Sie

Leuchten. Ein helles Leuchten in den sanften, großen, grün-grauen Augen der jungen Frau. Die Stille in ihre Einzelteile zerschreien. Warmer Frühlingswind auf nackten Schultern in einer sternenklaren Nacht, das lange schwarze Haar umspielt sanft das zierliche Gesicht. Rosenduft vermengt sich mit dem Nachtwind wie ein Paar beim Liebesakt; die Nacht ist klar und der Vollmond blickt auf sie herab, wie ein gütiger, liebender Großvater. Ein kräftiger, lebensbejahender Schrei, wie der von Ronja Räubertochter zu Frühlingsbeginn. Ein Tanz durch die Straßen der alten Stadt, ehe sie sich in Ermangelung einer nahegelegenen Bank auf die Straße setzt und an die von den Jahren gezeichnete Steinmauer gelehnt den Vollmond betrachtet. Sehnsucht kann sie nicht aufhalten – im Gegenteil: Sie ist der beste Antriebsstoff. Langsam fühlt sie, wie ihr die zwei Flaschen Rotwein, die sie zusammen geleert haben, zu Kopfe steigen. Sie schließt die Augen und beginnt, alles wahrzunehmen, sich zu erinnern, Revue passieren zu lassen. Eben jene wenigen Monate, die alles verändert hatten.

Nach so vielen gemeinsamen Jahren war das Ende schleichend gekommen. So schleichend, dass es lange von niemandem realisiert worden war. Von den Freunden nicht, von ihr nicht und auch von den anderen nicht. In den Tagen, die auf ihre Mitteilung folgten, hatte sie sich gefühlt, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggerissen, ihre Welt war wie aus Watte gewesen. Sie fragte sich, ob es nicht Anzeichen gegeben hatte, die früher hätten erkannt werden können. Vielleicht die immer weniger werdende Zeit, die die beiden miteinander verbracht hatten; die Kinder waren aus dem Haus und somit auch der letzte Kitt, der diese Beziehung noch zusammengehalten hatte. Trotz aller dünnen Erklärungen, dass jeder mit Projekten beschäftigt war, die es durchzuführen galt, und der allgemeinen Aussage, dass danach schon wieder alles besser werden würde. Sie waren nicht das erste Paar, das mit dieser dünnen Aussage versuchte, die bitteren Tatsachen vom Tisch zu wischen. Oder ob es daran lag, dass die beiden sich über Jahrzehnte vorgemacht hatten, dass sie zusammenpassen würden und dass Beziehungen nun einmal auch bedeuten, dass man sich zusammenrauft, Kompromisse schließt und all das Zeug, das man aus gutmeinenden Mündern zu hören bekommt, wenn man über Beziehungsprobleme spricht? Daran, dass keiner nachgeben wollte, weil ein Scheitern bedeuten würde, zu verlieren und auf der Beziehungsebene zu versagen, obwohl man doch in allen anderen Lebensbereichen überdurchschnittlich erfolgreich war? Dass die Kämpfe mit den Großeltern der Kinder umsonst gewesen sein sollten, als sich diese – vielleicht in weiser Voraussicht, aber dennoch erfolglos – gegen ihre Beziehung gestellt hatten? Oder an der Angst, sich dem eigenen Scheitern stellen zu müssen und der Tatsache, dass keiner von ihnen je den Mut gehabt hatte zu gehen? Was auch immer es war, nun war das Ende nicht mehr zu leugnen, sondern starrte sie unverhohlen an wie ein zum Kampf bereiter Wachhund.

Es war ein kalter Abend im Februar gewesen, als sie es endlich über sich gebracht hatten, ihren Kindern mitzuteilen, dass sie sich scheiden lassen würden. Eine Woche vor dem ersten Gerichtstermin. Der Schnee war beinahe einen halben Meter hoch gewesen und die Luft schneidend kalt. Ein nass-grauer Tag, der kälteste seit Langem. Ein guter Tag für fassungsloses, erschüttertes Schweigen. Vierzig Jahre Ehe – sie hatten am zwanzigsten Geburtstag der Mutter geheiratet – sollten nun am Scheiterhaufen verbrannt werden.

Clarissa hatte die Neuigkeit ihrer Eltern am härtesten getroffen, während ihre beiden Brüder sehr gefasst auf die Nachricht reagiert hatten. Vermutlich hatten sie eher damit gerechnet als das Nesthäkchen der Familie, das gerade mit dem Studienabschluss und einem neuen Lebensabschnitt beschäftigt war. Nachdem ihre Eltern ihnen die Neuigkeit mitgeteilt hatten, war sie wieder zurück nach Wien in ihre Wohnung gefahren, um ihr Gedankenkarussell wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Wäre es jedoch bei diesem einen Ereignis geblieben, hätte es ihr nicht so sehr den Boden unter den Füßen weggerissen. Als sie an jenem grauen Tag wieder in ihr eigenes Heim zurückgekommen war, war endgültig klar gewesen, dass kein Stein mehr auf dem anderen bleiben würde. Denn wenn die Dinge einmal aus den Fugen geraten, dann tun sie das für gewöhnlich gleich auf der ganzen Linie.

Im ersten Moment kam es ihr so vor, als sei alles wie immer: Er hatte – natürlich – keinen Handgriff in der Wohnung verrichtet; wie immer, wenn sie einige Tage weg war. Es wäre ja auch zu unbequem gewesen, das eigene Chaos wieder aufzuräumen. Und doch konnte sie sich das Gefühl nicht erklären, das sie nach einigen Minuten beschlich. Sie sah sich um, fand aber nichts, das einem mit seiner Offensichtlichkeit ins Auge sprang. Sie fühlte sich fremd in ihrer eigenen Wohnung, als wäre sie ein vergessener Handschuh oder Regenschirm, der nach einem gemeinsamen Abendessen mit Freunden liegen geblieben und noch nicht zurückgegeben worden war. Als sie ihn an jenem Abend ansah, fühlte sie eine Leere in sich; ihr war, als würde sie vor einem Fremden stehen, mit dem sie zufällig auf der Straße zusammengestoßen war. Für ihn war alles wie gehabt, er schien keinen besonders großen Anteil an dem zu nehmen, was sie ihm während der Zugfahrt am Handy erzählt hatte. War es das also, was von fünf gemeinsamen Jahren übrig blieb: Ein auf null reduziertes Mitgefühl? Den ganzen Abend war sie wie eine mechanisch aufgezogene Puppe durch die Wohnung gelaufen, hatte in keinem der großen Zimmer der Altbauwohnung, die sie von ihren Großeltern geerbt hatte, Ruhe gefunden. Schließlich hatte sie sich, wie immer, wenn sie mit der Welt im Unreinen war, mit ihrem Laptop auf ihren großen Ohrensessel, den sie von ihrem Großvater geerbt hatte, in der Bibliothek zurückgezogen. Der Mailordner enthielt nur einige Informationen zu ihrer Sponsion und einige Absagen auf Bewerbungen, welche sie Wochen zuvor, nach ihrer erfolgreichen Diplomprüfung, abgeschickt hatte. Ihr Blick war durch das größte Zimmer der Wohnung geschweift, in welchem sie ihre Bibliothek eingerichtet hatte. Bücher hatten eine beruhigende Wirkung auf sie, schon seit Kindheitstagen.

Clarissa starrte schon eine Weile aus dem Fenster und beobachtete den Regen, als es an der Tür läutete. Als sie öffnete und, wenn auch nur für wenige Sekunden, die Enttäuschung in den Augen ihrer Nachbarin aufflackern sah, fühlte sie – wider Erwarten – weder Wut noch Verletzung, sondern lediglich Erleichterung durch die gewonnene Klarheit. Es waren keine Worte nötig, um zu verstehen. Die Frau hatte nicht damit gerechnet, Clarissa an der Türe anzutreffen, da sie eigentlich noch bei ihren Eltern hätte sein sollen. Sie betrachtete die ihr gegenüberstehende Frau einen kurzen Moment – gegensätzlicher könnten sie beide nicht sein: auf der einen Seite sie selbst mit den langen, schwarzen Haaren, den grün-grauen Augen, einem zierlichen, meist ungeschminkten Gesicht. Auf der anderen Seite ihre neue Nachbarin mit den hellblonden Haaren, dem kantigen und zu stark geschminkten Gesicht und einem sehr körperbetonten Kleidungsstil. Sie wusste, dass Andrei sich immer gewünscht hatte, dass sie ihr Äußeres in eben diesem Stil veränderte. Auch sein Blick sprach Bände, als er zur Tür gekommen war, um nachzusehen, wer geläutet hatte. Als sie die Türe hinter den beiden geschlossen hatte, war sie nicht – wie erwartet – in Tränen, sondern in schallendes Gelächter ausgebrochen, weil ihr die Gesamtsituation so bizarr vorgekommen war. Ihre Großeltern waren ein halbes Jahr zuvor verstorben, die Scheidung ihrer Eltern und nun das. An jenem Abend war sie nicht imstande, ihre Gefühlslage klar zu definieren – zu viel war in zu kurzer Zeit auf sie eingestürzt. Sie fragte sich nicht, ob sie es früher hätte bemerken müssen – es hätte doch ohnehin zu nichts geführt.

In den Wochen darauf war sie für die Außenwelt kaum erreichbar gewesen. Sie hatte ihre Benutzerkonten bei Facebook und Instagram gelöscht, um dieser surrealen und schnelllebigen Welt zu entkommen, der sie ohnehin kaum etwas hatte abgewinnen können. Diese grell inszenierten, allen Trends nachlaufenden Leben, die ständig verfügbar sowie nonstop und dauergrinsend glücklich waren, hatten sie schon immer abgestoßen; ebenso wie die sinnlosen Freundschaftsanfragen von Menschen, denen man in der Realität aus dem Weg ging. Auch ihre Email-Accounts hatte sie auf einen einzigen reduziert und das Handy, wenn es an war, auf lautlos gestellt. Alle Ereignisse dieser Zeit zogen an ihr vorbei wie ein Film, in dem sie eine Statistenrolle spielte: Andreis endgültiger Auszug, ihre Sponsion, die Geburt ihres Neffen ... Während sie noch ihrer Arbeit in einer kleinen Buchhandlung nachging, schrieb sie mechanisch Bewerbungen – jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie sich am Ende des Tages nicht mehr daran erinnern konnte, wo sie sich beworben hatte. An ihren freien Tagen streifte sie stundenlangen ohne Ziel durch die Stadt, völlig in Gedanken und Sorgen ihre Zukunft betreffend. Bis zu jenem Montagnachmittag.

Clarissa war auf dem Heimweg gewesen und hatte aus einem Bauchgefühl heraus ihr Handy aus der Jackentasche gefischt. In diesem Moment sah sie den eingehenden Anruf: eine Nummer mit italienischer Vorwahl. Nach einem halbstündigen Gespräch hatte sie einen Termin für ein erstes, ausführliches Interview auf Skype in der darauffolgenden Woche. Und so hatte sich dann eines nach dem anderen ergeben: Nach diesem Interview war sie kurze Zeit später für ein persönliches Gespräch in der österreichischen Botschaft nach Rom geflogen und war mit einer neuen Arbeitsstelle im Gepäck wieder nach Wien gekommen. Und danach fügte sich alles zusammen wie in einem Puzzle: Bereits kurz nach ihrer Rückkehr hatte sie einen Mieter für ihre Wohnung und mit Hilfe einer Freundin für sich eine Wohnung in Rom gefunden. Drei Wochen später war sie wieder nach Rom geflogen; eine Woche bevor sie ihren Dienst antreten würde. So hatte sie noch genug Zeit, um sich ein wenig einzuleben und zurechtzufinden.

An diesem Freitag, dem letzten arbeitsfreien Freitag für lange Zeit, ist sie mit ihrer Freundin und deren Kollegen unterwegs. Bis Valerio und sie irgendwann alleine mit zwei Flaschen Rotwein am Tisch sitzen. Sie lacht aus vollem Herzen, bis ihr die Luft wegbleibt und es Zeit ist, sich auf den Heimweg zu machen. Nachdem sie sich verabschiedet haben, legt sie den Rest des Weges alleine zurück, nur mit der Musik aus ihren Kopfhörern. Sie sehnt sich nach einem Hafen, in dem sie ankommen kann, ist voller Vorfreude auf das neue Leben. Sie kommt am Campo Cestio vorbei, dem Friedhof für nicht-katholische Ausländer in Rom, der ganz in der Nähe ihrer kleinen, vorläufigen Wohnung liegt. Sie setzt sich auf den Boden, blickt – mit dem Rücken an die Mauer gelegt – auf den sternenklaren Nachthimmel über ihr. Sie lächelt: Um zu leuchten braucht es vieles – vor allem aber den Mut dazu.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 17144

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