Stoßlos

Nachdem ich heute – nach einem Besuch bei meinem Zahnarzt wollte ich mich bewegen, um mein Blut zum ordnungsgemäßen Zirkulieren zu animieren, auf dass es das Narkosemittel rasch abbauen helfen konnte – über die Tuchlauben gegangen war, freute ich mich darauf, die Hofburg geschwind hinter mir lassen zu können.

Es waren nämlich keine von Fremdenführern geleiteten Gruppen von Touristen auszumachen, welche diesen Führern, wie eine Schafherde ihrem Leithammel, auf Schritt und Tritt folgen, und welche ich überaus grässlich finde. Oft genug setzen sich diese Gruppen aus Menschen zusammen, sowohl fremdländischer als auch offensichtlicher ländlicher Provenienz, welchen, ich kann es nicht anders ausdrücken, ein boviner Gesichtsausdruck zu attestieren ist. Es ist nicht so, dass ich mich an Menschen stören würde, welche ein kuhhaftes Äußeres zur Schau tragen, Gott bewahre. Es ist mir wirklich gleichgültig, wie ein Mensch von Mutter Natur erschaffen wurde, oder wie er sich zurechtmacht. Niemand kann etwas für sein Aussehen, und viele Menschen können es sich nun einmal nicht leisten, sich Kleidung zu kaufen, die mir persönlich als wenigstens einigermaßen stilvoll erscheint, oder wollen dies auch nicht, wenn in den Ländern, aus welchen sie nach Österreich kommen, ihr Kleidungsstil nicht bloß gesellschaftlich akzeptiert, sondern üblich ist.

Ich störe mich an diesen Gruppen aus einem gänzlich anderen Grund. Sie hindern mich nämlich am Gehen, und zwar, um präzise zu sein, am Halten meines Schritttempos. Es ist so, dass ich für gewöhnlich schnell gehe. Dieses schnelle Gehen ist zum einen der Sport, den ich am meisten schätze, und der einzige, den ich betreibe, zum anderen ist es die Art und Weise, die ich als die für mich geeignetste erachte, um Inspiration für mein literarisches Schaffen zu finden.
Ich musste mich also durch gleich zwei Touristengruppen kämpfen, welche ich davor nicht gesehen hatte, denn beide befanden sich im Innenhof der Hofburg. Ich drängte mich an den Menschen vorbei und fragte mich, auf wie vielen Fotos ich zu sehen sei, denn ich habe schon vor geraumer Zeit aufgehört, stehenzubleiben, wenn ich Touristen sehe, die sich gegenseitig ablichten, wenn die Linie zwischen Linse und porträtierter Person meinen Weg kreuzt. Doch gäbe es einen Anlass für mich, wirklich sofort stehenzubleiben, um das Gelingen eines Fotos nicht zu gefährden: Nämlich dann, wenn ein Tourist ein eben defäkierendes Fiakerpferd ablichten möchte. Dafür hätte ich Verständnis, ehrlich. Ich halte dieses Motiv eben für in hohem Ausmaß geeignet, als repräsentative Erinnerung an Wien herzuhalten, zumal das Foto in einer Stadt geschossen werden würde, deren innerster Bezirk ständig erfüllt ist vom Geruch der Hinterlassenschaften dieser Pferde.

Ich überquerte die Ringstraße und bog daraufhin links ab, um den Touristen beim Denkmal für die Kaiserin zu entgehen, also wanderte ich der Fassade des Kunsthistorischen Museums entlang.
Eine Rabenkrähe flog etwa fünf Meter vor mir über den Weg. Ich schaute dem Vogel nach, denn ich bin sehr interessiert an der Ornithologie, und stellte fest, dass er keinen Stoß mehr besaß. Der Terminus Stoß bezeichnet im Übrigen das, was gerne als der Schwanz eines Vogels bezeichnet wird. Die Krähe musste ihres Stoßes schon vor einiger Zeit verlustig gegangen sein, denn ihr Flugverhalten war als völlig normal zu bezeichnen.
Ich fragte mich, wie es wohl dazu gekommen sein könnte, dass die Krähe ihren Stoß verloren hatte, doch gelangte ich zu keiner befriedigenden Antwort. Ich wanderte weiter auf meinen angestammten Wegen der Inspiration, also durch den siebenten Bezirk, der mein Lieblingsbezirk in Wien ist, obgleich ich niemanden persönlich kenne, der in diesem Bezirk wohnt, der charakterlich oder intellektuell einigermaßen interessant für mich wäre.

Ich ging also mit zügigen Schritten durch diesen Bezirk und beobachtete aufmerksam die Menschen und Gebäude, denn durch dieses Dinge-auf-mich-einwirken-Lassen habe ich bereits viele Themen erkannt, über die es zu schreiben lohnt und über die ich dann geschrieben habe. Heute jedoch gelang mir das nicht. Ich betrachtete viele Menschen, alleine oder zu mehreren sitzend, gehend oder laufend, und Bauwerke, las im Vorbeigehen Plakate und sonstige Schriften auf ihren Fassaden, doch sah ich nichts und niemanden, der oder das eine Story wert gewesen wäre.
Kurze Zeit nachdem ich den Scheitelpunkt meiner üblichen Runde hinter mich gebracht hatte, erkannte ich, dass ich bereits etwas gesehen hatte, was es wert war, darüber zu schreiben, und zwar nicht auf meiner eigentlichen Runde durch Neubau, sondern beim Kunsthistorischen Museum, nämlich die Rabenkrähe, der der Stoß fehlte. Obgleich ich keine Erklärung für dessen Fehlen hatte finden können, ließ mich der Gedanke an diesen Vogel nicht los. Ich dachte ständig an dieses Bild, das immer noch vor meinem geistigen Auge stand, während ich alles beäugte, was mich umgab.
Es war das Fehlen eines für das Flugverhalten eines Vogels essenziellen Teils, das jedoch ohne Folgen geblieben war.
„Wie kann es sein”, fragte ich mich, „dass ein Wesen seinem Tagesablauf ohne erkennbare Einschränkungen folgen kann, obwohl diesem Wesen eine so wichtige körperliche Voraussetzung dafür abhandengekommen ist? Wie kann man sich so verhalten, obwohl einem, wenigstens in gewisser Weise, der Boden unter den Füßen weggezogen wurde?”

Ich selbst war lange Zeit nicht in der Lage, einem auch nur einigermaßen geregelten Leben nachzugehen. Mein Tagesablauf war sehr wohl geregelt. Aufstehen, Texte in den Computer hämmern, zu Mittag essen, danach weiterhämmern oder fernsehen, schließlich ein Spaziergang und am Ende stand das Schreiben im Salzamt. An vielen Tagen zumindest. An den anderen unterließ ich das Schreiben und trank grässlich viel. Das unkontrollierte Saufen und Nichtschreiben hatte den, durchaus angenehmen, Nebeneffekt, dass ich am Tag darauf keine Texte abzutippen hatte. Mir war der Boden unter den Füßen weggezogen worden, und ich konnte keine Möglichkeit erkennen, somit auch nicht nützen, sie wieder auf diesen zu stellen.
Und doch habe ich den Boden wieder berührt. Es ist nicht so, dass ich mein gesamtes Körpergewicht auf diesen hätte wirken lassen können, um dadurch auf einem sicheren Fundament zu stehen zu kommen, aber Berührungen, wenn auch sanfte, waren immerhin ein Anfang.

Ich erkannte eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Rabenkrähe und mir.
Ich weiß natürlich nicht, kann es gar nicht wissen, was der Vogel gefühlt hat, als ihm sein Stoß abhandenkam. Hat er, in einer Art Schockstarre, alles fallenlassen, alles fahrenlassen? Hat er sich zurückgezogen, in die innere Klause, einem Eremiten gleich?
Ich habe so gehandelt.
Nein, das hat die Krähe natürlich nicht gemacht. Ansonsten hätte ich sie heute nicht sehen können. Denn dann wäre sie gestorben, was heißt verendet. Sie wäre schwach geworden, körperlich schwach, und einem Fuchs, Marder oder gefiederten Beutegreifer zum Opfer gefallen. Sie ist ihrem Instinkt gefolgt, der ihr sagte, dass sie weiterkämpfen muss. „Du, Rabenkrähe”, so lauteten anzunehmenderweise seine unhörbaren Worte, „musst trotz deiner nunmehrigen Beeinträchtigung weiterkämpfen und das Fliegen wenigstens so gut wiedererlernen, dass du dir Nahrung suchen kannst, denn sonst stirbst du!”
Die Krähe war, zwar von ihrem Instinkt gesteuert, aber dennoch, vernünftiger als ich, denn ich habe mich in gewissen Phasen zu gewissen Zeiten mit der zeitnahen Endlichkeit meines Lebens abgefunden.

Dass es letzten Endes doch nicht so weit kam, habe ich wohl meinem eigenen Überlebensinstinkt zu verdanken, der erwiesenermaßen bei Weitem schwächer ausgeprägt ist als der von Tieren, ansonsten hätte ich weit weniger Zeit benötigt, um zu erkennen, dass das Leben einfach weitergehen muss.
Denn dessen Ende ist ohnehin unausweichlich. Warum also sollte ein Mensch wie ich, der eine stark ausgeprägte Inklination hat, gegen Handlungen, Ansichten und Verhaltensweisen zu rebellieren, ausgerechnet gegen die Unausweichlichkeit des eigenen Todes und die Unklarheit, wann dieser eintreten wird, ankämpfen, indem ich diesen selbst herbeiführe? Das wäre erstens ein zu großes Risiko, denn vielleicht kommt doch noch was, und zweitens wäre es höchst inkohärent in Hinblick auf mein bisheriges stetes rebellisches Verhalten, was zum Beispiel Arbeit anlangt. Denn so grässlich der schwarze Wolf der Depressionen und die Oberflächlichkeit mancher Leute auch waren und sein mögen, an ihnen zugrunde zu gehen, das steht nicht dafür.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 16107

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