Von Kohle und Meisen

1

Paul Meller ließ sich auf den ihm zugewiesenen Ledersessel im Wohnzimmer seines Freundes Walter Hauser fallen. Mit nervösen Blicken musterte er Walter, registrierte dessen edlen Anzug und das goldene Malteserkreuz auf der Schließe seiner Armbanduhr. Sein Blick wanderte weiter und fiel auf mehrere Ölgemälde und eine enorme Bibliothek, schließlich auf seine eigene zerschlissene Hose und seine Schuhe, die abgetreten und an zwei Stellen eingerissen waren.

„Ach, Walter“, seufzte er.
„Wie viel brauchst du dieses Mal?“, fragte der Angesprochene mit kaum verhohlenem Ärger in der Stimme.

Sie kannten einander von Kindesbeinen an, waren beide in Gratwein aufgewachsen, einem kleinen Dorf in der Nähe von Graz. Sie hatten gemeinsam die örtliche Volksschule besucht, sich danach durch das Gymnasium eines Nachbardorfes gequält und schließlich studiert.
Walter Hauser war Arzt geworden, Paul Meller hatte sich nach dem Studium der Kunstgeschichte einige Jahre lang dem Alkohol hingegeben und war nie wieder auf die Beine gekommen. Walter hatte ihn stets finanziell unterstützt und ihm auch in vielen anderen Belangen die Stange gehalten, doch mit den Jahren war er es leid geworden, Paul über Wasser zu halten, während sich dieser Träumereien von einer großen Karriere als Schriftsteller hingab und keiner geldbringenden Tätigkeit nachging.

„Monika saugt mich aus, sage ich dir! Ständig will sie Geld von mir, und ich habe doch keines!“
„Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du diese Frau verlassen musst?“, rief Walter. „Du bist ihr hörig. Richtiggehend süchtig bist du nach ihr! Und was macht sie? Sie nutzt dich bloß aus. Liegt auf der faulen Haut und lässt dich überall um Geld betteln.“
Paul wischte sich schweigend Tränen aus den Augen.
„Also, wie viel?“
„Dreitausend Euro.“
„Bist du verrückt? Wofür braucht ihr so viel Geld?“
„Monika wünscht sich eine neue Lederjacke, und die alleine kostet mehr als zweitausend.“
Walter Hauser sprang auf, stützte sich auf dem Couchtisch ab und rief: „Verzeih, dass ich dich gefragt habe, ob du verrückt seist. Diese Frage war unnötig, denn du bist verrückt!“
Paul sah aus dem Fenster. Auf dem Fensterbrett hatte sich eine Kohlmeise niedergelassen und pickte darauf herum. Dann sah sie ihm in die Augen und flog davon.

In diesem Augenblick ahnte Paul Meller, dass das Glück dabei war, ihn zu verlassen.
„Ich gebe dir tausend Euro, Paul“, sagte Walter, der sich wieder beruhigt hatte. „Das ist aber das letzte Mal, dass ich dir helfe. Meine Frau fragt mich schon, ob ich noch bei Trost bin, dir immer wieder Geld zu geben.“
„Danke“, murmelte Paul. In seiner Stimme lagen Enttäuschung und Resignation.
Sein Freund ging in einen Nebenraum und kam mit dem Geld in der Hand zurück. Er reichte es Paul mit den Worten „Bitte sehr!“
„Vielen Dank, Walter. Du bist ein echter Freund.“
„Lassen wir das. Möchtest du ein Glas Cognac?“
„Ja, gerne.“

Walter füllte teuren Cognac in zwei Schwenker und stellte sie auf den Tisch. Nachdem sie angestoßen hatten, sagte er: „Heute Abend findet in der Mehrzweckhalle ein Fest der Freiwilligen Feuerwehr statt. Wirst du hingehen?“
Paul schüttelte den Kopf und sagte: „Was habe ich dort verloren?“
„Maria Reiner wird auch kommen“, sagte Walter.
„Maria Reiner wird auch kommen“, wiederholte Paul, und plötzlich hellte sich seine Miene auf, um gleich darauf wieder düster zu werden.
„Du liebst sie immer noch, oder?“, meinte Walter.
„Lieben... nun, ich würde sie noch immer gerne an meiner Seite haben, sagen wir es so. Doch außer Ablehnung ist von ihrer Seite nie etwas gekommen.“ Er seufzte.

„Ich finde, du solltest das Fest besuchen. Lass uns doch gemeinsam hingehen“, schlug Walter vor.
„Ich habe kein sauberes Hemd. Du weißt, Monika ist im Haushalt nicht zu gebrauchen.“
„Das weiß ich. Monika Schinagl ist für gar nichts zu gebrauchen.“ Er lachte, dann verließ er das Wohnzimmer und kam mit einem gestärkten Hemd und einer Seidenkrawatte zurück.
„Das Hemd und die Krawatte schenke ich dir. Ist es dir recht, wenn ich dich um acht Uhr abhole?“
Paul sah auf die Kleidungsstücke und strahlte.
„Vielen Dank, Walter! Ja, acht passt mir gut.“

 

2

„Wie viel hast du bekommen?“, fragte Monika Schinagl.
„Siebenhundert Euro hat er mir gegeben“, log Paul Meller.
„Das reicht nicht!“, rief sie. „Du musst nochmal zu Walter gehen! Ich muss diese Lederjacke haben!“
Sie blickte ihn böse an.
„Monika, mehr hat er mir nicht gegeben. Was soll ich machen?“
„Das ist mir egal, mein Lieber. Ich will diese Jacke!“
„Man kann nicht immer alles haben, was man sich wünscht“, sagte er mit ruhiger Stimme.
„Das stimmt. Wenn ich diese Jacke nicht haben kann, dann hast du eine Freundin gehabt!“
„Wann wirst du endlich damit aufhören, mich mit dem Schlussmachen zu erpressen?“, fragte Paul und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Du weißt doch, dass ich alles für dich tue!“
„Das reicht eben nicht! Was ist in dem Plastiksack?“

Sie nahm Paul die Tüte aus der Hand und zog das Hemd und die Krawatte heraus.
„Aha, der Herr war einkaufen“, stellte sie schnippisch fest.
„Nein, der Herr hat von seinem besten Freund ein Hemd und eine Krawatte geschenkt bekommen“, gab er zurück.
„Wofür brauchst du das Zeug denn?“
„Ich gehe heute Abend mit Walter auf das Feuerwehrfest.“
„Geh ruhig, wenn es dir nicht zu blöd ist, die Leute aus Gratwein zu sehen.“
„Nein, das ist es nicht.“
„Ich werde jedenfalls auf dem Sofa liegen und weinend an meine Lederjacke denken.“
„Nur zu, Monika“, ermunterte er sie sarkastisch.

„Ich habe übrigens deine neuen Erzählungen gelesen.“
„Gefallen sie dir?“
„Sie sind ganz gut.“
„Ganz gut?“, fragte er enttäuscht. „Ich habe mir große Mühe gegeben.“
„Sie sind gut. Und jetzt gib mir die siebenhundert Euro.“
Er gab ihr das Geld und sagte: „Ich brauche aber etwas für das Fest.“
Sie drückte ihm zehn Euro in die Hand und sagte: „Das muss reichen. Wirst du Walter fragen, ob er dir noch etwas borgt?“
„Ja, Monika, das werde ich“, seufzte er.

 

3

Paul Meller hielt sich im Hintergrund, während Walter Hauser viele Hände schüttelte. Er hatte für jeden ein freundliches Wort übrig, denn viele der Gäste der Veranstaltung waren seine Patienten.
Paul wurde bloß von wenigen mit Handschlag begrüßt, wobei ihm die Verachtung in den Augen, die auf ihn gerichtet waren, nicht entging. Unter all den erfolgreichen und wenigstens im Ort hochgeachteten Gratweinern kam er sich minderwertig vor. Dieses Gefühl wurde vom Hemd, das er von seinem Freund erhalten hatte, noch verstärkt, denn auf der linken Seite waren die Buchstaben WH unübersehbar eingestickt.

Die Dorfmusikanten nahmen ihre Plätze ein und begannen ihre Darbietung mit einem flotten Marsch. Bald füllte sich die Tanzfläche, und Walter wurde von der Frau des Bürgermeisters zum Tanzen aufgefordert.

Paul stellte sich an die Bar und trank zwei Schnäpse aus Plastikbechern, dann bestellte er ein Bier. Mit dem Becher in der Hand stand er am Rande der Tanzfläche an die Wand gelehnt und rauchte eine Zigarette. Er bemerkte, dass die Leute über ihn tuschelten und war gerade dabei, sich innerlich darüber aufzuregen, als er Maria Reiner erblickte.
Sie hatte in der Volksschule und im Gymnasium seine Klasse besucht, und er hatte sich in sie verliebt. Sie hatte von seiner Liebe gewusst, ihm jedoch stets die kalte Schulter gezeigt. Seine Liebe war nie erkaltet, er hatte sie bloß zur Seite geschoben, um nicht von ihr gequält zu werden.
Als er Maria sah, erwachten diese Gefühle wieder.

Das Erste, was Maria Reiner an diesem Abend, als sie Paul Meller erblickte, empfand, war Bestürzung, danach Mitleid. Sie hatte von Pauls unaufhaltsamem Abstieg erfahren, doch als sie mit eigenen Augen sah, wie tief er gefallen war, konnte sie diese Emotionen nicht unterdrücken. Sie lächelte, winkte ihm zu und besorgte sich ein Brötchen und einen Becher Bier an der Bar.

Walter kam auf seinen Freund zu und flüsterte ihm ins Ohr: „Paul, Maria ist hier. Sei nicht dumm! Geh zu ihr und unterhalte dich mit ihr.“
„Soll ich wirklich?“, flüsterte Paul aufgeregt zurück.
„Ja, natürlich sollst du.“

Paul wagte nicht, der Aufforderung seines Freundes Folge zu leisten. Er hätte gerne mit Maria gesprochen, doch waren ihre zahllosen abweisenden Reaktionen noch zu präsent in seinem Gedächtnis. Von dort waren sie in den Fokus seiner Wahrnehmung zurückgekehrt.
Er stieg ein paar Stufen die Treppe hinauf, die zur Galerie führte, und setzte sich.
Er vergrub seinen Kopf in den Händen und hob ihn erst, als er spürte, wie eine Hand sanft auf seine Schulter gelegt wurde.
Es war Maria Reiner, der die Hand gehörte. Sie hatte sich neben ihn auf die Stiege gesetzt.
Sie hatte Paul viele Jahre nicht gesehen, und als sie ihn an diesem Abend sah, hatte sie unwillkürlich an ihr Verhalten ihm gegenüber denken müssen. Dabei war ihr bewusst geworden, dass sie sich unfair verhalten hatte. Von seinem Abstieg hatte sie zwar erfahren und er hatte sie kalt gelassen, doch als dieser sich so deutlich vor ihr manifestierte, beschloss sie, Paul Meller zu trösten.

„Wie geht es dir, Paul?“
„Es geht mir schlecht, Maria. Ich habe in den vierundvierzig Jahren, die ich am Leben bin, einfach zu viele falsche Entscheidungen getroffen.“
„Möchtest du mir von diesen erzählen?“, fragte sie.
Da brach es aus ihm heraus.
„Sie saugt mich aus! Sie nimmt mir die Luft zum Atmen!“, schluchzte er.
Maria war indigniert. Er sprach mit vom Alkohol schwerer Zunge, und sein Atem verströmte den süßlichen Geruch nach Bier und Schnaps.
„Aber“, fuhr sie fort, „was ist denn passiert?“
Paul setzte sie in knappen Worten über seine Situation in Kenntnis. Dann fiel er ihr um den Hals und begann haltlos zu weinen. Seine Tränen färbten den Stoff ihres Abendkleides dunkel.
„Das tut mir alles sehr leid für dich, Paul“, sagte sie in bemüht freundlichem Ton, in dem auch eine gute und unüberhörbare Portion Mitleid lag.
„Wirklich, Maria?“, fragte Paul mit tränenerstickter Stimme.
„Ja“, gab sie zurück. Sie dachte eine Weile nach und sagte dann mit leiser Stimme, der Paul anmerkte, dass sie von Unsicherheit geprägt war: „Es tut mir auch leid, dass ich mich dir gegenüber so verhalten habe, wie ich es eben getan habe, als wir jung waren. Das hattest du nicht verdient. Wie ich aus deiner Schilderung der Situation heraushöre, bist du ein guter Mensch, der leider einem schlechten untergekommen ist.“
„Tja, so ist es wohl“, gab Paul, der aufgehört hatte zu weinen, zur Antwort.

„Ich bin in der glücklichen Lage, dir helfen zu können, Paul. Wenn du es möchtest, kannst du in meiner Galerie in Graz anfangen. Walter hat mir vor vielen Jahren erzählt, dass du ein paar Semester Kunstgeschichte studiert hast, und deshalb glaube ich, dass dir ein solcher Job Freude bereiten würde.“
„Warum machst du das, Maria?“, fragte Paul.
Sie überlegte.
„Wahrscheinlich weil ich damit etwas von der Qual, die ich dir bereitet habe, wiedergutmachen kann. Und weil gerade eine Stelle in der Galerie frei geworden ist“, setzte sie lakonisch hinzu, doch Paul wusste, dass sie ihm wirklich unter die Arme greifen wollte.
Er nahm die Visitenkarte, die sie ihm reichte, und nachdem er sich von ihr verabschiedet und versprochen hatte, sie am nächsten Tag anzurufen, machte sich Paul Meller auf die Suche nach Walter Hauser.

Nachdem er ihn gefunden hatte, flüsterte er ihm ins Ohr: „Walter, ich fühle mich nicht gut. Ich vermute, dass es am Schnaps liegt.“
Walter sah ihn ernst an.
„Nein, das stimmt nicht“, sagte Paul. „Ich muss nachdenken, Walter, und dazu brauche ich Ruhe.“
„Was hat Maria denn zu dir gesagt?“, fragte Hauser, doch Meller ging nicht auf die Frage seines Freundes ein.
„Ich glaube, ich habe vor wenigen Minuten einen Weg aufgezeigt bekommen, wie ich aus meinem Schlamassel herauskomme“, sagte er, reichte seinem Freund die Hand und verließ die Mehrzweckhalle.
Auf dem Heimweg dachte er über Marias Angebot nach, und kam zu dem Schluss, dass er seine Lebensumstände ändern müsste.

 

4

„Wie viel hast du von Walter noch erhalten?“, so wurde Paul von Monika Schinagl begrüßt.
„Ich habe kein Geld von Walter Hauser erhalten, Monika. Ich werde mich in Zukunft selbst erhalten.“
„Wie soll denn das gehen?“, fragte sie.
„Ganz einfach: Ich habe einen Job in Aussicht, der mir genug Geld einbringen wird, um ein bescheidenes Auskommen zu haben, bis ich meine Schulden bei Walter beglichen habe.“
„Und dann?“, fragte sie und lächelte unsicher.
„Dann, wenn ich keine Schulden mehr habe, habe ich ein gutes Auskommen“, sagte er mit ruhiger Stimme, die Monika erkennen ließ, dass noch etwas kommen würde.
Sie wartete jedoch nicht ab, was Paul sagen würde, sondern kam auf das für sie wichtigste Thema zu sprechen: „Wann kann ich mir die Lederjacke kaufen?“
„Sobald du das Geld verdienst hast, das sie eben kostet, Monika. Im Übrigen möchte ich, dass du die Wohnung bis morgen Mittag verlässt.“
„Wie bitte?“
„Du hast schon verstanden. Ich will, dass du ausziehst. Deine Eltern haben einen großen Bauernhof, und dort kannst du jederzeit wieder einziehen. Das hat deine Mutter dir versprochen.“
Monika Schinagl begann zu weinen, und an den Flüchen, die sie ausstieß, erkannte Paul, dass ihre Trauer um die Lederjacke größer war als die um das Ende ihrer Beziehung zu ihm.

Am Morgen des nächsten Tages rief er Maria Reiner an und vereinbarte einen Termin in der Galerie in Graz für den frühen Nachmittag.
Als er, der als Tagedieb in die Landeshauptstadt gefahren und als Galerieangestellter in sein Dorf zurückgefahren war, am Abend seine Wohnung betrat, war von Monika Schinagl und ihren Habseligkeiten nichts mehr zu sehen.
Er setzte sich an seinen Küchentisch und blickte aus dem Fenster. Zwei Kohlmeisen ließen sich auf dem Fensterbrett nieder und starrten ihn an. Zwei Minuten später flogen die davon.
Paul nahm es als Zeichen: „Ich werde mir eine vernünftige Freundin suchen - dann ist das Glück vollständig zu mir zurückgekehrt.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten |Inventarnummer: 16171

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