohl geregelt. Aufstehen, Texte in den Computer hämmern, zu Mittag essen, danach weiterhämmern oder fernsehen, schließlich ein Spaziergang und am Ende stand das Schreiben im Salzamt. An vielen Tagen zumindest. An den anderen unterließ ich das Schreiben und trank grässlich viel. Das unkontrollierte Saufen und Nichtschreiben hatte den, durchaus angenehmen, Nebeneffekt, dass ich am Tag darauf keine Texte abzutippen hatte. Mir war der Boden unter den Füßen weggezogen worden, und ich konnte keine Möglichkeit erkennen, somit auch nicht nützen, sie wieder auf diesen zu stellen.
Und doch habe ich den Boden wieder berührt. Es ist nicht so, dass ich mein gesamtes Körpergewicht auf diesen hätte wirken lassen können, um dadurch auf einem sicheren Fundament zu stehen zu kommen, aber Berührungen, wenn auch sanfte, waren immerhin ein Anfang.

Ich erkannte eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Rabenkrähe und mir.
Ich weiß natürlich nicht, kann es gar nicht wissen, was der Vogel gefühlt hat, als ihm sein Stoß abhandenkam. Hat er, in einer Art Schockstarre, alles fallenlassen, alles fahrenlassen? Hat er sich zurückgezogen, in die innere Klause, einem Eremiten gleich?
Ich habe so gehandelt.
Nein, das hat die Krähe natürlich nicht gemacht. Ansonsten hätte ich sie heute nicht sehen können. Denn dann wäre sie gestorben, was heißt verendet. Sie wäre schwach geworden, körperlich schwach, und einem Fuchs, Marder oder gefiederten Beutegreifer zum Opfer gefallen. Sie ist ihrem Instinkt gefolgt, der ihr sagte, dass sie weiterkämpfen muss. „Du, Rabenkrähe”, so lauteten anzunehmenderweise seine unhörbaren Worte, „musst trotz deiner nunmehrigen Beeinträchtigung weiterkämpfen und das Fliegen wenigstens so gut wiedererlernen, dass du dir Nahrung suchen kannst, denn sonst stirbst du!”
Die Krähe war, zwar von ihrem Instinkt gesteuert, aber dennoch, vernünftiger als ich, denn ich habe mich in gewissen Phasen zu gewissen Zeiten mit der zeitnahen Endlichkeit meines Lebens abgefunden.

Dass es letzten Endes doch nicht so weit kam, habe ich wohl meinem eigenen Überlebensinstinkt zu verdanken, der erwiesenermaßen bei Weitem schwächer ausgeprägt ist als der von Tieren, ansonsten hätte ich weit weniger Zeit benötigt, um zu erkennen, dass das Leben einfach weitergehen muss.
Denn dessen Ende ist ohnehin unausweichlich. Warum also sollte ein Mensch wie ich, der eine stark ausgeprägte Inklination hat, gegen Handlungen, Ansichten und Verhaltensweisen zu rebellieren, ausgerechnet gegen die Unausweichlichkeit des eigenen Todes und die Unklarheit, wann dieser eintreten wird, ankämpfen, indem ich diesen selbst herbeiführe? Das wäre erstens ein zu großes Risiko, denn vielleicht kommt doch noch was, und zweitens wäre es höchst inkohärent in Hinblick auf mein bisheriges stetes rebellisches Verhalten, was zum Beispiel Arbeit anlangt. Denn so grässlich der schwarze Wolf der Depressionen und die Oberflächlichkeit mancher Leute auch waren und sein mögen, an ihnen zugrunde zu gehen, das steht nicht dafür.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 16107

Die Kinder vom Sonnberg

Die Auskunftsperson ist der Wirt der Redlinger Hütte, der liebenswürdige und redefreudige Johann Riegler, der seit 38 Jahren dieses Gasthaus bewirtschaftet, wahrscheinlich den schönsten Platz im Wienerwald. Charlotte und ich waren auf einer Expedition, um Wege, Distanzen, Zeiten und Rastmöglichkeiten für die zweite Kafka-Wanderung am 11. September 2016 zu erkunden.
Wir bekommen eine Lektion Heimatgeschichte. Die Redlingerhütte geht auf eine Arbeitersiedlung der 1780er zurück, auf Joseph II. Der Reformator und Praktiker unter den Monarchen holte Wald- und Steinarbeiter, vor allem Böhmen und Tschechen, für die Sandsteinbrüche in der Umgebung. Sie stellten Schleifsteine her, die besten in der ganzen Monarchie und exportiert bis nach England. Später kamen die „Gastarbeiter“ für die Westbahn dazu. Ende des 19. Jahrhunderts verwandelten sich die Arbeiterbaracken in einen Wienerwald-Einkehrgasthof, wie sie damals in den Außenbezirken und rund um Wien aus dem Boden sprossen.

Besonders gefällt uns die Vorstellung, dass, wäre Kafka früher und gesünder als 1924 in Kierling angekommen, es diesen Ort schon gegeben hat und der fleißige Wanderer sicher auf diese idyllische Waldlichtung gestoßen wäre. Wahrscheinlich hätte er ihn an einen der Gastgärten in und um Prag erinnert, in denen er gern saß und sich mit Freunden traf. Den Schweinsbraten mit Kraut und Knödeln, für den die Redlinger Hütte heute berühmt ist, hätte der frühe Veganer auch bei bester Gesundheit nicht bestellt, aber vielleicht eine Linzertorte, die er trotz seiner strengen Reformkost immer gern mochte.
Ob er vielleicht ein Kafka-Menü auf die Speisekarte setzen soll, fragt der offensichtlich kafkakundige und einfühlsame Wirt mit einem Augenzwinkern. Gebratene Käfer mit Äpfeln? Charlotte lacht aus vollem Hals, als sie sich dieses „Gesundheitsmenü“ vorstellt: Rohkost, Früchte, Nüsse, Honig, ein Krug Milch, Wasser und – das Ungeziefer. Wir bestellen Linzertorten als eine der Nachspeisen für unseren nächsten Kafka-Spaziergang am 11. September. Bei Radler, Gepritztem und Grammelschmalzbrot mit reichlich Zwiebel und anhand einer Wanderkarte für die Kierlinger Umgebung erklärt uns der Wirt die verschiedenen Wege von hier weg in alle Richtungen und auch die Abstiege ins Kierlingbachtal. Der längere Weg führt in einem großen Bogen um den Marbach zum Sonnberg, dem mit 420 Metern höchsten in der Umgebung.

In einer Senke unter dem Nordhang befand sich einmal ein Steinbruch für den Abbau von Sandstein. Nur noch einige, fast unsichtbare Steinhänge sind geblieben, dicht überwachsen von Bäumen und Unterholz, von undurchdringlichen Brombeerhecken, Kletten und mannshohen Brennnesseln. Noch tiefer in der Senke stand einmal eine Burg, von der nicht einmal der Name bekannt ist und auch nicht die geringsten Spuren übriggeblieben sind, erzählt der Wirt. Nur eine Legende hat sich erhalten: Sie ist durch ein schreckliches Feuer zerstört worden. Und wer dort – natürlich nur um eine mondhelle Mitternacht – vorbeikommt, kann noch immer das Schreien und Weinen von den in der brennenden Burg gefangenen Kindern vernehmen, so grässlich, dass jedem Wanderer das Blut in den Adern gefriert und er schnellstens das Weite sucht. So hat noch niemand das Rätsel der weinenden Kinder erkunden können. Wer waren die Kinder? Die Sprösslinge der Burgherren? Eine Schule, ein Waisenhaus? Ob dieses traurige Ereignis auf den 30-jährigen Krieg, die Türkenbelagerungen oder die Franzosenzüge zurückgeht, kann uns nicht einmal der ortskundige Wirt sagen.

Wir sind uns sicher, dass Kafka, wäre er bei ihm eingekehrt und hätte er diese Geschichte gehört, einen Tagebucheintrag gemacht, einen Brief oder eine Parabel geschrieben hätte.
Die Suche nach der Burg. Das Schloss. Oder wäre Kafka, der passionierte Spaziergänger und Spezialist für Nachtmahre, einmal um Mitternacht diesen Weg gegangen, um dem Geheimnis, das ihn sicher angezogen hätte, auf den Grund zu kommen, um etwas ihm entsprechendes „Kafkaeskes“ draus zu machen.

Wir nahmen den Wanderweg 6 durch das Grüntal nach Kierling zurück. Er sollte laut Wegweiser „40 min“ dauern, wir brauchten aber viel länger, weil es ständig etwas zu bestaunen, bereden und fotografieren gab. Diese Strecke bietet an jeder Stelle so viel Lieblichkeit, dass einem die Tränen kommen und man niederknien möchte: zuerst vorbei an einem Teich, ein Stück durch einen Obstgarten mit rotbäckigen Äpfeln und dann bergauf durch alte Buchenwälder, so dicht und hoch, dass sie über dem Weg einen Tunnel bilden, und wir nicht mehr wissen, wer sich vor wem verneigt.
Charlotte ist fasziniert von der Ähnlichkeit zu der ihr vertrauten Müritzer Landschaft, wo Kafka im Sommer 1923 seine letzte große Liebe, Dora Diamant, kennenlernte. Genauso ein Wald mit Buchen, aber stell dir vor, du kommst aus dem Wald raus, und dann sind da Sanddünen und die Ostsee. Ich bin überrascht, hatte ich bei Müritz doch immer an Föhren gedacht. Meine Erinnerungen an die Ostsee verbanden sich mit der großen Wanderdüne der Kurischen Nehrung, die mit Föhren befestigt wird, mit den Föhrenwäldchen rund um Thomas Manns Haus in Nidden und den Stränden von Klaipeda mit ihren locker im Sand stehenden Föhren.

Im Grüntal mündet der Buchenwaldweg in eine unerwartet weite Wiese mit leichten Wellen und einem freien Rundblick auf die Wienerwaldhügel. Gräser und Blumen stehen hüfthoch, sie werden offenbar nicht gemäht, und Margeriten, Glockenblumen, Skabiosen, Hahnenfuß, Storchenschnabel, Schafgarbe, Ochsenmaul, Kuckucksnelken, Wiesenschaumkraut, Taubnessel, Flockenblume, Giersch, Knabenkraut, Blutweiderich, Beinwell, Pimpernell, Wiesensalbei und verschiedene Kleearten dürfen sich seit dem Frühling ausbreiten.
Wir beugen uns über ein Blumengestrüpp am Wegrand und finden, dass das Blau der Wegwarte noch schöner, tiefer violett ist als das der Kornblume. In zwei Feldern ist der Hafer gelb und eigentlich reif für die Ernte. Ob er auch geerntet wird, bezweifeln wir, weil er vom Regen an vielen Stellen niedergedrückt und von Pflanzen überwuchert ist, die man üblich Unkraut nennt: Ackerwinde, Ackersenf, Distel, Kornrade, Mohn, Beinwurz und Leinkraut.

Am Scheitelpunkt kommen wir an einem Marterl vorbei, dem hölzernen Käferkreuz, umrahmt von einigen Bänken mit der Widmung des Kierlinger Weinbauvereins. Einige große Vögel kreisen darüber, ob es Bussarde oder Falken sind auf der Jagd nach Mäusen? Nur Krähen und Tauben können wir mit Sicherheit bestimmen. Sie sitzen so dicht aufgereiht auf den Hochspannungsleitungen, flattern und fliegen auf, dass man meinen könnte, sie mögen den Elektrosmog und rappen dabei Elektrosongs.
Es ist eine der wenigen Stellen im dicht be- und zersiedelten Wienerwald, an denen man außer einem Stadeldach weit und breit kein einziges Bauwerk sieht. Im Blick voraus ragen die Wienerwaldhügel hoch empor wie ein Gebirgszug, was er ja als letzter Ausläufer der Ostalpen geologisch tatsächlich ist. Vielleicht zum ersten Mal verstehen wir, dass der Wienerwald die zärtlichste Umarmung ist, die die Alpen für eine Stadt bereit haben. Eine besonders schöne Wiesen-Waldbucht in einer Mulde mit Baumstämmen und einem Jägerstand am Rand können wir uns als die letzte Station für eine Kafka-Lesung vorstellen.

Wir stimmen überein, dass Kafka den Grüntalweg wahrscheinlich gemocht hätte und er ihn immer wieder auf- und abgegangen wäre, bei jeder Tages- und Nachtzeit, um zu ergründen, was ihm daran guttut und was ihn stört, um seine Wirkung in sich eindringen zu lassen. Kurz werden wir in unseren Phantasiegesprächen irritiert von der Gestalt eines enorm großen, braunen Tieres, das in der Ferne an einem Weidezaun entlanggeht. Ein Mammut im Grüntal? Kann nicht sein. Weiter unten kommen wir zu einer Weide, auf der sich eine Kuh mit ihrem Kalb an einem Wassertrog labt. Wahrscheinlich sind sie dicht hintereinander gegangen. Eine Schafherde ist in einem Pferch nebenan untergebracht. Es gibt noch einen richtigen Bauern im Wienerwald, wundern wir uns, Landmaschinen, Strohballen und Säcke mit Futtermittel unter einem Stadel, aber kein Mensch weit und breit.
Weiter unten verengt sich der Wiesenweg, gesäumt von Wildkirschen und Edelkastanien, darunter meterhohe Brombeer- und Brennnesselwildnis, in eine dramatische Wienerwaldschlucht, an beiden steilen Seiten bewachsen von Laubwald, mit einem mäandernden Bächlein tief unten, so klein, dass es auf der Wanderkarte nicht einmal eine Linie oder einen Namen hat. An diesem sonnigen Juli-Tag wird es plötzlich so dämmrig-grün, dass wir nicht mehr den Grund des Tales erkennen können. Als nach einer scharfen Wendung des Weges die ersten Häuser im Licht des sich weitenden Grüntals auftauchen, beginnen wir mit steigender Begeisterung, ein von uns imaginiertes Quartier für Kafkas ideale Sommerfrische auszusuchen.

Dieses Haus, nein jenes, zu groß, zu klein, zu teuer, zu einfach, zu laut, schau, das da hat eine Terrasse nach Südosten, die könnte er mögen, aber der Weg hinauf ist zu steil, denk dir den Winter aus. Dann rechts ein grün-weißes Haus, „Villa Frei. geb. 1901“ steht in goldenen Lettern über dem Eingang, das wäre das richtige, meinst du nicht auch? In dem Türmchen könnte er sein Schreibzimmer einrichten. Auf dem Balkon könnte er ungestört seinen Müller-Leibesübungen nachgehen und sich nackt sonnen. Würden seine quälenden Kopfschmerzen nachlassen? Könnte er hier die Nächte durchschlafen oder sogar etwas schreiben? Ein Kanapee muss unbedingt hinein, so wie in allen seinen Prager Zimmern. Aber nicht einmal Charlotte weiß mehr über deren Beschaffenheit. Aus Leder, mit Stoff, welchem? Wie lang, wie hoch? Mindestens so hoch, dass sich das Riesenungeziefer namens Gregor Samsa darunter verkriechen hätte können.

Bellende Hunde, krähende Hähne, kreischende Sägen, heulende Rasenmäher, schreiende Kinder, Schritte der Nachbarn, Husten, Lachen, Gespräche, fast alles störte den extrem lärmempfindlichen, an Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen leidenden Kafka. Schau, hinter dem Haus, ein Stapel Holz und eine Wiese, da könnte er dem Holzhacken, dem Heuen fröhnen und nackt auf der Wiese herumlaufen. Die Hecken sind hoch, niemand würde ihn beim Müllern und Nacktbaden stören. Im Natursanatorium Jungborn am Harz braucht er im Juli 1912 eine Woche, um die Scham und die Badehose abzulegen. Ihm wird übel beim Anblick der alten Männer mit Spitzbauch und Glatze, die nackt mit der Sense hantieren, über Heuhaufen hüpfen, Fußball spielen, miteinander boxen oder nackt über die Wiese stürmen und sich bei Regen im nassen Gras wälzen. Im Tagebuch vom Juli 1912 macht er ausführliche Notizen von dieser Szenerie.

Guck mal, Veronika, in diese Ecke des Garten, unter dem alten Kirschbaum ließe sich leicht ein „Luftlichthäuschen“ bauen, da müsste er nicht einmal auf der Leiter in die obersten Äste steigen, sie fallen ihm direkt in den Mund. Eines war sicher, er würde hier keine Köchin brauchen, ob Vermieterin oder Schwester. Er könnte fast zur Gänze Selbstversorger sein und seiner Angewohnheit des „Fletcherns“ ungestört nachgehen, dem stundenlangen Kauen der Nahrung. Ein Jungborn für sich allein, ideal! Nicht ganz, gibt Charlotte zu bedenken, denn im Grunde liebte er Gesellschaft, er unterhielt sich gerne mit den Gästen der Sanatorien und Pensionen. Immer fand er dort praktischerweise unter ihnen Vorbilder für seine Gestalten. Etwa den christlichen Landvermesser Hilster, der ihn mit der Bibel missionieren wollte. Er ging als Josef. K. in veränderter Form in „Das Schloss“ ein.

Wenn es ihn aus seiner Klause im Grüntal unter Menschen zieht, könnte er zur Redlingerhütte hinaufspazieren und dort mit dem Wirt, seinen Kindern und Angestellten plaudern, vielleicht auch nur schweigend in einer Ecke sitzen, mit dem Hut auf dem Kopf, und mit dem zutraulichen Hund spielen. Er hätte sich amüsiert über diesen freundlichen, dicken Fuchs-Dackel-Schäferhund mit zu kurzen Beinen vom Format und Farbe einer nur leicht angebratenen Rindsroulade, der sich bis heute gern zu Füßen der Gäste im Kies wälzt. Wahrscheinlich hätte er ihn – trotz extremer Unähnlichkeit – Max genannt und mit dem Hundemax gesprochen. Vielleicht eine Karte nach Prag in die Postdirektion geschrieben mit „Lieber Max, du in deinem Anzug, in der Hitze …“ Schreiben oder Notizen machen würde er dort nicht, denn seine Schreibzeit waren die einsamen Nächte.
Eine Schwimmgelegenheit müsste man für ihn ausforschen, denkt Charlotte weiter, denn ohne das Schwimmen würde es kein guter Ort für Kafka sein. Aber die Wienerwaldbächlein reichen nicht einmal einer jungen Forelle zum Schwimmen. Wir überlegen, ob er wohl den 50-min-Weg über den Weißen Hof nach Kritzendorf an der Donau in Kauf nehmen würde? Wir glauben, ja, war er doch ein geübter, ausdauernder Wanderer. Donau oder Strombad, beide hätten Wasser genug für den leidenschaftlichen Schwimmer. Im stillen Donauarm von Kritzendorf könnte er sogar ein Boot mieten, so eines, wie er es in Prag an der Moldau besaß, wo er flussaufwärts ruderte und sich dann nackt flussabwärts treiben ließ. Wir würden auch den Wirt der Redlingerhütte nach einem Pferd für Kafkas Reitlaune befragen. Ein Ritt zum Sonnberg, zur Sandsteinmine oder zur geheimnisvollen Burg der Kinder, bei Mond oder Sonne. Wir waren sicher, dass der Wirt ihn wahrscheinlich bei sich würde gärtnern lassen, wenn es ihn überkam, und ihn vielleicht dafür mit Obst und Gemüse entlohnte.

Wie in allen Gärten des Grüntales blühen um die grün-weiße Villa Frei gerade die Rosen, Oleander, Gladiolen und Hortensien in vielen Farben, die Hauswand entlang ziehen sich volle Ranken mit Him- und Brombeeren, und im Vorgarten warten übermannshohe Ribiselbüsche und Hollerstauden aufs Geerntetwerden. Kafka würde hier ankommen können. Die vorbeiwandernden Quartiermacherinnen sind zufrieden.

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 16102

 

Wahrheit auf Zeit

Und schon im ersten Halbsatz gelogen, mein teurer Tschuschnigg, wenn du mir versicherst, dass es nicht in deinem Interesse ist, denn wenn du mir das mit aller Hartnäckigkeit versichern musst, liegt es ganz und gar in deinem Interesse, an meinen Geldbeutel willst du mir gehen, eine Unterschrift willst du mir abschwatzen, nichts anderes als ein falscher Bibelverkäufer bist du also, eine Bibel mit leeren Seiten versuchst du in mir an den Mann zu bringen, auch wenn ich der Bibel nicht allzu viel abgewinnen kann, das humorloseste Buch, das seit Menschengedenken geschrieben worden ist.

„Nein, ich habe keine Zigarette mehr für dich übrig.“

Nein, Tschuschnigg, du fauler Hund, du kannst ruhig kurz hinaus zu deinem Auto gehen, um dir deine Zigaretten aus dem Handschuhfach zu holen, wo du sie vergessen haben willst, auch wenn ich mir sicher bin, dass du gar keine Zigaretten im Auto liegen hast, und mehr noch, langsam kommen mir die Zweifel, ob du überhaupt ein Auto besitzt.

Und warum mir gerade jetzt diese Episode einer nervensägenden Kaffeehausbekanntschaft in den Sinn kommt, weiß ich nicht zu sagen, wo ich doch einer Lügnerin viel größeren Formats gegenübersitze, hier und jetzt in Ragusa auf seinen beiden widersprüchlichen Hügeln, in dieser Bar getaucht in Jazz, mit einer Theke so lange wie die Einsamkeit, und mir gegenüber diese sizilianische Kellnerin, deren Antlitz der liebe Gott persönlich geschnitzt haben muss. Und mit jedem Glas des vollmundigen Weins, das ich nachfordere, wage ich ihr eine Frage zu stellen, und jedes Mal, wenn sie mir nachschenkt, erwidert sie mir mit der immer gleichen rabenhaften Antwort: magari domani, morgen vielleicht. Morgen, so Gott will, inschallah, und dass Gott morgen sicher nicht will, soweit habe ich sie mittlerweile schon verstanden, und deshalb werden sie mir immer kleiner, die Fragen, bis hin zu meiner letzten:

„Verrätst du mir wenigstens, wie du heißt?“

„Morgen vielleicht.“

Wohltuend jedes Schaudern, wenn du mich anlügst, Magaridomani, immer größer wird das Vergnügen und du mit jeder Lüge schöner, vor lauter Unwirklichkeit deiner Schönheit beginnst du bereits zu flimmern, wie eine Gestalt in einem expressionistischen Stummfilm aus den Zwanzigerjahren.

Vorbei der Spuk von fernen Inseln, vorbei der Spuk einer Erinnerung an eine Begebenheit, die so wahrscheinlich nie stattgefunden hat, nur das Weinglas in meiner Hand scheint mir das gleiche zu sein, ein Glas Wein, von dem ich weiß, dass es besser mein letztes für diesen Abend sein sollte. An einer Brüstung finde ich mich lehnen, und unter mir erstreckt sich der Innenhof des Wiener Museumsquartiers, bunt das Treiben zu meinen Füßen, Pärchen, die Arm in Arm in der Blase ihrer Verliebtheit flanieren, Kinder, die sich in die satte Erschöpfung der Nacht tollen, Studenten, die vertieft in Bier, Zigaretten und endlose Diskussionen sich auf den Bänken räkeln, eine Erscheinung wie aus einem Sommernachtstraum.

Überrascht bin ich von dir, mein Wien, vielleicht sind doch mehr Jahre vergangen als gedacht, seit ich dir den Rücken gekehrt habe, aber so kenne ich dich gar nicht, eine ungekannte Stimmung strahlst du aus, ein Gefühl, das ich immer schmerzlich an dir vermisst habe, denn gütig scheinst du auf sie herabzublicken, auf die Kinder, die so unbedarft in deinem Schoß spielen. Ganz anders habe ich dich in Erinnerung, die zurückreicht an das Ende des letzten, längst vergessenen Jahrhunderts, als du dich noch in Schwarz auf Grau wie aus dem „Dritten Mann“ geschnitten gezeigt hast, als du mir das schauerliche Gefühl über den Rücken gejagt hast, dass sich in deinen Mauern das Leben anschickt, sich diejenigen zu holen, für die bislang nicht einmal der Tod Interesse gezeigt hat.

Und wenn ich dich jetzt so betrachte, mein Wien, in deinem Bemühen, dich aus deinem hundertjährigen Dornröschenschlaf zu schälen, bin ich versucht, mich dir doch noch einmal anzuvertrauen, ein paar Wochen, vielleicht sogar ein paar Monate in dir zu verweilen, aber versprochen, mit Argusaugen werde ich dich dann in jedem Winkel und in jeder Bewegung beobachten, argwöhnisch und misstrauisch, ob du mir nicht doch nur ein potemkinsches Dorf vorgaukelst – und keine Sorge, früher oder später werde ich dir auf die Schliche kommen, denn das habe ich auf meinen langen Reisen gelernt, eine Lüge ist nicht mehr als eine Wahrheit auf Zeit.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 16085

Vier Aventiuren

aventiure 4

Ich biege noch einmal bei der Fiktion ein und überlege die Leseerfahrung von Roman. Da er aus Deutschland stammt, sind seine Vorbilder wahrscheinlich Kafka und Hesse. Er ist aufgeschlossen für die Weltliteratur, jedoch kein Vielleser, Gott bewahre. Roman ist glücklich, wenn er von einem Buch gefesselt  und bei Bedarf unterhalten wird. Roman liebt dicke Bücher, die ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln. Während ich sehe, dass am Nebentisch zwei Espressi getrunken werden, ich könnte mir vielleicht noch eine Geschichte über diese Leute ausdenken, aber ich bin ehrlich gesagt froh, keine weitere schreiben zu müssen, denn eine reicht. Alles ist Übung, und für die Schriftstellerei braucht man wahrscheinlich einen langen Atem. Ich habe Bedenken, ob das Erfinden von Figuren auf Dauer gelingen wird. Und dann wäre da noch meine Abneigung gegen Abenteuergeschichten. Das einzig wahre Abenteuer ist doch – mit Verlaub gesagt – der Alltag.

aventiure 3

Ich erinnerte mich an Menschen, die ich sah und die blöde aussahen, beispielsweise an den Menschen, der einen Menschen mit einem Taschenmesser aß. Er erinnert sich daran, dass vieles blöde aussieht, was tagtäglich, jahrjährlich getan wird. Was von den Reisen übrigblieb. Ein Blick über die Gracht in Holland, ein Blick über eine Brücke in Stockholm. In Erinnerung geblieben ist mir das Öffnen von Karten auf Motorhauben. In Erinnerung geblieben ist mir das Aufbrauchen des Reiseproviants. Das Grün der Wälder – nur sehe ich darin auch keine Geschichte. Ich erinnere mich daran, dass das ganze Leben aus Nebensächlichkeiten besteht und dass sie als Bilder mehr oder weniger fest in deinem Gedächtnis gespeichert sind. Wieder einen Eiskaffee trinken. Und zwischenzeitlich wieder auf Roman zurückkommen. Und ich gebrauche noch ein Wort Wolfs: Horror vor dem Vergessen.

aventiure 2

Ich sehe Roman an meinem Nebentisch mit einer Frau sprechen. Roman trägt eine Brille mit dickem schwarzen Rand, er hat graue Haare und trägt zudem einen blauen Pullover. Er unterhält sich mit einer Frau, die sich etwas in einem Buch angestrichen hat.

Romans Gespräche sind irrelevant und außerdem möchte der Erzähler nicht so genau hinhören – es langweilt ihn zu sehr. Ich als Erzähler habe in einem anderen Café Platz genommen. Stellen Sie sich jetzt einmal das Unterschiedlichste vor, über Roman, und versuchen Sie, mit diesen Vorstellungen ein Buch zu füllen, das wäre meine Definition von Schriftsteller.

Ihm ist es zur Zeit noch nicht wichtig, ob sein Schreiben gut oder mittelmäßig ist. Ihn interessiert einzig, die Bezeichnung Schriftsteller für sich zu beanspruchen. Es liegt nun wieder in der Hand des Erzählers, den Text neuerlich ein Stück weit voranzubringen. Mir fällt ein, dass literarische Versuche über Depressionen meist kein Happy End nehmen, man nehme nur Sylvia Plath “Die Glasglocke“ als Beispiel. So wie ich angesichts meiner ausgetrunkenen Kaffeetasse schon wieder ganz perplex bin, ob es sich lohnt, eine fiktive Geschichte weiterzuschreiben, der geneigte Leser möge entscheiden.

Zum Deutschen möchte ich so viel sagen, dass das Imperfekt die Erzählzeit schlechthin ist. Das Tempus ist das größte Statement des Schriftstellers. Die drei Möglichkeiten stark/schwach/gemischt lassen sich dadurch umgehen, dass die starken Verben durch eine schwache Tempusbildung ersetzt werden können und das in 90% der Fälle mühelos verstanden werden kann. Die Bezeichnung unregelmäßige Verben ist nicht präzise (man vergleiche springe/sprang/gesprungen mit singe/sang/gesungen). Die starke, also ablautende Imperfektbildung ist allen Germanen mit Ausnahme der Afrikaaner zu Eigen.

aventiure 1

Über die vielen Nebensächlichkeiten sprechen. Mir ist nicht wichtig, ob Roman zu Mittag beim Asiaten ein Sushi-Set mittel bestellt hat (oder auch nicht). Auch andere Kleinigkeiten entgehen mir, obwohl gerade ein kriminalistisches Auge darin das Wichtigste sehen könnte: Welches war die Mordwaffe, wie sah der Fluchtwagen aus etc. Ich persönlich bin jemand, der solche Schilderungen gerne überliest. Stattdessen unterstreiche ich mir lieber gelungene Satzkonstruktionen und lerne sie auswendig. Ich bin übrigens wieder in meinem Stammcafé und sehe herüber zu den anderen Tischen. Interessante Begegnungen hat es heute nicht gegeben, wahrscheinlich müsste ich mich erneut mit Roman verabreden. Er war gestern im Museum und im Kino. Das hilft ihm – so sagt er – eine Katharsis zu erreichen. Er betont, dass es sich um Bildträger und nicht um Bilder handelt. Das Bild an sich ist ephemer und flüchtig wie Musik. Ich werde auf Roman wieder zurückkommen, sobald er mir einen Brief hinterlegt hat. Er braucht wahrscheinlich auch wieder Ruhe. Unterdessen kann ich den Raum des Textes tatsächlich mit Nebensächlichkeiten füllen. Ein Nachbar im Café telefoniert mit einem Smartphone, das in einer Kuhfleckenschale steckt. Ich kann schreiben, dass an einem anderen Tisch ein Kind mit einem gelben Auto spielt und gleichzeitig von seiner Mutter ein gelbes Auto in einer Werbeanzeige aus einem Magazin gezeigt bekommt. Nebensächlich ist weiterhin der Fakt, dass ich beim Schreiben eine graue Weste trage. Auch der Salzstreuer neben meinem Heft ist nebensächlich.

“Aber in Wahrheit kann nichts die immer häufigere Wiederkehr jener Augenblicke verhindern, in denen ihre absolute Einsamkeit, das Gefühl einer universellen Leere und die Ahnung, dass ihre Existenz auf ein schmerzhaftes und endgültiges Desaster zuläuft, Sie in einen Zustand echten Leidens stürzen“. Michel Houellebecq

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen| Inventarnummer: 16079

 

Adorno träumt

Ich versuche, die Hypernomalie der furz-verkackten Psychonomie zu finden. Steige deswegen auf den Berg der Dummheit, um mich von ihm abseilen zu lassen, um auf ein Trampolin zu springen, um mich wieder hochzuschnalzen, um mich von dem Berg der Dummheit abseilen zu können.

Ein Satz aus dem Mund meiner Tochter, wäre gar nicht so schlimm, nur sie ist acht. Wir sitzen zwischen Schafen und träumen in den Tag hinein. Heidi ist nicht mehr, Peter ein Relikt der Vergangenheit. Ein Traum, der für sich nie enden wird und gar nicht erst anfängt. Wir gehen von einem Schaf zum anderen, die Finger der Linken des einen und die Finger der Rechten der anderen festhaltend. Ein Lächeln des gegenseitigen Verstehens. Das Schaf mit dem schiefen Ohr vor uns springt zur Seite. Flucht vor uns oder die Vertrautheit der Gegenseitigkeit der anderen Schafe. Die Wiese, ein Blumenmeer des Frühlings, gekämmt von einer leichten frischen Brise. Die Füße streifen die kleinen Blümchen blau und weiß, manche knicken, manche nur noch ein zerdrücktes Relikt des Seins. Das Singen des Summens im Baum in voller Blüte am Rande des Weges im Wind des Erwachens.

Wir gehen und hüpfen entlang des Grates zwischen Abgrund und Massivität des Granits. Es ist die Freiheit der Schwerelosigkeit, die uns weiter bewegt. Im Herzen so leicht und doch so gewichtig. Ein Stein, ein Sprung, ein Schritt. Er ist überwunden. Weiter entlang des Pfades. Tief durch das Grüne auf den Stufen hinab zum Grund, um danach die Höhe wieder zu erklimmen. Die Welle nach unten, der Weg nach oben, danach wieder nach unten, entlang der foucaultschen Falte zwischen Realität und Traum. Es ist schön, so zu schreiten in Zweisamkeit der Ruhe und Einsamkeit. Gestört durch Artikulationen des Entgegenkommens mit dem Sinn der Erwiderung. Ein vorsichtiges Annähern und knappes Berühren an manchen Stellen. Vorbei. Das Blau der Tiefe, erweitert durch gelbliche Wärme, verfärbt sich auf den weißen Flächen unserer Hülle in Rot. Ein Kribbeln und Fühlen mit Wärme berührt uns. Der Weg ist das Ziel des Weiterkommens.

Die Schafe lassen sich zählen, aber nicht streicheln. Der Hang ist ihr Leben, hier sind sie zu Hause und freuen sich über das neue Grün. Wir sind tief in uns im Traum, der kein Traum im Traum ist. – Wie geht es Ihnen zu Hause? Die Zeilen aufzunehmen mit den Augen in den Gedanken in das Gefühl der Transformation ins eigene Ich.

Wir sehen uns an, tief in die Augen, faltenbildend. Tief verbunden.

Ein Strömen und Fließen in Richtung des Grundes, über Steine, die dadurch mit einem silbrigen Schimmer spiegelnd überzogen sind. Finger lösen sich voneinander und tauchen tief in die Kühle der umspülten Samtheit ein. Ein Stören des Schimmers, ein Brechen des Flusses des Strömens. Ein Kichern, Funkelndes durchschneidet das Blau und landet auf Rot, es tut gut, diese Kühle zu spüren. Steine werden genommen, angeschaut, gedreht, nach Geschichten betrachtet in ihren Farben, ihr Glitzern untersucht, in den Händen gewiegt die Kälte, die Samtheit, die Rauigkeit gespürt, geherzt. Weg und Flug in den Abgrund, tief das Poltern, lang der Weg, weg für jetzt und immer. Die Schritte am Grat des Seins führen uns weiter, die Wärme öffnet die Schalen, die einen fest umzurren, um geschützt durch das Dasein schreiten zu können. Flatternd und leichten Schrittes, die Finger wieder in sich greifend, die Wärme der Finger spürend, weiter, immer weiter, dem Strahlen des Gesichtes entgegen, zu neuen Schafen. Die Schalen berühren sich und wehen durch den leichten kühlen Wind. Nehmen den Geruch des Blauen, des Gelben, des Weißen, des Blauen auf.

Weich, moosig, zart der Untergrund, die Schritte tief und rund, immer weiter durch das Weite der Träume, die immer freier entlang des Grates entstehen. Das Haar wiegt sich in der Luft von dem ständigen Auf und Ab der Bewegung. Blond und braun, wo sich die Strähnen berühren und ineinander kurz zusammen weben, durchflutet vom Gelb und Blau.

Die Finger verwebt ineinander.

Der Traum ist unendlich und nicht greifbar, die Schafe rücken eng aneinander, es gibt ein schwarzes Schaf dazwischen. Ist das schlecht? Warum sollte ein schwarzes Schaf schlecht sein? Zu Ostern haben wir ja zwei Lämmer gebacken, ein weißes und ein schwarzes, und ehrlich, unser Schwarzes schmeckte uns dreimal besser als das Weiße. In der Mitte steht es, wir schlüpfen durch den Zaun, kein elektrischer, und bewegen uns Finger in Finger auf das schwarze Lämmchen zu. Der Kopf bewegt sich von unten seitlich nach oben zu uns.

Es lächelt, und wir nähern uns. Die Weißen stieben davon. Nur das Schwarze bleibt vor uns stehen. Unsere Finger berühren es. Zwischen den Felsen einer Steinmure finden wir den Rest eines Bergsteigerseils, abgetrennt von der Macht der Mure. Der Schädel und die Knochen eines Schafes liegen verstreut herum. Wir sammeln die Teilchen auf. Einige wurden auf Steinplateaus von Raben durch Fallenlassen zerschmettert. Zerschmetterte Knochen, die nochmals zerschmettert wurden. In einer durchsichtigen Vesperbox finden die gebleichten Schafteile einen Platz. Weiß statt Schwarz im Blau mit Gelb. Finger in Finger, mit der Schachtel in der Hand, über Blumen und Steine hüpfen und springen wir. Tanzen ist ein schönes Wort. Tänzeln zwischen den Schafen und Träumen, tief verwurzelt im Blau, das durch weiße Fläumchen nun gefüllt wird. Der Weg auf dem schmalen Grat weich und glitschig, das Leben in der Tiefe des Sumpfes. Nein, es ist nicht sumpfig, sondern nur glitschig. Der Halt ist da, der Ast biegt sich.

Weiter, der Weg ist lang. Der Blick traumhaft. Die Decke aus Blumen und Grün wunderschön. Der Hauch der Luft, der von der Schlucht gegen den Himmel strömt, streift unsere Nasen tief und befreiend. Der Geruch der Wärme der Tiefe erfüllt uns. Die Ruhe und die Erholung, das Fallenlassen und in die Tiefe des Blaus zu sehen. Die Fläumchen schafen sich zusammen. Eine Herde ohne ein Schwarz darin. Der Traum treibt weiter, die Fläumchen auch. Der Ort ist unbekannt, die Weite spürbar, die Endlichkeit bewegt sich in eine Unendlichkeit des Weiter. Die Knochen in der Kiste rasseln. Es ist das Geräusch des Verlorenen, aber auch Gefundenen. Schaf, du bist bei uns. – Und Sie? Wie weit sind Sie schon? – Ein Fragment des Tages, der sich gerade überlegt, was als Nächstes passieren und erscheinen könnte.

Gesang in der Luft, begleitend ein Singsang aus vielen Melodien, ein Chor, ein Kanon, es ist die Realität, dass vieles, was nicht zusammenpasst, doch ein stimmiges Gesamtbild ergibt. Ein Verweilen, ein Ruhen in sich, die Stimmen der Vielfalt in sich spüren. Hoch geht es über Gesteinsanhäufungen, die es zu erklimmen gilt. Ein Bachbett am Fuße eines Wasserfalls ohne Wasser, nur mit Steinen, große und mächtige, Überbleibsel vieler Schwalle. Heute stöhnt, schnauft es nur im Echo des Grabens, wo sonst das Raunen und die Stimmen des Wassers zu hören normal ist. Schwer ist der Weg und warm, aber es ist schön, nach oben zu kommen, steil nach oben bis zu dem Punkt, an dem es nicht mehr geht. Ein Ende des Weges, ein Blick nach oben mit den vielen Gedanken, was wäre, wenn ein Strömen und Fallen wäre. Tief ist am Grund ein Loch zu sehen, ausgespült und immer wieder gefüllt mit Material, das der Schwerkraft folgen musste und infolge der Schwerkraft nicht weiter geschwallt wurde. Ein Blick über das Blau mit den vielen weißen Pluderchen, eine Ruhe der Stille, wieder mit den Fingern ineinander verwoben. Ein Atmen aus tiefer Brust, ein Blick des tiefen Vertrauens. Der Block schreit nach Verweilen, auf dem wir uns dann niederlassen zum Blick in den tiefen Grund. Geordnet in sorgfältigen Flächen, mathematisch genau, strukturiert bis zum Gehtnichtmehr, ja, das ist der Grund. Wer hätte das von oben hier je erwartet und vermutet.

Hier von oben auf dem Block, ganz anders betrachtet als auf dem Grund, wie abgehoben und klar plötzlich ersichtlich. Die Schnur zwischen den Strukturen gar störend und laut. Wie eingeschnitten in die Berechnung der Logik und des Seins. Störend und doch zu akzeptieren, als Faden der Bewegung und der Verbindung. Wie geht es weiter, nach einem tiefen Schluck. Weiter muss man, auch wenn der Ort zum Verweilen ist, denn irgendwo muss man hin. Ob das Ziel auch wirklich das Ziel ist oder gar wieder der Ausgangspunkt, das scheint unklar, aber doch so sicher, dass der Ursprung auch das Ende sein wird. Wir gehen dem Grunde wieder zu, leicht annähernd. Ist ja fast irrsinnig, wieder weiterzuschreiten, statt ständig zu verweilen. Ein Ort der Ruhe und der Besinnung. Warum nur der Drang des Weitergehens, warum nur? Des Lachens wegen, das ist es. Zweige wie verzweigte Peitschen streifen uns in unserer gebückten Haltung. Demut oder nur das Durchdringen der Tiefe zur Findung der Lichtung und Freiheit. Wir schieben die Äste mit unseren Armen beiseite, manche sind widerspenstig, manche willig. Der Boden weich und tief. Endlich können sich wieder die Finger ineinander verweben. Die Köpfe sich zueinander bewegen. Die Augen sich gegenseitig in den anderen spiegeln und widerfinden. Ein Lächeln und ein tiefes Atmen.

Schafe auf dem Plateau. Bewegen sich kaum. Manche mit dicken Bäuchen, manche mit kurzem Fell, viele mit gesenktem Kopf. Sollen wir uns ihnen nähern oder weiter am Grat entlangschreiten? Wir wollen die Herde mit den gesenkten Köpfen nicht stören.

Eine Brücke über einen Graben, so tief und verwachsen, dass der Grund nicht wahrgenommen werden kann. Schmal ist sie und wackelig. Ein Schritt folgt vorsichtig auf den nächsten. Die Brücke schaukelt leicht mit uns hin und her. Ein gleichmäßiges Ruhiges. Zu langweilig für uns. Wir laufen nun die Brücke mehrmals auf und ab, springen dabei, und die Brücke schwingt in leichten Amplituden behutsam mit. Sie folgt unseren Vorstellungen, wie und was, jedoch sehr träge und manchmal unerwartet. Die Schlucht unter uns, offen, jederzeit bereit, uns zu verschlingen. Der Pfad schlängelt sich entlang der Lippe des Schlundes, die Zahnreihen unter uns warten auf ein Abrutschen von dieser. Unsere Finger halten sich nun ganz fest, fast ängstlich, mit der Wärme und dem Drücken verschwindet jedoch die Furcht, und die Neugier, die spitzen Reihen unter uns zu betrachten, gewinnt Raum. Das Blau über uns, das nun von weißen Fetzen eingehüllte Gelb, gestaltet den Raum und die Zeit, die in sich fließt und weiterschreitet. Schräg nach unten leitet uns der Pfad. Schmal noch dazu. Im Gesicht ein kalter Wind, der zum Grund schiebt. Kalt und kräftig, die Haare verwirbelnd, die Schalen verschließend. Das Blau und Weiß der Blumen auf den Wiesen nicht mehr breit, sondern in sich verschlossen, sind froh, einen Halt zu haben, um nicht zum Grund gerissen zu werden. Wir klammern uns aneinander, machen uns schmal, das Blau mit den weißen Fetzen gibt uns Halt, denn kein Schwarz ist vorhanden. Die Knochen in der Kiste rasseln bei unseren schnellen federnden, beschwingten Schritten. Es zieht uns nicht in den Grund, und wir wollen auch nicht zum Grund. Wir lieben das Schreiten dazwischen. Weder hoch oben noch tief unten. Wir sind nicht greifbar und festhaltbar, aber nicht ziellos und hoffnungslos.

Schafe vor uns und hinter uns, die Köpfe zum Grund gedreht. Wir durchtrennen sie mit einer klaren geraden Linie. Eine Linie des Schreitens dazwischen, ohne die Absicht, damit etwas bewirken zu wollen. Geradlinig und weiterführend, scheinbar nicht zielorientiert.

Zwischen den Weißen sind nun Schwarze im Blau. Das kalte Blasen spürbar und in sich lauter. Bäume berühren und kommunizieren in sich laut. Es ist kein begleitendes Rascheln mehr, sondern die Dominanz der Töne. Eine Höhle der Geräusche, beklemmend und nach einem greifend. Man duckt sich und macht sich klein, die Kleine drückt sich an den Großen. Die Schritte im gemeinsamen Einklang. Die Finger nach wie vor ineinander verwoben und der Blick gemeinsam. Der Grund nun nicht mehr klar greifbar unter uns, verhängt mit schweren Schwaden. Der Weg geht immer weiter, das Blasen immer kälter. Die Schafe sind weg, nicht mehr sichtbar und nicht mehr fühlbar. – Was machen Sie denn gerade? Wo fangen sich gerade Ihre Gedanken im Wind der Träume? – Der Pfad nur noch schwer erkennbar, zwischen Abgrund und Wand. Der Gang sehr vorsichtig. Das Weiß im Blau, das Blau ist gar nicht mehr, ist vor uns, über uns, seitlich und hinter uns. Es ist dicht da und feucht im kalten Wind. Es umhüllt uns und versperrt den Weitblick. Nur noch die Nähe ist erkennbar und spürbar. Die Ruhe des weißen Mantels fast erdrückend. Die Finger ineinander verwoben, die Sicherheit darin und die Geradlinigkeit des Schreitens. Aus dem Nichts kommt uns eine gemauerte Wand entgegen. Die ist nicht unendlich, sondern endlich. Die Wand eines Gebäudes. Starke Drähte verbinden das Bauwerk über dem Abgrund mit dem Grund. Oder hängt der Grund an dieser Schnur fest, damit der Grund nicht verschwindet? Aus dem weißen Nichts kommt eine Gondel, die einlädt, in das Nichts zu fahren. Der Obolus ist entrichtet, und die Fahrt beginnt, rau und wild, vom heftigen Blasen geschüttelt, dem Grund entgegen durch das Nichts. Arm in Arm und nur zu zweit in dieser Gondel, glücklich, zugleich neugierig und angespannt, dem Grunde entgegen.

Michael Miritsch

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen| Inventarnummer: 15143

Nachts

Nachts, umgeben von Ruhe
alle Kaufhäuser blinken weiter
denn Lichter schlafen nie
Reduzierter Verkehr am Asphalt
Abzüge pusten fetttriefende Küchen in die Nachtluft

Das Rathaus liegt im Nebel
Villen versteckt in schwarzen Bäumen
nur ein gelbes Licht blinkt
Zacken von Zäunen ragen spitz in die Schwärze
Besitzer halten Menschen mit Speeren fern

Durch enge Gassen
die durch Finsternis Körper zerdrücken
Graffiti-besprühte Wände, bunt
zerlumpter Müll verteilt in einem Kegel von Licht
Nachts pressen Gedanken sich durch Körper, Wände und Schrott
Zeitgefühl nur im Licht beschleunigt
im LED-Bildschirm
Maschinen beschleunigen Zeit

Im Mondlicht steht alles still

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen| Inventarnummer: 15103

Eindrücke im Mai

Mitten im warmen Mai, in praller Sonne, esse ich eine Ecke
eine Frau läuft vorbei mit Blumen in der Hand
sie schnäuzt sich ihre Nase
Tee in der Sonne und ein Plätschern im Hintergrund
ein Vogel spannt seine Flügel, er fliegt herum
dabei macht er Geräusche

Im Vorbeigehen schnippt einer fröhlich die Finger
eine Mutter füttert ihr Kind
ein Pärchen, das Mädchen lacht ihren Freund an
Das große Kirchenkreuz verschmilzt im blauen Himmel
Papier fliegt aus der Schachtel, aus der ich gegessen habe
und die Dicken bewegen sich auch alle

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen| Inventarnummer: 15105