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Das Unglück

Ein Unglück fühlt sich allein
Es ging der andren verlustig
Sonst war es zumindest zu zwein
Nur so ist das Unglück lustig
Denn Unglücke ziehen nur selten
Im Singular durch die Welt
Sie leben in tiefschwarzen Zelten
Die man für Glücksfälle hält
Unglücke leben im Rudel
Wie schon das Sprichwort sagt
Sie teilen die letzte Nudel
Und schlafen im Zelt bis es tagt
Unglücke leisten kommunisch
Ihr gottgefälliges Tun
Ein Unglück alleine wirkt kumisch
Wer hilft unsr’em Unglück nun?
Werft euer Unglück gemeinsam
In diesen schäbigen Topf
Dann ist es nicht mehr einsam
Und ihr seid freier im Kopf!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

Auszug aus "Der neue Palmström. Zweites Buch", Potato Publishing, Linz, 2023

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 13101

Kurz vor Mitternacht

Donnerstag, 4. Juni, 23:50 Uhr

Kurz vor Mitternacht schreckte Elisabeth plötzlich aus dem Schlaf hoch. Hatte etwas gekracht? War das ein Schrei oder ein Plumps? Oder hatte sie nur schlecht geträumt? Mit klopfendem Herzen setzte sie sich auf und lauschte in die dunkle Nacht hinaus. Sie stellte fest, dass das Bett neben ihr leer war. Herbert war noch immer nicht zu Hause. Der Termin war doch schon zu Mittag gewesen und er wollte eigentlich am Abend wieder zurückkommen. Es dürfte doch wieder länger geworden sein, stellte sie stirnrunzelnd fest. Und selbst dann, wenn er da gewesen wäre, hätte er nichts gehört. Man könnte sie wahrscheinlich entführen oder auch anders mundtot machen, was ihm vielleicht manchmal nicht unlieb wäre, er würde nichts merken und selig vor sich hin schnarchen. „Na ja“, entfuhr es ihr, leise seufzend, in die Stille der Dunkelheit.

Da Elisabeth draußen keine weiteren Geräusche mehr vernahm, beruhigte sie sich wieder, war aber schon so wach, dass sie beschloss, auf die Toilette zu gehen und sich ein Glas Wasser aus der Küche zu holen. Sie warf die Bettdecke zurück, schlüpfte in ihre Hauspantoffeln und ging zur Tür. Elisabeth lief im Dunkeln durch den Gang und stieß gegen etwas. Sie bückte sich. Herberts Pantoffeln. Arrrrg! Konnte er seine Sachen denn nie aufräumen. Bis sie wieder darüber stolperte und sich Schrammen und blaue Flecken zuzog. Nachdem sie, durch den Gang und über die Treppe schlurfend, unten angekommen war, ging sie nach der Toilette in die Küche. Sie schob den Vorhang leicht zur Seite und blinzelte in die Dunkelheit. Es war nichts Verdächtiges zu erkennen. Ehe sie wieder zu Bett ging, öffnete sie die Kühlschranktür und nahm einen Schluck Mineralwasser, nebenbei wanderte auch noch ein Bissen Käse in ihren Mund.

Auf dem Weg nach oben ins Schlafzimmer, glaubte sie wieder etwas zu hören … ein Stöhnen? Sie schüttelte den Kopf. Das hatte sie sich wahrscheinlich alles nur eingebildet oder es waren die Nachwirkungen eines Albtraumes. Eine gefühlte Stunde später wurde sie abermals kurz wach, als ihr Mann leise die Schlafzimmertüre öffnete, sich rasch auszog und sofort ins Bett kroch. Sie nahm einen undefinierbaren Duft an ihm wahr. Elisabeth war aber zu müde, um das zu hinterfragen.

Gabriele Grausgruber
www.grausgruber-gaby.com/

Auszug aus dem Innviertel-Krimi „Stallblut“, Munderfing, Innsalz Verlag, 2023

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 23097

Die Turritopsis-Qualle

Es jammert Falter Walter
wieder einmal übers Alter.
„Ich bin schon vierzehn Tage alt,
bald werden meine Fühler kalt.“

„Und ich“, beklagt sich Hausmaus Klaus
„Bin seit elf Monat’ hier im Haus.
Wie ich’s drehe oder wende,
es naht mein vorbestimmtes Ende!“

Da kommt Gelbbrust-Ara Clara
aus dem Dschungeldorf Tapara.
„Ich zähle hundertzwanzig Jahr,
das ist ein Jammer, ehrlich wahr!“

„Hey! Habt ihr sie noch alle?“,
fragt Turritopsis-Qualle Kalle.
„Ich bin die Ärmste weit und breit –
ich leide an Unsterblichkeit.“

Bernd Watzka
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aus: Wenn Wale weinen, Post-anthropozentrische Tiergedichte, 2022

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 23017

Das weiße Kaninchen

„O weh, o weh, ich komm zu spät“,
seufzt das Wunderland-Kaninchen,
und seine roten Augen
leuchten im Kaninchenbau.

Kurz hält es inne und denkt nach.
,Was ist eigentlich mein Ziel?
Warum dieser Zeitkomplex?
Und wer zum Henker ist Alice?‘

Dann läuft’s Kaninchen weiter,
wie es im Buch geschrieben steht.
Da nähert sich mit einem Mal
eine Hand mit kleinen Fingern.

Das Kaninchen, es will schreien,
doch dafür ist es längst zu spät.
Die Hand greift nach der Bücherseite
und blättert das Kaninchen um!

Bernd Watzka
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aus: Wenn Wale weinen, Post-anthropozentrische Tiergedichte, 2022

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 23016

Der Brillenbär und der Python des Kleinen Prinzen

Der junge Brillenbär verliert
im Regenwald Brasiliens
–­ man ahnt es schon – die Brille.

Er donnert gegen Dattelpalmen,
gegen Felsgestein und Eisenkräne.
Das bricht dem brillenlosen Tier
Herz und Genick.

Da kommt der Python angekrochen
und blickt ihn an, den toten Bären.
„Man sieht nur mit der Brille gut!“

Bernd Watzka
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aus: Wenn Wale weinen, Post-anthropozentrische Tiergedichte, 2022

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 23015

Die Raupe im Tequila

„Wünsch dir nichts, denn Wünsche
können in Erfüllung gehen“,
sprach der Schmetterling
zur trinkfreudigen Raupe,
deren Traum es war, einmal im Leben
in Tequila ein Bad zu nehmen.

Bernd Watzka
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aus: Wenn Wale weinen, Post-anthropozentrische Tiergedichte, 2022

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 22142

Das falsche Glühwürmchen

Lars der läufige Leuchtkäfer umgarnt
ein Glühwürmchen, das heller leuchtet
als das Sternenzelt am Himmel.

Lars tanzt und balzt – und sein Verlangen
wächst; und wächst.
Das Glühwürmchen jedoch
zeigt ihm die kalte Schulter
und rührt sich nicht vom Fleck.

Da wird’s dem Lars zu blöd.
Verrückt vor Lust stürzt er aufs Würmchen
und sieht zu spät: Es ist ein Birnchen!
Sein letztes Wort, das ist ein „Pfff“.

Bernd Watzka
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aus: Wenn Wale weinen, Post-anthropozentrische Tiergedichte, 2022

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 23013

Die alten Dichter-Tiere

Das Wiesel verstummt auf seinem Kiesel.
Der Panther im Jardin des Plantes erstarrt,
und die Vögelein schweigen im Walde –
als Amanda Gorman mit gelbem Mantel
und rotem Haarreif die Bühne betritt
und ihre Gedichte ins Mikrofon
der Weltöffentlichkeit schmettert.

Wiesel, Panther und die Vögelein
kehren frustriert beim Branntweiner ein.

Bernd Watzka
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aus: Wenn Wale weinen, Post-anthropozentrische Tiergedichte, 2022

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 23012