Kategorie-Archiv: Veronika Seyr

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Apokalypse reloaded II

Ich wuchs in einer patriarchalischen Familie auf, in jedem Fall war das das Modell meiner Kindheits- und Jugendjahre. So gab es das ungeschriebene Gesetz, dass ohne den Vater nicht mit dem Abendessen begonnen werden durfte. Das war die einzige gemeinsame Zusammenkunft, bei der alle wichtigen Dinge erzählt, diskutiert, beurteilt und sanktioniert wurden. Frühstücks- und Mittagessens-Zeiten waren wegen der unterschiedlichen Schultermine Variable. Abendessen um 19 Uhr unter Vorsitz des Vaters – das war eine eiserne Regel.

Aber einmal passierte es, dass der Stadtpfarrer am späten Nachmittag zum Vater zu Besuch kam, mit dem er einen Gedankenaustausch pflegte. Es war die Zeit der Stürme, die das II. Vatikanische Konzil mit sich brachte. Mein Vater war ein unermüdlicher Trommler für das größte Reformwerk in der römisch-katholischen Kirche seit der Reformation. Es wurde zwischen den Eltern vor uns Kindern sogar am Esstisch heftig diskutiert, sodass ihn meine Mutter einmal einen „lutherischen Ketzer“ nannte. Schnaubend meinte sie: „Da kannst du ja gleich zu den Protestanten gehen!“
Eine besonders pikante Aussage, war sie doch nach dem Zusammentreffen mit meinem Vater von den Evangelischen zu den Katholischen konvertiert.

Der Dechant von St. Stephan war eine kreuzfromme, aber leicht einfältige und ängstliche Person, die sich gern von meinem Vater beraten und im Glauben bestärken ließ. Das II. Vatikanum wirbelte alle Glaubensgrundsätze und die fast 2000 Jahre alten Regeln so durcheinander, dass der Gute manchmal ganz verzagt in der Seele war, ob das noch seine vielgeliebte, heilige römisch-katholische Kirche und Papst Johannes Paul II nicht ein verkleideter Luther oder, noch schlimmer, eine Ausgeburt der Hölle auf Petri Stuhl sei.
Das vertraute er aber nicht einmal meinem Vater an, sondern nur seinem geistlichen Beichtvater als „Sünde wider den Heiligen Geist“, und das ist die allerschlimmste unter den Todsünden.

Eine Messe in der Volkssprache, der zum Volk gewendete Tisch, demokratische Strukturen wie Pfarrgemeinderäte, Ministrantinnen, Diakoninnen – alles nicht auszudenken. Das kann nur das Ende der Kirche sein, alles Ideen des Antichrist.
Ich meine mich erinnern zu können, dass der Pfarrer meinem Vater seine Entwürfe für die Sonntagspredigten vorlegte und sie mit ihm nach didaktischen und rhetorischen Gesichtspunkten durchnahm. War der Vater doch ein Professor und Pädagoge.

Es wird schon etwas Wichtiges gewesen sein, das den Stadtpfarrer so spät am Nachmittag hereinschneien ließ. Was wusste ein Kleriker mit Pfarrerköchin schon von den ehernen Gesetzen eines zehnköpfigen Haushalts. Der Abendtisch war gedeckt, wir saßen reihum mit knurrenden Mägen, auf dem Herd köchelte das Essen vor sich hin, aber aus dem Arbeitszimmer drang noch immer das Gemurmel der zwei Männerstimmen. Es wurde spät und später. Meine Mutter, bei der alle Unregelmäßigkeiten, vor allem Verstöße gegen die Zeitregeln, einen heiligen Zorn hervorriefen, war schon am Explodieren und stieß allerlei unchristliche Verwünschungen gegen den Stadtpfarrer aus. Aber sie konnte ihn ja nicht selbst vertreiben. In diesem Dilemma scharrte sie mit den Vorderhufen wie ein ungezähmter Mustang und schnaubte:
„Dem sag ich einmal richtig meine Meinung, dem alten Depp!“

Da kam irgendjemand auf die Idee, den jüngsten Bruder Franzi vorzuschicken. Wahrscheinlich die älteren Brüder, die den Kleinen gern ins offene Messer laufen ließen. Franzi sollte heimlich erkunden, wie weit die beiden Männer mit der Verabschiedung seien. Freudig über seine Rolle als Kundschafter, warf der sich in die Schlacht. Anstatt nur an der Tür zu lauschen, öffnete er sie einen Spalt breit, steckte den Kopf durch und verkündete, was er im väterlichen Arbeitszimmer sah. Mit laut krähender Stimme meldete er an den im Esszimmer wartenden Rest der Familie triumphal zurück:
„Ja, der alte Depp ist noch immer da!“

So schnell konnten wir gar nicht schauen, raffte der Geistliche seine Röcke, die Papiere und den Hut zusammen und huschte schnell wie der Schatten eines schwarzen Katers durch die Haustür hinaus in die Nacht. Selten wurde der Jüngste dieser hierarchischen Familie so unisono als Held gefeiert wie an diesem Abend.

Übrigens: Das „Abendmahl“, auf das wir so lange hatten warten müssen, bestand aus einer Stosuppe mit heurigen Erdäpfeln, Kümmel drin und Schnittlauch drauf, ein Stück Schwarzbrot dazu. Herrlich, diese Erinnerung. Noch heute zerknacke ich jedes einzelne Kümmelkörnchen mit Genuss zwischen den Zähnen.

Pfingstsonntag, 31.5.20

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 20095

 

Apokalypse reloaded I

Als es am Gartentor klingelt, hält sich Mama gerade im Schlafzimmer auf, das zwei Fenster zur Straße hat. Sie sieht dort einen Mann und eine Frau stehen, die ein Bündel Zeitschriften vor der Brust tragen. Das oberste Exemplar ist in durchsichtiges Plastik eingepackt und hängt an einer Schnur um den Hals, „Der Wachturm“. So stehen sie auch jeden Samstag auf dem Hauptplatz unter der Marienstatue. Ah, das sind wieder einmal die Zeugen Jehovas, denkt sie, die schick ich zum Papa, der diskutiert ja so gerne. Sie verachtet die Sektierer aus tiefster Seele und ist in ihren Ansichten, wie alle Konvertiten, päpstlicher als der Papst. Bettler und Hausierer bekommen immer etwas, aber Missionare schickt sie gnadenlos weg, wenn der Vater nicht zu Hause ist. Sie öffnet das Gartentor, lässt die beiden in den Vorgarten eintreten und leitet sie weiter an ihren Ehemann. Der sitzt gerade einmal nicht an seinem Schreibtisch, sondern ist mit einem Kanalarbeiter damit beschäftigt, die übergeflossene Senkgrube zu entleeren. Die beiden Missionare stapfen durch die Einfahrt in den Hof, stellen sich höflich mit Namen vor und beginnen das Gespräch mit dem Stehsatz:
„Wir möchten gern mit Ihnen über Gott sprechen.“

Mein Vater, in Gummistiefeln und ledernem Arbeitsschurz, wendet sich ihnen zu, unterbricht aber seine Arbeit nicht. Er schaufelt mit einer langstieligen Kelle die Verdauungsreste einer zehnköpfigen Familie in Eimer und Bottiche, die der Arbeiter zu einem hölzernen Kastenwagen in der Einfahrt trägt. Es ereignete sich also zu einer Zeit, die noch weit entfernt war von geruch- und geräuschlosen Pumpen und Absauggeräten.
„Ja, bitte, Sie können mit mir reden.“

Die Zeugen sind freundliche, gesittete und geduldige Leute, denen es nicht in den Sinn kommt, das einmal gefundene Opfer zu bitten, die Arbeit einzustellen und sie vielleicht in ein Zimmer einzuladen. So stehen sie mit ihrem Propaganda-Organ „Der Wachturm“ am Rand der offenen Senkgrube, ein tiefer Schacht an der Mauer zum Klo. Wie dem Schlund der Hölle entsteigt ihm ein unbeschreiblicher Gestank und verbreitet über den ganzen Hof eine undurchdringliche Wolke. Der Situation entsprechend hätte man sagen können: bestialisch, teuflisch, höllisch. Dabei handelt es sich nur um allzu menschliche Dinge. Es ist ein heißer Sommertag, und die Schwaden der Hölle hängen brütend über der kleinen Gruppe.

Die Apostel der letzten Tage sind nicht nur bibelfeste, sondern auch tief überzeugte und standhafte Gläubige. Außerdem werden sie nicht alle Tage in ein großes Haus gebeten, sondern meistens von der Schwelle weggescheucht. Sie schicken einander ermutigende Blicke zu, richten ihre Rüstung vor der Brust zurecht und spulen die Standardsätze ab. Sie kündigen den Ungläubigen an, im ewigen Höllenfeuer zu schmoren. Wer Gott nicht gehorcht, wird alle Schmerzen dieser Welt erleiden. Alle Feinde Gottes werden am Jüngsten Tag vernichtet, wie der Prophet Jeremias, Jesaja 43, Vers 10 und 11, sagte:
„Ihr seid meine Zeugen (…) Ich – ich bin Jehova, und außer mir gibt es keinen Retter.“
Sie rattern ganze Bibelabsätze samt Strophen- und Versezahlen fehlerlos herunter wie eine aufgezogene Uhr, aus der immer wie ein Kuckuck der Name Jahwe hervorspringt. Sie werden fast zu Poeten, wenn sie in bunten, saftigen Bildern die Höllenqualen schildern. Eine wahrhaft hoffnungsfrohe Religion.

Mein Vater, ein nicht minder sattelfester Bibelkenner, erklärt ihnen geduldig, dass sie da etwas missverstanden haben müssen. Man könne nicht eine ganze Religion auf einen einzigen Prophetensatz gründen. Man müsse das Gesamtpaket der Bibel hernehmen, das ganze Alte Testament, da gäbe es viele Propheten mit vielen verschiedenen Aussagen. Vor allem aber sei für ihn als katholischer Christ das Neue Testament ausschlaggebend, Christus und seine Botschaft der Liebe. Das Christentum sei eine Religion der Liebe. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Überhaupt müsse man seit dem II. Vatikanischen Konzil die neuen Interpretationen des Bibelwortes berücksichtigen und das neue Christus-Bild als Vorbild für sein eigenes christliches Leben nehmen. Nachfolge Christi nennt man das. Wir glauben an einen Gott der Liebe und nicht der Rache.
Außerdem müsse man die Bibel in einem historischen Kontext sehen und dürfe nicht alles wortwörtlich nehmen, so wie etwa die Erschaffung der Welt in sieben Tagen. Das sind Sinnbilder. Auch habe sich die Wissenschaft seit Bibelzeiten weiterentwickelt. Darwin, zum Beispiel … Bei der Erwähnung dieses Namens fallen sie vor schwer unterdrückter Empörung fast in die Grube. Darwin, ein Name wie der leibhaftige Gottseibeiuns! Menschen, die von Affen abstammen …
Vor allem verurteilt der Vater die Scheidung in Gläubige und Ungläubige, denen von den Zeugen Jehovas die schlimmsten Strafen angedroht würden.

Mit der Spaltung in wahre Zeugen, die Auserwählten, und in die sündigen Schafe, die am Jüngsten Tag zur Schlachtbank geführt würden, sei er keinesfalls einverstanden. Das sei absolut unchristlich und widerspreche der Bergpredigt. Er ist nicht faul, den Aposteln der Letzten Tage die ganze Bergpredigt auswendig herzudeklamieren, während die Höllendämpfe sie umwabern. Er hält inne und stützt sich auf den Stiel seiner Schaufel. „Selig ist, wer …  Selig ist, wer … Das ist der Sinn der Bibel, mein Credo.“
Diskussion ist das natürlich keine, eher eine Begegnung wie von zwei Mauern, die gegeneinander anrennen.
Mein Vater und der Arbeiter sind mit einer solchen Arbeit vertraut, geht doch die Senkgrube regelmäßig einmal im Jahr über. Die Zeugen Jehovas jedoch, bibeltechnisch und rhetorisch exzellent geschult, sind mit dieser Situation überfordert und schnappen nach Luft. Da nützt ihnen auch die ganze antrainierte Bibelrhetorik nichts mehr. Sie kämpfen sichtlich mit unbezwingbarem Brechreiz, nicht mehr um seelisches, sondern statisches Gleichgewicht am Rande der Grube bemüht, unternehmen sie nicht einmal einen Versuch, den „Wachturm“ zu verscherbeln, wie  jedes Gespräch über Gott enden muss.

Ich bin mir sicher, dass nicht die schlüssige Argumentation meines Vaters sie in die Flucht geschlagen hat. Die Bündel mit den Zeitschriften vors Gesicht gepresst, nahmen sie freiwillig Reißaus und beendeten den Missionierungsversuch an einem seltenen Redewilligen. Unter anderen Umständen hätten sie ihn erst nach langer Quälerei aus ihren Krallen gelassen. Unser Haus bekam ein unsichtbares jehovisches Kruckenkreuz an die Wand gemalt wie von Hausierern und Bettlern: Hier ist nichts zu holen. Sie kamen nie wieder. Mama gab den Bettlern und Hausierern weiter eine Kleinigkeit, kaufte den Sieberl- und Ranftlmachern etwas ab und ließ die vazierenden Messerschleifer unsere Messer und Scheren schärfen.
Jauche schlägt Jahwe.

Warum ich das alles weiß? Ich stand im WC auf dem Klodeckel und lauschte beim Guckfenster hinaus. Warum ich das alles erinnere? Ich hab’s geträumt.

Pfingstsonntag, 31.5.20

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 20094

 

Verfluchte Tage oder It’s war, baby!

„Dieses verwünschte Jahr ist zu Ende. Doch was weiter? Vielleicht kommt etwas noch Schrecklicheres. Wahrscheinlich sogar.“
Diese Sätze schrieb Ivan Bunin am 1. Jänner 1918 in sein Tagebuch, noch in Moskau, aber bald danach floh er vor der bolschewistischen Revolution über Odessa nach Paris und kehrte nie wieder zurück.
„Verfluchte Tage“ nannte der Nobelpreisträger von 1933 seine Aufzeichnungen über Revolution und Flucht vor 100 Jahren.
„… weil eines der auffälligsten Erkennungsmerkmale einer Revolution die ungezügelte Gier nach Spiel, Verstellung, Pose, Schaubude ist. Im Menschen erwacht der Affe.“
Odessa, 12. April 1919

Als mir im März 2020 beim Abstauben der Bücherregale dieses Buch in die Hände fiel, las ich es in einer schlaflosen Nacht in einem Zug durch und bemerkte, dass ich es schon mehrere Male durchgearbeitet hatte, wie ich an den unterschiedlichen Unterstreichungen und Anmerkungen feststellen konnte. Warum nur? Weil mich Umbrüche und Weggabelungen schon immer interessiert haben, sowohl bei mir, bei Menschen als auch in der Geschichte, vor allem, wenn sie zeitlich zusammenfallen. Und nun bin ich in einem von solchen Fällen Lebenszeitzeuge; da holte ich andere Exilliteratur aus dem Russenregal: „Teffy, Champagner aus Teetassen – Meine letzten Tage in Russland“ der Schauspielerin Nadeshda Lochwitzkaja; weiters die Autobiografie von Levon Aslanowitsch Tarassow, der sich im Pariser Exil Henry Troyat nannte und mehr als einhundert historische Romane schrieb; die Biografie von Olga Knipper-Tschechowa, und die von Lew Nussimbaum alias Kurban Said alias Essad Bey, der auf seiner Flucht mit seinem Vater ebenfalls in Konstantinopel hängengeblieben ist.
Dieses Warten, dieses Hängenbleiben und das Herausfallen aus der Zeit, ich glaube, es ging ihnen allen so wie dem Panther im Jardin des Plantes – und hinter tausend Stäben keine Welt. Die russische Psychoanalytikerin Sabina Spielrein erwischte der Kriegsausbruch in ihrem langjährigen Wohnort Berlin, und obwohl sie nicht ausgewiesen wurde, kehrte sie – aus übergroßer Heimatliebe? – nach Russland zurück. Dort geriet sie zuerst in die Stalin-Falle, die ihrer Karriere ein Ende setzte und später in die SS-Falle, die ihr Leben, das ihrer zwei Töchter, des Vaters und zweier Brüder auslöschte.

Als immer mehr Politiker, angefangen von Macron bis zu Trump, vom „Krieg“ gegen das Corona-Virus zu schwafeln begannen, kamen bei mir Erinnerungen auf an die vielen Emigranten, die auf der Flucht irgendwo strandeten oder sich bei Kriegsausbruch plötzlich in Feindesland wiederfanden. Sie wurden entweder expediert oder kehrten aus Patriotismus in ihre Heimatländer zurück. Das kann man in vielen Biografien aus den Zeiten vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg nachlesen. Nicht wie jetzt bei der Corona-Krise holten sie ihre Regierungen in Luftflotten nach Hause, 250 000 in Deutschland, 34 000 in Österreich, sondern sie haben ihr Leben lang dieses Gestrandetsein nicht mehr vergessen und verwinden können. Immer war es ein Wendepunkt in ihren Leben.

Tschechows Witwe Olga befand sich mit der Truppe des MCHAT, dem Moskauer Künstlertheater, gerade auf Gastspiel in Odessa, als die Oktoberrevolution ausbrach.
Nach verzweifelten und „verfluchten“ Wochen, wie Ivan Bunin diese Zeit bezeichnet, gelingt es der Truppe, ein Schiff zu kapern, das sie die Donau aufwärts bis nach Wien bringt, wo es im Theater an der Wien sogar zu einer Aufführung von „Kirschgarten“ kommt, mit der berühmten Olga Knipper in der Rolle der Ranewskaja. Meine Bibliothek steht mir gerade in meinem Corona- Exil nicht zur Verfügung, um zu überprüfen, ob es nicht das „Nachtasyl“ von Gorki war.

Bunin, der die Bolschewisten verachtete, glaubte noch einige Zeit lang an die Umkehrbarkeit der Revolution und arbeitete in Odessa an einer antibolschewistischen Zeitung mit.
Geschichten vom Hängenbleiben, von Schiffbrüchen und Rettungen hatten in den letzten Wochen auch die Medien zu bieten. Ein Segler vor der türkischen Küste, der nicht anlegen darf, andere mussten von der Karibik aus den Atlantik überqueren, Touristen in Neuseeland und Peru wollten nicht gerettet werden und blieben in Wellington und Medellin.
Besonders amüsant finde ich die Episode mit Kaiser Wilhelm II., der sich trotz der drohenden Kriegsgefahr im Juli 1914 nicht von seinem alljährlichen Urlaub auf seiner Segeljacht „Kiel“ abbringen ließ und um ein Haar zur eigenen Kriegserklärung zu spät nach Hause gekommen wäre. Oskar Potiorek, Oberbefehlshaber der k. u. k Balkanstreitkräfte und Verantwortlicher für das verhängnisvolle Manöver vom 27. Juni 1914, weilte gerade zur Kur in Karlsbad, als der Krieg ausbrach und musste eiligst in einem plombierten Zug an die Front gebracht werden.

Wissen diese Kriegserklärer von Macron (den ich bis dahin für ziemlich intelligent gehalten habe) bis Trump, wem die da gerade was erklären?
Krieg. Wo sind die Heere? Wo die Linien? In welchen Formationen? Mit welchen Waffen rücken sie an? Wie groß ist die jeweilige Truppenstärke? Wen haben sie gegenüber? Wie sieht der „Feind“ aus, den sie vernichtend schlagen wollen? Wie schön dagegen noch die Frontlinien in der Drei-Kaiser-Schlacht von Leipzig. Wie am Reißbrett. Oder die gedrechselte Epik des „An meine Völker“.

So unsichtbar war noch nie ein Feind seit der Pest, als man vor allem die Juden und Frauen/Hexen für die Epidemie verantwortlich machte und sie als Brunnenvergifter, als Milch- und Viehverhexer und Seuchenverbreiter und Wetterhexen verfolgte. So macht es auch Trump, wenn er – mit Augenbrille – vom chinesischen Virus oder Wuhan-Virus redet. Da man das Virus nicht zwischen die Finger kriegt, es nicht feuern und ihm nicht den Hals umdrehen kann, auch Kanonenkugeln und Grenzmauern nichts bringen, warum eigentlich nicht stellvertretend die Schuppentiere, Fledermäuse und Schlangen, die Zibethkatze und alle Hunde und wer weiß welche Tiere noch bestrafen, die auch Zwischenwirte sein könnten? Die Liste ist lang: Schleichkatzen, Marderhunde, Nerze, Frettchen für Operation Sündenbock. Besonders beliebt bei allen Verschwörungstheoretikern, Populisten, Nationalisten und Rassisten.
Aber ein Gutes hat die Corona-Krise auch: Sie zeigt überdeutlich, dass diese Leute, wenn sie in der Politik mitmischen, nichts drauf haben. Keine Lösungen, nur dumme Phrasen, vielfältiger Schwachsinn und Popanz. Wenn nicht das Gedächtnis der Menschen so kurz und lückenhaft wäre, könnten wir sie dank Corona endgültig loswerden. So ist es unwahrscheinlich, dass sich die Kurve der Dummheit schnell abflachen wird.

Mir kam einmal bei der Aufzählung all der möglichen Schuldigen die Erinnerung an das Lieblingsbuch meiner Kindheit, an Kästners „Konferenz der Tiere“ hoch, an den Löwen Alois, den Elefanten Oskar und die Giraffe Leopold: „Es geht um die Kinder!“ Die Tiere schlagen zurück. Ihr habt uns gefressen und ausgerottet, jetzt seid ihr dran!
Wahrscheinlich Corona-verseuchte, nächtliche Gehirngespinste. Wer wäre in unserer Gegenwart der erfolglose Sonderermittler Zornmüller, den die Tiere in die Flucht schlagen?
In der FAZ lese ich ein Interview mit dem Berliner Inselmakler (so was gibt’s) Farhad Vladi, der von seinem derzeit florierenden Geschäft schwärmt, und meine Buchhändlerin erzählt mir, als ich wieder ins Ladeninnere reindarf und nicht mehr durch den Türspalt die Bücher gereicht bekomme, dass ewige Ladenhüter wie Decamerone und Robinson Crusoe hoch im Kurs stünden.

So hat eine jede Krise punktuell auch ihre guten Seiten. „Always look on the bright side of life“. Wegen übergroßer Nachfrage geht Mexicos Brauereien das Corona-Bier aus, und das idyllische Dörfchen St. Corona am Wechsel schafft es sogar auf CNN mit einem Reporter-Bild vor der Ortstafel. Wie sie Wechsel wohl übersetzt haben?

Aber eines der größten Opfer in Kriegs-, Revolutions- und Corona-Zeiten ist die Sprache.
Karl Kraus lässt grüßen, hätte seine Freud gehabt und ganze Fackeln damit füllen können. In meinen Containment- und Social-Distancing-Wochen habe ich es mir zum Sport gemacht, bei den Nachrichten mitzuschreiben. Als Erstes bekamen wir english lessons: News, Topnews, Morning News, BREAKING NEWS schreit es in abscheulicher Dekoration mit dicken, alten, hässlichen Männern und dümmlichen, spärlich bekleideten, oft piefkinesisch mit piepsenden Stimmen sprechenden TV-Schnepfen in Lockenpracht. Echt sexy, trotz shutdown, lockdown, containment, social distancing, cluster, no kiss, no hug, no stop, just go and keep distance.
Oh Gott, wie sind die gebildet. Je mehr geredet, erklärt, kommentiert werden musste (Einschaltquoten!), desto mehr kommt die deutsche Sprache unter die Räder.

Die medialen Erklärer haben es zustande gebracht, die sehr, sehr wortreiche und variable deutsche Sprache – der Horror aller Deutsch-Lernenden – zu einem pigeon-german verkümmern zu lassen.
Bitte sehr, eine kleine Auswahl aus den sprachlichen Folterwerkzeugen, manche unfreiwillig lustig:
Man soll die Lanze nicht auf die Goldwaage legen.
Das Rennen um die Impfstoff läuft.
Corona kommt der Natur sehr zugegen.
Waren die Warnungen übergeschossen? Als Variante im Bericht gab’s noch:
Haben die Warnungen übergeschossen?
Eine Pandemie oder Hyperinflation gab es ebenfalls mit dem Wort: Zukunft.
Wir müssen die Zukunft neu ausrichten.
Die Zukunft wird neu.
Wir brauchen mehr Zukunft!
Meine Zukunft gehört mir!
Geht jetzt die Zukunft in den Ruhestand?
Wann kehrt meine Zukunft zu mir zurück?
Die Reparatur der Zukunft.
Den Enttäuschten schlägt es jetzt Hohn und Spott in die Augen.
Es hungert uns nach Haut.
Griechisch-orthodoxe Kirche verschiebt Ostern.
Afrika schottet sich von Europa ab.
Sommmersaison der Wiener Bäder fällt ins Wasser.
Die Intensivbetten gehen zur Neige.
Meine Brille (ein Pferd?) wird beschlagen.
Die Politiker sollen Zuversicht schüren.
Notre Dame (der Wiederaufbau) liegt auf Eis.
Obertilliach hegt auch das zweite Standbein Landwirtschaft.
Die K-Zeitung verrät am Ostersonntag in dicken Lettern am Titelblatt, warum „sich das Ostergeheimnis auch von schweren Zeiten nicht unterkriegen lässt“.

Unter einem mittelalterlichen Gemälde eines dornengekrönten Christus. Das nenn ich Pornographie, grenzt schon an Poesie, poetische Pornografie, überhaupt wenn man noch einmal hochschaut auf die Großbuchstaben mit AUFERSTEHUNG, die das ursprüngliche I.N.R.I. verdecken und erklären, „warum uns in diesen Zeiten unser Glaube besonders wichtig ist“. Welcher Glaube ist damit gemeint? Der des Pakistani? Des Trump an sich selbst?
Des Hofer Norbertl an die „leichte Grippe“?
Nachdem ich wahrscheinlich zum gefühlt 3000stenmal „Herausforderung“ und „herausfordernd“ gehört habe, in Zeiten wie diesen, das Hochfahren der Wirtschaft, eines Theaters oder sogar des ganzen Landes, hat mich das erste der vier Corona-Frühsyndrome erfasst – Brechdurchfall. Erst lief ich hin und her, dann stellte ich einen Kotzkübel neben meine Fernsehcouch und gesundete erst, als ich die Echtwörter für die Verschleierungs- i. e. Maskenwörter beisammenhatte. Hochfahren, das bringe ich seit circa 30 Jahren mit dem Computer in Verbindung, mit einem oder einigen wenigen Tastendrückern das Ding wieder zum Laufen zu bringen. Was für ein verblödetes Wortbild. Ein hochfahrender Mensch, ein altertümliches Wort aus Goethe, Theodor Fontane vielleicht, oder Jean Paul. Und da gibt’s noch das „zum Hochfahren bringen“, „das Hochfahren erleichtern und befördern“. Das erst bringt einen wirklich zum Hochfahren, überhaupt als unfreiwilliges Mitglied der Risikogruppe.

Probleme, verdammt viele Probleme, Schwierigkeiten an allen Ecken und Enden, koste es, was es wolle, niemand wird zurückgelassen. Warum reden sie nicht Klartext, es ist alles viel schlimmer, als es darzustellen ist. Und am Ende kriegen, wie in der Finanzkrise, wieder die Großen das ganz große Geld. Alles echte, tiefe Scheiße, in der wir alle bis über die Ohren sitzen, die keine Insel besitzen, keine atlantiktaugliche Jacht oder ein Landhaus in der Toskana. Russische Millionäre wollen sich im Permafrost von Sibirien einfrieren lassen, berichtet neuerdings die Ex-Außenministerin, die im Dirndl knicksende Karin K., auf dem ganz neutralen, objektiven TV-Sender RT. Das Tauen des Permafrosts samt Methan kommt früher, als ihr erstes Gehalt eintrifft. In welches Höllental uns der Kapitalismus hineingeritten hat. Ich kann nicht garantieren, ob ich beim nächsten Mal nicht einen Schreikrampf kriege und alle Blumentöpfe aus dem Fenster werfe. Das ist die eigentliche Qual der Quarantäne. Der Tsunami an schiefem und fauligem Wortmüll.

Besonders hübsche Ausreißer liefern die Corona-Maulhelden Trump, Lukashenko und Bolsonaro. Der erste rät mit Plexiglasbrille vor den Augen, Desinfektionsmittel einzunehmen und Haarbleichmittel zu injizieren (vielleicht spricht er aus eigener Erfahrung und macht das ja schon länger?); Luka empfiehlt Wodkatrinken, Feldpflügen und Fußballspielen. Bolsonaro meint, dass er als ehemaliger Militärathlet vom Virus nichts spüren würde, außerdem sei sein zweiter Vorname Messias (mit dem ersten hat’s aber kein gutes Ende genommen). B. leugnet, dass die Todesfälle etwas mit Corona zu tun hätten. Womit denn? Mit gepanschtem Schnaps? Erdogan wiederum singt ein Loblied auf den Raki. Also wieder eine Kriegserklärung: Raki gegen Wodka. „Behaltet euren Virus“ (ihr im kapitalistischen, imperialistischen, dekadenten Westen) schreit der kleine, dumme Luka unter seiner wagenradgroßen Militärmütze im vollbesetzten Fußballstadion von Minsk hervor, der in seinem früheren Leben nie Militär war, sondern Friedhofsverwalter. Idiotie kennt keine Grenzen, Nationen oder Religionen, wie mir ein aus Pakistan stammender Taxifahrer in der Waaggasse bewies, der sich am 13. April, einen Tag vor der Pflicht, weigerte, eine Maske aufzusetzen. Er braucht sie nicht, Allah schützt die Muslime. Ich bin nicht bei ihm eingestiegen, weil ich offenbar den falschen Glauben habe und trotz Corona nicht konvertieren werde.

Sogar die coolen Briten haben sich an der Kriegsrhetorik vergriffen, von Boris Johnson bis zur Queen haben sie zumindest an den Krieg erinnert mit dem very charming „Keep calm and carry on“, als es galt, einen sehr bösen, mächtigen und sichtbaren Feind zu besiegen.
Und Peng! Dann hat’s ausgerechnet Johnson und Prince Charles erwischt, der unsichtbare Feind hat hinterhältig zugeschlagen. „Prince Charles coronatet, finally“, titelte die Sun. Bösebös. Orban führt die Riege der Unmenschen an: Er schafft gleich das ganze Parlament ab, regiert per Dekret und lässt Kritiker von der Polizei abführen.
Wenn aus Brüssel wieder einmal eine halbwarme Mahnung kommt, lacht er sich eins, weil er weiß, dass Ungarn nicht aus der EU geworfen werden kann. Vielleicht sollte man ihn doch einmal mit der finanziellen Zange anfassen.
Was uns die Touristiker so gerne verkauften, die Bilder von der trauten Einsamkeit am Strand von Mont Saint Michel im Sonnenuntergang, in Hallstatt, vor dem Tadsch Mahal oder am Times Square – nun sind sie plötzlich Wirklichkeit geworden und für sie zum Albtraum. Denn die Touristiker leben auf Teufel komm raus nicht von der individuellen Einsamkeit, sondern von den Massen. Und schon fangen sie wieder an zu hyperventilieren und schwafeln von Luftbrücken an die kroatischen, griechischen und ballermännerischen Strände. Mit und ohne Gutscheine, mit und ohne Mittelplätze. Luftbrücken? Wie die Rosinenbomber, die Berlin halfen zu überleben, als Stalin es zu erwürgen drohte.

Fast demütig buhlt die Touristikministerin um österreichische Touristen, die lieben Landsleute – wenn die Piefkes ausbleiben, ohne deren Geld gar nichts geht –, doch in Österreich Urlaub zu machen. Die Heimat ist doch auch schön, nicht nur die Malediven, der Strand von Antalya und Luxor. Die unübersehbaren Reihen von Flugzeugen am Boden sprechen ihre eigene Sprache und strafen die munteren Lockangebote Lügen.
Wien macht das großartig, zuerst die Taxigutscheine für Risikogrüppler, jetzt bekommt jede Familie Gastrogutscheine. Es sind schließlich nicht nur Corona- sondern auch Vorwahlzeiten.
Neben dem realen, aber unsichtbaren Virus meine ich auch eine Seuche der Geistesverwirrung wahrzunehmen. Man kann auch political incorrect Schwachsinn sagen. In der Kindheit sangen wir gerne einen Reim: „Schwachsinn, oh Schwachsinn, du mein Vergnügen. Schwachsinn, Schwachsinn, du meine Lust!“ und lachten und brüllten dabei, bis wir heiser waren.
Angesichts der zunehmenden Anti-Corona -Demonstrationen habe ich mich schon gefragt, ob bei denen, die andere „Covidioten“ nennen, neben Bronchien und Lungen nicht auch ein höher liegendes Organ angegriffen ist. Haben die alle Trumps Treatments ein- und seine Taktik angenommen?
Und dazu Umarmen und Händeschütteln, was das Zeug hält.

Der schlimmste Angriff aller Zeiten, schlimmer als Pearl Harbour und 9/11 zusammen, nuschelt der Idiot im Weißen Haus. Aber die Botschaft ist klar: It’s war, baby.
Was ist drin für mich? Zum Teufel mit allen anderen. Egoismus und Feinddenken können auch eine Pandemie sein, konstatiert der immerkluge Ex-Präsident Obama.
Nachgelesen habe ich das in den letzten Wochen wieder einmal in Manzonis Großroman „Die Verlobten“, der die Pestzeiten in der Lombardei (!) vor etwa 400 Jahren so gut wie kein anderer beschreibt. Natürlich auch Decamerone in der Toskana.
Also: It’s war, baby!
Der neueste Gesundheitsschrei, habe ich gerade gelesen: eine Kurkuma-Kur mit Goji-Beeren.
Oje, ob das gut geht? Das eine kommt aus Persien, das andere aus China.
Zusammen mit Allah, Wodka/Raki und Bleichmittel. Alles Gute!

Nachsatz: Was ich hier mit meinem Corona-Tagebuch betreibe, ist Paläontologie, Urzeitforschung, vielleicht auch Archäologie.
Denn was gestern geschehen ist, entzieht sich uns schon heute, geht ein ins Geschichtliche, in eine Vorzeit. Das Vorgestern ist schon blasse Vorgeschichte, die vergangenen Wochen sind schon Mythologie.
„Ich muss mir auf der Spur bleiben. Ich merke es sogar schon im Jetzt, dieses Verrieseln, das Murmeln der Nornen und Schamanen, unaufhaltsam und unerbittlich.
Dass etwas gewesen ist, davon zeugt einzig, was sich davon erzählen lässt. Alles Gewesene ist gewesen wie die Saurier. Es war einmal.“ Gregor von Rezzori in „Mir auf der Spur“

13.5. 20
(Zufall? Am 13. Mai 1914 wurde Gregor von Rezzori in Czernowitz geboren.)

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 20090

Prokrastination

Wer zur Prokrastination, dem notorischen Aufschieben, neigt, lebte in den Wochen des Lock-down recht bequem. Sie hatten sozusagen ein amtliches Alibi für das Nicht-Erledigen, das: Morgen ist auch noch ein Tag, mach ich morgen, sicher, versprochen!
Ich gehöre eigentlich nicht akut zu dieser Gruppe, stelle aber fest, dass ich davon schwer betroffen bin. Was für einen Stress hätte ich mir selbst gemacht, wenn ich ohne Corona das alles abarbeiten hätte müssen. Die Leute wollen schließlich ihr Geld.
So stellte ich eine Entschleunigung, Verlangsamung, Entzerrung des Alltags fest, das mehr nach innen gewendete Leben, und hätte diesen zunehmend angenehmen Zustand fast gelobt, wenn es nicht obszön wäre, ein tödliches Virus zu loben.

Heute, am 4. Mai, als wieder einiges mehr erlaubt ist, habe ich meine persönliche Liste erstellt. Eigentlich erschreckend, wenn man das schwarz auf weiß vor sich sieht.
In der Vor-Corona-Zeit hatte ich drei Bilder zum Rahmen in die Rahmenhandlung gebracht, Schuhe zum Schuster, einige Textilien zur Änderungs-Schneiderin, eine Lampe zur Reparatur in die Lampenschirmwerkstatt; ich habe Bücher bestellt, Frühlings-Neuerscheinungen oder als Ostergeschenke bestimmt. Alles nebenan, höchstens in Schrittweite. Mit meinem PC-Helfer hatte ich einen Termin ausgemacht, einen mit dem Installateur, auch beim Friseur und der Pediküre und zwei mit dem Fensterputzer Schorsch, der gleichzeitig als mein Wohnungshandwerker fungiert. Die schmerzlichste Absage war in meinem Allergie-Institut, das vielversprechend gegen meine Rhinitis vorgehen sollte. Und auch die beschädigte Lesebrille konnte ich nicht mehr zum Optiker bringen.
Mein weiser Perser Abdel von der Wiedner Teppichgalerie sollte in der nächsten Zeit zu mir kommen und ein paar Teppiche zu Reparatur und Reinigung abholen.

Post, Bank und Lebensmittelläden waren ja immer offen, in der Apotheke bezahlte ich das einzig notwendige Medikament vorläufig selbst, um nicht als „Gefährderin“ und Mitglied der „Risikogruppe“ eine Arztpraxis zu belasten. Das Reiseverbot machte mir keine Probleme, da ich für die gesamte Gartensaison keine längeren Reisen als bis auf den Hüttelberg geplant hatte.
Das Erfreulichste war, dass sich meine Buchhandlung schon in der zweiten Woche der Schließung per E-Mail meldete, dass sie an Werktagen zwischen 9 und 12 Uhr durch den Türspalt die bestellten Bücher durchreichen würden, ich das Geld in der Hand abgezählt mit einer Bonbonniere zurück hinein. Sie hätten auch ausgeliefert oder mit der Post zugestellt. So etwas verleiht Sicherheit und Zuversicht in Krisenzeiten: Mir kann nichts passieren. Aber auch ohne die ersehnten Neuzugänge hätte ich in meinen Bücherregalen genügend Lektüre gefunden, noch für Jahre in der Quarantäne. Altes und Neues, Ungelesenes, Anna Karenina, Krieg und Frieden zum wiederholten Mal, der neue Aphorismen-Band von Elazar Benyoetz und die Gedichte von Karl Lubomirski, fast noch ungelesen, warten auf mich. Das verheißungsvolle Buch „Vivaldi und seine Töchter“ von Peter Schneider habe ich auch noch nicht angefangen.
Da liegen noch „Das letzte Ufer“ von Nevil Shute und „Herr Kato spielt Familie“ von Milena Michiko Flasar, angelesen, unterschiedlich interessant.

Dann habe ich noch ein neues Rezept aus der Süddeutschen Zeitung kopiert: ein Hit für partyfreie Zeiten zu zweit.
Bliss Balls:
Datteln, Kokosraspeln, weißer Sesam, Haferflocken fein, Kardamom und ger. Hasennuss, mit ger. Mandelk., ger. Sonnenblumenkernen u. ev. Mandelmus.
Ich hätte sie ja schon gemacht, habe alles da, hab nur beim Hofer keine Kokosraspeln und keinen weißen Sesam gefunden. Jetzt bin ich aber wirklich am Ende. Irgendwo in den USA hat eine Vierjährige durchgedreht, Eltern und Personal angegriffen, weil ihr Lieblings-Hamburger-Laden geschlossen hatte. Aber den von dieser Zeitung angepriesenen Karottenhummus habe ich schon nachgemacht. Rezept ist nachzulesen. Eine Krähe ist aus dem Hof beim Fenster hereingeflogen und hat einen Ast von meinem Paradeiserstöckerl am Fensterbrett geklaut. Die denken, wir sind jetzt alle irre und bemerken das nicht.
Die Schuhe hab ich ebenfalls früh zurückbekommen, repariert, durch den Türschlitz gereicht und bezahlt. Das muss besonders delikat ausgesehen haben, weil ich mich zum bis auf einen Spalt runtergelassenen Rollladen niederknien musste, um die Schuhe entgegenzunehmen.

Für Friseur und Pediküre habe ich mich heute angemeldet, muss aber bis zum 8. Mai warten. PC-Mann, Installateur und Fensterputzer werde ich in den nächsten Wochen nach und nach abarbeiten. Ersatz für saubere Fenster wurden die in der Zwischenzeit erblühten Hofkastanien, frisches Grün mit weißen und rosa Kerzen. Ich glaube, sie belohnen mich und brennen heuer noch prächtiger. Demnächst kommen Flieder und Robinien dazu. Die Amselfamilien sind laut und üben schon für den ersten Ausflug mit den Jungen.
Eine Entdeckung: Der Mensch braucht nicht unbedingt eine Geschirrspülmaschine und kann trotzdem Mensch bleiben. Ich finde das Abwaschen unter fließendem Wasser, das „Pritscheln“, so inspirierend und meditativ, dass ich überlege, den Geschirrspüler überhaupt zu beseitigen. Wie viel Prozent der Weltbevölkerung leben ohne Geschirrspülmaschine? Zum Glück war es nicht der Gasherd, der havariert war, denn kochen am Lagerfeuer auf dem Schönbrunner Parkett, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Als einmal der Fernsehapparat ein Blackout hatte, drehte ich an einer immerwährend besetzten Hotline mit unsinnigen Ansagen fast durch, brüllte einen Mitarbeiter an, als ich doch einmal durchkam, entschuldigte ich mich sofort und schickte einen Stoß mit Merci-Schokoladen an seinen Arbeitsplatz. Dann war die Blackbox wieder da und lieferte die üblichen 140 Kanäle, von denen ich höchstens fünf benütze, wenn ich überhaupt fernschaue. Die beim Schlosser bestellte neue Türklinke fürs Bad wird erst in den nächsten Wochen eintreffen. Das Versandhaus „British Shop“ entschuldigte sich in zwei Briefen so demütig für die „Unterbrechung der internationalen Lieferkette“, als sei es daran schuld. Der bestellte Strohhut „Miss Sunshine“ kann leider erst Ende Mai geliefert werden. Na, das werde ich wohl überleben.
In Restaurants gehe ich schon lange nicht mehr, mir schmeckt nur mein selbst gekochtes Essen. Natürlich blieb auch mein langjähriger Eierlieferant aus, mit den besten und größten Eiern von glücklichen Hühnern aus dem Burgenland. Ist aber auch eine verwindbare Einbuße meiner Lebensqualität. Ich hoffe, es geht ihm gut, denn er gehört tief hinein in die Risikogruppe.

Aber nicht mit einem Kleinen Braunen oder Gspritzten im Café zu sitzen, zum Beispiel am Platzl vor dem Café Worthner, Zeitung lesen und mit lieben Menschen tratschen zu können, das empfand ich als eine schmerzliche Einschränkung – „Herausforderung“. Ich erbreche mich inzwischen bei diesem Wort und kriege Schreianfälle. Und natürlich auch das Verbot des gemeinsamen Wanderns und Radfahrens im Freundes- oder Familienkreis.
Was ich vermisse: die ehrenamtliche Tätigkeit im Kafka-Museum in Kierling und die Kaffeekränzchen in der Gruft mit meinen selbstgemachten Marmeladen und Strudeln. Musste sie vor der Tür abstellen und hoffe, dass sie trotzdem angekommen sind.

Mir hat die Corona-Krise keine Gewalt angetan, ich habe keinen Verlust und keinen Schmerz erlitten. Die genötigte Ruhe auf den Straßsen habe ich als Wohltat erfahren. So könnte es öfter sein, dachte ich beim einsamen Spazieren über den ausgestorbenen Ring und durch die Kärtnerstraße zum leergefegten Stephansplatz. Genau vor 75 Jahren brannte die Stephanskirche nach den Bombenangriffen, drei Tage lang, weil die Wiener Feuerwehr auf Befehl der SS aus Wien abgezogen worden war. Keine immer zu ständigem Konsum auffordernden Schreiplakate mehr, sondern affichierte Aufforderungen zum Zusammenhalten und zu Solidarität, viele von der Regierung, die meisten aber von Großkonzernen, die schon wieder nach unserem Geld gieren. Wie die Corona-Viren nach unseren Bronchien und Lungen.

Trotzdem fühlte sich das Leben fremd an, ich selbst fremd im eigenen Leben, in gewisser Hinsicht unlebendig, wie das letzte, eingefrorene Bild in einem gestoppten Film, das Fotostill eines Sportlers im Weit- oder Hochsprung, das Bild eines Kugelstoßers, Basketballers oder Speerwerfers mit dem eingefrorenen Ball, in dem die Kamera noch den imaginären Schweif des Balls oder Speers eingefangen hat. Ein Leben, geronnen zu einem Punkt, nicht ganz in der Wirklichkeit.

Trotz aller Vergnügungen in meinen vier Wänden, vom Lesen der Bücher und Schreiben solcher bis zum immer erfreulichen Hören von Ö1 und besonders guten Filmen im Fernsehen – da wünsche ich mir für immer ein bissl Corona – bis zur lustvollen Introspektion, fragte ich mich, ob ich nicht auch ohne die familiären Störungen eines Morgens als ein Ungeziefer wie Gregor Samsa aufwachen würde. Denn ein einfühlender Nachbar hatte genau zur Quarantäne-Zeit mit dem Generalumbau seiner Wohnung begonnen. Zwei Stockwerke unter mir dröhnten die Presslufthämmer, dass die Mauern wackelten, die Bohrer und Hämmer, dass die Fußböden zitterten, und das von 7 Uhr früh an bis 17 Uhr. Als ich sie mit Hilfe der Polizei zu stoppen versuchte, lachte mich der Polizist nur aus:
„Reg’n S’sich ned auf, gnä Frau, die derfen des, und zwoa bis 21 Uhr, und jetzt iss erst zwöfe. Des is die Wiener Bauordnung.“ Das ging so drei Wochen, dann begannen die Feinarbeiten mit etwas leiseren Bohrern, wie etwa 20 Zahnärzte in einem Raum, dafür aber dazu noch fünf Hämmer mit dem typischen TokTokTok der Parkettleger und dem singenden Heulen der Kachelschneider.

Als die Arbeiter begannen, vor dem Haus und vor meinem Fenster mit Stein- und Stahlschneidern zu operieren, beschloss ich, ins Gartenhaus zu übersiedeln. Da holte mich der kurze, aber heftige Wintereinbruch mit Schneestürmen und minus 5 bei mir oben am Berg ein und trieb mich zurück in die Stadtwohnung. Dort hatte sich inzwischen ein zweiter Bautrupp über die Hinterhofwerkstatt hergemacht, wieder mit Presslufthämmern und Dachdeckern mit der entsprechenden Lärmkulisse.
Eine wahre Corona-Symphonie. Ich lag einige Tage im Delirium einer kapitalen Grippe (Wintereinbruch!), brachte die Polizei – dein Freund und Helfer – nicht mehr ins Spiel und wartete ergeben auf das Ende, und wenn’s meins wäre.

Eines Tages wachte ich auf und musste wieder an Gregor Samsa denken. Denn in den Fenstern erschienen grün gekleidete Männer, die an Seilen in den Bäumen turnten – Baumschneider.
Eine Gärtnerei Ziegler aus Pottenbrunn machte sich aus einem für mich nicht ersichtlichen Grund über die voll in Blüte und Saft stehenden Kastanien und Ahorne her und schnitt wie wild in den Kronen herum. Welche Idioten machen so etwas denn im Frühling? Wen haben diese Bäume gestört? Und so grob, mitten in die Äste hinein gesägt, dass die jetzt abstehen wie Gebeine in einem geplünderten Skelett.
Nachdem die großen Äste am Boden lagen, setzten die Motorsägen ein, zur Zerkleinerung. Dann rückten die Laubsauger an. Bevor ich ins Delirium fiel, konnte ich noch ein kurzes Bedauern empfinden, dass meine Mordlust nie zur Reife gekommen ist. Was hat das Ungeziefer gemacht, als er im Treppenhaus und im Vorzimmer der K.’schen Wohnung die Untermieter und Gläubiger poltern und streiten hörte? Gregor verzog sich unters Sofa und stellte sich aufs Sterben ein.
Schade, dass ich nicht in der Lage war, dieses Triple-Konzert auf Tonträgern festzuhalten. Ich hätte es sonst beim Festival Wien Modern vorgeführt, als Andenken an Corona. Benannt hätte ich es „Die Wiener Bauordnung in Zeiten von Corona“.

Meine Bilanz: Am wenigsten fehlten mir die neu gerahmten Bilder, die Textilien und die Art- Deco-Lampe. Hab sie alle bis jetzt nicht abgeholt. Ich schwöre es, zum Gartencenter fuhr ich erst eine Woche nach der Wiedereröffnung, aber wirklich nur deswegen, weil meine Rosen in der Trockenheit dringend einen Dünger brauchten. Ein paar Lavendelstöcke mussten auch mit. Schließlich gartle ich am Rosenhang im Rosental. Nomen est omen, ich kann nichts dafür. Möbel, Geschirr und Textilien, seien es Klamotten oder Teppiche, brauche ich für die nächsten drei Leben keine mehr. Dafür habe ich viel aussortiert und zur Carla am Mittersteig und zur Volkshilfe in der Laxenburgerstraße gebracht. Die Schneiderin hat übrigens ihre Produktion auf Gesichtsmasken aus bunter Baumwolle umgestellt.

Das Fehlen der Druckerpatrone und der Batterie für die Kamera ist lästig, aber man kann durchaus ohne sie leben, wobei mir noch dazu das Druckerpapier ausgegangen und der Libro geschlossen ist. Dass das legendäre Haushaltswarengeschäft „Zur goldenen Kugel“ wieder aufgesperrt hat, freut mich ganz besonders, weil allein die offenen Türen, die Ständer und Wühlkisten entlang dem Gehsteig, das menschliche Gewurl davor, einen Hauch von Normalität verströmen. Die Cafés links und rechts davon und gegenüber müssen noch im Dorncorönchenschlaf warten.
Das dürften viele Menschen so empfinden, denn das Gedränge drinnen in der goldenen Kugel wäre auch in Vor-Corona-Zeiten beängstigend gewesen. Baby-Elefanten gehen sich da nicht aus. Viele Sonderangebote, von Blumenerde, Grassamen und Kakteendünger bis zu Riess-Töpfen, Plastikdosen, Grillbesteck und -kohle. Hoffentlich überleben sie das! Das Erste bei mir war ein Großeinkauf von Gemüse- und Blumensamen, schließlich ist Pflanzzeit, und der ganze Sommer im einsamen Rückzugsort vor den Toren Wiens hängt davon ab. Decamerone lässt grüßen. Die Geschichten dazu werden am Abend in den PC gehämmert.

Schön und interessant, wie man in einer Ausnahmezeit die wahre Hierarchie der Dinge und der Bedürfnisse, seine Laster und Tugenden, seinen Verzicht und Luxus vor Augen geführt bekommt.

Wien, 4.5.20

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen ... | Inventarnummer: 20086

Corona-Tagebuch: Maskenball und Taxifahrer

2. Mai 20, der Tag nach der Befreiung

Wer einen Garten hat, ist meist ein Besessener. Ich dilettiere nur, aber die Leidenschaft ist sicher nicht kleiner. Noch dazu, wenn es März ist und die Frühjahrsarbeit wartet. Schließlich hängt der Rest des Jahres davon ab, die Schönheit, die Freude, der Ertrag. In diesem Jahr ohne Winter habe ich schon früher begonnen. Das erste waren Aufräumarbeiten, bei mir vor allem der Kampf gegen die „Nadelhölle“, die mir eine sehr hohe und alte Föhre auf meinem Grundstück bereitet. Der fast immer wehende Westwind schüttelt dazu noch viele Bockerl und Äste vom Baum. Da kam Corona in unser Leben und die staatlich verordnete Ausgangssperre für die „Risikogruppe“, zu der ich altersmäßig eingeteilt wurde. Niemand hat gefragt, wie alt ich mich fühle, wie gesund oder krank ich wirklich bin, ob Krankheit oder Beeinträchtigung zu einem erhöhten Risikofaktor führen – für mich selbst oder andere.
Weil ich gesund bin und keine Vorerkrankung aufweise, habe ich mich keinen einzigen Tag eingeschränkt. Im Rucksack führte ich als Camouflage immer Lebensmittel und Medikamente mit mir, sollte ich polizeilich kontrolliert werden. Also waren schon zwei der vier Ausnahmebedingungen erfüllt: Lebensmittel einkaufen und zur Apotheke gehen dürfen. Vermummt bin ich schon lange vor Covid-19 herumgelaufen, weil ich eine unerkannte Allergie habe, allgemein Rhinitis genannt, mit der die Nase dauerrinnt.

So war das Aufkommen der Masken und die Maskenpflicht geradezu eine Erlösung für mich (Motto: Always look on the bright side of life). Die Schals um Nase und Mund rutschten immer und waren entsetzlich heiß und feucht mit dem Ballen von Taschentüchern darin. Oft dachte ich nach, wie man so etwas wie bei den Teekannen für die Nase machen könnte, einen Tropfenfänger, dieses Schaumgummiröllchen, das bei Tante Paula mit einem Gummiband um den Teekannenschnabel angebracht wurde. Aber meine Nase hat nun einmal nicht die Anatomie eines Teekannenausgusses.

Als zweiten Vorteil der Maskenpflicht empfand ich, dass ich nicht mehr allein mit verhülltem Gesicht herumlief. Meine albanische Änderungsschneiderin von nebenan, Miranda Martini – sie heißt wirklich so oder es steht zumindest so auf ihrem Geschäftsschild – stellte sich schnell auf die Produktion von Masken um und bot eine bunte Auswahl von Baumwollmodellen in ihrer Auslage an. Sie hat sie auf einem Baumast aufgehängt – die Osterdekoration dieses denkwürdigen Jahres. Ich kaufte gleich zehn Stück zu je 10 € und hatte die originellsten nicht nur selbst im Gesicht, sondern als Ostergeschenke parat. Natürlich nicht selbst übergeben oder im Osternest versteckt, sondern mit der Post verschickt.

Jaja, die Masken, das wird noch einmal ein Thema für Soziologen und Modehistoriker werden, der Maskenball von 2020. Da ich viel mit den Öffis fahre, sehe ich mir die Modelle gerne an. Abgesehen von den einfachen, türkisen (niemand denkt dabei an die Kanzlerpartei) Supermarktmasken aus China, gibt es viel Individualität zu bemerken. Von den alten Palästinensertüchern bis zu Rapid-Schals, von Alpenvereins-Blümchentüchern bis zu den schwarzen Rocker- und Bikermasken – fast nichts kommt nicht vor. Einige Totenkopfmasken habe ich schon gesehen oder den zugenähten Mund von Hannibal Lecter. Dazu Mickey Mouse, Spiderman und Hexenzähne, als sei der abgesagte Fasching in den März und den April verrutscht. Exotisch wirkt auf mich der Anblick von Kopftuchfrauen, besonders wenn sie Brillen tragen, über der Maske noch Kopfhörer aufhaben und aus den Ohren Kabel baumeln, Riesenameisen nicht unähnlich. Einmal sah ich in der U-Bahn einen Typ mit einer Gasmaske.

Natürlich gibt es auch die kleine Gruppe der Vermeider, die in den Öffis die Masken zusammengeschoben unter dem Kinn tragen. Erinnert mich an die Einführung der Gurtenpflicht – wann war das? –, als manche Autofahrer pro forma den Gurt nur lose um den Oberkörper gelegt hatten. Als die polizeilichen Kontrollen in der U-Bahn besonders intensiv wurden – das Osterwochenende – stieg ich vollständig auf Taxi um. Begünstigt durch die Gemeinde Wien – Wahl steht bevor –, die an die Teilnehmer der Risikogruppe kostenlose Gutscheine für 50 € ausgab. Mein Nachbar, 85 und Autofahrer, gab mir seine dazu. E-Mail geschrieben und nach vier Tagen zugeschickt bekommen. 20 5-€-Gutscheine, blassgelb, die irgendwie an Lebensmittelkupons aus historischen Dokumentationen erinnern.
Als diese verbraucht waren, beschloss ich, das leidende Taxi-Gewerbe privat zu unterstützen und ließ mich mercedesmäßig zu meinem Garten hinausschaukeln. Außerdem hatte ich immer viel Gepäck dabei: Übersiedlung in die Hütte nach dem Winter, neu gekaufte Pflanzen, Blumenerde, Rasensamen, Schneckenkorn, Konserven, Klopapier.

So kam ich als leidenschaftliche Öffifahrerin in kurzer Zeit mit dem bunten Völkchen der Taxifahrer in Kontakt.
Am Ostermontag, einen Tag vor der Einführung der verpflichtenden Maske, trug einer keine. Ich hielt die Türe auf und bellte hinein: Maske, bitte!
Er: Erst morgen.
Typ Pakistani, er tippte mit seinem Finger wortlos gegen die Stirn, der Vogel, zumindest so viel Wienerisch hat er schon gelernt.
Ich: Okay, dann fahre ich nicht mit Ihnen.
Schlug die Tür zu und holte meine Bagage wieder aus seinem Kofferraum heraus und ging zum hinter ihm stehenden Wagen. Der war leider kein Mercedes, sondern ein klappriger Japaner. Auch dieser Driver trug keine Maske. Also zum dritten, ein geräumiger VW, geht auch. Der hatte die Maske unterm Kinn und die Sonnenbrille über der Stirn. Auf der bunten Gratiszeitung, die er neben sich liegen hatte, stand in Riesenlettern „Ab morgen – Österreich maskiert!“ Ein paar Tage später traf ich wieder auf den Pakistani, jetzt hatte er schon eine Maske auf.

Eine andere Taxi-Fahrt von Hütteldorf zu mir nach Hause brachte mir hohen Gewinn.
Ein junger, asiatisch aussehender Mann konnte relativ gut Deutsch, und wir kamen ins Gespräch. Ich frage immer ausländische Taxifahrer nach ihrer Herkunft, mir wurscht, ob political correct oder nicht, ich bin neugierig. Einmal Journalistin, immer Journalistin. Und meistens freuen sie sich, wenn man sie nach ihrer Herkunft fragt, das ist meine subjektive Beobachtung.
Das Gespräch begann mit meinem Garten, wo ich gerade ein paar Heidelbeersträucher gepflanzt hatte.
Ah, Heidelbeeren, die macht meine Frau auch immer, gut für Blut und noch viel mehr.
Er kicherte und griff sich zwischen die Beine.
Er bezeichnete sich als Ainu. Zufällig wusste ich, was die Ainu sind. Doch zufällig ist nichts, aber ich wusste, dass die Ainu die Urbevölkerung der nördlichsten Insel Japans Hokkaido sind und auch der Kurilen. Dass der Zweite Weltkrieg zwischen Russland und Japan wegen der Kurilen offiziell noch immer nicht beendet ist. Noch dazu hatte ich kurz davor auf arte eine Doku über „Japans wilde Inseln“ gesehen, Hokkaido im Mittelpunkt. Als ich auch noch die Erinnerungen und die Bilder auspackte, die Fernseh-Bilder von den in warmen Naturbecken planschenden Makaken, den japanischen Schneeaffen, die einander lausen und kosen, und auch noch von den aus Sibirien einfliegenden Kranichen und ihren Brauttänzen erzählen konnte, da ließ er das Lenkrad los und klatschte vor Freude in die Hände, dass er fast die scharfe Linkskurve beim Amtshaus in der Schönbrunnerstraße zur Pilgrambrücke nicht geschafft hätte.

Wegen des Kurilen-Problems zwischen Russland und Japan habe ich mich mit den Ainu beschäftigt und wusste, dass sie nach der sowjetischen Besetzung versklavt und fast völlig ausgerottet wurden. Als ich ihm meine Erinnerungen an die TV-Bilder schilderte, war er so begeistert von seinem Fahrgast, dass er kein Geld verlangen wollte und mich zu sich, seiner Frau und zu Heidelbeersaft einlud. Aber ich entstieg seinem Gefährt an der Waaggasse und zahlte ihm dagegen den doppelten Fuhrpreis. Scheiß drauf, das muss auch noch drin sein in diesen ungewöhnlichen Zeiten. Er war schließlich der erste Ainu meines Lebens.
Er hat mir noch gesagt, dass er vier Stunden am Platz gestanden ist ohne einen einzigen Fahrgast. Jetzt fährt er nach Hause.

Wieder eine Fahrt zurück ins Zentrum. Zwar kein Mercedes, dafür aber ein junger Mann, Wiener Türke mit Maske. Er spricht perfekt Wienerisch, schätze Ottakring.
Eigentlich hat er Architektur studiert. Warum nicht weiter? Familie, geheiratet, gleich Kind, brauchte Geld. Aber er will immer noch Architekt werden, vielleicht aber auch erst mein Sohn, lacht er. Die Art und Weise, wie er das Lenkrad berührte, unmerklich mit den Fingerkuppen lenkte, als würde er einen Kinderkopf streicheln, da sah ich ihn mit Bleistift , Zirkel und Lineal, den Architekten.
Worüber wir zu reden angefangen haben, weiß ich nicht mehr so genau, ich glaube, ich lobte ihn für seine gute und intelligente Fahrweise, geschmeidig und flott, ohne dass er jemals die Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 überschritten hätte. Alle Kanaldeckel und Schienen überfuhr er ohne Erschütterungen. Ich hatte ja nun schon genügend Driver auf meinen Wegen dahin und dorthin erlebt, aber dieser war genial. Er schaffte die Strecke nicht nur in viel kürzerer Zeit, schlängelte sich elegant durch den mäßigen Verkehr wie ein Fisch im Schwarm, sondern schaffte es auch noch auf den Niedrigstpreis von 15,20 €, während die anderen immer um die 20 verlangten.

Ein Fahrer aus Sri Lanka mit Sikkh-Turban, der in Simmering wohnt, war noch nie so weit im Westen von Wien.
Gar nicht sattsehen konnte ich mich an seinem Aussehen. Er trug einen himmelblauen Turban und eine gelbe Jacke, wie sie Krone-Verkäufer anhaben, ein Paradiesvogel. Das Gesicht war fast vollständig zugewachsen mit einem graumelierten Bart, der ihm weit auf die Brust reichte. Vor Mund und Nase hatte er vorschriftsmäßig die Maske gespannt, die musste aber zwergnasemäßig groß sein, weil aus den Falten ein Riesenhöcker ragte. Sein Bart war so breit, dass die Nase erweiterte Flügel zu haben schien.
Aber je weiter wir ins Rosental fuhren, desto unruhiger wurde er.

Sind wir wirklich noch in Wien?
Er hatte Angst, der Tarif ins Bundesland ist anders.
Ja, das ist Penzing, Hütteldorf, 14. Bezirk, das Rosental.
Er manipulierte an seinem GPS am Mini-Bildschirm herum und fand das Rosental nicht.
Seines sagt ihm Rosentalstraße, ich sage Rosentalgasse.
Ich immer nur Simmering und Donaustadt.
Ich bemühe mich: Linzerstraße, Rosental, Dehnepark, Satzberg und links steil hinauf ein paar Kurven in eine Gartensiedlung.
Nicht Niederösterreich? Immer Wien?
Ja, immer Wien, 14. Bezirk, der ist so grün.

Als ich am Rosenhang seinem Gefährt entstieg und er mir mit dem Gepäck half, schaute er sich um, all die blühenden Obstbäume, der Flieder, die Forsythien in den Gärten, hellgrüne Hügel, die schmucken Häuschen, Villen und Pools, er drehte sich mehrmals um sich selbst und kam aus dem Staunen nicht heraus.
Ist teuer hier?
Ich weiß nicht, ich miete.
Glück gehabt.
Dabei hat er nicht einmal die dramatischen Felsenklippen und den Silbersee am Satzberg gesehen, nicht den „Vatikan des Wienerwaldes“, die über dem Waldrand thronende goldene Kuppel der Otto-Wagner-Kirche, die ihn vielleicht an eine Pagode seiner Heimat erinnert hätte.
Ja, wirklich Glück gehabt, denke ich, als ich mein Gepäck zu meiner Hütte schleppe.

Die gesprächigste Fahrt machte ich mit einem Bosnier, als der er sich sofort vorstellte.
Odakle ste?
Da riss es ihn herum, als hätte ihn jemand ins Genick geschlagen.
Er klappte den Rückspiegel herunter und holte einige Fotos hervor.
Das ist mein Haus in Velika Kladuscha.
Ein großes, dreistöckiges, noch unverputztes Haus mit rotem Ziegeldach zwischen grünen Hügeln, im Tal ein Fluss, das ist die Una, dort gibt es viele Fische, wunderbare Wälder, er kommt ins Schwärmen, Heimat eben.
Das Haus hab ich selbst gebaut. Jetzt leben nur meine Eltern dort. Aber ich komme oft auf Besuch, muss noch weiterbauen. Frage mich, nur für wen? Werden seine Kinder dorthin zurückkehren und dort leben wollen?
Er sprach fast perfektes Deutsch. Knapp nach Ausbruch des Krieges 1991 ist er nach Deutschland gegangen und hat am Bau gearbeitet, erzählt er, später nach Wien und ist schon lange Fahrer bei 40 100.

Ich erzähle ihm, dass ich Erinnerungen an Velika Kladuscha habe, ein Großdorf gleich hinter der kroatisch-bosnischen Grenze. Der Krieg war noch nicht voll ausgebrochen, aber Velika Kladuscha hatte sich schon in drei Zonen geteilt. Am Dorfrand, von Norden kommend, hatten sich kroatische Einheiten festgesetzt, die Mitte mit Burg und Moschee wurde von Bosniaken gehalten, der südliche Rand von den Serben. Wir mussten dreimal verhandeln, um weiter nach Sarajewo zu kommen. Später kam noch eine vierte Front dazu, die Truppen von Fikret Abdic, dem früheren Direktor des mächtigen Konzers „Agrokomerz“.

Mein Fahrer schnaubte. Ja, alle waren verrückt, damals. Ich wollte da nicht mitmachen und bin abgehauen. Alle sind Lügner, alle betrügen einander und die ganze Welt. Glauben Sie nie etwas, was Ihnen ein Jugo sagt. Ihm auch nicht? Wie oft habe ich solche Schutzbehauptungen schon gehört. So richtet sich jeder seine Vergangenheit zurecht, damit er irgendwie weiterleben kann. Vom Alter und der Statur her könnte er ein Kämpfer gewesen sein, auf welcher Seite auch immer.
Das war meine bisher letzte Fahrt ins Rosental hinaus, mit einem Taxi, da wir aus der Quarantäne entlassen worden sind. Zumindest meine Kulturstudien werde ich vermissen.

Wien, 2. Mai 20

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 20082

Corona-Hausarrest: Tag 36 der Ausgangsbeschränkung

Als die Krisenregierung immer häufiger den Begriff der „Risikogruppe“ gebrauchte und ich feststellte, dass ich allein auf Grund meines Geburtsjahres auch dazugehöre, meinte ich, zum ersten Mal in meinem Leben fremddefiniert und in eine Schublade geschoben worden zu sein.
Stimmt nicht, fiel mir eines Tages auf. Alles hat’s schon einmal gegeben, und das sehr früh, wieder wegen meines Alters. Als Kind und Jugendliche soll ich wild, schlimm und unerziehbar gewesen sein, so die Familienerinnerung, die nur zum geringsten Teil mit meiner eigenen übereinstimmt. An das „Gfrast“ und den „Flederwisch“ kann ich mich noch erinnern als Anreden, ein Staubwedel, der an allem dran ist und niemals stillsteht.

Die schlimmen Kinder bekamen einen „Hausarrest“. Das war eines der beliebtesten Erziehungs- bzw. Bestrafungsmittel meiner Eltern, die sich streng von körperlicher Züchtigung fernhielten. Wie viele Tage oder Wochen meiner Kindheit und Jugend ich in Hausarrest verbracht habe, weiß ich nicht, und es gibt niemanden, den ich fragen oder der das nachrechnen könnte. Am ehesten vielleicht mein jüngster Bruder F., der angeblich noch schlimmer war als ich und noch viel mehr Zeit in Hausarrest gesessen ist. Die jüngere Schwester H. bekam meiner Erinnerung nach nie einen Hausarrest, sie war die „Sanfte“, von der Mutter „die stille Dulderin“ genannt. Eine Brandmarkung.

Eines erinnere ich sehr deutlich – ich fühle es sogar bis heute –, dass der Hausarrest für mich keine Strafe war, sondern eine ersehnte Erlösung, Befreiung vom Rest der Familie, vor allem von den lästigen jüngeren Geschwistern und den zynischen älteren Brüdern, die ihr Mütchen oft an den kleinen Schwestern kühlten. Zweifellos herrschten zwischen uns Geschwistern innige, aber sehr komplizierte Beziehungen.

Kontaktsperre – social distancing oder social containment – war in unserem Haus natürlich nicht möglich. Abstand war ein Luxus. Wir hatten ein sehr kleines Bad, einen ins Vorzimmer eingebauten Holzverschlag von nicht einmal zwei Quadratmetern Ausmaß: eine Waschmuschel und eine Tasse mit Sitzbad. Es gab außer den Gemeinschaftsräumen zwei Mädchenzimmer für vier und ein Bubenzimmer für zwei. Nur der älteste Bruder H. hatte das Privileg eines Einzelzimmers, als er Student der Rechtswissenschaften wurde. Er lebte praktisch in freiwilliger Einzelhaft mit seinen Gesetzes-Wälzern und Skripten in einer ausgebauten Dachluke, Mansarde genannt, aber immerhin allein. Eine Türe hinter sich zumachen können, das war sein Privileg als vielgeliebter Erstgeborener. Niemand wagte es, den Studenten zu stören. Ich erinnere mich, wie er einmal aus seiner Höhle im Dach herabstieg unter das Jungvolk und einen Stoß Skripten auf die Küchenwaage legte: „16 Kilo oder acht Kaiserziegel, das alles muss ich noch in diesem Semester lernen.“ Da wusste ich schon als Elfjährige, dass ich nienieniemals Jus studieren würde.
Was beinhaltete der Hausarrest? Verbot von allem, was nicht unmittelbar Schule war. Musikunterricht, Jungscharstunden, Radfahren, Turn- und Schwimmverein und natürlich Treffen mit Freundinnen, innerhalb oder außerhalb des Hauses. Bei den Brüdern kam noch die Kontaktsperre zu den Pfadfindern und dem Fußballclub dazu.

Wofür bekam man einen Hausarrest? Für die anderen Geschwister kann ich nicht sprechen. Für mich erinnere ich mich vor allem fürs Zuspätkommen. Zeiten nicht einzuhalten, z. B. zu Mahlzeiten oder zu zugewiesenen Diensten, war ein Sakrileg, fast so schlimm wie die Erbsünde. Das brachte die Familienkonstruktion durcheinander. Einmal bekam ich Hausarrest, weil ich das neue Kleid meiner jüngeren Schwester widerrechtlich angezogen und ausgeführt hatte. Ein anderes Mal hatte ich ein Lieblingsbuch vor ihr versteckt, das zu lesen sie meiner Meinung nach wegen ihres Alters nicht berechtigt war.

Unter der Matratze, die Mutter fand es, und ich las andere Bücher weiter im Hausarrest.Widersprüchlich war dagegen die Befehlsausgabe zu gemeinsamen Unternehmungen wie etwa Sonntagsmessen oder Ausflügen. Wie gerne wäre ich da im Hausarrest geblieben, nicht so sehr, weil ich etwas gegen Messen oder Wanderungen gehabt hätte. Aber einmal für ein paar Stunden das ganze, gar nicht kleine Haus und den Garten für mich allein zu haben, wäre ein Traum gewesen, eine Belohnung und keine Strafe. Einmal unbeobachtet im Schreibtisch des Vater zu stirl’n, wo alle Familiendokumente gelagert waren. Einmal in Ruhe den „Giftschrank“ mit den verbotenen Büchern durchsuchen zu können, den Index librorum prohibitorum wie die Altphilologeneltern diese versperrbare Abteilung der Bibliothek nannten.

So war’s wahrscheinlich auch von der Erziehungsobrigkeit gedacht, mit ihrem absoluten Credo: Wir sind eine Familie und machen alles gemeinsam, es gibt keine Extratouren. Basta! Bei uns eher wie das Amen im Gebet, so ist es. Keine Widerrede! Das war das letzte Machtwort von Papa, wobei seine Unterlippe und sein Kinn gefährlich zitterten, wovor ich mich entsetzlich fürchtete. Es bedeutete, dass er den Zornesausbruch gerade noch unter Kontrolle halten konnte und das große Donnerwetter vorüberging. Der alleswissende und allessehende Gott konnte nicht schrecklicher zürnen. Wie viele Nächte habe ich von diesem Auge im goldenen Dreieck mit den Strahlen herum albgeträumt, immer präsent über dem Hochaltar von St. Stephan.

Ich weiß nicht, wie es den anderen Geschwistern erging, ich zumindest litt ständig unter dem Mangel an Einsamkeit. Wenn es das schon gegeben hätte, würde ich Beratung und eine Hotline für das Gegenteil gebraucht haben, obwohl im Haus nicht wirklich räumliche Enge herrschte. Aber die ständige Anwesenheit von mindestens neun Personen an einem Ort, das Kommunizierenmüssen, die geschwisterliche Konkurrenz, die Fraktionsreibereien, das Streiten, das Schergeln – oberösterreichisch für Petzen, Denunzieren – der hohe Lärmpegel, das Gewurl und Gerangel, die Streitereien, das Ausgesetzsein dem Hänseln und den fragwürdigen Witzen der älteren Brüder, genannt „Aufziehen“, das ständige Nachdenken über Durchsetzungsstrategien und Koalitionen. Und dann gab es noch das immerwährende Teilenmüssen, angefangen bei den Zimmern bis zu Kleidung, Büchern, Spielsachen, Musikinstrumenten, Sportgeräten, einer Geburtstagstorte oder einer Tafel Bensdorp-Schokolade durch sieben.
Ich erinnere mich ganz genau daran, wie ich zum 13. Geburtstag eine Tafel Schokolade bekommen habe und nach dem Teilen ein halbe Rippe für mich übrig blieb. Da beschloss ich, für den Rest meines Lebens auf Süßigkeiten zu verzichten, was bis heute anhält.

Keine Geheimnisse, alle wussten immer alles von den anderen, auch wenn wir Kleinen oft nicht interpretieren konnten, was bei den Großen vor sich ging. So wusste ich zum Beispiel lange nicht, was die Mutter meinte, wenn sie die großen Brüder „Schlurf“ oder „Büücha“ nannte. Noch schlimmer war ihre höllische Prophetie, wenn sie ihrer Meinung nach nicht gut genug lernten: „Aus dir wird no a Prolet.“ Und der Mutter war nichts gut genug als ein Sehr gut.
Die mangelnde Empathie der Mutter mit den Kleinen, die eher über den Witz und die Schlagfertigkeit der klugen Brüder lachte, als dass sie unsere Verletzlichkeit schützte. „Geh, sei ned so ang’rührt, du ang’rührte Leberwurst, geh, sei ned so empfindlich, du Mimose, du.“
Lange dachte ich, Mimose sei ein arges Schimpfwort.

So weit ich mich erinnern kann, hat sich nur meine nächstältere Schwester L. diesem verordneten Herdenauftrieb entziehen können. Sie blieb immer ruhig und am Rande, mischte sich nie ein in die Massenveranstaltungen oder Massenstreitereien, sondern ging ihren einsamen Vergnügungen nach. Man sah sie nie anders als in ein Buch vertieft, wobei sie die beneidenswert dicken Zöpfe zu Kringeln drehte, oder sie saß in splendid isolation über ihr Strick- oder Stickzeug gebeugt, oder sie machte sich in der Küche zu schaffen. Sie hatte sich dazu ein Privileg erobert und entwickelte sich zu einer talentierten Konditorin. Ob es ihr Genie war oder Strategie oder eine innere Stärke, ich weiß es nicht. Sie hatte sich den großen Bruder H. – sechs Jahre älter als sie – als einzige Ansprechperson auserwählt.
Und weil der grundsätzlich nicht mit den Kleinen kommunizierte oder uns nur wie einen lästigen Mückenschwarm wahrnahm, war L. fein raus. Sie strickte Pullover und Schals für ihn, bestickte Bettdecken und Kissen mit Kreuzerlstichen auf grobem Leinen. Beim Zählen der Fäden bewegte sie die Lippen, leckte den Faden, und niemand kam auf die Idee, sie dabei zu stören.

Oder sie bedachte den angebeteten H. mit Kuchen oder sonstigen Extra-Schmankerln. Er ließ ihre Gunst und Anhänglichkeit gnädig über sich ergehen. L. übernahm sogar „Bubendienste“ wie das Schuhputzen für ihn, während wir übrigen Mädchen zum Küchendienst abkommandiert waren. Sie übte ihre Rolle so perfekt und selbstverständlich aus, dass das nie hinterfragt, sondern allgemein akzeptiert wurde. Ich kann mich an keinen Streit mit L. erinnern, weder direkt noch im Rudel. Aber vielleicht war es einfach die Gunst der Geburt; sie befand sich bei sieben Kindern als viertes genau an der Schwelle zwischen den Großen und den Kleinen. Die Geschwisterforschung hat vielleicht eine Antwort darauf. Sie stand auch an einer historischen Zeitschwelle, vor und nach 68. Wie gerne wüsste ich, wie es L. jetzt unter den Corona-Bedingungen geht, in den Niederlanden, wenn auch sie eingesperrt in ihrem Haus sitzt, mit Mann und Hund, ohne Kontakt zu Kindern und Enkeln. Ob ihr ihre Kindheitsgewohnheiten heute helfen?

Ich mag etwa zehn oder elf gewesen sein, als ich einen Platz für mich allein fand, in der Pfarrkirche von St. Stephan, genau gesagt im Kreuzweg. Ich setzte mich in die schmale Bankreihe an der rechten Seite, genau zwischen die 5. und 6. Station, zwischen Simon von Kyrene, der Jesus das Kreuz tragen half, und Veronika, die ihm das Schweißtuch reichte.
In unserer sehr katholischen Familie spielten die Namenstage eine größere Rolle als die Geburtstage. Es war also sehr wichtig, welchen Namenspatron man hatte und dass er unbedingt ein Heiliger sein musste. Da waren Agnes, Bernhard, Elisabeth und Franz fein raus, weil sie gleich mehrere Heilige hatten. Das war die Adelung. Meine Veronika war nur eine Selige, also dritte Wahl.
Sogar Hedwig mit ihrer polnischen Heiligen Jadwiga spielte noch in der zweiten Liga. Wie der heidnisch-germanische Helmut aus dem 40er Jahr dahineinkam, kann ich nicht erklären, ebenso wenig, wer sich diese Konkurrenz ausgedacht hatte. Aber ich tippe auf die Mama, die mochte solche Spielchen. Also, wenn ich wieder einmal gekränkt war, weil ich gehänselt worden war: „Ätsch, du hast ja nicht einmal eine Heilige“, flüchtete ich zu ihrem Seligenbild in der 6. Station. Ich fand sie so schön und edel, dass mir alle Heiligen der Geschwister gestohlen bleiben konnten. Nie konnte ich mich entscheiden, wer Jesus mehr geholfen hat, Veronika oder Simon von Kyrene. Diesen einfachen Bauern mochte ich sehr und fand seine Hilfe, wenn auch von den römischen Söldnern erzwungen, eine schöne Tat. So vergaß ich meinen Kummer und kehrte getröstet in unser Massenquartier zurück.

Schon bevor ich Virginia Woolf kennenlernte, wusste ich, dass mein erstes Etappenziel beim Erwachsenwerden ein Zimmer für mich allein sein würde. Ich habe es knapp vor der Matura erreicht, als meine älteste Schwester A. heiratete und L. ins Schwesternheim des Spitals zog, wo sie arbeitete. Mit den Hausarresten hatte es ein Ende, als sich herausstellte, dass der Jüngste im Hausarrest noch – oder erst recht –  mehr „angestellt“ hat. Was das Substitut für den Hausarrest wurde, weiß ich nicht mehr. Aber vielleicht war es auch so, dass wir allmählich aus dem Alter des Schlimmseins und des Karzers herauswuchsen und sich die Erziehungsobrigkeit einen anderen, altersgemäßen Maßnahmenvollzug ausdachte. Man kann bei so bildungsaffinen Altphilologen- plus Germanisteneltern davon ausgehen, dass es erzieherisch höchst wertvoll war, das Werk eines Klassikers in der bestimmten Karzer-Zeit zu lesen, kurz „Die Perser“, länger „Don Quichotte“ oder einen Aufsatz zu schreiben über das Problem von „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ oder das „Nicht zu hassen, denn mitzulieben bin ich da“ der Antigone.

Meine Eltern waren davon überzeugt und hatten es sich zum Programm gemacht, dass Erziehung hilft und Wissen Macht ist. Als Jugendliche rebellierte ich heftig dagegen, aber inzwischen habe ich eingesehen, dass sie uns nichts Besseres mitgeben hätten können.
Nun wünsche ich mir auch so ein „Herauswachsen“ aus der Corona-Krise, aus dem Corona-Hausarrest, mit allen Kurzarbeitern und Arbeitslosen, allen Eltern, Sportlern, mit dem Buchhandel und der Gastronomie.
Und was hilft mir bei alledem? Schon vor Corona habe ich mir überlegt, ob das Aufwachsen in einer Großfamilie nicht nur den Vorteil hat, dass man später, wenn man älter ist und das schätzen kann, nicht nur viele Verwandte hat, sondern in der Kindheit und Jugend schon so viel  – oder zu viel – Familie bekommen hat, dass man später weniger braucht. Ich denk mir, das ist so ähnlich wie mit der Milch, die brauche und trinke ich auch nicht mehr seit Jugendtagen, oder nur in Milchkaffeedosen.

Aber ich gebe zu, dass es in meiner Geschwisterschar auch das gegenteilige Beispiel gibt – die, die gar nicht genug von Familie bekommen können, viel eigene gemacht haben und nun zwischen zwölf und vier Enkel haben, die sie seit fünf Wochen nicht mehr sehen dürfen. Interessant finde ich, dass es die Vor-Achtundsechziger sind, die das elterliche Familienmodell übernommen haben.

Und bei mir die Bestärkung meiner Jugenderfahrung, dass das Alleinsein nie Einsamkeit war, sondern etwas Erstrebenswertes, Positives, ein Privileg. Ich werde nie eine Hotline brauchen, außer für mein Handy oder das TV-Gerät. Noch dazu, wenn man den Großteil seines Tages ohnedies damit zubringt, allein an seinem PC zu sitzen, zu schreiben und zu lesen. Lange vor der Krise hatte ich schon den Corona-Blick, schaute schon aus dem Fenster auf die Kastanien und Ahorne im Hof. Das ist nicht nur ein Genuss, sondern geradezu Notwendigkeit, Arbeitsvoraussetzung, in absoluter Stille, ohne äußere Ablenkungen, in notorischer Sauberkeit und Ordnung rund um den Schreibtisch. Bei mir darf höchstens Ö1 an den Schreibtisch.

Neulich – aber noch vor Corona – fragte mich eine freundliche Gartennachbarin über den Zaun hinweg, als sie mich wieder einmal allein in der Erde buddeln, jäten und Blumenzwiebel eingraben sah, warum ich denn nie Besuch habe. Oh Gott, diese Vorstellung jagte mir so einen Schreck durch die Glieder, dass mir die Gartenkralle aus der Hand fiel. Leute, Freund, Freunde, Familie in meinem Gärtchen? Unvorstellbar. Die könnten mich ja von der Arbeit abhalten, bewirtet werden oder gar mitreden wollen, alles besser wissen, diskutieren und Vorschläge machen. Es schauderte mich so sehr, dass ich mich in meine Schrebergartenhütte verzog und zur Beruhigung einen tiefen Zug aus der Zigarette nahm, die ich eigentlich abgelegt hatte.
Ich erlaube das ja auch niemandem beim Schreiben. Und da gibt es bei mir fast keinen Unterschied. Das Schreiben ist meine Lebensform ebenso wie das Garteln. Erst das jeweilige Ergebnis kann und will ich präsentieren und mit anderen teilen. Zum Schreiben lade ich ja auch niemanden ein, das Schreiben diskutiere ich ja auch mit niemandem außer meinen inneren Ichs. Das sind viele, und mir wird nie langweilig mit ihnen.
Aber erklären konnte ich das der empathischen Nachbarin nicht, einer jungen Frau mit zwei Kleinkindern zu Hause, noch in Karenz. Da übt sie sich schon lange in Isolation, in einem schmucken Haus in einer Gartensiedlung, hoch oben am Hüttelberg über dem Stadtrand, ein Rosental und ungefähr vier Kilometer von jeder Zivilisation entfernt.

Unter meinen persönlichen historischen Voraussetzungen ist also die neu gewonnene Zugehörigkeit zu einer „Risikogruppe“ mit all ihren verordneten Einschränkungen kein Problem für mich, keine Herausforderung, wie man neuerdings sagt, sondern ein Privileg. Endlich keine Einladungen mehr oder Termine, die mich immer zu lästigen Überlegungen und Abwägungen führen: hingehen oder nicht, wahrnehmen oder nicht, brauch ich das oder nicht, freut mich das oder nicht, nützt oder schadet mir das? Beleidige und enttäusche ich jemanden? Was anziehen und welche Frisur? Die vier Wochen der strengen Ausgangssperre überlebte ich gut, indem ich das fantastische Angebot der Gemeinde Wien zu kostenlosen Taxi-Gutscheinen nutzte und später das leidende Taxigewerbe privat unterstützte, indem ich mich meist mercedesmäßig zu meinem Garten hinauskutschieren ließ. Jetzt fahre ich wieder ganz legal mit der U-Bahn und fürchte keine Polizeikontrollen mehr  – Risikogruppenrazzia.

Vielleicht ist aber alles ganz anders, nix Kindheitstrauma, nix Familienschädigung, sondern es kommt alles nur daher, dass ich schon lange in einer Art von Homeoffice arbeite, nicht arbeitslos oder in Kurzarbeit bin, zum Glück auch keine Selbständige mit abgrundtiefen Existenzängsten, auch keinen Marathon laufe und nicht Fußball spiele, weil ich schon lange komisch aussehe mit einem mit Cleenex ausgestopften Schal um den Kopf, seit ich an Heuschnupfen oder sonstwas leide und nun alle so herumlaufen und bis heute in Enkellosigkeit lebe.

Always look on the bright side of life.
Als ich heute früh, erfrischt und wohlig unter einer hellen Sonne aufwachte, stand mir mein kindlicher „Hausarrest“ deutlich vor Augen, und er fühlte sich genauso an, wie ich ihn erlebt hatte. Hach, geht’s mir gut! Vor den Fenstern frischgrüne Ahorne, und die Kastanien haben ihre ersten weißen Kerzen angesteckt. Und ich allein in der großen Wohnung! Absolute Ruhe, bis auf das Morgenflöten der Amseln. Eine berühmte Traumforscherin sagte kürzlich in einem Interview, dass die Menschen seit Corona länger schlafen und mehr träumen. No na ned, wenn sie nicht mehr um 5 oder 6 vom Wecker aus der REM-Phase gerissen werden und nicht mit den Kindern zu Kindergarten, Schule und danach zur Arbeit stürzen müssen. Vorausgesetzt natürlich, dass sie nicht in Kurzarbeit, arbeitslos oder albtraummäßig selbständig sind, nicht an Heuschnupfen und Enkellosigkeit leiden. So viel Wissenschaft muss schon sein.

Wien, 20.4.20 , 36. Tag mit Ausgangsbeschränkung

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 20067

SARS in der Aeroflot – oder: Die Welt ist eine Kugel

In den Tagen des Coronavirus habe ich mich selbst beobachtet:
Wie ich in den Öffis immer häufiger den Impuls spürte, mich von Asiaten wegzusetzen, oder, den Schal bis zu den Augen hochgezogen, auf der Straße einen Bogen um sie zu machen. Auf dem Nachhauseweg ertappte ich mich einmal dabei, dass ich in meinem Grätzl in drei China-Lokale hineinglotzte, um nachzusehen, wer denn in den Corona-Tagen noch dorthin ginge. Als würden sie dort, wo ich selbst seit Jahren hinzugehen pflege, plötzlich Wildtiere wie Schlangen, Ratten, Fledermäuse, Esel, Hunde oder Krokodile vom Markt in Wuhan beziehen. Zum chinesischen Neujahr nahm ich meinen Mut zusammen und überbrachte so wie jedes Jahr den immer freundlichen Kellnerinnen in meinem Stammlokal ein kleines Geschenk und Glückwünsche. Zum Jahr der Ratte.
Übrigens: Das erste China-Lokal an meiner Ecke hat schon zugesperrt. Ich bemerkte an mir selbst, wie einfach es geht, bestimmte Menschen unter Generalverdacht zu stellen und zu stigmatisieren. Es fiel mir auf, wie schnell man aus Angst und Unsicherheit dumm und rassistisch werden kann, was ja das Gleiche ist.

Aber in diesen Tagen der immer fortschreitenden Nachrichten stiegen allmählich Erinnerungen in mir auf, wie ich selbst einmal in den Verdacht geraten war, eine Virus-Trägerin zu sein, vor 17 Jahren. Nie mehr hatte ich daran gedacht, wahrscheinlich verdrängt. Jeden Tag versuchte ich die damaligen Geschehnisse einzufangen, was so schwer war, wie Schatten in der Dämmerung festzunageln.

Im August 2003 flog ich mit einer Aeroflot-Maschine von Los Angeles zurück nach Moskau. Ich hatte mit meiner Tochter einen wunderbaren Monat bei Freunden in Kalifornien verbracht, mit Ausflügen nach Arizona, New Mexico und Utah, nach San Diego, in den Grand Canyon und mehrere Nationalparks. Julia lebte damals in Wien, ich in Moskau. Sie flog mit unserer guten AUA mit zwei Zwischenstops in Atlanta und New York, ich mit Aeroflot Nonstop über den Nordpol, Abreise in L.A. um 18 Uhr, Ankunft in Moskau um 6 Uhr früh. Als berufsmäßige Vielfliegerin meinte ich, schon alle Tücken und Gefahren der Aeroflot-Flüge zu kennen – Aeroschrott, wie meine Tochter zu sagen pflegte. Aber diese zwölf Stunden brachten mich in eine bis dahin ungeahnte Hölle.

Wohl wissend, wie eng und unbequem die Aeroflot-Sitze sind, hatte ich einen Aufpreis dafür bezahlt, dass ich zwei für mich allein bekam, und zwar in der fußfreien Reihe, gleich hinter der 1. Klasse, beim Durchgang zur Toilette, aber ohne Nachbarn.
So vorbereitet, dachte ich, den 12-Stunden-Flug überstehen zu können.
Aber was ich nicht wissen konnte: In der Zwischenzeit war die Seuche SARS aufgekommen. Aus China. Weltweit in den Medien, deren Botschaft wir auf unseren Reisen nicht wahrgenommen hatten. In Las Vegas, im Death Valley und Yosemite haben wir nur nah-, nicht ferngesehen.

Ganz im Gegensatz dazu meine Nachbarn rund um mich in der Aeroflot. Alles Russen, hauptsächlich Russinnen. Sie schwatzten von nichts anderem als von ihren Einkäufen. Zuerst nahm ich sie nur als Zischeln und Rascheln wahr, ohne Bedeutung für mich. Sie waren damit beschäftigt, einander ihre Schnäppchen aus Los Angeles zu zeigen und tauschten sich darüber aus, wie sie sie auf den Märkten in Russland gewinnbringend losschlagen würden. Die einen hatten sich auf Klamotten und Kosmetika spezialisiert, andere auf Kleinelektronik und Genussmittel. Allmählich fand ich heraus, dass die zwei direkt hinter mir sitzenden Russinnen Ljuba und Galina hießen. Sie waren nicht einfache Touristinnen, sondern Händlerinnen, so wie sie sich nach dem Zerfall der Sowjetunion auf allen Auslandsflügen etabliert hatten. Ob Dubai, Charbin, Hongkong oder Wien, und jetzt eben Los Angeles. Nie gab ich zu erkennen, dass ich sie verstand, sondern Englisch war die Verkehrssprache.

Als wir uns von L.A. Richtung Nord-Osten entfernten, war der Abendhimmel atemberaubend schön, er leuchtete in allen Farben von Rot-Orange bis Rosa-Gelb und Lilaviolett, Wölkchen und Wolkenbänke, links in meinem Fenster, weit, so weit und so endlos, dass ich die Erdwölbung erkennen konnte. Ein Weltraum-Gefühl, große Dankbarkeit für diesen Anblick und die vergangenen Wochen. Vielleicht haben sich Weltraumfahrer so gefühlt, wenn sie die Erde von ober- und außerhalb gesehen haben. Ich war gerade dabei, mich in der Erdkugeldrehung mit der Sonne von Westen nach Osten, zu bewegen. Untergang und Aufgang zur gleichen Zeit. Restlos glücklich, ein tiefes Aufatmen im Folterstuhl der Aeroflot. Dabei wickelte ich mich in eine Decke ein – ein Kauf in einem Hopi-Dorf – und warf mit einem Schluck des gereichten russischen Tees eine halbe Schlaftablette ein, in der Hoffnung, so die zwölf Stunden bis Moskau mit Schlaf zu verkürzen. Mit dem letzten Blick aus dem Kabinenfenster sah ich ein glühendes Sonnen-Scherzel über dem Horizont stehen und stellte fest, dass es einen kühlen Luftzug gab, aber keine Heizung. Ich wollte mir noch nicht vorstellen, was die Lüftung da alles durch die Luft schleuderte.

Wann ich aufgeweckt wurde und wodurch, weiß ich nicht mehr. Ich spürte ein Kratzen im pelzigen Hals und im Kopf das typische Gefühl eines heraufziehenden Schnupfens. Schnell warf ich eine Aspirin-C-Brause in meine Wasserflasche und trank diese aus. Dann muss ich für eine Zeitlang wieder eingedämmert sein. Als ich wieder aufwachte, stellte ich fest, dass mein Schnupfen voll aufgeblüht war. Mein Atem ging schwer, ich nieste etwa alle zehn Sekunden in meinen Schal, gleich zwei- oder dreimal hintereinander. Mühsam kramte ich eine Schachtel Cleenex aus meiner Tasche und stopfte die Tücher in meinen Schal. Da nahm ich ein aufgeregtes Tuscheln in den Reihen hinter mir wahr und eine Unruhe im Mittelgang. Eine postsowjetische GULAG-Stewardess beugte sich zu mir herunter und schnauzte mich mit der landesüblichen Freundlichkeit an:
Alles in Ordnung mit Ihnen?
Yes, could I, please, have some more tschai?
Ich glaube, Sie brauchen was ganz anderes.
Was denn? Einen Genickschuss vielleicht? Danke, sehr einfühlsam.
Aber ich sagte kein Wort mehr.

Auf jeden Fall, direkt hinter mir, das waren die Stimmen von Ljuba und Galina. Sie tuschelten jetzt nicht mehr über ihre Einkäufe in L.A., sondern irgendetwas über SARS.
Und dass man etwas tun müsste. Nein, ich fühlte mich gar nicht wohl. Der Kopf schien aufgeblasen wie eine Melone, die Nase rann, ebenso die Augen, ein ständiges Rasseln entkam der Brust, alles an mir wurde von Schüttelfrost gebeutelt. Dabei wusste ich ganz genau, dass ich weder einen stinknormalen Schnupfen hatte noch das SARS-Virus, sondern von der immer wieder auftretenden Aircondition-Unverträglichkeit geplagt wurde. Aber das konnten Ljuba, Galina und die anderen nicht wissen. Sie redeten nun schon ganz offen und laut, dass man mich irgendwie beseitigen müsse. Ungeniert diskutierten sie die Möglichkeiten, auf Russisch, das ich verstand. Einerseits ein Vorteil, weil ich mich wappnen konnte, psychologisch gesehen aber recht unangenehm, wenn einem die Todesarten nur so um die Ohren fliegen.

Ich hütete mich, das irgendwie zu erkennen zu geben, und sprach meine wenigen Worte in breitestem Amerikanisch. Sie spekulierten über meine Herkunft, wahrscheinlich irgendeine Europäerin. In all den wunderbaren Tagen und Wochen zwischen San Diego, Hollywood, Yosemite National Park und Death Valley, Las Vegas und Grand Canyon hatte ich keinen einzigen Moment an die neue SARS-Seuche verschwendet. Vor meiner Abreise aus Moskau war das kein großes Thema gewesen, weit weg in China starben Menschen, normal, na und?
Aber nun, 10 000 Kilometer über dem Nordpol, wurde ich zum Fall, zu einem SARS-Fall, zu einer Gefahr.

Meine schnupfenverhangenen Gedanken in meinem Gehirn begannen zu rasen: Was, wenn ich als eine potentielle SARS-Infizierte in Moskau in die Quarantäne gesteckt würde? Vier Wochen dauert sie, irgendwo in diesem Riesenland, wenn schon das beste Spital in Moskau damals eine schwere Bedrohung bedeutete? Wen sollte ich anrufen? Ich hatte mit niemandem eine Abholung verabredet. Ich würde einfach für vier Wochen von der Bildfläche verschwinden, Diplomatenstatus hin oder her. Wer sollte mich suchen? Wer eine Gefahr für die Ausbreitung einer Epidemie darstellte, würde gnadenlos eliminiert werden.

Galina und Ljuba berieten sich mit anderen russischen Passagieren hinter und neben mir. Die beiden waren in Panik und verbreiteten Panik. Sie rotteten sich zusammen und drangen auf das Begleitpersonal ein, mich irgendwie zu entfernen. Sie hielten mich für eine Ausländerin, die in ihre geliebte Heimat eine tödliche Krankheit einschleppte. Sie waren sogar stolz, dass sie mich enttarnt hatten wie einen Spion. Ausländer waren in Russland historisch immer als irgendwie gefährlich angesehen worden. Als ob wir nicht alle im Himmel über der Arktis Ausländer wären. In meinen schleimverklebten Ohren hörte ich nun immer bedrohlicher das Zischeln von SARS-SARS-SARS- Severe Acute Respiratory Syndrom.

Ich muss nicht extra erwähnen, dass es an Bord keine Gesichtsmasken gab, weder für mich, die Verdächtige, noch für die Mitreisenden.
Alle wollten sich von mir wegsetzen, forderten einen cordon sanitaire. Aber das Flugzeug war rappelvoll bis zum letzten Platz, dazu noch irrsinnig viel Bordgepäck. Sie beschworen die Stewardess, mich irgendwie zu isolieren. Auf Russisch heißt Isolacija – Einzelzelle – in Gefängnissen und GULAGs die schwersten Bedingungen und oft ein Todesurteil. Eliminacija, Isolacija, Likwidacija – das waren die Steigerungsstufen. Was würde mit mir passieren? Werde ich jetzt in das Bord-WC eingesperrt? Aus dem Notausgang gekippt? Oder in den Frachtraum zum Gepäck? Erschlagen? Erdrosselt? Erstickt?

Eine männliche Stimme schlug vor, über mir ein Zelt aus Notplanen zu errichten. Klang geradezu menschlich. Zu Zeiten der Schreckensherrschaft des NKWD stieß man die Opfer oft aus dem fahrenden Zug. Meist in der Mitte der Strecke zwischen Moskau und Leningrad, wenn der „Rote Pfeil“ bei Kalinin langsamer fuhr. Wie mich retten? Keine Version verhieß Gutes für mich. Alle Menschen sind in Panik zu allem fähig, besonders die Russen mit ihrer kollektiven Gewaltgeschichte. Ich zermarterte mir den Kopf auf der Suche nach einem Ausweg. Einer in die Ecke getriebenen Maus muss es ungefähr so gegangen sein wie mir jetzt.

Wenn schon Geschichte, dann wollte ich sie bemühen. Sollte ich verrücktspielen? Der Narr in Christo ist eine allen Russen bekannte Figur. Ich, die Gottesnärrin. Der Gottesnarr in Boris Godunow rettet sein Leben durch eine gute Prophezeiung, wenn man ihn schonte. Aber das konnte auch nach hinten losgehen, denn ich müsste meine Identität preisgeben. Oder würde es vielleicht helfen, die reuige Sünderin, die Verbrecherin geben, die in der russischen Literatur oft zu Mitleid und zur Barmherzigkeit anregt? Aber würden sie mich dann nicht noch eher in eine Zwangsjacke stecken oder mich mit den Kissen ersticken? Russische Witze erzählen, Lieder singen, Pushkin-Gedichte rezitieren, Putin loben, um zu zeigen, dass ich eh eine von ihnen bin? Aus Erfahrung wusste ich, dass es zum russischen Nationalcharakter gehört, deutlich zwischen den „Naschi“, den Unseren, und den Anderen zu unterscheiden.

Alle Optionen bargen ein Risiko, weil bei Menschen in Panik oft das Schlechteste ans Tageslicht kommt. Im besten Fall, sollte ich den Flug überleben, würde ich am Flughafen Sheremetjewo II den Behörden übergeben und für vier Wochen in den Niederungen des postsowjetischen Gesundheitssystems verschwinden. Schreck lähmte mich, als mir einfiel, dass in Russland die Quarantäne-Stationen in psychiatrischen Kliniken untergebracht sind. Viele Bilder rasten gleichzeitig durch meinen Kopf, und alle waren gleich bedrohlich.

Da machte ich zum ersten Mal die erstaunliche Feststellung, dass einem vor lauter Angst auch heiß werden kann – es gibt nicht nur den kalten Schauer! Die Höllenglut der Wut befeuerte mich jetzt, machte mir Mut und ließ mich zur Gegenwehr übergehen. Ich wickelte mich noch fester in meinen Hopi-Teppich, zurrte den Seidenschal eng um Kopf und Hals, stopfte Cleenex-Tücher in meine Nasenlöcher – und hörte auf zu atmen. Unter dem Tuch sperrte ich den Mund weit auf, versuchte kein Geräusch und keine Bewegung zu machen, mit einem Wort – ich stellte mich tot. Wahrscheinlich schlief ich doch eine Weile, und als ich aufwachte und links von mir aus dem Fenster sah, stellte ich fest, dass wir uns schon über russischem Territorium befanden, vielleicht auch erst am Zusammentreffen von Norwegen, Schweden und Finnland. Die Sonne stand noch immer genauso halbhoch wie beim Abflug in L.A., war aber heller, wir flogen ja nach Osten. 10 000 Kilometer unter mir eine Schnee- und Eislandschaft, einige dunkle Flecken an den Abhängen, helle Flecken, wahrscheinlich das offene Meer, es war ja noch Sommer, Anfang August über dem Nordpol.

Einmal dachte ich, den Schatten unseres Flugzeugs über einen Schneeberg gleiten zu sehen, wahrscheinlich eine Täuschung oder ein Fiebertraum. Das muss die fast kreisrunde Bucht der Barentsee sein, Murmanks, Archangelsk, dann die Halbinsel Komi. Schlafen, träumen, Flug, Aufwachen, und im Blick nach unten – Nowaja Zemlja, das Franz-Josef-Land, von Payer und Weyprecht entdeckt und vermessen, einmal eine kuriose Außenstation Österreichs, eine doppelte Inselformation, ähnlich der von Neuseeland. Helden meiner Jugendbücher. Unter der Morgensonne eine nie gesehene Schönheit, die ich in diesen Stunden leider zu wenig genießen konnte. Grad nur kurz im Gedächtnis aufgezeichnet – hierher muss ich noch einmal zurückkehren. Aber jetzt, bitte, nur noch steil nach Süden, nach Moskau, flehte ich die Piloten der Aeroflot im Geiste an.

All die Galinas und Ljubas hinter mir schnarchten friedlich vor sich hin. Ich war gerettet. Die Taktik des Totstellens ist ja auch im Tierreich oft erfolgreich. Die Passagiere waren mit der bevorstehenden Ankunft beschäftigt und kümmerten sich nicht weiter um mich, und auch am Flughafen Sheremejewo II hielt mich keine Sanitarnaja Komissia fest. Keine vierwöchige GULAG-Quarantäne, und im Weiteren blieb ich pumperlgsund, bis heute, nur die Aircondition-Unverträglichkeit ist mir geblieben.

Ich nahm mir vor, diese Reise über den Nordpol irgendwann noch einmal zu unternehmen, sicherheitshalber nicht mehr mit Aeroflot, denn ich bin überzeugt, dass ich auf diesem Flug über den Nordpol viel versäumt habe. Und doch meine ich, dass ich zuerst zu den Hopis reisen und ihnen danken sollte, denn es war wahrscheinlich ihre Decke, die mich gerettet hat.

Wien, 17.2.20

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 20029

Handke, der serbische Nobelpreis und die falsche Heiligsprechung

Es ist zu hoffen, dass der frisch gebackene Nobelpreisträger Peter Handke eine Hilfskraft hat, die ihm in diesen Tagen die nationalkommunistische Presse in Serbien übersetzt.
Weil da ist er das Thema Nr. 1, und es herrscht die reine Freude vor. Mit Handke habe nach Ivo Andric der zweite Serbe den Nobelpreis bekommen. Er habe Serbien und das serbische Volk stetig und tapfer verteidigt und sei damit nach Milosevic der größte Serbe. Dabei wird der Diktator in alter nationalistischer Rhetorik von „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ mit dem Volk gleichgestellt; wer gegen Milosevic sei, stelle sich gegen das serbische Volk uswusf. Der Jubel kennt keine Grenzen und keine Scham.

Das sind schlimmere Töne als in den 90er Jahren, als Milosevic noch an der Macht war, und es zumindest in der Hauptstadt relativ freie, anti-nationalistische Medien gab, die der nationalistischen Vergiftung Widerpart gaben. Die heftig betriebene Restauration des Milosevic-Regimes wird nun also mit dem höchsten internationalen Preis ausgezeichnet – und damit eine Person, die wie keine andere Milosevics Verbrechen geleugnet und schöngeredet hat.

So wird alles in Frage gestellt, die Zerstörung von Vukovar, die Toten von Ovcara, die ermordeten Moslems von Srebrenica, das zerschossene Krankenhaus von Gorazde, die von der serbischen Artillerie getöteten Kühe am Straßenrand, die verschreckten, ausgemergelten Menschen mit ihren Handwägelchen in den elendslangen Zügen die kroatischen und bosnischen Straßen entlang, die unzähligen Verbrechen in Sarajewo und im Kosovo, das blutrote Wasser der Drina bei Foca und Visegrad, die Kühlwagen voller albanischer Leichen, die in der Donau versenkt wurden und in den Bleigruben von Trepca. Die Massengräber auf dem Polizeigelände von Batajnica. Und all diese Krüppel, Vertriebenen und Geflüchteten.

Ich nenne nur diese wenigen Beispiele von Verbrechen, die ich mit eigenen Augen gesehen und über die ich in den Jahren 1991 bis 1997 im ORF berichtet habe.

Aber man muss solche Erfahrungen gar nicht haben. Noch viel mehr zu berichten hätten die Hunderttausenden Geflüchteten aus den jugoslawischen Kriegsgebieten und ihre Nachkommen, die in Österreich Schutz und Heimat gefunden haben. Sie alle wissen aus eigener Anschauung oder Familiennarration, was Handke beschönigt oder verschweigt.
Und das mit Zynismus verziert als Poesie oder Freiheit des Autors.
Handke hat unfassbare Schuld auf sich geladen, indem er Milosevic und Karadzic glorifiziert. Er bespuckt damit alle Opfer und ihre Angehörigen – wie auch durch seine Teilnahme an Milosevics Begräbnis in Pozarevac: „Die letzte Ehre erweisen.“

Wie kann das Komitee in Stockholm so völlig versagen und eine internationale Nobilitierung vergeben, genau zur selben Zeit, als die Welt entsetzt und in Trauer vor dem Anschlag auf die Synagoge von Halle steht. Was für ein böser „Zufall“! Will da jemand die Menschen verhöhnen, die nicht mit literaturgeschmäcklerischem Wortgeklingel à la Akademie, sondern mit Wissen und Gewissen die Wirklichkeit beobachten.

An mich, an alle und auch an das zornige Rumpelstilzchen („Ich komme von Tolstoj, ich komme von Kafka, ich komme von Cervantes“) möchte ich zwei Fragen stellen, oder vielmehr ein Gedankenspiel spielen: Was hätten diese drei – es könnten aber auch genauso gut Goethe, Beethoven oder Kant sein – zu den Balkankriegen der 90er Jahre gesagt?
Und was wäre, wenn die Opfer Schweden gewesen wären?

13.10.19

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 19139

Der U4z-Schienenersatzverkehr-Blues

Vorausgeschickt: Bei den Wiener Linien funktioniert fast alles fast immer gut.

U4 gesperrt vom Karlsplatz bis zur Längenfeldgasse! Oh Schreck! Schienenersatzverkehr vom 1. Juli bis 2. September. Die U4-Teilsperre würde mich direkt betreffen, hatte ich doch gerade einen Schrebergarten in den Hügeln von Hütteldorf gepachtet.
Diese Aufzeichnungen habe ich nach der ersten Woche begonnen, also nach 14 mal hin und zurück vom Karlsplatz mit dem U4z zur Längenfeldgasse und weiter mit der alten U4 nach Hütteldorf. Und zurück.
Aber heute, nach der 66. Fahrt im U4z des Schienenersatzverkehrs, bin ich begeistert, gratuliere allen Planern, Mitarbeitern und uns Wienern zu solchen Verkehrsbetrieben. Die Fahrt ist übrigens kostenlos.

Die WL haben ein lückenloses Leitsystem eingerichtet auf der wahrscheinlich wichtigsten Touristenlinie in diesem Sommer, zum Schloss Schönbrunn und zum Tiergarten. Überall stehen Mitarbeiter, verteilen Flyer und antworten geduldig. Sie sind an jeder Station präsent. Wie sie „Schienenersatzverkehr“ den deutschen Gästen ausdeutschen oder gar in die anderen Hauptsprachen übersetzen, das blieb mir bislang verborgen. Die Busse fahren nonstop, kreisen wie ein Perpetuum mobile. Niemand wartet länger als drei Minuten. In diesem heißen Sommer besonders angenehm – die meisten Busse sind gekühlt und nie überfüllt. Wer nicht ein notorischer Meckerer ist, kommt gut durch. Für mich ist die Strecke etwa fünfzehn Minuten länger als mit der normalen Durchfahrt auf der U4 – Busse haben nun mal Ampeln und andere Verkehrsteilnehmer.

Alles im Leben ist eine Frage der Perspektive. Dieses Prinzip der systemischen Theorie beweist sich wieder einmal auf den Fahrten mit dem Uvierzet. Sie haben mir viele neue, ungeahnte Einblicke und spannende Ausblicke eröffnet. Und Pläne: Ich weiß, was ich tun werde und nie wieder tun sollte.
Geschätzte 45 Jahre bin ich, von der Autobahn kommend, über die Westeinfahrt in den 4. Bezirk gefahren, mit dem Auto. Für die Autolenker stehen natürlich der Verkehr, die Ampeln, Fußgänger, Bodenzeichungen und Abzweigungen im Fokus. Der Blick reicht meist nicht weiter hinaus als über die Ampeln, Schilder, parkende Autos und bei den Gebäuden vielleicht noch bis zum 1. Stock. Aha, muss ich mir merken, vielleicht zwei Sekunden auf ein neues indisches Lokal. Ein Blick mit Scheuklappen wie ein Fiakerpferd.
Immer war ich sicher, ich könnte blind oder schlafend von Auhof zum Karlsplatz kommen.
Nachdem ich jetzt also 66 mal diese Strecke im Bus sitze, habe ich den Verdacht, dass ich früher immer blind durch diese Bezirke gebraust bin. Dazu gestehe ich, dass ich vorher noch nie in meinem Leben in der Station Längenfeldgasse ausgestiegen bin und dort das Licht der Oberwelt erblickt habe.

Ich versuche immer, einen erhöhten Sitz ganz hinten zu ergattern. Ein Rundumausblick auf die beiden Wienzeilen, die Schönbrunner Straße, die Hannover Straße und den Naschmarkt.
Ob hin oder zurück: Für mich ist die Baustelle ein Glücksfall. Aber sie macht mich auch schwindelig. Ein neuer Kontinent hat sich aufgetan. Ein Genuss, dieser unverstellte Blick auf die Prachtgebäude ohne das Gewusel unten am Markt. An der Station Karlsplatz beim Marc-Aurel-Denkmal neben der Sezession gellen Kinderschreie durch den Bus: Löwen, leoni, lwi! Die Eltern in allen Sprachen: Wart nur, bald siehst du lebendige im Zoo.
Werden wir Wiener auch bald in Käfigen ausgestellt?

Kurz nach der Station Längenfeldgasse biegt der Bus auf die Schönbrunner Straße. Das ist der 12. Bezirk. Ich weiß nicht, wo es in Wien noch so einen vernachlässigten Straßenzug gibt.
Fast alle Häuser sind räudig und von unbestimmter dunkelgrauer Farbe. Die Farbe Grün in Form von Bäumen und Büschen scheint hier vollkommen unbekannt zu sein. Vom U4z-Bus aus geschätzt, sind mehr als die Hälfte der Straßenlokale geschlossen, schon sehr lange, weil vielfach von vergilbten, zerfetzten Plakaten und Grafitti verunziert, manche sind zum Kauf oder zur Miete angeboten, die begonnenen Renovierungsarbeiten verfallen schon wieder, die Gerüste sind verrostet und windschief. Man hat das Gefühl, dass kein einziges Haus einen ansieht, alle blind.
Wo bin ich? In Harlem? Fensterlose Lokale bieten Thai-Massage, Ironfist, Osman-Tattoo oder eine türkische Taxischule Arslan an. Dazwischen ein verstaubter Mini-Laden von Nadel und Zwirn, in dem tatsächlich Zwirnsfäden und Nähnadeln im Fenster hängen. Genauso traurig der verdorrte Oleander-Busch davor. Eine Autobelehnung „BARGELD SOFORT!“ macht mit grellen gelb-schwarzen Plakaten Reklame und ist so einladend wie ein Wespennest.

Jetzt schon im oberen 5. Bezirk, wo er noch nicht Bobo ist. Das Jugendberatungszentrum und der Pensionistentreff sehen so düster aus, als bekämst du die Probleme erst, wenn du sie betrittst. Der Clean-Green-Waschsalon hätte beides bitter nötig, außen und innen, ist aber gut besucht. Der Sex-Shop Alpha bietet Gummiwaren an – mit Massenrabatt. Zum Rudelpudern? Der Schanigarten des Funny Colombo mit Srilanka-Küche hinter einer mickrigen Thujen-Hecke ist brechend voll. Albaner, Pakistani, Chinesen, Vietnamesen – alles gibt es, nur kein einziges Wiener Eckbeisl mehr, keine einzige Gastwirtschaft. Wo gehen all die Alkis des 12. und 5. Bezirks jetzt hin?

Sogar die Monopolisten, die Spars, Billas und Hofers, sehen in dieser Bandlwurmstraße mickriger aus als anderswo. Die Schilder mit ihren Logos sind kleiner, und ihre Sackerl drehen sich nicht. In den Fenstern sind keine bunten Leckereien ausgestellt, sondern die Rückseiten von Regalen mit den Rückseiten von Konservendosen und Klopapierpackungen.
Solches hab ich zuletzt im untergegangenen Ostblock gesehen. An den Kinderwägen der Einheitszeltfrauen hängen mindestens noch drei Kinder, auf den Rollern nie weniger als zwei. Aber wenn der U4z kurz nach dem Margaretengürtel hält, bemerke ich zum ersten Mal, wie breit und weitläufig die Grünanlagen sind: dichter, dunkler Schatten über den Wiesen, die Bänke voll besetzt mit Menschen aus der ganzen Welt, Wiesenlager mit Hügeln aus Kopftüchern und bunten Kleidern aus Subsahara: Kindergewusel, Hunde, Rad- und Rollschuhfahrer, Hängematten zwischen den Bäumen, pulsierendes, südliches Leben mitten in der Stadt.

Hallelujah, ich muss nicht auf die Donauinsel zum Afrika-Fest und teuren Eintritt bezahlen. Einfach nur einmal auf den Margaretengürtel! In den Käfigen herrscht rasender Basketball-Betrieb hinter einer gigantischen Mann-Brot-Reklame-Wand. Manche der jungen Athleten dürften sich schon zu Mannschaften zusammengefunden haben, denn die Spieler tragen einheitlich grüne oder orange Leiberl. Rundum Publikum. Ich schwör es mir, einmal steig ich aus und sehe diesen Super-Sportlern zu. Phantastisch, diese Akrobatik und Begeisterung. Warum spielen sie nicht in der NBA? Wann werden sie entdeckt?
Nichts ist ganz wirklich und sicher, fahre ich doch nur in einem Bus durch diese Straßen und sehe so viel, wie wenn ich mich durch die TV-Kanäle zappen würde.

Neue Blicke, neue Gefühle, neue Pläne. Früher im Auto, dann im Untergrund, waren die Fahrten immer nur davon bestimmt, geradlinigst und schnellstens aus der Stadt raus oder nach Hause zu kommen. Plötzlich taucht eine neue Welt dazwischen auf. Die Zwischenwelt des U4z. An einer Ecke am Margaretengürtel hat er eine neue Station. Ich, auf meinem Hochsitz mit einem Rundumblick, nehme zum ersten Mal ein wunderschönes, schmiedeeisernes Eingangstor wahr. Ich kann mich gar nicht daran sattsehen und mache mit meiner Kamera Fotos. Ein Kleinod an einem verwahrlosten Haus mit verstaubten Antiquitäten in den Auslagen. Nach so vielen Stops dort kenne ich alles und habe ich mich in eine Jugendstillampe verliebt. Aber leider: Vorübergehend geschlossen – und das schon sieben Wochen.
Weiter rein in den 5. Bezirk. Mein Blick geht an den Gebäuden hoch: Viele haben ausladende Fassaden und Dachlandschaften, Türme und Türmchen mit Zinnen, Kuppeln, Erkern, Säulen, Figuren, Halbreliefs und Balkonen, alle stilvoll übereinstimmend renoviert und die Dächer mit Sonnenpaneelen versehen. Wie ein Senkrechtschnitt durch die Gedärme der Stadt.

Die Fahrten vom Karlsplatz hinaus zur Längenfeldgasse haben mir, von meinem Hochsitz aus, dank des U4z neue Ein- und Aussichten gewährt. Zwischen Kettenbrücken- und Pilgramgasse steht unten in der Baustelle ein wahnsinnig hoher und wahrscheinlich sehr starker Kran. Er ist pink, aber so was von pink, wie es nichts gibt in ganz Wien. Die Rosa-Lila-Villa gegenüber wirkt dagegen sehr blass mit ihren abgeblätterten Fassaden.
Vom Bus aus sehe ich zum ersten Mal in den Schacht der U4 hinunter und die schreienden, viele Meter langen Grafitti-Malereien an den Wänden. Phantastische Gemälde. Ich hoffe, jemand macht eine Dokumentation. Dazu noch Aufschriften für Fußballclubs in allen Sprachen Osteuropas. Kracowia und Crvena zvezda Beogr. Es geht zu schnell, ich habe noch immer nicht alles entziffert, geschweige denn fotografiert. Ich frage mich, wie diese Sprayer-Künstler dorthin gelangen konnten.

Dass der von mir geliebte Rüdigerhof einen schönen, nicht ganz so spektakulär ausgestalteten Zwilling hat, habe ich noch nie wahrgenommen, weil der Autofahrer in der Linkskurve von der Wienzeile in die Hamburgerstraße abbiegen muss. Ein Haus weiter werde ich wie vom Blitz getroffen, vom Hanna-Hof, einem dotterblumengelben fünfstöckigen Haus mit Schmuck, aufgebaut wie eine Hochzeitstorte. Erst die Baustelle und mein Hochsitz im U4z geben den Blick frei auf diese gelungene Ménage à trois. Und auch auf das Open-Air-Lager der osteuropäischen Internationale von Obdachlosen (OIO), die mit ihren Hunden unter den Bäumen den Schatten genießen. Einer improvisiert auf der Ziehharmonika, andere schlafen im vergilbten Gras ihren Rausch aus.

Als Autofahrerin konzentrierst du dich auf die Rechte oder Linke Wienzeile, als U-Bahn-Fahrerin bist du eben unten. Nun, als U4z-Benutzerin, siehst du plötzlich die dem Wienfluss zugewandten Seiten der Gebäude. Welch Wunder, es gibt begrünte Pawlatschen und Balkone mit phantastischen Gittern und Säulen, üppige Dachgärten und Baumstreifen die ganze Linie entlang. Ich kannte bisher nur den Garten um den Rüdigerhof. Irgendjemand sollte eine Tour anbieten, nach dem U4z, und zu Fuß.

Dann das akkustische Vergnügen: den asiatischen Touristen zuzuhören, wie sie um die Aussprache Kettenbrückengasse ketblga und der Längenfeldgasse legefega ringen.
Wie anfangs gesagt: Es funktioniert alles fast immer gut: Aber einen Vorschlag für die Wiener Linien hätte ich gehabt: eine akkustische App für die Aussprache von Karlsplatz einzurichten. Er hat mit rlspl sagenhafte fünf Konsonanten hintereinander. Die Russen machen ihn einfach zum Kalplaz. Auch für Schönbrunn – Shen-blun – und Hietzing. Mit arabischer, chinesischer oder russischer Phonetik. Gizig, Gizig?, fragen die russischen Touristen, weil sie ja kein H haben und NG nicht aussprechen können. Shen-blun-Shen-blun? Wie oft habe ich das in diesem Sommer gehört.
Nur das Fragezeichen scheint allgemeinmenschlich zu sein. Alle haben ihre Handys fest im Griff, keine Ahnung, in welcher Transkription sie Kettenbrückengasse, Margaretengürtel und Längenfeldgasse auf den Schirm und in die Ohrstöpsel bekommen. Die Länge dieser Namen wird nur Touristen aus Wales nicht überanstrengen. Über Hietzing hinaus zur Braunschweiggasse fährt ohnedies kein Tourist. Die arabischen Gäste lassen gleich alles weg: Leflstr? Schnbrnn? Der Naschmarkt ist einfach, wird zu Naschma, sogar Aschma und Nama sind verständlich. Die Chauffeure nicken zu allem freundlich und bleiben immer cool. In der Station Schönbrunn leeren sich die U-Bahn-Waggons meist vollständig.

Einmal mache ich einen spontanen Ausritt in den Schlosspark, was ich bis an mein Lebensende bedauern werde. Ich war seit den Kindertagen meiner Tochter nicht mehr dort. Mir kommen Zweifel, ob die Rosen hier noch von Bienen bestäubt werden. Ich kann beim besten Willen keine Rosen entdecken, denn jeder Rosenstrauch ist von mindestens zehn Chinesen umringt, die mit ihren Handys fotografieren und einander danach in Massen-Selfies ablichten. Gibt es in China keine Rosen? Ich habe immer gedacht, diese Gewächse stammen ursprünglich von dort. Vielleicht hören sie aus den Stöpseln in ihren Ohren, dass schon Kaiserin Sisi hier gewandelt ist und auf die Rosen geschaut hat.

CHINESEN, DIE AUF ROSEN STARREN. Manche Mädchen verkleiden sich blitzschnell in Sisis, für die Fotos und Videos, die gelbe Torte des Shen-blun im Hintergrund. Einmal werde ich wortlos, aber gestenreich eingeladen mitzuposieren. Offenbar eine seltene Eingeborene. Eine Aborigine. Auf welchen Kanälen des www werde ich erscheinen? Ich fühle mich so wohl und zu Hause wie wahrscheinlich die Exoten immer schon im nahen Tiergarten. Vielleicht kriegen wir auch noch Gitterstäbe. (Wie der Panther von Rilke, eh schon wissen.)

Nach siebeneinhalb Wochen mit dem U4z bin ich trotz allem hauptsächlich glücklich und dankbar. Mit dem Anfang am Karlsplatz bis zum Kaiserschloss und zurück durch die Slums rund um die Schönbrunner Straße: Welches Bild von Wien bekommen diese Besucher aus aller Welt? Was erfahren sie über uns? Ich habe keine Ahnung. Aber von mir weiß ich: Ich habe mich in den U4z verliebt und werde ihn vermissen, wenn am 2. September die renovierte U4 wieder öffnet. Für mich wieder normal 17 Minuten vom Karlsplatz nach Hütteldorf, oder jetzt sogar noch schneller. Wir sollten den WL dankbar sein, dass sie zwei Monate lang kostenlose Führungen durch unbekannte Teile von Wien geboten haben. Und durch unsere Seelen.

30.8.19

Veronika Seyr
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Rosenkranz für die Freiheit

Jeder Montag begann mit dumpfem Grollen und Knirschen auf Kies, mit schweren Schritten und tiefen Männerstimmen. Davon wurden wir wach.
Da huschte die Tante Sefi ins Kinderzimmer und klatschte in die Hände
Kinder, aufwachen, aufstehen, Rosenkranzbeten!
Tante Sefi war die jüngste Schwester meines Vaters, ein ehe- und kinderloses Fräulein von der Post. Sie kümmerte sich um die größeren Kinder. Die Mutter war mit Haushalt und den Kleinen beschäftigt, der Vater während der Woche Gastarbeiter bei Wien. Er war ein Wochenendvater.

Es war noch dunkel, als uns Tante Sefi aus den Stockbetten stamperte. Wir knieten in Pyjama und Bademantel neben den Betten, die Hände vor der Brust gefaltet. Es war kalt, wir bibberten. Der einzige Ofen, der Meller-Dauerbrandkamin stand zwischen dem Eltern- und Kinderzimmer und war schon ausgekühlt. Tante Sefi stimmte mit ihrem Glockensopran den Rosenkranz an. Es wurde um einen halben Grad wärmer. Viele Vaterunser und GegrüßetseistduMaria und gebeneideitseideinLeib. Vermaledeit lernte ich erst später mit den Flüchen der Bierführer. Tante Sefi sang im Kirchenchor und in den Hochämtern die Soli der Deutschen Messe. Auch Orgel konnte sie spielen.

In aller Herrgottsfrüh fuhren Onkel Klaus und seine Bierführer Franzl und Toni nach Linz in die Brauerei zum Bierfassen. Vor dem Haus, unter unseren Fenstern, luden sie die leeren Fässer auf den Saurer-Lastwagen. Der Onkel betrieb eine Bierniederlage, von der aus er das Bier zu den Wirten im Unteren Mühlviertel lieferte. Ich fuhr gerne mit und war in allen Wirtshäusern zu Hause. Besonders in denen mit hölzernen Kegelbahnen. Sein Vater, mein Großvater, war der letzte Bierbrauer im Strudengau, in einem Gewirr von weitläufigen Gebäuden, die man seit sechshundert Jahren Bräuhaus nannte. Dazu gehörte eine Landwirtschaft mit einigen Feldern und Wiesen, viel Wald – ein ganzer Berg trug unseren Namen – dazu Obst- und Gemüsegärten. Wir hatten sogar eine eigene Kapelle auf dem Grundstück, errichtet zum Gedächtnis an Kaiser Franz Joseph, der auf der Brautfahrt mit Sisi fast gekentert wäre und 1854 den Haussteinfelsen in der Donau-Mitte wegen des gefährlichen Strudels sprengen ließ. Das stand oben in großen, goldenen Lettern zwischen dorischen Säulen.

Jeden Samstag ging ich mit meiner Großmutter zur Kapelle, sie zu putzen und mit Blumen neu zu schmücken. Heilige Handlungen. Ich fühlte mich damals dem Kaiserhaus sehr verbunden. Das Schönste aber waren die Ställe. Zwei Arbeitspferde, den Hansi und die Lies, auch Schweine und Hühner gab es. Alles für den Eigenbedarf der Großfamilie mit vier Generationen unter einem Dach. Dort bin ich geboren und die ersten zehn Jahre aufgewachsen. Das war Heimat. Nahe Menschen. Frieden und Freiheit. Der Geruch von Gras, Heu, Holz Moos, Harz, Erde und Donaualgen ist mir bis heute lieber als der von Konditoreien oder Parfümerien. Ich mochte die Geräusche der frühen Montage: das Rollen der mit Eisenringen beschlagenen Holzfässer über das Pflaster, das Knirschen im Kies des Vorplatzes, das Quietschen der metallenen Rutschen, zuletzt das dumpfe Aufkrachen auf der Ladefläche und das Rasseln der Ketten, wenn Toni die Planen festzurrte. Flaschen in Kisten kamen erst später auf. In meinen Ohren klang alles einladend und heimelig. Wir Kinder lebten recht frei, weil die Erwachsenen zu beschäftigt waren, um uns zu beaufsichtigen. Trotz aller Gefahren zwischen Donau und Bahn, Bächen und Wehren. Ich glaube, sie vertrauten uns, weil sie sich vertrauten. Daheim waren.

Einmal durfte ich in die Linzer Brauerei mitfahren, das aufregendste Erlebnis meiner Kindheit. Auf dem Schoß von Onkel Klaus, daneben Franzl und Toni im Führerhaus. Ich fühlte mich wie eine Welteneroberin. Die Reise in die Großstadt, die Hochöfen und Schlote der VOEST, gewaltig wie ein Gebirge, die riesigen Hallen der Brauerei, die endlosen Bierlager, in denen sogar Kräne und Eisenbahnen auf Schienen fuhren. Diese Gerüche. Das Linzer Lager war damals die am häufigsten getrunkene Marke. Der Weihnachtsbock mit dem grünen Schildchen kam vor dem Christkind. Biertrinkerin wurde ich trotzdem nicht.

Die endlos wiederholten Absätze des Rosenkranzes liebte ich nicht. Je nach Jahreszeit stimmte Tante Sefi geistliche Lieder an. Im Mai Meerstern ich dich grüße, im Advent Maria durch ein Dornwald ging, vor Ostern Oh Haupt voll Blut und Wunden. Ich bin sicher, dass wir die Worte nicht wirklich verstanden und vieles verballhornten. Meerschweinichdichgrüße. Alle Kinder waren musikalisch und sangen gerne Lieder. Am Ende brauste immer das Großer Gott, wir loben dich durch das Kinderzimmer. Es erlöste uns vom Einerlei des Rosenkranzmurmelns und der Kälte. Erst als wir den Motor des Saurers aufheulen hörten und die tiefe Hupe, wenn er aus dem Dorf hinausfuhr, wurden wir aus unserer knienden Lage erlöst.

Meine älteren Brüder und Cousins gingen schon zur Schule und kannten viele Belustigungen. Sie waren alle Ministranten, gingen zum Dimbach Fische oder Krebse ausgreifen und spielten auf der Strudener Au Fußball. Sie organisierten sich in Banden und spielten Krieg gegen die Buben von Struden. Was die zwei älteren Schwestern den ganzen Tag trieben, daran erinnere ich mich nicht. Nur einmal nahmen sie mich mit in ihre Handfertigkeitsstunde mit Stricken, Sticken und Häkeln in der Volksschule. Das stumme Sitzen mit einer oder zwei Nadeln entsprach nicht meinem Temperament. Nach kurzer Zeit schlich ich mich aus der Klasse ans Donauufer und schaute den Schiffen zu oder der Zille beim Kastenhofer. Wer von unserem Ufer hinüber wollte, musste laut Üüüüberfuuuhr! rufen.

Zumindest für mich kann ich sagen: Ich liebte alle kirchlichen Zeremonien. Waren sie doch in diesem zwischen Donauufer und Bergen zersplitterten 700-Seelen-Dorf die einzigen Ereignisse. Meine Familie – 1944 Ausgebombte aus Wien – lebte dort weit weg von Theatern, Kinos und Cafés. Die Auferstehungsfeiern in der Osternacht, wenn wir die Weidenkörbe mit dem G‘söchten – dem Geselchten, Kren, Osterstrudeln und Eiern zur Weihe in die Kirche tragen durften, die Prozession um die Kirche herum im Dunkeln und wenn es beim dreimaligen Lumen Christi es immer heller wurde, die Erneuerung des Taufgelöbnisses mit dem Abschwören des Teufels – das war Drama pur.
Auf dem Rückweg dann das Abenteuer, wie wir uns bemühten, das Osterfeuer brennend nach Hause zu bringen, hinter der schützenden Hand die steile Blomü – Blochmühlgasse hinunter, über das Viadukt des Dimbaches und übers Danzerbergl drüber.

Natürlich versuchten die Buben den Mädchen die Flamme auszublasen, damit sie Sieger würden. Im Sommer, wenn der Himmel mit Gewittern oder Hagel die Ernte bedrohte, zog eine Prozession mit Fahnen durch die Felder und Wiesen, um den Schaden, der vom Himmel kam, abzuwenden. Dieselbe Zeremonie, wenn es zu wenig Regen gab. Pfarrer, singendes Volk und Kinder. Tante Sefi, mit ihrem klingenden Sopran, schritt voran. In ihrem Dirndl und mit der aufgesteckten Gretlfrisur, die ihre goldenen Locken bändigte, erschien sie mir wie ein Engel. Sie hat einen guten Draht zum Himmel. Alles ist gut, es kann nichts passieren, wir haben Schutzengel.
Das Grundgefühl meiner Kindheit. Die Fragen zum KZ Mauthausen, zur Mühlviertler Hasenjagd und zum Schloss Hartheim hatte ich erst rund zwanzig Jahre später.

Wir hatten Ratschen und Trommeln dabei, mit Klöppeln, mit denen wir herzhaft schlugen, um die Wolken zu vertreiben. Auch Nikolaus und Krampus, die Kreuzwegstationen, die Maiandachten, Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse hatten ihre dramatischen Reize. Wir lebten im ewigen Kreislauf des Kirchenjahres. Diese Mischung aus heiliger Feierlichkeit, Spuk und Komik begeisterte mich schon in den frühen Kindertagen. Das war echtes, lebendes Theater. Ich war also gut auf Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik vorbereitet. Auch die heidnischen Bräuche wie das Winteraustreiben und die Sonnwendfeuer waren Höhepunkte im dörflichen Leben. Eine friedliche Heimatkultur.

Onkel Klaus und seine Bierführer hatten an den Montagen eine gefährliche Reise vor sich. Sie mussten über Grein, Perg und Mauthausen die Donau entlangfahren und bei Enns die Brücke queren. An der Zonengrenze standen sich die Sowjetarmee und die Amerikaner direkt gegenüber. Nur die Schranken trennten sie voneinander. Nirgendwo sonst war die Nachkriegssituation so greifbar. Nicht Krieg, aber auch kein Frieden. Es war der neuralgischste Punkt in ganz Österreich in den zehn Russenjahren, wie das hier hieß.
Damit die Männer frei hinüber- und zurückkamen, mussten die Kinder beten. Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelsreich.
Das Bild im Kinderkatechismus, wo Jesus im weißen, langen Nachthemd mit blonden Locken dasteht, links das rote Herz und die Hände weit ausbreitet, um die Kinder zu sich zu rufen, schaute ich besonders gern an. Es wurde erklärt, dass wir auserwählt sind, ganz nah bei ihm zu sein. Kinder können wegen ihrer Unschuld – sofern durch die Taufe von der Erbsünde befreit waren – auf direktem Wege Gottvater, seinen Sohn und dessen Mutter erreichen.

Nach den Erklärungen von Tante Sefi können die unschuldigen Kinder den Schutz und Segen Gottes runterbeten, herabflehen. Die komplizierte Diplomatie zwischen Himmel und Erde, das Verhandeln, Versprechen und Belohntwerden, können wir nicht durchschaut haben. Aber wir hatten eine Rolle, wurden beachtet und fühlten uns wichtig. Die Großen hatten große Angst vor den Russen. Außerdem war die Tschechei nicht weit weg, wo schreckliche Russen ihr Unwesen trieben. Mir hat sich das besonders eingeprägt, stand doch meine Geburt genau am 23. Februar 1948 mit dem kommunistischen Putsch in Prag unter keinem guten Stern. Immer wieder wurde mir erzählt, dass ich wegen der allgemeinen Aufregung einen Monat zu früh das Licht der Welt erblickt hatte. Das nördliche Donauufer gehörte zur Sowjetzone. Die Erwachsenen redeten davon, dass Menschen auf der Enns-Brücke verschwanden und nie wieder auftauchten. Einmal hatten sie sogar eine Frau entführt, eine Diplomatin, die erst nach vierzehn Jahren aus einem sibirischen Gulag freigelassen wurde.

Am späten Nachmittag sammelte Tante Sefi die Kinder in der Stube ein, aus all ihren Tätigkeiten zwischen dem Bräuhaus, der Donau, dem Gießen- und Dimbach. Manche wichen in die Wälder aus. Zu der Zeit, wenn die Mander, die Männer, aus Linz kommend die Enns-Brücke überqueren sollten, kam das zweite Rosenkranzbeten. Wenn sie uns damit auch aus den schönsten Spielen herausriss, war es doch weit weniger unangenehm als das im Morgengrauen, blühte uns doch ein freudiges Ereignis. Wenn die Bierführer mit Gotteshilfe und dank unserer Gebete die Rote Armee glücklich passiert hatten und sie mit vollen Fässern ins Bräuhaus zurückkehrten, gab Onkel Klaus den Erwachsenen ein Freibier aus. Das waren viele, lebten doch außer den Familienmitgliedern noch Knechte und Mägde im Bräuhaus. Dazu Sommergäste, Einlieger.

Wir Kinder bekamen ein Kracherl aus Bad Scharten und durften die Bier-Noagerl, die Neige, austrinken und den Schaum, den Fam, auflecken. Ich weiß noch gut, dass meine Finger noch zu kurz waren, um bis zum Boden zu gelangen. Am glücklichsten war immer Tante Sefi. Bei jeder Rückkehr war sie in ihrem Glauben gestärkt. Sie bespühte alle reichlich mit Weihwasser und lief dann zur Kirche in die Abendandacht, betete wieder den Rosenkranz, um sich beim lieben Gott für die Rettung der Mander zu bedanken.

Ich weiß nicht, ob sie jemals erfahren hat, worauf das Wunder auf der Enns-Brücke wirklich beruhte. Mir hat es Onkel Klaus, bei dem der Schalk immer locker saß, viele Jahre später anvertraut. Sobald sie mit dem Saurer am Ami-Posten ankamen, zeigten sie ihre Passierscheine vor und wurden schnell weitergeschickt. No problem. Go. Am sowjetischen Posten dauerte die Kontrolle länger, obwohl die Soldaten die Bierführer schon lange kannten. Während vorne am Führerhaus die Papiere immer wieder umgedreht wurden, machten sich zwei Soldaten hinten am Anhänger zu schaffen. Dort hatte Onkel Klaus ein 50-Liter-Fass für sie bereitgestellt, das sie sehr schnell in ihr Wachhäuschen rollten.

Ich nehme an, dass Onkel Klaus seine Schwester Sefi nie in ihrem Glauben an die göttliche Hilfe erschüttert hat. Sie ist hochbetagt und hochkatholisch verstorben. Soweit ich weiß, friedlich. Ich selbst kann mich bis heute nicht entscheiden, ob es das Linzer Lagerbier war oder unser Rosenkranzbeten. Jedenfalls sind die Männer in der Russen-Zeit immer unversehrt heimgekommen. Als im 55er Jahr die wirkliche Befreiung kam, wohnten wir bereits in Wien, sahen die Russen abziehen und hörten im Radio Österreich ist frei!

10.5.19

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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