Das Museum der Brentanos: Ankunft

Einer der beiden Schlüssel sperrte die Haustür, und ich betrat eine kleine Eingangshalle. Dunkelheit empfing mich. Eine Stufe führte nach links in ein enges finsteres Stiegenhaus. Ich fand endlich den Schalter für die Beleuchtung, die den Namen jedoch kaum verdiente. Ein trübes, schwaches Licht ging an. Das Haus schien mir in den Fünfzigerjahren adaptiert und renoviert worden zu sein. Die Eingangstüre, der Steinbo­den im Eingangsbereich, Holzkassetten an den Wänden. Es gab einen Lift, einen Mini-Lift, ich wählte aber die steile Wendeltreppe in den zweiten Stock, um mir vorzumachen, ich bewege mich ausreichend. Deshalb nahm ich zwei Stufen auf einmal. Ohne Atemnot erreichte ich den zweiten Stock. Brentano stand an der Wohnungstür.

Von Bekannten hatte ich erfahren: Professor Robert Brentano, ein Spezialist für mittelalterliches Englisch und italienische Geschichte und Professor an der University of California, Berkeley, hatte hier eine Zeit lang die Sommer ver­bracht. Eines seiner Bücher, Zwei Kirchen: England und Italien im dreizehnten Jahrhundert, gewann 1968 den „John Gilmary Shea“-Preis und die Haskins-Medaille. Er, 1926 geboren, hatte die Wohnung auf Giudecca erworben. Die brentanosche Wohnung war völlig unbewohnt  – der Professor war schon lange tot, 2002 war er gestorben, und von seiner Familie und seinen Nachkommen schien niemand mehr Interesse an ihr zu haben –, durfte ich mich für ein paar Tage einmieten. Der zweite Schlüssel sperrte die Wohnungstür.

Als ich eintrat, empfingen mich ein abgestandener Geruch und Dunkelheit, aber nicht der Eindruck der Leere, vielmehr der Eindruck einer vollständig eingerichteten Wohnung, deren Bewohner überstürzt aufgebrochen waren und alles, so wie es war, zurückgelassen hatten. Oder vielleicht waren sie nur kurz weg, gingen Besorgungen nach und würden gleich zurückkommen und vor mir, dem Eindringling, über den man sie nicht verständigt hatte, erschrecken und mich brüsk hinauskomplimentieren. Verlassenheit empfing mich und eine Kulisse außerhalb der Zeit, die in mir, dem fremden Besucher, eine historisie­rende Faszination hervorrief.

In jedem Zimmer schaltete ich die Beleuchtung ein­, weil die Fensterläden geschlossen waren. Die meisten kleinen Zimmerfenster gingen in dunkle Schächte hinaus, die kaum Tageslicht hereinließen, nur die Wohnzimmerfenster, ebenso klein und erhöht, schauten zum Canale della Giudecca hinaus. Ich öffnete die Fensterläden. Zerbröckelnde Insektenschutzgitter konnten ihrer Aufgabe kaum gerecht werden. Gegenüber, jenseits des Canale della Giudecca, fiel mir die Kirche Santa Maria della Visitazi­one auf, deren graue Fassade an einen griechi­schen Tempel erinnerte. Im Nordos­ten ragte die Kuppel von Santa Maria della Salute über die Dächer, und dahinter der Campanile auf der Piazza San Marco.

Die Wohnung, das bemerkte ich nach dem Blick in mehrere Zimmer, war vollständig möbliert, die Re­gale voll mit Büchern, Kleidungsstücke hingen über Sessel, lagen über Lehnen, hingen in den Kästen. Über der Lehne des Schreibtischsessels hing eine Weste, auf die der Professor bei kühlerer Temperatur zurückgegriffen hatte. Hätten mir die Kleidungsstücke gepasst und hätte ich nicht auf den Zeitgeschmack und den Geruch der Vergangenheit geachtet, sie wären mir zur Verfügung gestanden. Gerahmte Fotos standen auf Tischen, Kästen und Schränken.
Der Schreibtisch in dem Zimmer, wo das Bett für mich stand, machte den Eindruck – wieder kam diese Vorstellung in mir hoch –, als wäre Professor Brentano – der dieses Bett wohl benutzt hatte – nur kurz hinausgegangen, um in einer Bar einzukehren, einzukaufen oder sich Zigaretten zu holen. Würde er mich der Wohnung verweisen, wenn er mich in seinem Arbeitszimmer antraf, oder würde er meiner Erklärung Glauben schenken, man hatte mir diese Übernachtungsmöglichkeit nach bestem Wissen und Gewissen ausnahmsweise angeboten? Ich konnte es ihm erklären, wie es dazu gekommen war.

Kugelschreiber, für die nächsten Aufzeichnungen bereit, in Wirklichkeit trocken und deshalb unbrauchbar, lagen auf der Schreibfläche, Notiz­zettel, einige beschrieben, einige blank. Bü­cher standen in einem Wandregal gleich über dem Schreibtisch: eine Geschichte Venedigs, ein Kunstführer, englisch-italienische Wörterbücher, lateinische Texte, zahlreiche weitere Bücher, die ich mit Ehrfurcht und Achtung betrachtete. Das eine oder andere nahm ich behutsam zur Hand, Staub löste sich. Ich blätterte darin, roch daran. Wie fast immer ließ der Geruch von Büchern in mir ein Glücksgefühl, ein Gefühl der Zufriedenheit entstehen.
Ich hatte beinahe das Gefühl, ich tat etwas Verbotenes, so als schnüffelte ich in fremden Dingen, als störte ich eine fremde Intimität, indem ich die Abwesenheit des Inhabers ausnützte. Der Staub auf den Büchern verflüchtigte sich durch die Entnahme aus dem Regal und durch vorsichtiges Wegblasen. Die Erschei­nungsjahre zeugten von einer vergan­genen Zeit, einer Zeit, in der ich selber noch jung war: die späten Siebziger-, frühen Achtzi­gerjahre des vorigen Jahrhunderts.

Da entdeckte ich auf dem Schreibtisch, etwas nach hinten geschoben, ein Kaleidoskop. Staub bedeckte das Rohr, das mit bunten Mustern ver­ziert war. Ich blies ihn vorsichtig weg, um nicht in eine Staub­wolke eingehüllt zu werden. Es war halb so wild, ich bekam keinen Nies- oder Erstickungsanfall. Mit einem Papiertaschentuch brachte ich das Kaleidoskop zum Glänzen. Ich blickte durch das Kaleidoskop in Richtung Fenster, dessen Läden ich geöffnet hatte, und war plötz­lich wieder ein Kind, vielleicht zehn Jahre, vielleicht etwas älter, und ich fragte mich, ob ich überhaupt erwachsen war.
Ich drehte am bewegli­chen Teil, und vor mir erstanden ver­schiedenste symmetrische Muster, Sterne in allen mögli­chen Farben – rote, grüne, blaue, gelbe, lila Glassteinchen –, ebenso Kreise, Ro­setten, Ringe, sphärische Gebilde, Fraktalen ähnlich. Die Spiegelungen zauberten Muster in nahezu vollkommener Symmetrie vor meine Augen. Ich war fasziniert. Und diese Muster lebten, änderten sich mit jeder Drehung, bildeten Mischfarben, schienen selber Freude an ih­ren Metamorphosen zu haben, die jeder statischen Langweiligkeit entge­genstanden.

Professor Brentano schien wie ich von Zeit zu Zeit mit kindli­chem Gemüt gesegnet gewesen zu sein, je­denfalls was Kaleidoskope betraf. Das bestätigte sich, indem ich auf dem Schreibtisch einen Bausatz für ein Kaleidoskop entdeckte. Die Verpackung war aufgebrochen, und ich leerte sie auf dem Schreibtisch aus. Offenbar war das funktionierende Kaleidoskop, durch das ich ge­schaut hatte, ein gekauftes Fabrikat. Das andere hätte der Professor wohl gerne zusammengebaut.

Am liebsten hätte ich mich hinge­setzt und das Kaleido­skop nach der Bauanleitung gebastelt. Die Anleitung war zwar italienisch, doch gestand ich mir in einem Zustand der Selbstüberschätzung so viel Geschick­lichkeit zu, den Zusammenbau zu schaffen, und ein paar Brocken Italienisch konnte ich auch. Außerdem zeigten Zeichnun­gen, wie man vorzugehen hatte. Die Gegen­stände, die ich auf dem Schreibtisch sah, verführ­ten mich, mich hinzusetzen, mitten am hell­lichten Sommertag, und zu beginnen: ein Bogen fester Karton im DIN-A4-Format, ein Bogen Pergamentpapier, eine Klarsichtfolie, eine selbstklebende Spiegelfolie, bunte Perlen oder Schmucksteinchen, Lineal und Bleistift, Cutter und Schneideunterlage, Papierschere und Na­gelschere, Klebefilm.

Günther Androsch
Auszug aus der Erzählung: Das Museum der Brentanos, Verlag Bucher, Hohenems, 2020

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 20104

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