Die Kinder vom Sonnberg

Die Auskunftsperson ist der Wirt der Redlinger Hütte, der liebenswürdige und redefreudige Johann Riegler, der seit 38 Jahren dieses Gasthaus bewirtschaftet, wahrscheinlich den schönsten Platz im Wienerwald. Charlotte und ich waren auf einer Expedition, um Wege, Distanzen, Zeiten und Rastmöglichkeiten für die zweite Kafka-Wanderung am 11. September 2016 zu erkunden.
Wir bekommen eine Lektion Heimatgeschichte. Die Redlingerhütte geht auf eine Arbeitersiedlung der 1780er zurück, auf Joseph II. Der Reformator und Praktiker unter den Monarchen holte Wald- und Steinarbeiter, vor allem Böhmen und Tschechen, für die Sandsteinbrüche in der Umgebung. Sie stellten Schleifsteine her, die besten in der ganzen Monarchie und exportiert bis nach England. Später kamen die „Gastarbeiter“ für die Westbahn dazu. Ende des 19. Jahrhunderts verwandelten sich die Arbeiterbaracken in einen Wienerwald-Einkehrgasthof, wie sie damals in den Außenbezirken und rund um Wien aus dem Boden sprossen.

Besonders gefällt uns die Vorstellung, dass, wäre Kafka früher und gesünder als 1924 in Kierling angekommen, es diesen Ort schon gegeben hat und der fleißige Wanderer sicher auf diese idyllische Waldlichtung gestoßen wäre. Wahrscheinlich hätte er ihn an einen der Gastgärten in und um Prag erinnert, in denen er gern saß und sich mit Freunden traf. Den Schweinsbraten mit Kraut und Knödeln, für den die Redlinger Hütte heute berühmt ist, hätte der frühe Veganer auch bei bester Gesundheit nicht bestellt, aber vielleicht eine Linzertorte, die er trotz seiner strengen Reformkost immer gern mochte.
Ob er vielleicht ein Kafka-Menü auf die Speisekarte setzen soll, fragt der offensichtlich kafkakundige und einfühlsame Wirt mit einem Augenzwinkern. Gebratene Käfer mit Äpfeln? Charlotte lacht aus vollem Hals, als sie sich dieses „Gesundheitsmenü“ vorstellt: Rohkost, Früchte, Nüsse, Honig, ein Krug Milch, Wasser und - das Ungeziefer. Wir bestellen Linzertorten als eine der Nachspeisen für unseren nächsten Kafka-Spaziergang am 11. September. Bei Radler, Gepritztem und Grammelschmalzbrot mit reichlich Zwiebel und anhand einer Wanderkarte für die Kierlinger Umgebung erklärt uns der Wirt die verschiedenen Wege von hier weg in alle Richtungen und auch die Abstiege ins Kierlingbachtal. Der längere Weg führt in einem großen Bogen um den Marbach zum Sonnberg, dem mit 420 Metern höchsten in der Umgebung.

In einer Senke unter dem Nordhang befand sich einmal ein Steinbruch für den Abbau von Sandstein. Nur noch einige, fast unsichtbare Steinhänge sind geblieben, dicht überwachsen von Bäumen und Unterholz, von undurchdringlichen Brombeerhecken, Kletten und mannshohen Brennnesseln. Noch tiefer in der Senke stand einmal eine Burg, von der nicht einmal der Name bekannt ist und auch nicht die geringsten Spuren übriggeblieben sind, erzählt der Wirt. Nur eine Legende hat sich erhalten: Sie ist durch ein schreckliches Feuer zerstört worden. Und wer dort – natürlich nur um eine mondhelle Mitternacht – vorbeikommt, kann noch immer das Schreien und Weinen von den in der brennenden Burg gefangenen Kindern vernehmen, so grässlich, dass jedem Wanderer das Blut in den Adern gefriert und er schnellstens das Weite sucht. So hat noch niemand das Rätsel der weinenden Kinder erkunden können. Wer waren die Kinder? Die Sprösslinge der Burgherren? Eine Schule, ein Waisenhaus? Ob dieses traurige Ereignis auf den 30-jährigen Krieg, die Türkenbelagerungen oder die Franzosenzüge zurückgeht, kann uns nicht einmal der ortskundige Wirt sagen.

Wir sind uns sicher, dass Kafka, wäre er bei ihm eingekehrt und hätte er diese Geschichte gehört, einen Tagebucheintrag gemacht, einen Brief oder eine Parabel geschrieben hätte.
Die Suche nach der Burg. Das Schloss. Oder wäre Kafka, der passionierte Spaziergänger und Spezialist für Nachtmahre, einmal um Mitternacht diesen Weg gegangen, um dem Geheimnis, das ihn sicher angezogen hätte, auf den Grund zu kommen, um etwas ihm entsprechendes "Kafkaeskes" draus zu machen.

Wir nahmen den Wanderweg 6 durch das Grüntal nach Kierling zurück. Er sollte laut Wegweiser „40 min“ dauern, wir brauchten aber viel länger, weil es ständig etwas zu bestaunen, bereden und fotografieren gab. Diese Strecke bietet an jeder Stelle so viel Lieblichkeit, dass einem die Tränen kommen und man niederknien möchte: zuerst vorbei an einem Teich, ein Stück durch einen Obstgarten mit rotbäckigen Äpfeln und dann bergauf durch alte Buchenwälder, so dicht und hoch, dass sie über dem Weg einen Tunnel bilden, und wir nicht mehr wissen, wer sich vor wem verneigt.
Charlotte ist fasziniert von der Ähnlichkeit zu der ihr vertrauten Müritzer Landschaft, wo Kafka im Sommer 1923 seine letzte große Liebe, Dora Diamant, kennenlernte. Genauso ein Wald mit Buchen, aber stell dir vor, du kommst aus dem Wald raus, und dann sind da Sanddünen und die Ostsee. Ich bin überrascht, hatte ich bei Müritz doch immer an Föhren gedacht. Meine Erinnerungen an die Ostsee verbanden sich mit der großen Wanderdüne der Kurischen Nehrung, die mit Föhren befestigt wird, mit den Föhrenwäldchen rund um Thomas Manns Haus in Nidden und den Stränden von Klaipeda mit ihren locker im Sand stehenden Föhren.

Im Grüntal mündet der Buchenwaldweg in eine unerwartet weite Wiese mit leichten Wellen und einem freien Rundblick auf die Wienerwaldhügel. Gräser und Blumen stehen hüfthoch, sie werden offenbar nicht gemäht, und Margeriten, Glockenblumen, Skabiosen, Hahnenfuß, Storchenschnabel, Schafgarbe, Ochsenmaul, Kuckucksnelken, Wiesenschaumkraut, Taubnessel, Flockenblume, Giersch, Knabenkraut, Blutweiderich, Beinwell, Pimpernell, Wiesensalbei und verschiedene Kleearten dürfen sich seit dem Frühling ausbreiten.
Wir beugen uns über ein Blumengestrüpp am Wegrand und finden, dass das Blau der Wegwarte noch schöner, tiefer violett ist als das der Kornblume. In zwei Feldern ist der Hafer gelb und eigentlich reif für die Ernte. Ob er auch geerntet wird, bezweifeln wir, weil er vom Regen an vielen Stellen niedergedrückt und von Pflanzen überwuchert ist, die man üblich Unkraut nennt: Ackerwinde, Ackersenf, Distel, Kornrade, Mohn, Beinwurz und Leinkraut.

Am Scheitelpunkt kommen wir an einem Marterl vorbei, dem hölzernen Käferkreuz, umrahmt von einigen Bänken mit der Widmung des Kierlinger Weinbauvereins. Einige große Vögel kreisen darüber, ob es Bussarde oder Falken sind auf der Jagd nach Mäusen? Nur Krähen und Tauben können wir mit Sicherheit bestimmen. Sie sitzen so dicht aufgereiht auf den Hochspannungsleitungen, flattern und fliegen auf, dass man meinen könnte, sie mögen den Elektrosmog und rappen dabei Elektrosongs.
Es ist eine der wenigen Stellen im dicht be- und zersiedelten Wienerwald, an denen man außer einem Stadeldach weit und breit kein einziges Bauwerk sieht. Im Blick voraus ragen die Wienerwaldhügel hoch empor wie ein Gebirgszug, was er ja als letzter Ausläufer der Ostalpen geologisch tatsächlich ist. Vielleicht zum ersten Mal verstehen wir, dass der Wienerwald die zärtlichste Umarmung ist, die die Alpen für eine Stadt bereit haben. Eine besonders schöne Wiesen-Waldbucht in einer Mulde mit Baumstämmen und einem Jägerstand am Rand können wir uns als die letzte Station für eine Kafka-Lesung vorstellen.

Wir stimmen überein, dass Kafka den Grüntalweg wahrscheinlich gemocht hätte und er ihn immer wieder auf- und abgegangen wäre, bei jeder Tages- und Nachtzeit, um zu ergründen, was ihm daran guttut und was ihn stört, um seine Wirkung in sich eindringen zu lassen. Kurz werden wir in unseren Phantasiegesprächen irritiert von der Gestalt eines enorm großen, braunen Tieres, das in der Ferne an einem Weidezaun entlanggeht. Ein Mammut im Grüntal? Kann nicht sein. Weiter unten kommen wir zu einer Weide, auf der sich eine Kuh mit ihrem Kalb an einem Wassertrog labt. Wahrscheinlich sind sie dicht hintereinander gegangen. Eine Schafherde ist in einem Pferch nebenan untergebracht. Es gibt noch einen richtigen Bauern im Wienerwald, wundern wir uns, Landmaschinen, Strohballen und Säcke mit Futtermittel unter einem Stadel, aber kein Mensch weit und breit.
Weiter unten verengt sich der Wiesenweg, gesäumt von Wildkirschen und Edelkastanien, darunter meterhohe Brombeer- und Brennnesselwildnis, in eine dramatische Wienerwaldschlucht, an beiden steilen Seiten bewachsen von Laubwald, mit einem mäandernden Bächlein tief unten, so klein, dass es auf der Wanderkarte nicht einmal eine Linie oder einen Namen hat. An diesem sonnigen Juli-Tag wird es plötzlich so dämmrig-grün, dass wir nicht mehr den Grund des Tales erkennen können. Als nach einer scharfen Wendung des Weges die ersten Häuser im Licht des sich weitenden Grüntals auftauchen, beginnen wir mit steigender Begeisterung, ein von uns imaginiertes Quartier für Kafkas ideale Sommerfrische auszusuchen.

Dieses Haus, nein jenes, zu groß, zu klein, zu teuer, zu einfach, zu laut, schau, das da hat eine Terrasse nach Südosten, die könnte er mögen, aber der Weg hinauf ist zu steil, denk dir den Winter aus. Dann rechts ein grün-weißes Haus, „Villa Frei. geb. 1901“ steht in goldenen Lettern über dem Eingang, das wäre das richtige, meinst du nicht auch? In dem Türmchen könnte er sein Schreibzimmer einrichten. Auf dem Balkon könnte er ungestört seinen Müller-Leibesübungen nachgehen und sich nackt sonnen. Würden seine quälenden Kopfschmerzen nachlassen? Könnte er hier die Nächte durchschlafen oder sogar etwas schreiben? Ein Kanapee muss unbedingt hinein, so wie in allen seinen Prager Zimmern. Aber nicht einmal Charlotte weiß mehr über deren Beschaffenheit. Aus Leder, mit Stoff, welchem? Wie lang, wie hoch? Mindestens so hoch, dass sich das Riesenungeziefer namens Gregor Samsa darunter verkriechen hätte können.

Bellende Hunde, krähende Hähne, kreischende Sägen, heulende Rasenmäher, schreiende Kinder, Schritte der Nachbarn, Husten, Lachen, Gespräche, fast alles störte den extrem lärmempfindlichen, an Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen leidenden Kafka. Schau, hinter dem Haus, ein Stapel Holz und eine Wiese, da könnte er dem Holzhacken, dem Heuen fröhnen und nackt auf der Wiese herumlaufen. Die Hecken sind hoch, niemand würde ihn beim Müllern und Nacktbaden stören. Im Natursanatorium Jungborn am Harz braucht er im Juli 1912 eine Woche, um die Scham und die Badehose abzulegen. Ihm wird übel beim Anblick der alten Männer mit Spitzbauch und Glatze, die nackt mit der Sense hantieren, über Heuhaufen hüpfen, Fußball spielen, miteinander boxen oder nackt über die Wiese stürmen und sich bei Regen im nassen Gras wälzen. Im Tagebuch vom Juli 1912 macht er ausführliche Notizen von dieser Szenerie.

Guck mal, Veronika, in diese Ecke des Garten, unter dem alten Kirschbaum ließe sich leicht ein „Luftlichthäuschen“ bauen, da müsste er nicht einmal auf der Leiter in die obersten Äste steigen, sie fallen ihm direkt in den Mund. Eines war sicher, er würde hier keine Köchin brauchen, ob Vermieterin oder Schwester. Er könnte fast zur Gänze Selbstversorger sein und seiner Angewohnheit des „Fletcherns“ ungestört nachgehen, dem stundenlangen Kauen der Nahrung. Ein Jungborn für sich allein, ideal! Nicht ganz, gibt Charlotte zu bedenken, denn im Grunde liebte er Gesellschaft, er unterhielt sich gerne mit den Gästen der Sanatorien und Pensionen. Immer fand er dort praktischerweise unter ihnen Vorbilder für seine Gestalten. Etwa den christlichen Landvermesser Hilster, der ihn mit der Bibel missionieren wollte. Er ging als Josef. K. in veränderter Form in „Das Schloss“ ein.

Wenn es ihn aus seiner Klause im Grüntal unter Menschen zieht, könnte er zur Redlingerhütte hinaufspazieren und dort mit dem Wirt, seinen Kindern und Angestellten plaudern, vielleicht auch nur schweigend in einer Ecke sitzen, mit dem Hut auf dem Kopf, und mit dem zutraulichen Hund spielen. Er hätte sich amüsiert über diesen freundlichen, dicken Fuchs-Dackel-Schäferhund mit zu kurzen Beinen vom Format und Farbe einer nur leicht angebratenen Rindsroulade, der sich bis heute gern zu Füßen der Gäste im Kies wälzt. Wahrscheinlich hätte er ihn – trotz extremer Unähnlichkeit – Max genannt und mit dem Hundemax gesprochen. Vielleicht eine Karte nach Prag in die Postdirektion geschrieben mit „Lieber Max, du in deinem Anzug, in der Hitze …“ Schreiben oder Notizen machen würde er dort nicht, denn seine Schreibzeit waren die einsamen Nächte.
Eine Schwimmgelegenheit müsste man für ihn ausforschen, denkt Charlotte weiter, denn ohne das Schwimmen würde es kein guter Ort für Kafka sein. Aber die Wienerwaldbächlein reichen nicht einmal einer jungen Forelle zum Schwimmen. Wir überlegen, ob er wohl den 50-min-Weg über den Weißen Hof nach Kritzendorf an der Donau in Kauf nehmen würde? Wir glauben, ja, war er doch ein geübter, ausdauernder Wanderer. Donau oder Strombad, beide hätten Wasser genug für den leidenschaftlichen Schwimmer. Im stillen Donauarm von Kritzendorf könnte er sogar ein Boot mieten, so eines, wie er es in Prag an der Moldau besaß, wo er flussaufwärts ruderte und sich dann nackt flussabwärts treiben ließ. Wir würden auch den Wirt der Redlingerhütte nach einem Pferd für Kafkas Reitlaune befragen. Ein Ritt zum Sonnberg, zur Sandsteinmine oder zur geheimnisvollen Burg der Kinder, bei Mond oder Sonne. Wir waren sicher, dass der Wirt ihn wahrscheinlich bei sich würde gärtnern lassen, wenn es ihn überkam, und ihn vielleicht dafür mit Obst und Gemüse entlohnte.

Wie in allen Gärten des Grüntales blühen um die grün-weiße Villa Frei gerade die Rosen, Oleander, Gladiolen und Hortensien in vielen Farben, die Hauswand entlang ziehen sich volle Ranken mit Him- und Brombeeren, und im Vorgarten warten übermannshohe Ribiselbüsche und Hollerstauden aufs Geerntetwerden. Kafka würde hier ankommen können. Die vorbeiwandernden Quartiermacherinnen sind zufrieden.

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 16102

 

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert