Kategorie-Archiv: Christoph Stantejsky

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Erinnerung

Da ist dieser Geruch in der Luft gelegen, dieser Geruch nach ... ? – Dieser Geruch nach ... – es war nicht hier, es war irgendwo in Mediterranien, in Griechenland, in Italien oder war’s an der Nordküste Afrikas?
Ja! Ich erinnere mich genau: Der Junge hat so ein Instrument gespielt, was war das noch für eines? – Er war jedenfalls dunkelhäutig, ich glaube: nicht sehr, aber doch. Und sein Instrument? Es muss ein Saiteninstrument gewesen sein – oder ein Rhythmusinstrument. Nein! Es war beides: Da war Melodie und Rhythmus – vielleicht hat er ja auch nur auf ein Saiteninstrument geklopft.

Da war also dieser Geruch und es heißt ja: Gerüche merken wir uns ewig, ja: Wir können uns durch bestimmte Gerüche an Ereignisse erinnern, auch wenn sie in ganz früher Kindheit stattgefunden haben. Ich hab so einen Geruch jetzt fast in meiner Nase, kann mich aber trotzdem nicht daran ... – doch! Es war ein Jahrmarkt, irgendwas Außergewöhnliches jedenfalls.
Ja! Es hat ein Ringelspiel gegeben, ein paar Schießbuden und neben dem Jungen viel orientalische Musik, eigentlich viele orientalische Musiken, aus jeder Bude eine andere. Alle haben ähnlich geklungen – vielleicht war es ja auch immer dasselbe Lied, jeweils etwas zeitversetzt aus Kassettenrecordern, deren Lautstärkeregler ganz aufgedreht waren.

Dieser Geruch! Ich hab ihn jetzt genau – kann ihn aber schwer beschreiben. Ich hab ihn in meiner Nase, obwohl ich im Moment ziemlich verschnupft bin. Ich wollte das Ringelspiel mieten – für eine Stunde und ganz für mich alleine. Ich erinnere mich: Es war kurz nach elf Uhr vormittags, eine Zeit, in der es am Rummelplatz ohnehin kaum Besucher gegeben hat.
Ich wollt’ das Ringelspiel einfach für mich ganz allein haben. Das habe ich mir nämlich einmal als vier-, fünfjähriger Bub gewünscht. Aber es hat auch diesmal nicht geklappt und so bleibt das ein Wunsch, den ich nun schon über sechzig Jahre unerfüllt mit mir herumschleppe. Umgerechnet 30 Mark sollte es kosten. Warum war es mir das nicht wert? Welche Währung, wie viele Scheine?
Legen Sie mich nicht fest. Es waren jedenfalls viele Scheine mit großen Zahlen drauf, viele Nullen nach dem Einser. Ja: Zwölf Millionen waren’s. Zwölf Millionen Shertis, Grumlaks, Dinhu-Dollars?

Helfen Sie mir: Riecht das hier nach Mangroven? Was sind überhaupt Mangroven, wie sehen sie aus? Riechen Mangroven? Nein, es riecht nicht nach Mangroven, was immer das auch sein mag.
Und dann wieder die Melodie des Jungen: die Melodie, die in meinen Ohren singt, solange es der Geruch in meiner Nase aushält. Ich kann sie singen: la - lala - la - lalala - lala.
Nein.
Der Rhythmus war etwas anders. Ein unregelmäßiger Rhythmus, der mit der Zeit ins Blut geht – irgendein ungerader, betonter Taktteil ist dabei. Ich spüre diesen Rhythmus fast – es ist der Rhythmus des Lebens, den der Junge klopft, während er sein Gesicht wegdreht, weil wieder eine Böe Sand aufwirbelt.
Ich spüre noch immer den Sand – jedes einzelne Sandkorn, das mir im Gesicht, an Arm und Bein kleine Stiche versetzt. Und ich sehe jetzt alles vor meinem inneren Auge: Da – da links sitzt der Junge mit seinem Instrument, ja: Es ist ein Saiteninstrument und es hat einen Korpus aus einem Schildkrötenpanzer. Ich sehe es ganz genau, als würde ich fernsehen: Er sitzt auf den Stufen des Ringelspiels, und ... – Nein. Dieses Bild ist aus einer Werbung. Welcher Werbung? Werbung wofür? Egal.

Aber dieser Geruch. Der Geruch bleibt. Ich kenne diesen Geruch, der in der Luft gelegen ist, ich hab diesen süß-sauren Geruch in der Nase, diesen Geruch nach ...... Scheiße.
Oje.
Schwester!!! Schwester Helga!!!

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15008

Seltsame Geschichte

Wir können nicht einfach darüber hinwegsehen: Es geht in dieser äußerst seltsamen Geschichte um keine Diskussion, keine Auseinandersetzung – es handelt sich hier um Krieg! Es ist ein Kampf der Geschlechter und der Generationen, um Vormachtstellung, eine brutale Konfrontation der Charaktere, ein würdeloses Aufeinanderprallen von Groß und Klein, Schwarz und Rot. Wir halten uns selbst zum Narren, wenn wir so einfältig sind zu glauben, dass wir auch nur die kleinste Chance hätten, diesem Krieg ein Ende bereiten zu können: Nicht das smarte “Sowohl-als auch”, sondern ein hartes “Entweder-oder” ist die beherrschende Devise und es gibt keinen Kompromiss.

Dabei lässt sich alles an wie fast immer: Die Herren sind in der Überzahl, eine Dame alleine.
Noch. Auch ein Jüngling ist da und schlägt sich zur Minderheit. Kein Wunder: Er ist jung, will alles wissen. Er zieht die Gesellschaft von Damen vor – hat ihm doch sein junges Leben in Hort und Schule immer nur Buben und ältere Herren geboten. Die kennt er zur Genüge, was er noch nicht kennt, sind diese erregenden anderen Düfte des Lebens.
Die schon anwesenden Herren nehmen es ein bisschen interessiert, aber ansonsten äußerst gelassen, fast belustigt hin. Sie amüsieren sich, warten auch ab, bis die anderen geladenen Damen erscheinen. Erst dann werden sie sich in Szene setzen, sich ums andere Geschlecht kümmern, der Sache ihren Stempel aufdrücken. Diese äußere Gelassenheit ist nicht gespielt, obwohl die Szene eine gewisse Spannung erzeugt, von der es scheint, dass auch sie sich ihr nicht völlig entziehen können.
Insbesonders Monsieur P., der sich ans Instrument lehnt, lässt den Harfenspieler von Zeit zu Zeit die Konzentration auf sein Spiel durch die Befürchtung vernachlässigen, Jean könnte abrutschen und dabei – wenn nicht gleich das Instrument, so doch sein Spiel ruinieren. Es scheint, als spürten alle im Raum diese Ahnung.

Die Künste des Musikers lassen auch nach, was dem Publikum aber noch nicht weiters auffällt.
Allein der Künstler selbst vermisst vermehrt akzentuierte Synkopen, bemerkt an sich eine verminderte Courage zur wohldosierten Pause – ja, sogar Fehler in der Melodieführung kommen vereinzelt vor und ein jeder lässt ihn kurz mit der Braue über dem linken Auge zucken.

Abgesehen von diesen vordergründig fast zu vernachlässigenden Misslichkeiten ist die Stimmung friedlich: Die Menge mischt sich träge, wie von einem unsichtbaren, zur Melancholie neigenden Dirigenten geführt, die Bewegungen der jetzt schon sehr zahlreich erschienen Gäste scheinen auch unausgesprochenen Befehlen zu gehorchen.
Von einer dieser Bewegungen profitiert der schwarzgekleidete Herr K., der es sich bis dahin auch in der Nähe des Instruments bequem gemacht hatte. Er findet einen freien Platz, der ihm ungestörten Blick auf eine der Damen ermöglicht – deren offensichtliches Desinteresse an seiner Person ihm völlig entgeht oder ihn einfach nicht stört. Sie lässt K.s Blick jedenfalls völlig kalt, ja es scheint, sie sonnt sich mehr im steigenden Interesse des somnambulen Jungen – nicht ohne aber auch ihrerseits den Blickkontakt mit Monsieur P. zu suchen, der wiederum seinerseits dem Musiker sichtlich mehr und mehr Kopfschmerzen bereitet.
Das beständige Geschiebe und Gedränge bietet ihr dazu allerdings nicht allzu viele Möglichkeiten: In mögliche Blickkontakte schiebt sich stets eine Gruppe von Gästen und in den wenigen Situationen, in denen sich diese Kontaktaufnahme geradezu aufdrängt, blickt P. woanders hin. Bewusst?

Wir spüren bei dieser äußerst seltsamen Geschichte fast körperlich das Scheinbare des Friedens, fühlen schmerzhaft das trügerische Außen, erahnen bereits den letalen Ausgang und bekommen diesen auch augenblicklich glatt bestätigt: Der unsichtbare Dirigent schmeißt den Taktstock hin – anders wäre es auch schlecht erklärbar, wieso sich plötzlich unterschiedlichste Interaktionen in dem Moment paaren, der sich schicksalshaft über alle ergießt: Während etliche Akteure die Szenerie betreten (unter anderem der Stiefbruder vom Sorgenkind des Pianisten) und eine schielende Dame, die beide der gerade eben gewonnenen Blickkontakte sogleich wieder verliert, verstummt das allgemeine Geplauder – die Befürchtung des Harfenspielers wandelt sich zur konkret begründeten Angst: K. stolpert, schlägt dabei mit dem Ellenbogen hart in die Saiten, das Instrument fällt, der Musiker bricht sein Spiel ab, alles ist aus.
Das ist schon das dritte Scheiß-Solitaire, das sich heute nicht ausgeht.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht| Inventarnummer: 15005

Der Fall Obernhuber

Wir wissen nicht viel über Manfred Obernhuber: Er soll am 17. Oktober 1942 in der Gegend der Rax das Licht der Welt erblickt haben, als erstes und einziges Kind der Martha Obernhuber. Kein Vater, kein Religionsbekenntnis. Die Mutter ist nur unter dem Namen des Hofs (‚Obernhuberhof‘) bekannt, für den sie sich bis zur Entbindung abgerackert hat, nachdem sie als Kleinkind von einem Flüchtlingspaar da vergessen wurde.
Die Hebamme kennzeichnet in ihrer Werkliste Manfred mit einem Herz, was in der ansonsten sehr schwer lesbaren Niederschrift ein Erfolgserlebnis bedeutet. Aus den Eintragungen geht allerdings nur der Zustand des neuen Erdenbürgers hervor – wie es diesbezüglich mit der Mutter aussieht, ist da nicht herauszulesen – doch kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass Martha Manfreds Geburt nicht überlebt hat.
Die Eintragung ins Pfarrregister erfolgt erst ein knappes halbes Jahr später, sein Geburtsdatum wird mit Mitte Oktober 1942 angegeben, das Wort ‚Mitte‘ ist offensichtlich später durch ‚am 17.‘ ersetzt worden, die Geburtszeit war ursprünglich mit ‚gegen Abend‘ vermerkt und wurde durch ‚18.00 Uhr‘ ersetzt.
Die Hebamme ist heute längst tot, schon längst unter die Räder gekommen, im konkreten Fall unter die wuchtigen Pneus eines Traktors, den seinerzeit der Gruberbauer etwas unvorsichtig durch die Landschaft gelenkt haben soll, aber auch er liegt längst schon klaftertief im Gottesacker.

Manfred hat auch keine Kinder oder sonstigen lebenden Verwandten: Wer die Vollwaise Manfred Obernhuber über die Runden gebracht hat, bis sie die örtliche Volksschule besucht und absolviert hat, weiß niemand im Ort. Niemand weiß auch, was er nach seinem Abgang eigentlich die ganze Zeit so getrieben hat, wo er gewohnt und womit er seinen Unterhalt bestritten hat – bis er dann letzte Woche aus der Pitten gefischt worden ist: aufgeschwemmt, tot, viel zu viel Wasser getrunken im Bach.
Alltag für die Kommissare Koller und Hauer. Es war Mord – zumindest muss Obernhuber in eine gewalttätige Auseinandersetzung verwickelt gewesen sein, bevor er ins Wasser gefallen ist.
Anhaltspunkt dafür sind die Blutspuren am Brückengeländer in Pitten selbst, dem mutmaßlichen Tatort. In der Berichterstattung in Presse und Funk wird die Bevölkerung um Mithilfe gebeten, auch jeder Hinweis zum Mordopfer, Manfred Obernhuber, sei wertvoll, heißt es in den Aufrufen. Obernhuber war laut Zeugenaussagen angeblich seit Jahren von Zeit zu Zeit im neuen Supermarkt gesehen worden, wo er sich mit einigen langlebigen Lebensmitteln und alkoholischen Getränken eingedeckt hat, die er dann in einem alten Einkaufswagerl abtransportiert hat. Mehr ist aber aus den Leuten nicht herauszukriegen, keiner will sonst etwas über den Mann wissen, niemand hat ihn persönlich gekannt.
Koller und Hauer nehmen die Informationen lustlos auf, betreiben ein paar Tage lustlos Recherchen und schließen nach wenigen Tagen lustlos die Akte – schließlich gibt es in einem Kommissariat Besseres zu tun, als sich mit unlösbaren Fällen aufzuhalten. Koller öffnet also die Lade mit der vergilbten Aufschrift: ‚Ungelöste Fälle‘.

Im selben Augenblick – der Fall Obernhuber fliegt gerade auf einen Stapel alter vergammelter Akten zu – läutet das Telefon. Hauer hebt gelangweilt ab, wirkt aber nach wenigen Sekunden plötzlich hellwach. Geistesgegenwärtig schaltet er die Mithöreinrichtung an: ‚Ich war‘s, der den Obernhuber runtergekippt hat!‘ ruft ein Mann ins Telefon, den Verkehrslärm übertönend. Es raschelt in Hörer und Lautsprecher und eine andere Stimme ertönt aus dem Hintergrund: ‚Nein! Ich war es! Glauben Sie ihm nic ...!‘. Die Beamten vernehmen ein dumpfes Geräusch, nach einiger Zeit meldet sich wieder der ursprüngliche Anrufer und spricht jetzt leise, aber eindringlich: ‚Glauben Sie mir: Ich war es. Ich hab den Obernhuber noch nie leiden können. Sie können den Fall abschließen – ich komme ins Kommissariat. Ich bin gleich da.‘
Der Anrufer legt auf, Hauer sieht zu Koller, der achselzuckend die Akte Obernhuber wieder aus der Lade holt. Nachdenklich legt er sie auf seinen Schreibtisch und schlägt sie wieder auf.
‚Naja,‘ meint er ‚da wird der Oberkommissar ja sehr zufrieden mit uns sein. Erfolgreiche Lösung eines Gewaltverbrechens in ...‘, er macht einen Blick auf den Kalender der örtlichen Sparkasse, blättert zwei, drei Mal ... den wievielten haben wir eigentlich?‘
Koller blättert vor und zurück und fasst dabei den begonnen Satz noch einmal zusammen: ‚Naja, da wird der Oberkommissar ja wirklich sehr zufrieden mit uns sein. Erfolgreiche Lösung eines Gewaltverbrechens in ein paar Stunden. Das soll uns erst einmal wer nachmachen.‘

Wenige Minuten später klopft es an der Tür. ‚Herein‘ sagen Koller und Hauer ungewollt unisono. ‚Grüß Gott.‘ – Ein Mann, so um die fünfzig, tritt ein, seine Haare sind es, die sein Alter vermuten lassen, es sind nicht mehr so viele, wie es einmal gewesen sein mussten, sind sicherlich heller, als sie einmal waren, auch die Spannkraft hat mit der Zeit gelitten.
‚Sie heißen?‘
‚Ewald Baumann‘ antwortet Ewald Baumann und nimmt seine saubere Brille ab, um sie zu putzen. ‚Und Sie wünschen?‘, fragt Koller, der nach den Regeln im Polizistenspiel ‚Der Aggressive und der Verständige‘ den Verständigen spielt.
‚Ich möchte eine Selbstanzeige erstatten.‘
‚Dann nehmen Sie doch bitte Platz‘, fordert Koller Baumann auf, während er einen zerbrechlich wirkenden Stuhl, der schon viele andere Kommissare gesehen haben muss, neben seinen Schreibtisch schiebt: ‚In welcher Angelegenheit wollen Sie Selbstanzeige erstatten?‘, fragt Koller freundlich.
‚Ich habe den Obernhuber umgebracht.‘
‚Warum?‘, knurrt nun Hauer von seinem Arbeitsplatz herüber – doch er wird keine Antwort auf diese Frage bekommen: Vor dem Büro gibt es einen unüberhörbaren Tumult, schon wird die Tür aufgerissen und ein unrasierter älterer Herr in einem vergammelten Mantel stürmt herein: ‚Ich hab Sie vorhin angerufen. Ich war es. Wenn Sie mich jetzt bitte festnehmen würden.‘

Die beiden Kommissare sind kurz sprachlos und perplex und verwundert und irritiert. Koller fasst sich zuerst, erkennt aber auch gleich, dass es keinen Sinn hat, die beiden mutmaßlichen Täter parallel zu befragen und meint daher: ‚Dann … kommen Sie doch bitte mit.‘
Koller verlässt mit einem der geständigen Mörder das Büro, Hauer weiß nun nicht recht, wie er dieses seltsame Verhör alleine bestreiten soll und ist so fast erleichtert, dass jetzt wieder das Telefon läutet. ‚Oberinspektor Hauer, hallo?‘
‚Guten Tag, mein Name ist Unterbrunner. Ich bin die Mörderin vom Obernhu ... ‚ ertönt eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher, den Kropatschek geistesgegenwärtig aber etwas zu spät abschaltet. Konzentriert hört er der Anruferin zu, meint schließlich zu ihr: ‚Dann kommen Sie bitte aufs Kommissariat.‘
Noch im Auflegen blickt Hauer Herrn Baumann konzentriert und lauernd in die Augen, beginnt langsam und leise: ‚Nun zu Ihnen, Herr Baumann ...‘
‚Die Anruferin lügt. Ich war es ... ich kann Ihnen die ganze Geschichte erzählen.‘
In diesem Augenblick kommt Koller zurück, meint an Baumann gewandt: ‚Warten Sie bitte einen Moment draußen bei den anderen – ich muss kurz mit meinem Kollegen sprechen.‘
‚Aber, ...‘
‚Nix da! Raus!‘

Widerwillig verlässt Herr Baumann das Büro, Hauer wartet einige dramatische Sekunden und enthüllt schließlich seinem Kollegen die neuesten Informationen: ‚Eben hat wieder wer angerufen. Eine Frau. Sie will die Mörderin vom Obernhuber sein.‘
‚Draußen warten auch schon fünf oder sechs. Ganz versteh‘ ich das nicht: Warum wollen die alle den Obernhuber umgebracht haben?‘
‚Keine Ahnung – normalerweise bin ich froh, wenn wir einen Verdächtigen haben. So viele vereinfachen die Sache nicht wirklich.‘
‚Und – wie geht‘s jetzt weiter?‘
‚Na, was sollen wir schon machen? Wir werden sie der Reihe nach verhören, die Aussagen protokollieren, unterschreiben lassen – und sie bei einem Geständnis nach Neustadt bringen. Ich erwarte mir zwar außer viel Arbeit von der Aktion nicht viel, aber – was sollten wir sonst tun?‘
‚OK. Mir fällt auch nix Besseres ein.‘

Es wird ein anstrengender Abend im Kommissariat Reichenau. Es melden sich weitere Geständige, es gibt ein unüberschaubares Gedränge – schließlich müssen Nummernzettel für die Reihenfolge der Verhöre verteilt werden. Einige Mörder gehen dann doch nach Hause, versprechen aber, am nächsten Tag wiederzukommen, wenn nicht mehr so viel los ist. Dabei ist das Spektrum an Mördern weit gestreut: Ursprünglich vor allem der Sandlerszene und dem Rotlichtmilieu zuzuordnen, kommen schließlich auch immer mehr Handwerker, Kaufleute, Gastronomen, Architekten, Behördenvertreter, Künstler, Bankangestellte, Hausfrauen, Anwälte und sonstige Vertreter bürgerlicher Berufe – auch ein Bürgermeister einer angrenzenden Gemeinde ist dabei und ein Landtagsabgeordneter.

Und sie alle behaupten, ein Tatmotiv zu haben, aber kein Alibi, alle wollen es gewesen sein. Die Verhöre reduzieren sich schon aus Zeitgründen bald auf die beiden Fragen ‚Waren Sie es?‘ und ‚Warum?‘, gefolgt von der Aufforderung, das Protokoll mit dem Geständnis zu unterschreiben.
Die meisten unterschreiben auch gleich, einige bestehen darauf, dass auch Details der Tat ins Geständnis aufgenommen werden, was die Prozedur weiter verzögert. Manche melden Sonderwünsche an wie beispielsweise der Anwalt, der sich selbst verteidigen will – zum Zeitpunkt aber über seine Verteidigungsstrategie noch nichts verraten will: Er will sie sich in den Wochen der Untersuchungshaft zurechtlegen. Oder der Bauarbeiter Franz Holler, der zusammen mit dem Lindorfer Eduard eingesperrt werden will: ‚Ich war´s und der Lindorfer Eduard auch.‘

Schließlich überschwemmt eine Welle an Selbstbezichtigungen Reichenau: zuerst regional, später landesweit, schließlich international: Die Mordkommission hat es schließlich mit um die 17.800 Menschen zu tun, die sich selbst der Mordtat bezichtigen – Stand: Ende Jänner. Anfang März sind es bereits 96.700 Täter, die schwören, Manfred Obernhuber in jener trüben Nacht den entscheidenden Stoß versetzt zu haben.
Es ist kein Fall wie jeder andere, noch nie hatte es eine derart unglaublich große Anzahl an Geständnissen gegeben. Am 5. März ist die 100.000er-Marke erreicht, der glückliche Jubilar ist ein 84-jähriger Eskimo – die Bilder der Unterzeichnung seines Geständnisses gehen um den Erdball.
Auch sonst lauert in diesem Fall natürlich überall die Presse: Hauers stereotyp-bissige Antwort auf die bohrenden Fragen der Journalisten ist jeweils: ‚Den Großteil der Täter haben wir bereits gefasst.‘
Anfang April brüstet sich auch der Gouverneur von Ohio, ein ehemaliger Sheriff namens Links, bei den Vorwahlen zu den Präsidentschaftswahlen für die Liberalen mit dem Slogan ‚I did it‘ und erreicht mit dieser Aussage eine überwältigende Mehrheit, obwohl ihm davor von den Meinungsumfrageinstituten keinerlei Chancen, auch nur die 2%-Marke zu erreichen, eingeräumt worden waren.
Hierzulande beteiligen sich nahezu alle Leser an einer Umfrage der reichweitenmäßig größten Tageszeitung und knapp über 8o Prozent davon wollen den Mord selbst begangen haben, der Rest bezichtigt sich zumindest der Mittäterschaft.

Ende August legt sich die Aufregung etwas, nachdem sich herausstellt, dass die ermittelnden Behörden schlampig gearbeitet haben: Manfred Obernhuber selbst war schon Jahre zuvor im Allgemeinen Krankenhaus eines natürlichen Todes gestorben, wenn Leberzirrhose aufgrund unmäßigen Alkoholgenusses als natürlicher Tod bezeichnet werden kann. Bei dem Toten aus der Pitten handelt es sich vielmehr um Friedhelm Pflaster, einen depressiven Lehrer, der einen mehrere Seiten langen Abschiedsbrief hinterlassen hat, den er persönlich seiner Frau – und in Kopie auch seinem Anwalt und der Polizeidienststelle – zukommen hat lassen. Die Verletzungen hatte er sich auf seiner Unterwasser-Flussfahrt zugezogen, das Blut am Brückengeländer stammt nicht von ihm, sondern von einem Jugendlichen, der mit seinem Moped und überhöhter Geschwindigkeit unterwegs gewesen war.
Koller und Hauer werden vom Dienst suspendiert und später – auch aufgrund von weiteren haarsträubenden Ermittlungsfehlern – selbst angeklagt und sind so im Dezember die Einzigen, die im Zusammenhang mit dem Fall Obernhuber inhaftiert werden.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ...| Inventarnummer: 15004

... und auch die vielen daheim vor den Fernsehgeräten

Frank Oldrting hat viele dumme Fehler gemacht und war dabei, sein Team zum Gespött der internationalen Presse zu machen – um dann im letzten End diesen unglaublichen Wurf rauszulassen, der gecurvt ist, als gäbe es keine Physik an diesem Tag hier in der olympischen Curlinghalle auf Bahn eins: Aus einer unmöglichen Situation heraus schießt er vier gegnerische Steine aus dem Haus und legt neben dem eigenen auch noch vier weitere Steine seiner Mannschaft ins Zentrum. Dabei hat es im Team bald Diskussionen darüber gegeben, ob es nicht sportlich fairer wäre, gleich aufzugeben, abzuhauen, die Partie zu beenden. Die Silbermedaille kommt völlig unerwartet und bedeutet ohnehin schon den größten Erfolg im Curling seit Bestehen der Republik.
– Größter Erfolg im Curling seit Bestehen der Republik hin oder her – meinte da der Roukie der Crew in der Mannschaftsbesprechung nach dem achten End: wenn nicht jetzt und hier: wann dann?
Frank sieht das mehr wie der Rest der Mannschaft, die sich schon längst mit der Niederlage, diesem grandiosen Sieg, angefreundet hat.

Das Spiel war für Frank schon definitiv verloren, bevor es begonnen hat, kurz nachdem sie die Halle betreten, die Steine hingelegt und sich in einer Reihe aufgestellt hatten. Der Platzsprecher präsentiert – wie ausgemacht und auf dem langen Weg ins Finale schon hinlänglich geprobt – dem Publikum die einzelnen Spieler der beiden Mannschaften: Die vorgestellten Spieler machen einen Schritt nach vorn, senken in Erwartung von Beifallskundgebungen kurz ihre Häupter, machen den Schritt wieder zurück und warten im Übrigen darauf, dass es endlich wirklich losgeht – sie brennen darauf zu zeigen, was sie so lange geübt haben und jetzt ganz besonders gut können.
Frank Oldrting ist jetzt bei der Präsentation dran, um mit seinem so jungen und stolzen Gesicht, seinen Zuversicht versprühenden Augen und seinem immer etwas leicht schrägen, offenen einladenden Lächeln die verdienten Ovationen zu ernten – schließlich war es ja auch er, der die Mannschaft bis hierher gebracht hat: zuerst überhaupt erst einmal nach Olympia, dann bis in den olympischen Nabel und jetzt mitten hinein, ins große Finale.

Frank senkt sein Haupt, nimmt Beifall und Zurufe huldvoll entgegen, was von einem seltsamen hochfrequenten Gekreisch überlagert wird. Franks Kopf ist noch gesenkt und er nutzt diese Stellung auch, um sich zu fassen – denn er ringt um Fassung: Die ganz große Bedrohung, diese niemals ausgesprochene Befürchtung, die größte anzunehmende Katastrophe ist wahr geworden. Frank kennt diese schrägen Stimmen: Seine Tante Rosemarie hat doch mit ihren beiden Freundinnen Susan und Aurelie die weite Reise hierher angetreten – sie sitzen in der ersten Reihe, gleich an der Bande, gerade einmal 15 Yards vom Haus weg.

Jedes Mal beim Ausholen wird er genau in die Richtung dieser alten Tanten blicken müssen, mit Aunt Rose in ihrer Mitte. Es ist wie in der Liebe und beim Sterben: Der Zeitpunkt dehnt sich, wird zum Zeitraum, in Franks Kopf läuft ein abendfüllender historischer Film ab – mit Aunt Rosemarie in der Hauptrolle: Rose, die dem kleinen Frankie Spinat in sein junges Gesicht stopft; Rose, die den Pubertierenden mit einem gelben Schnürlsamt-Jeansanzug in die Highschool schickt; Rose, die dem jungen Mann spaßhalber in den Schritt greift.

Frank hebt wieder den Kopf und wir werden später in den Aufzeichnungen sehen, dass seine Verneigung genauso lange gedauert hat wie die seiner Kollegen und Kontrahenten. Wir werden darin allerdings auch sehen – beziehungsweise sehen es auch jetzt unmittelbar an den Großbildleinwänden in der olympischen Curlinghalle und natürlich auch in den Fernsehgeräten daheim, dass es ein anderes Gesicht ist, das da versucht, sein Haupt wieder aufrecht zu tragen. Der stolze, zuversichtliche Gesichtsausdruck, den Frank noch vor wenigen Sekunden in die Welt gestrahlt hat, ist einer fast maskenartigen Mimik gewichen, die jetzt ungläubig hohl, ja debil und ausdruckslos in die Objektive der Medienleute glotzt.
Das offizielle Vorgeplänkel nimmt nicht zuletzt durch weitere unkonventionelle Zuschauerreaktionen aus der ersten Reihe ein rasches Ende, das eigentliche Olympische Finale kann beginnen. Wie in Trance nimmt Frank den ersten Stein und begibt sich in Position. Eine einfache Guard ist angesagt, eine erste Guard – zigtausend Mal geübt, sie ist einfach, die erste Guard.

Das Fokussieren spielt in allen olympischen Disziplinen eine Rolle, beim Curling eine ganz besondere. Für Frank war stets ein Blick auf die obere Kante der Bande hinter der Zielposition Teil der Routine vor dem Stoß. Frank wird das heute ausnahmsweise anders machen, er hat beschlossen, nur das Ziel und nicht mehr die Umgebung zu fokussieren – die Angst ist zu groß, dass sein Blick abschweifen und das Gesicht seiner Tante streifen könnte.
Routinen heißen aber so, weil sie über lange Zeit antrainiert werden. Wir halten uns an sie, wenn wir nicht abgelenkt werden wollen. Sie dienen der Konzentration aufs Wesentliche und alle, die sich beispielsweise eine Routine für den Golfschwung zurechtgelegt haben, können ermessen, wie schwierig es ist, diese kurzfristig zu ändern. Wie schwierig es auch ist, den Schlag perfekt durchzuführen, wenn die Routine gestört wird, beispielsweise laut in die Ausholbewegung hineingefurzt wird. Aber diese erste Aufgabe – eine Guard hinzulegen – ist einfach und tausendfach erprobt. Nach der blauen Linie soll der Stein liegen bleiben, möglichst etwas aus der Mitte. Gut, das Eis ist noch nicht bespielt, da braucht‘s dann halt die Besen und die gehören schließlich zum Curling, sollen dem Publikum auch nicht vorenthalten werden, dem Publikum hier in der olympischen Curlinghalle und auch nicht den vielen Zusehern daheim vor den Fernsehern. Die erste Guard ist also angesagt und sie ist ganz einfach, die erste Guard. Und Frank wird sie legen, hat sie auch schon tausend Mal gelegt.

Den Sportreportern, den Mitspielern, den Zuschauern in der Halle und auch manchen Zusehern daheim vor den TV-Geräten fällt auf, dass sich Frank heute mit seiner Routine außergewöhnlich viel Zeit lässt. Lange bewegt er den Stein am Eis hin und her, er säubert ihn wiederholt und die Sekunden an der Anzeigentafel, die die Restzeit des Spiels anzeigen – tröpfeln herunter wie Infusionen auf der Intensivstation im Vorabendprogramm.

Jetzt gibt es aber den Impuls zur Ausholbewegung, dabei streift Franks Blick dann doch kurz die Bandenkante: Rosemarie sieht aus wie Uncle Sam im rosa karierten Hauskleid, er vermeint sie auch kreischen zu hören. Im Unterschied zu Samuel Wilson hat sie ihre obere Gebisshälfte nicht mit, in der Aufregung war sie irgendwo im Quartier liegen geblieben. Freundin Susan, Mittsiebzigerin, hat sich auch für ein pinkfarbenes Kleid entschieden – doch ihr Rosa schlägt sich mit Roses Rosa; Susans grünlich gefärbtes – ansonsten dünn-weißbräunliches – Haar ist onduliert und setzt einen grotesken Kontrapunkt zu ihren gallig verhärmten Gesichtszügen; Aurelie, die dritte im Bunde, Individualistin und in knatschiges Gelborange gehüllt, heftet ihren Blick ständig auf den Großbildschirm, um auch in Momenten, in denen sich der Rest des Publikums und auch die Zuseher daheim vor den TV-Geräten stumm auf die sportliche Aktionen konzentrieren, wild aufzukreischen, wenn sie vermeint, sich am Großbildschirm zu erkennen.
Franks Anstoß geht daneben, besser gesagt: viel zu weit. Er knallt gegen die Bande direkt vor Rosemaries Füße. Ein Raunen erfüllt die Halle, Franks Kollegen geben aber ihr Bestes und können dieses erste End punktelos halten. Zweites End. Nicht hinsehen, nein, Frank wird nicht mehr hinsehen. Er steht am Höhepunkt seiner sportlichen Karriere, ja: seines Lebens. Also nicht hinsehen, keinesfalls hinsehen.
Susan ist dabei, sich ihre dünnen Lippen weiter zu tünchen, als Franks Blick aus Versehen doch wieder abgleitet. Sein Stein wird ausgeschlossen, weil er sich, immens curlend, nur etwa dreißig, vierzig Zentimeter weit bewegt, obwohl die schnellen Besen des Teams bürsten, als gelte es das Eis zu schmelzen. Wieder ist es der außerordentlich guten Leistung des restlichen Teams zu verdanken, dass es danach nur 0:1 steht.

Im vierten End gelingt es Frank erstmals, nicht zu dem Trio zu sehen – das macht ein Kameramann, der offensichtlich auch die Schattenseiten dieses Sports ins Bild bringen will. Die Großbildleinwand zeigt nach Franks verkrampft-konzentriertem Antlitz Aurelie, der deshalb ein Schrei entkommt – Frank verliert den schweren Stein in der Ausholbewegung und zermalmt damit beide Fußgelenke von Mitspieler Mike („Country“) Court derart, dass der allen Engeln danken kann, sollte er jemals noch einen geraden Schritt gehen können. Rosemarie, Susan und Aurelie beklatschen als einzige in der Halle diesen tragischen wie vermeidbaren Sportunfall.
Sie haben schon seit vielen Jahren immer viel Spaß miteinander, haben sich bei einem Königspudel-Wettbewerb kennengelernt und sind seitdem unzertrennlich: Rose, Susan und Aurelie treten stets zu dritt auf, in der Zwischenzeit leben sie auch in einem gemeinsamen Haushalt. Sie lieben die Gesellschaft und besuchen, meist uneingeladen, Hochzeiten, Geburtstage und sonstige Feste – heute hat es Frank erwischt, auch wenn er gar nicht verwandt ist mit Rose. Sie hat nur in der benachbarten Wohnung gelebt, damals in Kensington.

Franks Teamkollegen spielen das Spiel ihres Lebens, trotzen weiter der Tatsache, ihren größten Gegner in der eigenen Mannschaft zu wissen. Die Hälfte des Finales ist gelaufen und es steht nur 3:6, obwohl das Ergebnis nach den bisher gezeigten Leistungen auch gut und gerne eine zweistellige Differenz aufweisen könnte.
Aber auch die eigentlichen Gegner haben nicht ihren besten Tag, auch ihre Nerven liegen nach den Ereignissen der letzten 71 Minuten blank, genauso wie die der Sportreporter, der Zuseher in der Halle und natürlich auch der Zuseher daheim vor den Fernsehgeräten.

Sechstes End, Frank kommt an die Reihe, die Besen der Teamkollegen zittern schon ohne willentliches Zutun. Frank wird nicht hinsehen, Frank wird nicht hinhören. Frank wird sich zwingen, seine Gedanken zu ignorieren, denn sein Kopf hat begonnen, sich mit sich selbst zu unterhalten, wobei diesen Selbstgesprächen jeglicher Sinn mehr und mehr abhanden kommt.
Er hört dieses Mal wirklich nicht hin und lässt auch den Blick nicht zu Aunt Rose abgleiten. Trotzdem: Dieses Mal knallt er den Stein fast im rechten Winkel gegen die seitliche Bande, was dann auch Anlass für das olympische Komitee ist, den Wettbewerb zu unterbrechen. Fadenscheinige Begründung: Die Bande muss repariert werden – in Wahrheit suchen die Offiziellen fieberhaft einen Passus im umfangreichen Regelwerk, der eine Disqualifikation wegen grobem Dilettantismus zulässt. Der findet sich aber nicht und so müssen sie das Finale widerwillig, aber doch, nach knapp 90-minütiger Unterbrechung weiterlaufen lassen. Vielleicht geht es aber auch nur durch den Druck der Fernsehanstalten weiter: Sie wollen das Spiel bis zum bitteren Ende übertragen, dieses Spiel, das in der Zwischenzeit alle Quotenrekorde bricht.
– Ich bestehe zu 40 Prozent aus Algen und zu 70 Prozent aus Moos – sagt da was in Franks Kopf und irgendwas antwortet: – Jaja, der Kukuruz muss scheißen gehen. – Es sieht nicht wirklich gut aus, tief da drinnen in Frank.

Das achte End verläuft wieder relativ unspektakulär, abgesehen vielleicht von Franks Stoß, mit dem er zwei Punkte für sein Team vereitelt, indem er nur eigene Steine aus dem Haus treibt. Es steht jetzt 4:7, ein außerordentlich schmeichelhaftes Ergebnis in Anbetracht dessen, was bisher so alles passiert ist. Trotzdem: Vier Steine in den verbleibenden zwei Ends aufzuholen, ist auf olympischem Niveau nicht möglich. Also Mannschaftsbesprechung nach dem achten End: Größter Erfolg im Curling seit Bestehen der Republik hin oder her, meint der Roukie – wann, wenn nicht jetzt und hier: wann dann?
Lass uns und die Gegner schlafen gehen, die Zuschauer auch, die Reporter und auch die vielen Zuseher daheim vor den Bildschirmen, sagt Frank. Ich will lieber als Silbermedaillengewinner in der Heimatgemeinde gefeiert werden, als als Trottel der Nation, ja als Trottel der Welt dazustehen. – Wenn du jetzt nicht weiterspielst, bist du der Trottel des Universums, meint der Roukie leise. Sie werden weiterspielen.
Frank ist dran. Überraschenderweise sieht er dieses Mal hin zum Terzett, ja, er sieht einer nach der anderen direkt in die Augen – nur bei Aurelie gelingt ihm das nicht, ihr Blick hängt am Großbildschirm.
Frank scheint sich also gefasst zu haben, macht zumindest keinen verheerenden Fehler. Das neunte End vergeht punktelos. Gewöhnlich gibt es in dieser Situation – noch ein End, drei Punkte Unterschied – ein sportlich faires Handshake. Heute aber nicht.

Letztes End: Die Bemühungen waren sportlich, ja ritterlich, der Sieg war schon von vornherein in weite Ferne gerückt, im Moment liegt er in einer anderen Galaxie – und die wiederum nicht in unserem Universum.
Frank ist dran mit dem letzten Stein eines aus vielen Gründen denkwürdigen Finales und die Spielsituation aussichtslos: Die Guards des eigenen Teams liegen unglücklich angeordnet vor den vier gegnerischen Steinen im Haus. Mit viel Gespür und Können, Routine und Glück könnte er vielleicht ein, zwei gegnerische Steine aus dem Kreis bringen, dann blieben aber noch immer zwei drin – das wirklich schmeichelhafte Endresultat wäre ein 4:9.
Liebe und Tod, der Zeitraum wird plastisch; Länge, Breite und Höhe kommen dazu, auch noch zwei, drei andere Dimensionen. Darin ermordet Frank zuerst Rose – Susan und Aurelie müssen zusehen, wie er genüsslich Roses Eingeweide fleddert, sich von unten durch den Schlund hinaufarbeitet, um ihren Kehlkopf von innen zu würgen, mit einem gezielten Stich mit dem gestreckten Mittelfinger dringt er über die Augenhöhlen in ihren Kopf ein und rührt drinnen kräftig um. So viel zum Tod.
In Liebe bedankt sich Frank in diesem vieldimensionalen Gewebe zuerst bei seinem Vater, einem zeitlebens grantelnden Alkoholiker, der nichts anderes zu tun wusste als alle Menschen in seinem Einflussbereich zu erniedrigen und zu beleidigen; seinem Trainer, einem Mann aus ähnlichem Holz geschnitzt mit der zusätzlich ausgeprägten Tendenz, jugendlichen Sportlern mit seltsamen Spielchen die gesunde sexuelle Entwicklung zu vermiesen; schließlich den vielen Zusehern in der Halle und auch zu Hause vor dem Fernseher.

Mit eiskaltem Blick steht er nun da, die Routine vor dem Stoß dauert nicht viel länger als gewöhnlich: Frank Oldrting hat viele vermeidbare Fehler gemacht und war dabei, das Team zum Gespött der internationalen Presse zu machen. Doch jetzt – im letzten End – lässt er diesen unglaublichen Wurf raus: Der Stein kurvt, als gäbe es keine Physik an diesem Tag hier in der olympischen Curlinghalle auf Bahn eins, er tanzt von einer Seite zur anderen, stößt hier einen gegnerischen Stein weg, schiebt dort einen eigenen an, verändert noch da und dort die Lage, überlegt kurz, ob es noch was zu tun gibt, und stellt sich dann zufrieden ins Zentrum des Hauses.
Insgesamt vier gegnerische Steine werden so aus dem Haus geschoben, vier eigene hineingelegt. Unfassbar. Wahnsinn. Unglaublich. Frank hat das Unmögliche möglich gemacht, aus einem 4:7 ein 8:7. Frank Oldrting ist die Sensation dieser olympischen Spiele.
Ja, er ist sehr glücklich – sagt er in ein Mikrofon. Ja, es war auch etwas Glück dabei – in ein anderes. Doch, er war auch verdient, der Sieg – sagt er dem Eurosport, und er dankt seinem Vater, seinem Trainer, dem Verband, dem Publikum hier in der Halle und den vielen Fans daheim vor ihren Fernsehern.
In seiner Heimatgemeinde wird die Goldmedaille mit einem großen Empfang gefeiert. Von der Gemeinde bekommt Frank ein Grundstück geschenkt, damit er immer dableibt, die örtliche Sparkasse stiftet ihm ein zinsenloses Wohnbaudarlehen und einen Werbevertrag. Auch andere Firmen raufen sich um Frank und schmücken sich mit ihm.
Seitdem macht Frank lustige Sachen: Im letzten Spot sagt er: „Au weh!“. Eine glaubwürdigere weibliche Stimme meint darauf, dass alles gar nicht so schlimm sei und sprüht Frank ein Spray auf die Hand, die er vorher auf die glühende Herdplatte gelegt hatte. „Das tut gut! Wie ein Olympiasieg!“ In einem anderen Spot sagt er, dass seine Sparkasse „die beste von allen anderen“ ist. Wir selber glauben es ihm ja auch, irgendwer wird aber den Kindern erklären müssen, wer Frank Oldrting eigentlich war.

Christoph Stantejsky

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