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Der Traum im Lärm

Ich schlafe unruhig, ganz so, als wäre meine Unterlage plötzlich hart geworden, hart wie Stein oder Holz. Mein unruhiger Schlaf wird wohl vom Lärm verursacht, der mich umgibt.
Diesen Lärm näher zu definieren ist mir nicht möglich, denn obwohl ich nicht wirklich tief schlafen kann, befinde ich mich in einer Art leichten Schlummers.
Ich träume gerade von meiner Freundin, die mich letzte Woche erst betrogen und dann verlassen hat. Es ist eigentlich ein Albtraum, den ich habe, doch plötzlich – Lärm, der mich aus dem Traum reißt.
Ich versuche mich von diesem nicht stören zu lassen und denke intensiv an die schöne Zeit, die ich gerade mit meiner Freundin habe, an die Spaziergänge und Schäferstündchen, und an das geplante gemeinsame Abendessen in zwei Tagen.

Eine Hand fasst meine Schulter zärtlich an, und eine vertraute Frauenstimme flüstert mir ins Ohr: „Michael, wach auf.“

Doch ich will nicht aufwachen. Ich habe mich für zwei Monate von der Arbeit freistellen lassen, um Zeit mit meiner Freundin verbringen zu können. Ich konzentriere mich auf den Urlaub, den wir gemeinsam verbringen werden. Zwei Wochen auf den Seychellen; ich habe meine Freundin eingeladen – Ehrensache.
Nächste Woche wollen wir einkaufen gehen. Meine Freundin braucht ein paar neue Bikinis, und auch ich sollte mich endlich von meinen Badehosen trennen, die mittlerweile verwaschen und ausgebleicht sind.
Der Lärm wird lauter. Ich überlege, aus meinem Halbschlaf hochzufahren und die Quelle des Lärms ausfindig zu machen, doch da ich gerade Pläne für unsere Zukunft schmiede, unterlasse ich das.
Ich werde meiner Freundin auf den Seychellen einen Heiratsantrag machen. Ich bin sicher, sie haben dort einen Standesbeamten und einen Priester. Dann können wir, wie schön, gleich dort am Strand heiraten. Ich bin sicher, dass sie Kinder von mir will. Wir könnten in das Haus meiner Eltern ziehen, das ist groß genug für eine zweite Familie.

Wieder werde ich an der Schulter angefasst. Doch jetzt ist die Stimme der Frau, der die Hand gehört, nicht so liebevoll wie zuvor. „Michael, ich störe dich nur ungern, aber ich muss in zwanzig Minuten abrechnen. Möchtest du ein einundzwanzigstes Glas Bier, oder soll ich dir die Rechnung bringen?“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten |Inventarnummer: 17036

 

Im Auge des Sturms

Du mein Leben
stehst in verstaubten Ecken,
dort hab ich dich abgestellt
Arbeit blockierte die Brücke zu dir,
Die Leiter nie bestiegen,
in Kisten finde ich deine Lippen,
Kinder klopften vor verschlossenen Türen,
Blasen sind geplatzt,
in denen ich deine Hand hielt,
vom Träumen krank

Gehe ich durch Schnee,
Gehe auf vereistem Boden
Wir sehen uns,
dann gehen wir gemeinsam zur Wolke,
und zu deiner

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 17030

Ganz nett

1

Im Sommer des Jahres 2012 besuchte Peter Koller den Gemeindeball des kleinen Dorfes Gratwein in der Steiermark, wo er Maria Schuster über den Weg lief.
Er fühlte, wie ihm immer heißer wurde, und wusste, dass diese Wallungen der Liebe geschuldet waren, die er für Maria empfand.
Sie hatten einander im Jahre 1983 kennengelernt, und zwar in der Volksschule. Vier Jahre lang waren sie dort nebeneinander gesessen, dann hatte Maria ein Gymnasium in Graz besucht und Peter die Gratweiner Hauptschule. Er hatte in der Folge eine Lehre zum Tischler abgeschlossen, sie ein Medizinstudium. Sie hatten sich an den Wochenenden oft gesehen, in einem kleinen Lokal im Nachbarort, wo sich die jungen Leute trafen, um zu trinken und sich zu unterhalten.

Peter und Maria hatten im Jahr 2008 eine Nacht miteinander verbracht. Es war Vollmond, und die ganz besondere Stimmung einer unterschwelligen Erotik hatte in der Luft gelegen. Beide hatten sie getrunken, und schließlich hatte sie eingewilligt, bei ihm zu übernachten.
Am Morgen des nächsten Tages war er sich sicher, dass er sie liebte. Er erzählte ihr davon, doch anstatt ihn zu erhören, lachte sie bloß und eröffnete ihm, dass er lediglich eine Verlegenheitslösung gewesen war, denn sie hätte am Vorabend die Lust auf ein unverbindliches Abenteuer verspürt.

Peter war tief getroffen, doch ließ er sich das nicht anmerken. Er liebte Maria, sagte jedoch niemandem, dass es so war. Wenn sie sich an den Wochenenden über den Weg liefen, tat sie so, als wäre zwischen ihnen niemals etwas passiert, und ließ seine Annäherungsversuche ins Leere laufen.
Er hatte keine feste Freundin, bloß kurzlebige Beziehungen, die kaum eine Woche Bestand hatten. Maria hatte zwar einen Freund gehabt, doch war diese Verbindung nach zwei Jahren, im Sommer 2011, in die Brüche gegangen.

Als er Maria auf dem Ball begegnete, beschloss er, ein klärendes Gespräch mit ihr zu führen.
„Maria“, sagte er, „darf ich dich auf ein Glas Sekt einladen?“
Sie blickte ihn erstaunt an, dann lachte sie.
„Du versuchst es also immer noch bei mir, Peter“, stellte sie fest. „Na gut, ein Glas Sekt kann nicht schaden.“
Sie gingen zur Bar, und Peter bestellte.
Nachdem sie angestoßen und einen Schluck getrunken hatten, nahm er seinen ganzen Mut zusammen.
„Maria, ich liebe dich. Seit unserer gemeinsamen Nacht habe ich keine Augen für andere Frauen.“
Sie stöhnte und sah verlegen auf ihre goldene Armbanduhr.
„Peter“, begann sie und zögerte dann doch weiterzusprechen.
„Ja?“
Er wollte sie zum Weitersprechen bringen und fühlte, wie ihm die Angst die Kehle zuschnürte.
Es war das sichere Wissen um eine abweisende Antwort Marias, das diese Angst in ihm auslöste. Sie zögerte ihre Antwort hinaus, doch Peter wusste ohnehin, was sie zu sagen im Begriff war.

„Es würde mit uns nicht funktionieren“, sagte sie. „Du bist mir einfach zu minder.“
„Wie bitte? Was hast du gerade gesagt?“, fragte er ungläubig.
„Ich bin Ärztin, und du bist nur ein Tischler.“
Peter Kollers Miene verfiel.
„Du könntest mir nie das bieten, was ich nun einmal benötige, um ein standesgemäßes Leben zu führen“, fuhr sie fort. „Du magst ja ein ganz netter Mann sein, doch gesellschaftlich und wirtschaftlich bist du ein Niemand.“
Er schwieg. Die Tränen, die er in sich hochsteigen fühlte, hielt er zurück.
Maria Schuster trank ihr Glas aus und sagte: „Danke für den Sekt, Peter. Und nimm es nicht so schwer. Du wirst eine andere Frau kennenlernen und mit ihr glücklich werden. Eben eine, die deine Kragenweite hat.“

Dann wandte sie sich um und ließ ihn an der Bar stehen. Peter blieb nichts anderes übrig, als ihr nachzuschauen. Er betrachtete ihre sich entfernende Silhouette, und als er ihr blondes Haar unter den zahlreichen Ballgästen nicht mehr ausmachen konnte, verließ er den Saal.
Er fuhr nach Hause, wo er sich an den Küchentisch setzte und an seine ihm eben attestierte Minderwertigkeit dachte, wobei er weinte.

 

2

Zwei Monate nach diesem Abend lernte Peter Koller eine Frau kennen, die seine Kragenweite hatte. Ihr Name war Claudia Salzer, sie war gleich alt wie er und von Beruf Schneiderin.
Sie war aus Gratkorn, einem Nachbarort, nach Gratwein gezogen und hatte eine Änderungsschneiderei eröffnet, die neben der Tischlerei lag, in der Peter arbeitete.
Da ihm das Rauchen in der Firma wegen Brandgefahr verboten war, stand er oft vor der Halle und somit neben Claudias Laden. Nachdem auch sie vor die Türe ging um zu rauchen, kamen sie ins Gespräch und vereinbarten Zeiten für das Rauchen ihrer Zigaretten.
Sie waren einander auf Anhieb sympathisch und bald ein Paar. Claudia zog bei Peter ein, und nach einem halben Jahr heirateten sie auf dem Gratweiner Standesamt.

Peter Koller hatte sein Glück gefunden. Er besuchte die Gasthäuser in Gratwein und den umliegenden Dörfern seltener als zuvor, und wenn, dann stets in Begleitung seiner Ehefrau. In der Tischlerei stieg er zum Vorarbeiter auf, und Claudias Schneiderei florierte. Die Abende verbrachte das Paar für gewöhnlich zu Hause.
Peter las gerne, und Claudia liebte es, wenn ihr vorgelesen wurde. Sie besprachen jede Erzählung, und allmählich wuchsen ihre Kenntnisse über Literatur ebenso wie ihre Ansprüche an sie. Hatten sie anfangs die Werke Hemingways gelesen beziehungsweise gehört, so waren sie bald auf der Suche nach einem Autor, dessen Werke weniger rustikal und von Machismo durchtränkt waren. Einen solchen fanden sie in Fitzgerald, dessen Bücher sie liebten.
Maria Schuster war kein Thema mehr für Peter Koller. Er hatte seiner Frau von ihr erzählt, und diese hatte ihm geholfen, über Maria und die Demütigung, die er durch sie erfahren hatte, hinwegzukommen.

 

3

Ende Juli 2014 fand der Ball der Freiwilligen Feuerwehr in der Gratweiner Mehrzweckhalle statt, und Peter Koller besuchte diesen. Seine Frau Claudia begleitete ihn nicht, denn sie traf sich an diesem Abend mit ihren Schwestern.
Die Veranstaltung war gut besucht, und auch Maria befand sich unter den Gästen.
Peter, der ihre harten Worte keineswegs vergessen hatte, ging nicht auf sie zu. Er beließ es bei einer flüchtigen Geste, indem er ihr zunickte und sich gleich darauf umwandte.
Wenig später stand er an der Bar und trank ein Glas Bier, als er Marias Stimme hinter sich vernahm.
„Guten Abend, Peter“, sagte sie. „Wie geht es dir?“
„Gut, Maria“, gab er zurück und drehte sich um. „Ich habe letztlich doch eine Frau kennengelernt, die meine Kragenweite hat.“
Diesen Satz sagte er, um ihr ihre Worte von vor zwei Jahren vorzuhalten und auch heimzuzahlen.
Er sah sie an und erkannte, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, ihre Wangen waren eingefallen und ihr Haar war schlecht gekämmt.
„Das freut mich“, sagte sie und seufzte.

Da taten ihm seine Worte plötzlich leid, doch waren sie bereits ausgesprochen. Für den Bruchteil einer Sekunde wollte er sie ungesagt machen, doch der Gedanke an Claudia, die ihm plötzlich in den Sinn gekommen war, ließ ihn fühlen, dass in seinem Herzen kein Platz mehr für Maria war und auch nie wieder sein würde.
Um der Höflichkeit Genüge zu tun fragte er: „Und wie geht es dir, Maria?“
„Schlecht geht es mir, Peter“, sagte sie.
Er schwieg.
„Ich arbeite nicht mehr im Krankenhaus“, fuhr sie fort. „Ich bin jetzt Ärztin in der Privatklinik meines Mannes.“
„Warum geht es dir dann schlecht?“
„Ich fürchte, ich habe mir den falschen Beruf ausgesucht. Und den falschen Man auch.“
„Das tut mir sehr leid für dich“, sagte er, doch es lag keine Emotion in seiner Stimme.
„Weißt du, Peter, ich habe erkannt, dass Geld nicht alles ist. Wenn man ständig von kranken Menschen umgeben ist und am Abend einen Tyrannen zu Hause ertragen muss, ändert sich die Sichtweise.“
„Dann such dir einen anderen Mann“, sagte Peter achselzuckend.
„Daran habe ich durchaus schon gedacht.“ Sie lächelte ihn an. „Einen Tischler vielleicht.“
Peter Koller lächelte ebenfalls. Es war das Lächeln, mit dem man einer bemitleidenswerten Person zu verstehen gibt, dass sie gerade an etwas ganz und gar Unmögliches denkt.
Sie schwieg. Die Tränen, die in ihr hochstiegen, unterdrückte sie, das erkannte er.
„Ich wünsche dir ein schönes Leben, Maria“, sagte er und ließ sie an der Bar stehen.

Peter verließ den Ball und setzte sich zu Hause an den Küchentisch, wie er es zwei Jahre zuvor auch gemacht hatte. Allerdings weinte er nicht. Beim Anblick des Kuchens, den seine Frau Claudia am Nachmittag gebacken hatte, lächelte er.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten |Inventarnummer: 17015

Von Kohle und Meisen

1

Paul Meller ließ sich auf den ihm zugewiesenen Ledersessel im Wohnzimmer seines Freundes Walter Hauser fallen. Mit nervösen Blicken musterte er Walter, registrierte dessen edlen Anzug und das goldene Malteserkreuz auf der Schließe seiner Armbanduhr. Sein Blick wanderte weiter und fiel auf mehrere Ölgemälde und eine enorme Bibliothek, schließlich auf seine eigene zerschlissene Hose und seine Schuhe, die abgetreten und an zwei Stellen eingerissen waren.

„Ach, Walter“, seufzte er.
„Wie viel brauchst du dieses Mal?“, fragte der Angesprochene mit kaum verhohlenem Ärger in der Stimme.

Sie kannten einander von Kindesbeinen an, waren beide in Gratwein aufgewachsen, einem kleinen Dorf in der Nähe von Graz. Sie hatten gemeinsam die örtliche Volksschule besucht, sich danach durch das Gymnasium eines Nachbardorfes gequält und schließlich studiert.
Walter Hauser war Arzt geworden, Paul Meller hatte sich nach dem Studium der Kunstgeschichte einige Jahre lang dem Alkohol hingegeben und war nie wieder auf die Beine gekommen. Walter hatte ihn stets finanziell unterstützt und ihm auch in vielen anderen Belangen die Stange gehalten, doch mit den Jahren war er es leid geworden, Paul über Wasser zu halten, während sich dieser Träumereien von einer großen Karriere als Schriftsteller hingab und keiner geldbringenden Tätigkeit nachging.

„Monika saugt mich aus, sage ich dir! Ständig will sie Geld von mir, und ich habe doch keines!“
„Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du diese Frau verlassen musst?“, rief Walter. „Du bist ihr hörig. Richtiggehend süchtig bist du nach ihr! Und was macht sie? Sie nutzt dich bloß aus. Liegt auf der faulen Haut und lässt dich überall um Geld betteln.“
Paul wischte sich schweigend Tränen aus den Augen.
„Also, wie viel?“
„Dreitausend Euro.“
„Bist du verrückt? Wofür braucht ihr so viel Geld?“
„Monika wünscht sich eine neue Lederjacke, und die alleine kostet mehr als zweitausend.“
Walter Hauser sprang auf, stützte sich auf dem Couchtisch ab und rief: „Verzeih, dass ich dich gefragt habe, ob du verrückt seist. Diese Frage war unnötig, denn du bist verrückt!“
Paul sah aus dem Fenster. Auf dem Fensterbrett hatte sich eine Kohlmeise niedergelassen und pickte darauf herum. Dann sah sie ihm in die Augen und flog davon.

In diesem Augenblick ahnte Paul Meller, dass das Glück dabei war, ihn zu verlassen.
„Ich gebe dir tausend Euro, Paul“, sagte Walter, der sich wieder beruhigt hatte. „Das ist aber das letzte Mal, dass ich dir helfe. Meine Frau fragt mich schon, ob ich noch bei Trost bin, dir immer wieder Geld zu geben.“
„Danke“, murmelte Paul. In seiner Stimme lagen Enttäuschung und Resignation.
Sein Freund ging in einen Nebenraum und kam mit dem Geld in der Hand zurück. Er reichte es Paul mit den Worten „Bitte sehr!“
„Vielen Dank, Walter. Du bist ein echter Freund.“
„Lassen wir das. Möchtest du ein Glas Cognac?“
„Ja, gerne.“

Walter füllte teuren Cognac in zwei Schwenker und stellte sie auf den Tisch. Nachdem sie angestoßen hatten, sagte er: „Heute Abend findet in der Mehrzweckhalle ein Fest der Freiwilligen Feuerwehr statt. Wirst du hingehen?“
Paul schüttelte den Kopf und sagte: „Was habe ich dort verloren?“
„Maria Reiner wird auch kommen“, sagte Walter.
„Maria Reiner wird auch kommen“, wiederholte Paul, und plötzlich hellte sich seine Miene auf, um gleich darauf wieder düster zu werden.
„Du liebst sie immer noch, oder?“, meinte Walter.
„Lieben… nun, ich würde sie noch immer gerne an meiner Seite haben, sagen wir es so. Doch außer Ablehnung ist von ihrer Seite nie etwas gekommen.“ Er seufzte.

„Ich finde, du solltest das Fest besuchen. Lass uns doch gemeinsam hingehen“, schlug Walter vor.
„Ich habe kein sauberes Hemd. Du weißt, Monika ist im Haushalt nicht zu gebrauchen.“
„Das weiß ich. Monika Schinagl ist für gar nichts zu gebrauchen.“ Er lachte, dann verließ er das Wohnzimmer und kam mit einem gestärkten Hemd und einer Seidenkrawatte zurück.
„Das Hemd und die Krawatte schenke ich dir. Ist es dir recht, wenn ich dich um acht Uhr abhole?“
Paul sah auf die Kleidungsstücke und strahlte.
„Vielen Dank, Walter! Ja, acht passt mir gut.“

 

2

„Wie viel hast du bekommen?“, fragte Monika Schinagl.
„Siebenhundert Euro hat er mir gegeben“, log Paul Meller.
„Das reicht nicht!“, rief sie. „Du musst nochmal zu Walter gehen! Ich muss diese Lederjacke haben!“
Sie blickte ihn böse an.
„Monika, mehr hat er mir nicht gegeben. Was soll ich machen?“
„Das ist mir egal, mein Lieber. Ich will diese Jacke!“
„Man kann nicht immer alles haben, was man sich wünscht“, sagte er mit ruhiger Stimme.
„Das stimmt. Wenn ich diese Jacke nicht haben kann, dann hast du eine Freundin gehabt!“
„Wann wirst du endlich damit aufhören, mich mit dem Schlussmachen zu erpressen?“, fragte Paul und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Du weißt doch, dass ich alles für dich tue!“
„Das reicht eben nicht! Was ist in dem Plastiksack?“

Sie nahm Paul die Tüte aus der Hand und zog das Hemd und die Krawatte heraus.
„Aha, der Herr war einkaufen“, stellte sie schnippisch fest.
„Nein, der Herr hat von seinem besten Freund ein Hemd und eine Krawatte geschenkt bekommen“, gab er zurück.
„Wofür brauchst du das Zeug denn?“
„Ich gehe heute Abend mit Walter auf das Feuerwehrfest.“
„Geh ruhig, wenn es dir nicht zu blöd ist, die Leute aus Gratwein zu sehen.“
„Nein, das ist es nicht.“
„Ich werde jedenfalls auf dem Sofa liegen und weinend an meine Lederjacke denken.“
„Nur zu, Monika“, ermunterte er sie sarkastisch.

„Ich habe übrigens deine neuen Erzählungen gelesen.“
„Gefallen sie dir?“
„Sie sind ganz gut.“
„Ganz gut?“, fragte er enttäuscht. „Ich habe mir große Mühe gegeben.“
„Sie sind gut. Und jetzt gib mir die siebenhundert Euro.“
Er gab ihr das Geld und sagte: „Ich brauche aber etwas für das Fest.“
Sie drückte ihm zehn Euro in die Hand und sagte: „Das muss reichen. Wirst du Walter fragen, ob er dir noch etwas borgt?“
„Ja, Monika, das werde ich“, seufzte er.

 

3

Paul Meller hielt sich im Hintergrund, während Walter Hauser viele Hände schüttelte. Er hatte für jeden ein freundliches Wort übrig, denn viele der Gäste der Veranstaltung waren seine Patienten.
Paul wurde bloß von wenigen mit Handschlag begrüßt, wobei ihm die Verachtung in den Augen, die auf ihn gerichtet waren, nicht entging. Unter all den erfolgreichen und wenigstens im Ort hochgeachteten Gratweinern kam er sich minderwertig vor. Dieses Gefühl wurde vom Hemd, das er von seinem Freund erhalten hatte, noch verstärkt, denn auf der linken Seite waren die Buchstaben WH unübersehbar eingestickt.

Die Dorfmusikanten nahmen ihre Plätze ein und begannen ihre Darbietung mit einem flotten Marsch. Bald füllte sich die Tanzfläche, und Walter wurde von der Frau des Bürgermeisters zum Tanzen aufgefordert.

Paul stellte sich an die Bar und trank zwei Schnäpse aus Plastikbechern, dann bestellte er ein Bier. Mit dem Becher in der Hand stand er am Rande der Tanzfläche an die Wand gelehnt und rauchte eine Zigarette. Er bemerkte, dass die Leute über ihn tuschelten und war gerade dabei, sich innerlich darüber aufzuregen, als er Maria Reiner erblickte.
Sie hatte in der Volksschule und im Gymnasium seine Klasse besucht, und er hatte sich in sie verliebt. Sie hatte von seiner Liebe gewusst, ihm jedoch stets die kalte Schulter gezeigt. Seine Liebe war nie erkaltet, er hatte sie bloß zur Seite geschoben, um nicht von ihr gequält zu werden.
Als er Maria sah, erwachten diese Gefühle wieder.

Das Erste, was Maria Reiner an diesem Abend, als sie Paul Meller erblickte, empfand, war Bestürzung, danach Mitleid. Sie hatte von Pauls unaufhaltsamem Abstieg erfahren, doch als sie mit eigenen Augen sah, wie tief er gefallen war, konnte sie diese Emotionen nicht unterdrücken. Sie lächelte, winkte ihm zu und besorgte sich ein Brötchen und einen Becher Bier an der Bar.

Walter kam auf seinen Freund zu und flüsterte ihm ins Ohr: „Paul, Maria ist hier. Sei nicht dumm! Geh zu ihr und unterhalte dich mit ihr.“
„Soll ich wirklich?“, flüsterte Paul aufgeregt zurück.
„Ja, natürlich sollst du.“

Paul wagte nicht, der Aufforderung seines Freundes Folge zu leisten. Er hätte gerne mit Maria gesprochen, doch waren ihre zahllosen abweisenden Reaktionen noch zu präsent in seinem Gedächtnis. Von dort waren sie in den Fokus seiner Wahrnehmung zurückgekehrt.
Er stieg ein paar Stufen die Treppe hinauf, die zur Galerie führte, und setzte sich.
Er vergrub seinen Kopf in den Händen und hob ihn erst, als er spürte, wie eine Hand sanft auf seine Schulter gelegt wurde.
Es war Maria Reiner, der die Hand gehörte. Sie hatte sich neben ihn auf die Stiege gesetzt.
Sie hatte Paul viele Jahre nicht gesehen, und als sie ihn an diesem Abend sah, hatte sie unwillkürlich an ihr Verhalten ihm gegenüber denken müssen. Dabei war ihr bewusst geworden, dass sie sich unfair verhalten hatte. Von seinem Abstieg hatte sie zwar erfahren und er hatte sie kalt gelassen, doch als dieser sich so deutlich vor ihr manifestierte, beschloss sie, Paul Meller zu trösten.

„Wie geht es dir, Paul?“
„Es geht mir schlecht, Maria. Ich habe in den vierundvierzig Jahren, die ich am Leben bin, einfach zu viele falsche Entscheidungen getroffen.“
„Möchtest du mir von diesen erzählen?“, fragte sie.
Da brach es aus ihm heraus.
„Sie saugt mich aus! Sie nimmt mir die Luft zum Atmen!“, schluchzte er.
Maria war indigniert. Er sprach mit vom Alkohol schwerer Zunge, und sein Atem verströmte den süßlichen Geruch nach Bier und Schnaps.
„Aber“, fuhr sie fort, „was ist denn passiert?“
Paul setzte sie in knappen Worten über seine Situation in Kenntnis. Dann fiel er ihr um den Hals und begann haltlos zu weinen. Seine Tränen färbten den Stoff ihres Abendkleides dunkel.
„Das tut mir alles sehr leid für dich, Paul“, sagte sie in bemüht freundlichem Ton, in dem auch eine gute und unüberhörbare Portion Mitleid lag.
„Wirklich, Maria?“, fragte Paul mit tränenerstickter Stimme.
„Ja“, gab sie zurück. Sie dachte eine Weile nach und sagte dann mit leiser Stimme, der Paul anmerkte, dass sie von Unsicherheit geprägt war: „Es tut mir auch leid, dass ich mich dir gegenüber so verhalten habe, wie ich es eben getan habe, als wir jung waren. Das hattest du nicht verdient. Wie ich aus deiner Schilderung der Situation heraushöre, bist du ein guter Mensch, der leider einem schlechten untergekommen ist.“
„Tja, so ist es wohl“, gab Paul, der aufgehört hatte zu weinen, zur Antwort.

„Ich bin in der glücklichen Lage, dir helfen zu können, Paul. Wenn du es möchtest, kannst du in meiner Galerie in Graz anfangen. Walter hat mir vor vielen Jahren erzählt, dass du ein paar Semester Kunstgeschichte studiert hast, und deshalb glaube ich, dass dir ein solcher Job Freude bereiten würde.“
„Warum machst du das, Maria?“, fragte Paul.
Sie überlegte.
„Wahrscheinlich weil ich damit etwas von der Qual, die ich dir bereitet habe, wiedergutmachen kann. Und weil gerade eine Stelle in der Galerie frei geworden ist“, setzte sie lakonisch hinzu, doch Paul wusste, dass sie ihm wirklich unter die Arme greifen wollte.
Er nahm die Visitenkarte, die sie ihm reichte, und nachdem er sich von ihr verabschiedet und versprochen hatte, sie am nächsten Tag anzurufen, machte sich Paul Meller auf die Suche nach Walter Hauser.

Nachdem er ihn gefunden hatte, flüsterte er ihm ins Ohr: „Walter, ich fühle mich nicht gut. Ich vermute, dass es am Schnaps liegt.“
Walter sah ihn ernst an.
„Nein, das stimmt nicht“, sagte Paul. „Ich muss nachdenken, Walter, und dazu brauche ich Ruhe.“
„Was hat Maria denn zu dir gesagt?“, fragte Hauser, doch Meller ging nicht auf die Frage seines Freundes ein.
„Ich glaube, ich habe vor wenigen Minuten einen Weg aufgezeigt bekommen, wie ich aus meinem Schlamassel herauskomme“, sagte er, reichte seinem Freund die Hand und verließ die Mehrzweckhalle.
Auf dem Heimweg dachte er über Marias Angebot nach, und kam zu dem Schluss, dass er seine Lebensumstände ändern müsste.

 

4

„Wie viel hast du von Walter noch erhalten?“, so wurde Paul von Monika Schinagl begrüßt.
„Ich habe kein Geld von Walter Hauser erhalten, Monika. Ich werde mich in Zukunft selbst erhalten.“
„Wie soll denn das gehen?“, fragte sie.
„Ganz einfach: Ich habe einen Job in Aussicht, der mir genug Geld einbringen wird, um ein bescheidenes Auskommen zu haben, bis ich meine Schulden bei Walter beglichen habe.“
„Und dann?“, fragte sie und lächelte unsicher.
„Dann, wenn ich keine Schulden mehr habe, habe ich ein gutes Auskommen“, sagte er mit ruhiger Stimme, die Monika erkennen ließ, dass noch etwas kommen würde.
Sie wartete jedoch nicht ab, was Paul sagen würde, sondern kam auf das für sie wichtigste Thema zu sprechen: „Wann kann ich mir die Lederjacke kaufen?“
„Sobald du das Geld verdienst hast, das sie eben kostet, Monika. Im Übrigen möchte ich, dass du die Wohnung bis morgen Mittag verlässt.“
„Wie bitte?“
„Du hast schon verstanden. Ich will, dass du ausziehst. Deine Eltern haben einen großen Bauernhof, und dort kannst du jederzeit wieder einziehen. Das hat deine Mutter dir versprochen.“
Monika Schinagl begann zu weinen, und an den Flüchen, die sie ausstieß, erkannte Paul, dass ihre Trauer um die Lederjacke größer war als die um das Ende ihrer Beziehung zu ihm.

Am Morgen des nächsten Tages rief er Maria Reiner an und vereinbarte einen Termin in der Galerie in Graz für den frühen Nachmittag.
Als er, der als Tagedieb in die Landeshauptstadt gefahren und als Galerieangestellter in sein Dorf zurückgefahren war, am Abend seine Wohnung betrat, war von Monika Schinagl und ihren Habseligkeiten nichts mehr zu sehen.
Er setzte sich an seinen Küchentisch und blickte aus dem Fenster. Zwei Kohlmeisen ließen sich auf dem Fensterbrett nieder und starrten ihn an. Zwei Minuten später flogen die davon.
Paul nahm es als Zeichen: „Ich werde mir eine vernünftige Freundin suchen – dann ist das Glück vollständig zu mir zurückgekehrt.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten |Inventarnummer: 16171

Auf dem Weihnachtstisch

Heiligabend.

„Was an diesem Tag ist eigentlich genau heilig?“, stöhnt Frida, als sie mit Mühe einem Stapel Geschenke für die Kinder ausweicht, der das ganze elterliche Schlafzimmer in Besitz zu nehmen droht. Im Geiste geht sie zum wiederholten Mal ihre To-do-Liste durch: aufräumen. Gänsebraten und Kartoffelknödel zubereiten. Tisch decken. Dafür sorgen, dass alle ein unvergessliches Weihnachtsfest erleben. Wie immer. Die Frida, die macht das schon, – was ist sie nur für eine wunderbare Gastgeberin! Stets freundlich, gut gelaunt – ganz die perfekte Ehefrau und Mutter.

Den ganzen Vormittag ist sie schon allein in ihrem Häuschen am Stadtrand von Berlin, das Jan für sie beide ausgesucht hatte. Sie erinnert sich noch genau an seine Worte, fünf Jahre müsste das jetzt auf den Tag genau her sein: „Jetzt, wo du schwanger bist, brauchen wir etwas Größeres.“
Sie hat zugestimmt. Vielleicht hat sie in letzter Zeit etwas zu oft „Ja“ gesagt. „Ja, geh nur vormittags mit den Kindern auf den Weihnachtsmarkt, ich schaffe das hier schon.“ „Ja, laden wir doch Oma Anita und Opa Bernd zuWeihnachten zu uns ein.“ „Klar kann dein Bruder David auch kommen.“ David, der sich hier wie jedes Jahr einnistet, keine Geschenke für die Kinder dabei hat und das ganze Haus durch seine arrogante Art einzunehmen scheint. Sie fröstelt bei dem Gedanken an ihren Schwager …
Ihr Blick bleibt an der roten Küchenuhr hängen, die ihre besten Tage hinter sich hat. „Im Grunde bin ich wie diese Küchenuhr“, sagt Frida laut und erschrickt, als ihre Stimme im leeren Haus hallt. Sie streicht sich mit der Hand über die Stirn, ganz so als könnte sie die Gedanken einfach fortwischen.

Das laute Schrillen der Türglocke holt sie abrupt in die Realität zurück. Ausgeschlossen, dass es schon die Familie ist. Hierhin verirrt sich doch eigentlich keiner – schon gar nicht an Heiligabend, seufzt Frida und öffnet langsam die Tür – und erschrickt.
Vor ihr steht Josef, ein Päckchen in Händen haltend. Josef ist Bankmanager, stammt aus dem selben oberbayerischen Dorf wie Frida und jedes Mal, wenn er in Berlin ist, trifft er sich mit ihr.
„Josef“, stammelt sie, „dich habe ich nicht erwartet.“
„Das dachte ich mir“, gibt er zurück und überreicht ihr das Geschenk. „Weil Weihnachten ist.“
Sie öffnet es und errötet.

„Die darf Jan nicht zu Gesicht bekommen“, sagt sie und legt die goldene Armbanduhr zurück in die Schatulle.
„Eines Tages kannst du ja sagen, dass du gespart hast, um sie dir kaufen zu können.“
„Ich soll meinen Mann belügen?“, ruft sie. „Sag, was bildest du dir eigentlich ein? Du kommst am Weihnachtstag unangekündigt bei mir vorbei. Was, wenn mein Mann und die Kinder zu Hause wären?“
Nun wird Josef rot.

„Wann kommen sie denn zurück?“, fragt er leise.
„In zwei Stunden, nehme ich an.“
„Das heißt, wir haben etwa neunzig Minuten Zeit“, stellt er fest und betritt das Haus.
„Das geht auf gar keinen Fall!“, sagt sie, doch da hat er sie schon umarmt und bedeckt ihren Hals mit Küssen, welchen sie nicht widerstehen kann.
„Ins Schlafzimmer können wir nicht“, haucht sie. „Wir müssen mit dem Esstisch Vorlieb nehmen.“
Der Tisch, auf dem wenige Stunden später das Weihnachtsmahl stehen soll, wird von Frida und Josef zweckentfremdet, und zwar derart, dass er zusammenbricht.

„Hast du dir wehgetan?“, fragt Josef.
„Nein. Und du?“
„Ich bin unverletzt. Aber dein Tisch ist hinüber.“
„Wie soll ich das Jan erklären?“, fragt sie, den Tränen nahe. In diesem Augenblick verflucht sie sich dafür, nicht ‘Nein’ gesagt zu heben.
„Sag einfach, dass du den Tisch verrücken wolltest, und dabei ist es passiert“, schlägt er vor.
Frida beschließt, genau das zu sagen.
„Wir haben noch eine Stunde“, sagt Josef, doch sie komplimentiert ihn mit den Worten „Nein, mein Lieber, sonst geht auch noch der Wohnzimmertisch zu Bruch!“ aus dem Haus.
Dann beseitigt sie unter einigem Kraftaufwand die Trümmer ihres Tisches, indem sie diese in den Keller schafft.

Als Jan mit den Kindern nach Hause kommt und sie auf das Fehlen des Möbelstücks aufmerksam macht, erklärt Frida: „Ich wollte den Esstisch in die Mitte des Zimmer rücken, damit wir alle bequemer sitzen können. Und dabei ist er kaputtgegangen.“
„Das macht nichts, Frida“, sagt Jan. „Es ist noch Zeit, bis meine Eltern und mein snobistischer Bruder kommen. Ich fahre in ein Möbelgeschäft und kaufe einen neuen Tisch.“

Am Abend sitzen alle am neuen Esstisch aus Eichenholz und genießen das Mahl, das Frida zubereitet hat. Als die Kinder im Bett liegen und die leeren Weinflaschen immer zahlreicher werden, kommt das Thema ‘wie man einen Tisch ruiniert’ auf.
Jeder hat eine eigene Theorie, was dazu führen kann, dass ein Tisch zerbricht.
Frida denkt sich ‘Mein Gott, wenn die wüssten, wie es passiert ist!’ und lacht laut auf, doch niemand schenkt ihr Beachtung, denn alle lachen über Jans Theorie eines plötzlichen, auf einen Raum eines einzigen Hauses beschränkten Erdbebens.
Während Jan lacht, denkt er ‘Es ist schade um den alten Tisch. Ich bin vermutlich mitschuldig am Zusammenbruch. Aber das macht nichts – nun haben Gertrude und ich einen neuen Tisch, wenn Frida nicht zu Hause ist.’

Michael Timoschek

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Sechs liebe Briefe

Jennifer, 17, angehende Frisörin

Lieber Bogdan! Ich habe einen Fehler gemacht, ich weiß. Aber es war so ein lustiger Abend! Sanel hat mir ein Getränk nach dem anderen hingestellt. Und irgendwann ist es passiert, dass wir uns geküsst haben. Und seine Hand war dann überall. Und mir hat das gefallen. Ich weiß, dass es ein Fehler war, dass ich mit zu ihm gegangen bin. Aber er war so nett und lieb! Er hat mir gesagt, dass ich den letzten Klopfer bei ihm zu Hause bekomme. Und so war es dann auch. Bitte, Bogdan, nimm mich zurück! Denk einmal an die Zeiten, wo wir in die Lokale gekracht sind! Das war schon lustig. Das können wir wieder machen. Bitte nimm mich wieder, ich habe Dich lieb. Aber bitte ruf Du mich an, ich habe nämlich kein Guthaben mehr. Jenny, die Dich lieb hat.

 

Herta, 53, Hausfrau

Hallo Manfred. Ich hoffe, es geht Dir gut. Es ist so, dass ich mich in Dich verliebt habe. Ich schreibe Dir das ganz offen, denn ich möchte, dass Du bei mir bist. Du isst gerne Wienerschnitzel mit Kartoffelsalat, und genau das kann ich perfekt kochen. Weißt Du, seit mein Mann Heinz-Gustav gestorben ist, bin ich sehr einsam. Auf meinem Luster im Schlafzimmer brennt nur noch eine einzige Glühbirne. Ich traue mich ja nicht auf die Leiter steigen. Und in den Keller traue ich mich auch nicht gehen. Dort ist es immer so dunkel und feucht, und erst die Asseln überall. Ich glaube, Du hast mit so was weniger Schwierigkeiten. Als Du bei mir warst, da habe ich sofort gespürt, dass das passt zwischen uns. Mich haben auch Deine Tätowierungen nicht gestört, bis auf die drei Punkte auf Deiner Hand halt. Die musst Du wegmachen lassen. Mein Heinz-Gustav hat sich seine ja auch wegmachen lassen. Keine Sorge, ich zahle Dir das. Jedenfalls, wenn Du wieder Freigang hast, dann musst Du unbedingt zu mir kommen. Bitte. Ich habe das Foto, das Du von mir haben wolltest, gemacht. Das war gar nicht so einfach, den Spiegel vor das Bett zu tragen, aber für Dich habe ich es gern gemacht. Also, mach es gut und pass bitte auf, dass Du nicht wieder mit den Wärtern über Kreuz kommst. Deine Herta.

 

Albert, 44, Psychiater

Meine geliebte Dorothea, ich liebe Dich und frage Dich auf diesem Wege, ob Du meine Ehefrau werden möchtest. Ich möchte mein Leben mit Dir verbringen, denn wir teilen nicht bloß die selben Interessen, Du bist darüber hinaus mein Ruhepol. Bei Dir fühle ich mich geborgen und gut aufgehoben, Du bist mein Ausgleich zum stressigen Alltag in der Klinik. Bitte vergiss diese unnötige Diskussion, die wir hatten. Natürlich darfst Du weiterhin als Cellistin tätig sein. Ich würde mich sehr freuen, wenn Du für mich spieltest, jeden Abend, bevor wir zu Bett gehen. Du musst auch keine Tabletten nehmen, wenn Du nicht möchtest. Es ist nur so, dass Du für mich viel einfacher handzuhaben bist, wenn Du sie nimmst. Ich habe in der Klinikapotheke nachgefragt und in Erfahrung gebracht, dass der Wirkstoff, den ich Dir verordnet habe, auch subkutan verabreicht werden kann. Du siehst, Tabletten sind nicht nötig. In freudiger Erwartung Deiner positiven Antwort verbleibe ich mit freundlichen Grüßen, Albert.

 

Herbert, 49, unterstandslos

Gute Frau Krumpel, liebe Hermine. Sie werden sich vielleicht noch erinnern, ich bin der, der Ihre Garagen gestrichen hat, und Ihren Rasen habe ich auch ein paar Male gemäht. Ich habe gehört, dass Sie sehr krank sind. Das tut mir leid. Meine Oma war auch krank, als sie so alt war wie Sie. Sie hat dann aber noch vier Jahre lang gelebt, also ist sie erst mit zweiundneunzig gestorben. Als ich in Ihrem Park gearbeitet habe, haben Sie mir Wurstbrote und Limonade gebracht. Da habe ich angefangen, Gefühle für Sie zu haben. Das ist jetzt sieben Jahre her, ich weiß, aber ich bin halt langsam bei so etwas. Jetzt weiß ich, dass ich Sie liebe. Und Sie wollen Ihre letzten Jahre ganz bestimmt nicht allein verbringen, in so einem großen Haus. Also könnten wir es ja mal probieren, finde ich. Es ist nur so, dass ich bald eine Antwort von Ihnen brauche, ob Sie mich auch lieben, denn jeden Tag habe ich eine größere Angst, dass der Altpapierlaster kommt und mir meine Wohnung wegnimmt. In dringender Liebe, Bertl.

 

Horst, 64, selbstständig

Liebe Min, es ist jetzt fünf Jahre her, dass wir uns kennengelernt haben. Ich bin in dieser Zeit neunmal zu Dir nach Phuket geflogen, um Zeit mit Dir verbringen zu können. Du warst erst einmal bei mir in Wien, was ich ungerecht finden könnte, aber da ich Dich liebe, will ich mal nicht so sein. Ich hoffe, Deinen Eltern gefällt das Häuschen, dass ich ihnen gekauft habe. Ich vermisse Dich, aber im Moment kann ich es mir nicht leisten, zu Dir zu fliegen, denn im Lokal ist die Hölle los. Die Gäste rennen mir die Türe ein, und ich arbeite jeden Tag fünfzehn Stunden. Aus diesem Grund bitte ich Dich, nach Wien zu kommen, denn ich möchte Zeit mit Dir verbringen. Keine Sorge, Du wirst nicht alleine sein, denn Du kannst bei mir im Lokal anfangen. So hast Du auch gleich die Gelegenheit, mir ein bisschen von dem Geld, das ich Dir über die Jahre geborgt habe, zurückzugeben. Die Gäste sind schon ganz wild darauf, Dich kennenzulernen. Ich hatte nämlich erst eine Thailänderin im Lokal, und die Gäste sagen, dass thailändische Mädchen besser sind als russische oder ukrainische. Also Min, sieh zu, dass Du nach Wien kommst! Ich habe nämlich viel mit Dir vor. Dein Horst.

P.S. Ich hoffe, Du kommst wirklich! Ansonsten würdest Du mich nämlich zwingen, Dich zu holen …

 

Helga, 43, Lehrerin

Lieber Martin! Ich verstehe, dass Du mir aus dem Weg gehst. In der Situation, in der wir uns beide gegenwärtig befinden, ist das auch der beste Weg. Dass Du mich allerdings völlig links liegen lässt, verletzt mich doch. Wenn ich Dir eine Frage stelle, beantwortest Du sie so knapp wie möglich. Dabei liebe ich Dich doch. Das habe ich Dir auch jedes Mal gesagt, wenn Du mich in meinem Haus besucht hast. Jedes einzelne Mal war wunderschön, das hast Du mir ja auch bestätigt. Ich würde mich sehr freuen, wenn Du mich wieder besuchen kämst. Bitte sei mir gegenüber wieder ein bisschen zugänglicher, so wie früher. Bitte denke wenigstens darüber nach. Danke. Und bitte vernichte diesen Brief, nachdem Du ihn gelesen hast. Du weißt, was passieren würde, käme dessen Inhalt ans Tageslicht. Innige Grüße und Küsse. Deine Helga.

P.S.: Damit Du siehst, wie sehr ich Dich liebe: Ich habe Dir, obwohl sie wirklich schlecht ist, die Bestnote auf Deine Schularbeit gegeben.

Michael Timoschek

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Romantische Szene

Ich wollte noch auf dich warten
Da ward mir die Zeit gar lang
An deine Hände, die zarten
An deiner Stimme Gesang
Dacht ich, dacht meine Haut
Dacht ich voll Sehnen und Hoffen
Dann bist du eingetroffen
Auch wenn ich mich jetzt glücklich wähne –
Schad, um die romantische Szene

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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Froschkönig

sag du hast mich lieb
auch wenn ich dir die augen quetsche

sag dass du mich magst
auch wenn ich dir die därme fresse

lass mich deinen speichel schmecken
wirf mich kräftig an die wand

besser als die angstschweißnässe
ist die angstschweißnasse hand –
aus der ich lecke

bin ich dir dann  prinz – geboren
häng mich auf als passepartout

als lebensfüllungshintergrund
für deine lebensfüllungswut

so bin ich doch zu etwas gut

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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Stillstand

„Ich muss mal kurz telefonieren“, hast du gesagt, und wie spät ist es jetzt? Eine Dreiviertelstunde hab ich auf dich gewartet, was du unter „kurz“ verstehst, möchte ich mal wissen. – Das und zwei, drei andere Wut-Sätze hat mir mein Freund an unserem Jahrestag an den Kopf geworfen, als ich ihn 45 Minuten lang, im absolut angesagtesten und romantischsten Restaurant der Stadt, warten ließ. Der Grund unserer Auseinandersetzung war meine Mutter – wobei nicht wirklich sie als Person, sondern eher das „Problem“ meiner Mutter: Seit ihre Kinder, drei am Stück, nacheinander von zu Hause ausgezogen waren, um ihr Glück in diversen Städten rund um den Globus zu suchen, war bei ihr leider eine Art „Glucken-Sicherung“ geflogen, die wir nun in tränenreichen Telefonaten ausbaden mussten.

Irgendwie verstand ich meine Mutter ja auch ein bisschen: Da ziehst du die letzten 26 Jahre drei Kinder groß, widmest ihnen all deine Aufmerksamkeit und Liebe, und plötzlich, innerhalb von vier Jahren sind alle weg – dein Lebensinhalt verteilt sich sozusagen in alle Windrichtungen. Wir waren zwar nicht aus der Welt, aber alle Versuche, diese wunderbare Frau auf neue Hobbies aufmerksam zu machen, ihr einen interessanteren Arbeitsplatz – der ihren Talenten entsprach – einzureden, oder sie gar nochmals an die Uni zu schicken, um ihr Kunststudium abzuschließen, das sie für uns abgebrochen hatte, waren vergebens. Sie war und blieb eben eine „Vollblut-Mutter“ und nichts und niemand stellte sich zwischen sie und ihre Kids – nicht mal horrende Telefonrechnungen und Reisekosten.

Ich als Jüngste im Bunde war die Letzte, die das mütterliche Nest verließ, was ihr, in Anbetracht der Tatsachen und unter Berücksichtigung ihres ohnehin schon leicht angeschlagenen Mutterherzens, dann noch den Rest gab. Natürlich war das nicht meine Absicht gewesen, aber wie meine beiden älteren Geschwister musste auch ich meinen Platz in der Welt erst finden, und das war weit weg von der Provinz, wo die Jobaussichten im eigenen Metier besser oder sogar realistisch waren. Ich bekam nach Abschluss meines Studiums, das ich in Mindestzeit absolviert hatte, einen tollen Job als Marketingassistentin. Mein Leben verlief zu dieser Zeit in einer Art „High-Speed-Modus“, und ich hatte permanent das Gefühl, statt 100% für eine Sache, nur jeweils 25% für die vier absolut wichtigen Faktoren in meinem Leben geben zu können. Egal was ich auch tat, ich hatte immer das Gefühl, es würde nicht genug sein – ein metaphorisches Jahres-Abo, voll des schlechten Gewissens, war da vorprogrammiert. Diese vier wichtigen Faktoren waren mein Job, mein Freund, meine Mutter und mein kleiner Hund Billy, den ich aus einem rumänischen Tierheim „gerettet“ – das redete ich mir zumindest ein – hatte.

Meine Mutter hatte jedenfalls ein Gespür dafür, im unpassendsten Moment anzurufen: Wenn ich mich auf dem Klo befand, ein wichtiges Meeting hatte, mit Ben „beschäftigt…“ war oder grade mit vollen Händen an der Kasse stand. So geschah es auch am Abend unseres Jahrestages, an dem sie „nur kurz durchrufen wollte, um nachzusehen, ob es mir auch gut ging“. Als es dann wieder Zeit gewesen wäre, das Telefonat liebevoll, aber bestimmt zu beenden, begann wieder das große Wein-Konzert, was in letzter Zeit leider immer häufiger der Fall war. Sie war einsam und ehrlich gesagt brach mir das auch ein bisschen das Herz.

Meinem Jahrestag hingegen, kam das „Problem“ ordentlich in die Quere, und ich musste nun zusehen, wie ein romantischer und bis ins Detail perfekt geplanter Abend den Bach runter ging. Zu allem Überfluss musste ich mein kaltes Essen alleine aufessen, nachdem mein Freund bezahlt und wutentbrannt das Lokal verlassen hatte – tja, zumindest ging’s meiner Mutter nun besser.

Ben, mein Freund, nahm diese Anrufe eigentlich gelassen hin, aber heute war das eben nicht so gewesen. Als ich das Restaurant nach weiteren fünfzehn Minuten – etwas peinlich berührt – verließ und mit schlechtem Gewissen und hängenden Schultern die Straße hinuntertrotte, klingelte mein Handy erneut – Ben war am anderen Ende: „Sorry Süße, ich wollte dich nicht so anblaffen. Ich war eben enttäuscht, da es eigentlich UNSER Abend werden sollte, und da ruft deine Mutter schon wieder an. Grade heute musste das ja wohl nicht sein oder?“ Ich war über Bens Anruf sehr froh und schluchzte drauflos: „Du hast recht! Es tut mir so leid, dass ich dich da alleine warten ließ, aber du weißt ja, dass ich meine Mama nicht heulend ertrage. Sie macht sich eben solche Sorgen um mich, und in Wirklichkeit glaube ich ja, dass sie einfach nur einsam ist, jetzt, wo sie die Abende ganz alleine in dem großen Haus zubringen muss.“ Ben seufzte geräuschvoll ins Telefon, und ich bemerkte, wie ein kleiner Verständnis-Ballon bei ihm zu wachsen begann. Er bat mich, zu ihm zu kommen, um mit mir gemeinsam eine Lösung zu finden, und ich marschierte einigermaßen gelöst in Richtung der U-Bahn-Station.

Die nächste Bahn fuhr zur meiner Erleichterung direkt mit meinem Eintreffen am Bahnsteig ein, und ich setzte mich zufrieden auf einen freien Platz. Nach der vierten Station – es waren gesamt sechs bis zu Bens Wohnung – blieben wir jedoch abrupt stehen. Ich hoffte inständig, dass wir gleich weiterfahren würden, denn ehrlich gesagt fand ich die Idee, unter Tage gefangen zu sein, schon immer etwas gruselig. Mit mir warteten etwa zehn Personen im U-BahnWagon, doch als sich nach zehn Minuten immer noch nichts bewegte, wurden sämtliche Insassen unruhig. Einer der Fahrgäste – ein rundlicher Glatzkopf um die sechzig – betätigte das Nottelefon, um herauszufinden, „was da um Himmelswillen denn los sei!“, doch die Leitung war gänzlich tot. Auch unsere Mobiltelefone waren unter der Erde ohne Empfang, was die Situation nicht wirklich entschärfte. Ich versuchte möglichst „cool“ zu bleiben, um meine „Oh-mein-Gott-wir-werden-alle-sterben“-Gedanken zu zerstreuen und wippte nervös mit meinem Bein auf und ab.

Eigentlich hatte der ganze Tag schon besch…eiden angefangen: Am Morgen konnte ich meine Brieftasche nicht finden, was wiederum dazu führte, dass mir beide Busse, die ich für den Weg zur Arbeit benötigte, vor der Nase wegfuhren – ich kam zu spät. Tagsüber kleckerte ich mir während der Mittagspause ordentlich Ketchup auf die neue, weiße! Hose, und bis ich für unser romantisches Abendessen meine unfassbar störrischen Haare in eine auch nur einigermaßen ansehnliche Form gebracht hatte, vergingen fast eineinhalb Stunden, was mich – um noch rechtzeitig ins Restaurant zu kommen – auch noch ein Taxi gekostet hatte. Von dem „Jahrestags-Restaurant-Drama“ mal ganz abgesehen.

Nach fünf weiteren, bangen Minuten in dieser stickigen U-Bahn-Hölle begann sich meine anfängliche Angst in Wut umzuwandeln: Was, wenn Ben nun sauer auf mich werden würde, weil ich zu spät kam? Was, wenn meine Mutter neuerlich versuchte, mich zu erreichen und ich nicht wie gewohnt nach spätestens zehn Minuten zurückrief? Was, wenn ich den heutigen Abend und meine Erwartungen, die ich in ihn gesteckt hatte, nicht retten konnte? Fragen über Fragen gingen mir durch den Kopf und mein eigener Verständnis-Ballon wuchs stetig weiter: Verständnis für meine Mutter, Verständnis für Ben, Verständnis für diese besch…eidenen öffentlichen U-Bahnlinien, Verständnis für alles und jeden – ABER wer hatte verdammt nochmal Verständnis für mich? Nach etwa fünfunddreißig Minuten im absoluten Stillstand kochte ich vor Entrüstung nahezu über, und mir fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen, dass ich eigentlich permanent versucht hatte, es allen um mich herum recht zu machen, und mich dafür dann auch noch unterwürfig entschuldigte! Als ich mich gerade richtig in Rage gedacht hatte, machte es plötzlich einen Ruck und die U-Bahn setzte sich wieder in Bewegung. Über die Lautsprecherdurchsage plärrte eine kaum zu verstehende Stimme, dass man sich für das technische Gebrechen entschuldige und man sich als Entschädigung für die lange Wartezeit am nächsten Ticketschalter einen Gutschein für ein Tagesticket holen dürfe – „naja, besser als nichts“, dachte ich. Ich hüpfte bei Station 6 – Bens Station – aus dem Wagon und war heilfroh, mich endlich auf die öffentliche Toilette begeben zu können. Trotz meiner Verspätung schlug ich ein eher langsames Tempo ein, ich wollte mich an diesem Tag einfach nicht mehr stressen oder aufregen müssen.

Auf halber Strecke zu Bens Wohnung beschloss ich, kehrtzumachen und in meine eigene Wohnung zurückzufahren. Ich hatte genug: genug zugehört, genug entschuldigt, genug gehofft und gehetzt. Mir reichte es!

Zu Hause angekommen wartete Ben bereits besorgt vor meiner Tür, da sich mein verdammtes Telefon auch nach meiner unterirdischen Wiederauferstehung nicht wieder in mein Netz eingewählt hatte. Ich war offenbar für eine ganze Stunde nicht erreichbar gewesen. Als er meinen Gesichtsausdruck und die Tränen in meinen Augen – die mir während des Heimwegs gekommen waren, weil ich mir selbst unheimlich leid tat – sah, nahm er mich einfach in den Arm, und wir gingen schweigend in meine Wohnung. Wir setzten uns auf die Couch und sahen uns lange an: er, weil er herausfinden wollte, was passiert war, und ich, weil ich einfach keine Lust mehr hatte, mich zu erklären. Als Ben nach einigen Minuten aus der Küche mit zwei Gläsern Wein zurückkehrte – Wein hatte ich zu dieser Zeit meines Lebens immer zu Hause – fasste ich mir ein Herz und redete mir alles von der Seele:

„Ich habe es so satt, immer die gehetzte, liebenswürdige, alles verstehende Tochter oder Freundin zu sein. Ich fühle mich mit meinen Bedürfnissen nicht mehr ernst genommen, aber dafür gebe ich weder dir noch meiner Mutter die Schuld, ich habe mich selber total vergessen.“

Als mir die ersten Tränen die Wangen hinunterkullerten, sprang Billy auf meinen Schoß und begann, meine Hand abzulecken. Ich streichelte ihm kurz über sein lockiges Pudel-Mischlings-Fell und setzte fort: „Die Rolle, in die ich das letzte Jahr über geschlüpft bin, zehrt mich aus. Einerseits möchte ich es dir recht machen, meine Mutter nicht vernachlässigen, meinen Job zu 100% erledigen und vielleicht sogar Karriere dabei machen, aber alles, was übrig bleibt ist, dass ich mich permanent schlecht fühle und glaube, es wiedermal irgendwem nicht recht zu machen. Ich habe immerzu geglaubt, alle anderen müssten aufgrund meiner Unzulänglichkeiten mehr und mehr Verständnis für mich aufbringen. Meine Wahrheit ist aber, dass ich nicht bemerkt habe, wie mein eigener Verständnis-Ballon – zuständig für alle Sorgen und Probleme um mich herum – mich völlig eingenommen hat, über mich hinausgewachsen und über die Grenzen meiner eigenen Persönlichkeit mutiert ist. Ich fühle mich von meinem Umfeld nicht mehr verstanden oder unterstützt. Diese vierzig Minuten in einer stehenden U-Bahn – im Stillstand – haben mich seit Monaten erstmals dazu gezwungen, tatsächlich stillzustehen und meine Gedanken zu ordnen – ich hatte das Gefühl, nach einer Ohnmacht zu mir zu kommen.“

Je mehr ich über meine Gefühle sprach und diesen den Raum gab, sich zu entfalten, desto kleiner wurde mein – anfangs prallgefüllter – Verständnis-Ballon. Ich redete fast zwei Stunden ohne Unterlass und Ben hörte mir zu – ohne mich zu unterbrechen oder sich abzuwenden.

Als ich mit meinen Ausführungen fertig war, sprachen wir noch bis in die frühen Morgenstunden über uns, meine Mutter, unsere Jobs – einfach alles, was ihn und mich beschäftigte. So hatte ich ihn auch kennen- und liebengelernt, bis ich mich – verblendet durch meinen eigenen Perfektionismus – immer weiter in die Rolle dieses ferngesteuerten und abgehetzten „Persönchens“ gepresst hatte.

Rückblickend bin ich sehr froh, dass die Geschehnisse dieses Tages mein Ventil geöffnet hatten und den Verständnis-Ballon wieder schrumpfen ließen. Wenn ich seither morgens in den Spiegel schaue, erkenne ich mich jeden Tag wieder ein bisschen besser.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 16086

Eine Erinnerung an alte, junge Zeiten

Sie hatte es wieder getan. Einen Mann vergrault, mit dem sie gemeinsame Zeiten in einer Beziehung gehabt hatte. Das Warum war zu klären, aber nicht jetzt. Nun hieß es erst einmal weiterleben, überleben, ohne über der Grübelei völlig verrückt zu werden.
Wäsche waschen, das ist gut. Das ist fällig und gut. Dann putzen, das Bad. Jawohl. Schließlich die Stücke der Gurke, die er ins Wohnzimmer gepfeffert hatte bei seinem unfreiwilligen Abgang, auflesen und in den Biomüll werfen. Diesen runtertragen.
Es geht ja. Kein Problem. Sie zitterte zwar noch am ganzen Leib, aber was war das schon gegen das Davor. Sie hatte ihr Herz im gesamten Körper schlagen gespürt, und das war keine Einbildung gewesen. Sie wusste, wenn sie das jetzt aussprach, war es vorbei. Und sie tat es, obwohl ihr ganzer Körper in Alarmbereitschaft war. Wie würde er reagieren? Das konnte sie nicht wissen.
Sie bat ihn, den Schlüssel zu ihrer Wohnung zurückzugeben. Nachdem sie ihm gesagt hatte, sie sehe keine gemeinsame Zukunft mehr. Für sie sei es zu Ende. Und es tue ihr leid.
Drei Jahre diesmal. Recht lange gemeinsame Jahre, in denen viel passiert war. Keiner konnte etwas dafür. Sie waren immer sehr verschieden gewesen, aber jetzt, nachdem der Lack ab war, traten die Unterschiede unübersehbar deutlich zutage.
Von Anfang an war klar gewesen, dass das keine Beziehung auf Lebenszeit sein konnte.

Und nun dachte sie sich, dass keine einzige Beziehung eine auf Lebenszeit sein konnte, zumindest für einen der beiden Beteiligten. Denn einer blieb ja immer übrig. Also war dessen Lebenszeit noch nicht abgelaufen, aber die Beziehung zu Ende. Das Über-den-Tod-hinaus einmal geschenkt, das glaubte doch kein Mensch, dass er einem Toten zugeneigt war, in der Liebe der Lebendigen. Erinnerungen, ja, Gedenken auch, Dankbarkeit, Schmerz, sicher, aber Weiterlieben konnte man nur, wenn da etwas zurückkam, Gegenüberliebe sozusagen, sonst keine Liebe, sondern Verlust der Liebe. Keine Illusion, das Band bestand, solange beide es in Händen halten konnten. Sobald es einem entglitt, und der musste dafür noch nicht einmal gestorben sein, war es vorbei.

Warum sie, der Beziehungsmensch schlechthin, immer wieder infrage stellen musste, ob das alles gut sei für sie, so wie es war, ob es genügte. Ob das Band hielt, was es versprach. Sie wusste es nicht, aber eines wusste sie: Es war dringend zu hinterfragen.
Sich selbst bedenken, das ist wohl die schwierigste Übung. Das eigene Gehirn dazu benutzen, um darüber nachzudenken, wie das Denkwerkzeug funktioniert. Warum diese Windung diese Wende herbeigeführt hat. Warum sie jetzt, als frischer Single sozusagen, darüber nachdachte, weshalb sie diese Beziehung gehabt hatte, die schon Vergangenheit war. Das hätte ein bisschen früher vermutlich mehr geholfen. Selbstkritik durchaus angebracht.

Ihr Gehirn war und blieb ihr ein Rätsel. Warum hatte sie die Gurke erwähnen müssen, ja, müssen? Das musste ihm ja wie Hohn erschienen sein. Seine Freundin macht Schluss mit ihm, möchte den Wohnungsschlüssel zurück, und zu guter Letzt fragt sie ihn, ob er die Gurke wieder mitnehmen möchte. Die hatte er an dem Abend mitgebracht, um sie zum gemeinsam zuzubereitenden Salat beizusteuern. Die in einem Akt der Resignation, Aggression und Verzweiflung von ihm zu Boden geschleuderte vermaledeite Gurke lag nun vor ihren Füßen.
Da weinte sie, um die Gurke, um sich selbst, um das Komplizierte im Leben.
Sie wollte kein Beziehungsmensch mehr sein. Es war ihr zu anstrengend, es setzte ihr zu sehr zu.

Um eine Beziehung durchzustehen, musste man hartgesotten sein. Man musste einiges aushalten können. Man musste die Befindlichkeiten des Partners miterleben, mittragen, war den Launen ausgeliefert, den eigenen, denen des anderen.
Man bekam dafür – ja, was? Geborgenheit, Zugehörigkeit, Zärtlichkeit. Obwohl, wenn sie sich die meisten der ihr bekannten Beziehungen betrachtete, das mit der Zärtlichkeit war wohl irgendwo am Weg verlorengegangen. Wie das verhindern, das Abdriften in die jeweiligen Niederungen? Den Partner als selbstverständlich anzusehen, war ihrer Meinung nach der Anfang vom Ende. Um etwas Selbstverständliches muss man sich ja nicht mehr bemühen. Oder danken wir der Sonne dafür, dass sie aufgeht? Die Wenigsten.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 16063