Kategorie-Archiv: Veronika Seyr

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Kaiser Joseph II. und der besoffene russische Kutscher

Fürst Grigorij Anatoljewitsch Potjomkin, der Liebhaber und Feldherr Zarin Katharinas der Großen, ging in die Weltgeschichte mit seinen Fake-Dörfern ein und bis heute ist mit den potjomkinschen Dörfern ein allseits verwendetes Sprichwort geblieben, auch wenn meist falsch ausgesprochen und betont.
Er hat für die Zarin den Kaukasus erobert und die Grenzpflöcke des russischen Imperiums bis an den Ural herangerückt. Dass er aber die zwei größten Reiche, Russland und Österreich, vor einer Katastrophe bewahrt hat, ist in der Erinnerung der Völker und ihrer Historiker vergessen, ausgeblendet oder absichtlich verschwiegen worden.

Bei dieser Inspektionsfahrt durch die südukrainischen Dörfer, deren Elend und Armut Potojomkin mit bemalten Kulissen zu beschönigen versuchte, war die Herrscherin nicht allein, sondern sie hatte einen hohen Gast bei sich, den Grafen von Falkenstein, der in Wirklichkeit niemand Geringerer war als die höchste apostolische Majestät des Heiligen Römischen Reiches, Kaiser Joseph II. von Österreich. Joseph interessierte sich für seine nord-östlichen Randgebiete Galizien und Bukowina, die erst kürzlich nach einem Sieg über die Türken an Österreich gefallen waren. Und diese Gebiete stießen an die südwestliche Ecke Russlands. Darüber hinaus suchte er nach Kooperationen mit Russland gegen die Türken und Regulierungen zur ersten Teilung Polens.

Der reiselustige Kaiser wollte sich immer selbst ein Bild machen von den Zuständen in seinem Reich, angefangen von den verheerenden Hungersnöten in Böhmen und Mähren 1771 bis zum Besuch bei seiner Schwester Marie Antoinette in Paris. In Böhmen fand er die Ursache des Elends der Bauern in der Leibeigenschaft, am Pariser Hof die andauernde Kinderlosigkeit in der Phimose Ludwigs XIV., die er umgehend von seinen Wiener Ärzten beheben ließ. Und voilà, ein Thronfolger erblickte zehn Monate später das Licht der Welt.

Joseph hatte gerade die mühsame 15-jährige Mitregentschaft mit seiner Mutter Maria Theresia hinter sich gelassen und war Alleinherrscher. Da machte er sich auf ins Zarenreich. Ihm bereiteten die türkischen Besitzungen in der Südwestgrenze des russischen Reiches Sorgen. Er wollte die Zarin und ihren Feldherrn davon überzeugen, dass sie die Osmanen aus den Khanaten von Moldawien, Bessarabien, der Walachei und der Krim hinter das Schwarze Meer zurückdrängen sollten, damit sie keine unmittelbare Gefahr mehr für ihre Reiche sein würden.

Beim allzeit kampfbereiten Potjomkin war sich Joseph sicher, offene Türen einzurennen, aber von Katharina wusste er, dass sie Reformen in den zentralen und westlichen Regionen einführen wollte und die Bauernbefreiung nicht eine Sekunde ernsthaft bedacht hatte. Er beabsichtigte, sich mit ihr über seinen eigenen Kampf um die ganze Palette an Reformen zu unterhalten, ohne dabei den militärischen Aspekt zum Schutz der Außengrenzen zu vernachlässigen.
Was nützten die besten inneren Reformen, wenn die Grenzen des Reiches nicht sicher waren und die Türkengefahr jederzeit zurückkehren könnte. Österreich kannte diese ständige Bedrohung aus dem Südosten seit Jahrhunderten, seit der Schlacht von Mohacs und der ersten Türkenbelagerung Wiens vor mehr als 250 Jahren.

Der kaiserliche Tross hatte in der Kleinstadt Berdjajewo südwestlich von Kiev haltgemacht und die Rösser gewechselt. Diesen Ort hatte Potjomkin besonders hübsch herausputzen lassen, mit sauberen, bunten Holzhäuschen, einer stattlichen Schenke und einer kleinen Kirche.
Nur die Poststation mit der Schenke war ein echtes Haus, alles andere waren Kulissen oder frisch angefärbelte, mit Girlanden und Fähnchen geschmückte ukrainische Bauernhütten. Sogar die ansonsten immer schlammige und von tiefen Furchen durchzogene Straße hatte er mit Holzplanken versiegeln lassen. Vor den Kulissen stand ein Spalier von schmuck gekleideten Bauern in ukrainischen Trachten, sie winkten dem Tross zu und warfen Blumen auf die Kutschen.

Potjomkin war ein genialer Feldherr und Organisator. Katharina und Joseph hoben die Vorhänge ihrer Kutsche und winkten dem Landvolk huldvoll zurück. Potjomkin war zufrieden, dass sein Kulissenschwindel geglückt war. Fürs Erste. Denn sobald sie aus Berdjajewo rausgefahren waren, zeigte die Staatsstraße Nr. 1 wieder ihr altes Bild: holprig, tiefe Furchen, Dreck.
Potjomkin hatte angeordnet, dass hunderte von Bauern fünf Werst vor dem Zug Sand und Erde streuen sollten, um die Löcher auszufüllen. Die tiefsten sollten sie mit Holzpflöcken entschärfen, die Brücken sollten sie ausbessern und verstärken und das Vieh vom Weg vertreiben.
Die Zarin und der österreichische Kaiser sollten möglichst wenig merken vom erbarmungswürdigen Zustand des Landes.

Seine Sorge war unbegründet, sie waren ins Gespräch vertieft und verstanden sich prächtig. Katharina die Große, die ehemalige Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst, war glücklich, sich wieder einmal ihrer Muttersprache bedienen zu können – wenn auch mit lokalen Sprachunterschieden –, wobei sie ansonsten mit ausländischen Staatsmännern und Philosophen auf Französisch korrespondierte und parlierte.
Der Kaiser, Aufklärer durch und durch, bevorzugte es, in seinem eigenen Reich anonym zu reisen, um direkt an die Bevölkerung heranzukommen und sich ein realistisches Bild von den Zuständen in den Provinzen machen zu können. Insgesamt hat er 48 Reisen kreuz und quer durch Europa unternommen und schon 15.000 Meilen zurückgelegt.

Als Gast der Zarin musste er sich den umfangreichen Vorkehrungen des Fürsten Potjomkin beugen, beim Zug der 200 Kutschen, 300 Begleitwagen, Ochsengespanne und einer Herde von Rindern und Schafen, mit jedem Pomp und Gloria und Schwindel. Der asketische Joseph mochte so etwas nicht. Aber schließlich ging es jetzt nicht um seine eigenen Länder, die er anonym als Graf von Falkenstein bereiste, um zu erfahren, wie man die Lage der Landbevölkerung verbessern könnte, mit großen Plänen zur Bauernbefreiung, für Staats-, Wirtschafts- und Sozialreformen, das Toleranzpatent zur weitreichenden Religionsfreiheit bis zu kleinlichen Hygienemaßnahmen.
Er hoffte, bei Katharina ein offenes Ohr für seine Visionen von einem gerechten Staat zu finden, unterhielt sie sich doch mit den großen Aufklärern Voltaire und Diderot über ähnliche Fragen. Sie hatten also viel Gesprächsstoff und haben dabei weder auf Wetter noch Wege geachtet.

Alles, praktisch alles hatte der getreue Fürst Potjomkin vorausgeplant. Trotz des Heeres von Sand streuenden und Pflöcke einschlagenden Leibeigenen als Vorhut hatte Potjomkin eines nicht bedacht – die Launen des Wetters in diesen Weiten und Gegenden. Im Sommer brannte entweder die Sonne unbarmherzig vom Himmel herab, oder es gingen schreckliche Regenwetter hernieder.
Und so kam es zwischen den Dörfern Berdjajewo und Iwanovo zur Fast-Katastrophe. Die ukrainischen Himmel öffneten ihre Schleusen, Regenbäche ergossen sich auf Menschen, Rösser, Wagen und Wege. Rinnsale verwandelten sich in reißende Bäche. Bald wurde die Staatsstraße Nr. 1 zu einem Band aus tiefem Schlamm. Unentrinnbar. Das mussten Jahre und Jahrhunderte später auch die späteren Gröfazs Napoleon und Hitler erfahren, allerdings in Herbst und Winter.

Die Kutschenräder versanken lautlos bis zur Nabe in der weichen, ukrainischen Schwarzerde. Die Kutscher schlugen wie verrückt auf die Rösser ein, ohne sie einen Zentimeter herausbewegen zu können. Besonders wild trieb es der Kutscher der ersten Staatskarosse. Nicht nur trug er die größte Verantwortung, er hatte auch als Einziger in der Schenke beim Rösserwechsel die Gelegenheit gehabt, einige Gläschen Wodka zu viel in sich hineinzugießen. Diese gaben ihm solche Kräfte, dass er besonders stark und zornig auf die Tiere einschlug. Die Pferde im Sechser-Gespann kämpften tapfer, das Gefährt aus dem Schlamm herauszukriegen, aber einmal stiegen sie unter den unaufhaltsamen und erbarmungslosen Schlägen hoch, scheuten, zogen wie verrückt nach links und rechts, die Geschirre verwirrten sich ineinander, bis die Deichseln brachen und sie die schwere Karosse zum Überschlag brachten.
Sie neigte sich zur Seite und rutschte im Schlamm sachte, aber unaufhaltsam, in den aufgeweichten Straßengraben. Potjomkin in der dahinter fahrenden Karosse sah nicht lange dem Unglück zu, sprang heraus und stürzte zur kaiserlichen Kutsche. Sie lag mit einer Seite vollständig im Schlamm, und der Wagenschlag ließ sich nicht öffnen. Tollkühn kletterte Potjomkin auf das noch aus dem Sumpf ragende Dach und versuchte, die andere Seite zu öffnen.

Welch ein Bild bot sich da im Inneren! Die betagte und extrem übergewichtige Zarin hatte mit ihrer Körperfülle, den Brokatkleidern, Unterröcken und Miedern den zarten, kleinwüchsigen Kaiser fast vollständig zugedeckt. Politischen Beobachtern, wenn es sie damals schon gegeben hätte, wäre das als Sinnbild der Kräfteverhältnisse einen Kommentar wert gewesen. Der Kaiser lag am Boden im untersten Winkel der Kutsche, nur die dünnen, weiß-seidenen Beinchen ruderten vergeblich unter den Massen aus Stoff und Fett in der Luft herum wie bei einem umgedrehten Käfer.
Mit Hilfe des plötzlich wieder nüchternen Kutschers konnte Potjomkin den Kaiser gerade noch vor dem Erdrückt- und Ersticktwerden retten. Wie muss sich Joseph unter diesem stinkenden, dampfenden Fettberg gefühlt haben?

Niemand weiß es, weil alle Beteiligten geschwiegen haben oder aus dem Leben geräumt wurden. Wenn schon diese Begebenheit von der Geschichte vollständig verschluckt worden ist, umso weniger ist davon bekannt, wie die Reise danach weiter verlief, ebenso wenig, wie die gekrönten Häupter aus dem Kuddelmuddel von verrutschten Perücken, verschobenen Miedern, zerdrückten Spitzenjabots, zerknitterten Unterröcken und verschmutzten Schnallenschuhen wieder zu ernsten Staatsgeschäften übergingen.

Haben sie Karten gespielt, nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren und ihre Kleidung in Ordnung gebracht hatten? Haben sie Champagner getrunken und Zuckerwerk genascht? Haben sie über Landkarten gebrütet, Grenzen verschoben, Länder eingenommen und Feinde besiegt?

Irgendwie muss es gelungen sein, denn sie haben Geopolitik gemacht. Historisch gesichert ist das Verteidigungsbündnis, das Katharina und Joseph 1781 gegen die Türken schlossen, und dass sie den Vertrag unterzeichneten, der die Teilung Polens besiegelte.
Joseph sollte später geheimnisvoll notieren, dass der schwerste Kampf seines Lebens in der Ukraine stattgefunden habe, vielleicht so besonders bedrohlich, weil Katharina damals seiner eben verstorbenen Mutter Maria Theresia zum Verwechseln ähnlich gesehen hatte. (Wenn Freud das gewusst hätte, wäre seine Analyse des Ödipus-Komplexes vielleicht anders ausgefallen …)

Bei aller Unterschiedlichkeit von Katharina und Maria Theresia, hatten sie eine verhängnisvolle Leidenschaft gemeinsam: Sie waren entsetzliche Naschkatzen (Ersatzhandlungen?), dementsprechend zur Fülle neigend und am Ende des Lebens schwer zuckerkrank. So ist in den Unterlagen des Hofarchivs verbrieft, dass Maria Theresia zum 40. Thronjubiläum von Fürst Esterhazy die Festung Esztergom aus Zucker im Maßstab von 1:50 geschenkt bekommen und aus Trauer um ihren geliebten Franz Stephan zur Gänze aufgegessen hat, samt Klosteranlagen, Parks und Besuchern.
Potjomkin eilte von Sieg zu Sieg gegen Türken, Georgier, Armenier und sibirische Steppenvölker. Er schenkte Katharina nach jedem militärischen Erfolg ganze Soldatenformationen aus Marzipan, die sie nachts heimlich verputzte, weil sie wegen ihrer krankhaften Körperfülle keine Liebhaber mehr empfangen konnte.

Als er von den schwierigen Umständen in der Ukraine schrieb, ahnte er nicht, was ihm sechs Jahre später blühen würde. Katharina und ihr Feldherr Potjomkin bereiteten gerade den 3. türkischen Krieg vor, als sie ihn wieder in die Ukraine einlud, diesmal zu einer Flussfahrt auf dem Dnjepr. Joseph war schon etwas müde und nicht mehr so reiselustig, außerdem fühlte er sich alt und krank.
Der Feldherr hatte eine riesige Flussflotte bauen lassen, allerdings mehr zur Demonstration der Stärke und zur Einschüchterung des Sultans … Es wurden Manöver und Gelage abgehalten, Feste gefeiert, Feuerwerke entlang der Ufer ausgerichtet, während sie dem Schwarzen Meer entgegensegelten.
Fürst Potjomkin wurde nach der glücklichen Reise von Katharina mit so großen Gütern in Kleinrussland und Vorder-Kaukasien und mit so vielen leibeigenen Seelen belohnt, dass er zum zweitgrößten Grundbesitzer nach den Romanows aufstieg. Der Kutscher wird nach damaligem heiligen russischen Brauch eher mit ebenso vielen Stockschlägen bedacht worden sein.

Katharina hatte am Türken-Bashing Geschmack gefunden und konnte Joseph noch 1787 bis 88 in einen für Österreich wenig erfolgreichen Krieg gegen die Türken hineinzwingen, der erst nach seinem Tod mit dem Frieden von Schestow zugunsten Russlands zu Ende ging. Potjomkin hatte die Osmanen aus den europäischen Khanaten vertreiben und die Grenzen des Zarenreiches weit nach Asien hinein ausdehnen können. Der Eroberung Sibiriens bis zum Pazifik waren Tür und Tor geöffnet.

Aber wer vermag sich auszumalen, wie Europa und die Entwicklung Russlands ausgesehen hätten, wenn Joseph und Katharina zwischen den potjomkinschen Dörfern Berdjajewo und Iwanovo im Wortsinn auf der Strecke geblieben wären.

20./21.12.21

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22013

 

Küchenkulturen von New York bis Moskau 5

Kaviar im Königsschloss

Lange schon bedrängte ich meine Freundin Zhenja, sich neue Brillen machen zu lassen. Nicht direkt, ich machte versteckte Bemerkungen und Anspielungen, legte es ihr nahe, umschmeichelte, lockte sie auf alle erdenklichen diplomatischen Weisen. Bei uns würde man sagen, sie trug ein Krankenkassenmodell, wahrscheinlich das hässlichste Krankenkassenmodell auf der ganzen Welt. Man sieht solche Gestelle nur noch auf alten Schwarz-Weißs-Fotos von Kriegsgefangenen oder aus Entwicklungsländern. Mahatma Gandhi im Hungerstreik, fällt mir dazu ein. Ein dickes Folterwerkzeug vor den Augen, das das ganze Gesicht zur Unkenntlichkeit entstellte. Ich ging Umwege, indem ich ihr das grazile Silber-Etui schenkte, das sie bei mir bewundert hatte. Ihre alte Brille passte allerdings nicht in das schmale, elegante Etui mit Goldrand und rotem Innensamt. Eine gelungene Jugendstil-Kopie aus dem Dorotheum. Macht nichts, sie verwendet es für ihre zarte Sonnenbrille, die sie allerdings kaum trug. So lag das Etui als Schaustück auf ihrem Schreibtisch.

Ich wollte ihr das neue Brillengestell schenken, sie müsste dafür nur zu einem Optiker gehen und eines aussuchen. Vielleicht beim nächsten Besuch in Wien, zusammen mit mir bei meinem bewährten Meister auf der Wieden. Mit der besten Beratung und allen Prozenten. So lockte ich und umwarb sie. Aber Zhenja blieb taub auf diesem Ohr – bzw. blind auf dem Auge.

Warum wollte sie ihr Veteranen-Brillengestell nicht gegen ein neues austauschen? Es passt so gut, liegt genau richtig auf meiner Nase und drückt nicht hinter den Ohren. Perfekt. Es ist aus Deutschland, Ost-Berlin und von Zeiss, Baujahr 47. So etwas finde sie nie wieder, war sie überzeugt und widerstand all meinen Versuchungen. Mir war es peinlich, sie anzusehen, wenn sie diese Brille trug. Nicht zu Hause bei sich oder bei mir, aber in der Öffentlichkeit, fremdschämen nennt man das.
Zhenja war klein, zierlich, bewegte sich mit ihren achtzig Jahren fast jungmädchenhaft, immer elegant gekleidet und perfekt frisiert. Sie war eine durch und durch erfreuliche Erscheinung, machte immer und überall eine bella figura – bis auf die Brille, die war einfach nur grässlich, ein Stilbruch. Das Gestell war riesengroß und fast rund, von unbestimmter Farbe, ein Grau-Gelb wie von einer brüchigen, vergilbten Seide oder einem Totenantlitz. Die Brille ragte weit über Zhenjas schmales Gesicht hinaus, war leicht schief und mit so dicken Gläsern versehen, dass sie aus dem Rahmen herauszuquellen schienen.

Wenn sie den Kopf neigte, beim Lesen etwa, rutschte sie auf die Nasenspitze, verlängerte sie unbarmherzig und bildete einen hässlichen Höcker aus, dass sie den Illustrationen von Baba Jaga oder der Hexe im Knusperhäuschen glich. Bei künstlichem Licht warfen die Gläser Spiegelflecken auf die Wangen, sodass sie hohl wirkten wie bei einem Totenkopf. Uhu war noch das Schmeichelhafteste, was einem dazu einfiel. In einem bestimmten Winkel zauberte die schiefe Ecke sogar eine Riesenwarze in den linken Nasenbogen. Ich war sicher nicht die einzige Person, die sie auf dieses Brillengesicht angesprochen hat. Also trage ich nicht allein die Schuld, an dem Verhängnis, das sich da anbahnte.

Aber es passte zu Zhenja, dass sie sich nicht darum kümmerte, welchen Eindruck sie auf die Umgebung machte. Sie war ein durch und durch unabhängiger Mensch, echt, aufrichtig und uneitel bis zur Schmerzgrenze. Ich glaube, auch bei den Mitmenschen ein Verwundern über die Diskrepanz zwischen der Brille und ihrer übrigen Erscheinung bemerkt zu haben. Aber Zhenja war ein so ungewöhnlicher Mensch, mit einer so unglaublichen Biographie und einem solch gewaltigen Lebenswerk, dass es niemanden gab, der sie nicht liebte und bewunderte. Alle genossen ihr Talent zum Scherzen, am meisten über sich selbst. Aber bei den Toasts zu ihrem Geburtstag kam immer wieder die Conclusio: Vor allem und über allem: Sie ist a Mänsch.

Als Günter Grass 2000 den Literaturnobelpreis bekommt, lädt er Zhenja nach Stockholm ein. Zur Preisverleihung kann Grass nur seine Frau Ute mitnehmen, weil es dort nur begrenzt Platz gibt. Aber am Dinner im königlichen Schloss darf neben Zhenja auch ihre Tochter Natascha teilnehmen. Das hat Grass höchstpersönlich dem Palastprotokoll abgerungen. Grass wusste, was er an ihr gehabt hatte in den letzten drei Jahrzehnten. Wenn Zhenja etwas gegen die Zensur durchboxte, hieß das Millionen-Auflagen in der Sowjetunion und im ganzen Ostblock. Aber vor allem wirkte das in die DDR zurück und von dort wiederum in den Westen.

Der Preisträger hat wie selbstverständlich seine langjährige Russisch-Übersetzerin und Kämpferin für seine Werke in der Sowjetunion mitsamt Natascha eingeladen, die Tickets, das Hotel und den viertägigen Aufenthalt in Stockholm bezahlt. Über die Jahrzehnte waren sie und der Weltautor gute Freunde geworden. Mit dem ihr eigenen Humor freute sie sich diebisch über den dem DDR-Regime abgerungenen Freibrief für Grass, mit dem sie die sowjetische Zensur ausgetrickst hatte. Bei einer privaten Geburtstagsfeier übersetzte ich einmal für Grass und seinen Verleger Steidl die etwas pathetischen Worte: „Zhenja hat uns in ihre russische Familie aufgenommen!“, ohne die blasseste Ahnung zu haben, was russkaja semja bedeutete. Er hat sie nach Westberlin eingeladen, den Besuch bei Böll in Köln eingefädelt und den bei Frisch in der Schweiz. Später war sie Gast auf Grass’ Landsitz in der Uckermark, hatte sich mit Grassens Uttilein befreundet, mit deren Freunden Christa Wolf und ihrem Mann Gerhard und vielen anderen deutschen Literaturgrößen. In ihrer mit Büchern vollgestopften 27 Quadratmeter großen Einzimmer-Wohnung hingen an den einzigen bücherfreien Flecken zwei große Zeichnungen von Grassens Hand – ein Porträt von sich selbst an seinem Schreibtisch mit Pfeife im Mund und ein Stillleben seiner Pfeifensammlung.

Zhenja machte mir die Ehre, mich in manchen Angelegenheiten ihrer Tochter vorzuziehen, etwa als arbitrix in gustibus. Sie hatte volles Vertrauen in meinen Geschmack, das Richtige auszuwählen, was sie zum königlichen Dinner anziehen sollte. Es wurde ein mitternachtsblaues, bodenlanges Kleid aus Samt, das ihre Schmalheit ein wenig üppiger machte, schlicht, nur eine Silberbrosche am Ausschnitt mit einer silbernen Stola. Sie war einverstanden. Sie würde Königin Silvia in den Schatten stellen, war ich überzeugt. Zuletzt schwatzte ich ihr noch eine kleine Clutch auf, gerade groß genug für ein Taschentuch und eine Brille. Ich war bei all meinen Reisen noch nie an einem lebendigen königlichen Hof gewesen, bin noch nie an einer königlichen Tafel gesessen, aber Zhenja hielt mich auch ohne diese Erfahrung für ausreichend weltgewandt.

Ich brachte die beiden Damen nach Sheremetjewo II hinaus, und wir verabredeten uns zum Abholen. In fünf Tagen also, Flug SAS 209 aus Stockholm. Gut sahen sie aus, die elegante, alte Dame mit ihrer hübschen Tochter, ihr ganzer Stolz, ihr Augenstern und Herzblatt, ihr Sonnenschein und das Einzige, wofür Zhenja wirklich lebte. Sie hatte sie erst spät bekommen, als keine Hoffnung mehr bestand – ein Wunder.

Es kam der Ankunftstag, die Maschine aus Stockholm landete, und ich wartete auf die Damen. Aber sie kamen nicht. Ich ging zum Informationsschalter, aber in Russland war es nicht üblich, Auskunft über die Passagierlisten zu geben, außer es war mit dem Flugzeug ein Unglück geschehen. Und das war offensichtlich nicht der Fall. Die Maschine des Fluges SAS 209 stand fest auf dem Moskauer Rollfeld. Schwer verunsichert und mit einem flauen Gefühl fuhr ich zurück in die Stadt. Es vergingen noch fünf Tage, ohne dass ich eine Nachricht von Zhenja oder Natascha bekommen hätte. Endlich kam der erlösende Anruf, wir sind in Moskau und alles ist in Ordnung. Was ist passiert? Alles okay, jetzt wieder. Da ich gerade in der Arbeit war, konnten wir nur kurz sprechen. Wir verabredeten uns für den Abend bei ihr in der Wohnung. Mit klopfendem Herzen, lauter als alle Kremlglocken zusammen, fuhr ich hinaus ins Dichterviertel.

Zhenja schien in diesen zehn Tagen geschrumpft zu sein, ihr Gesicht war blass, fast durchsichtig und eingefallen. Aber sie lachte schon wieder über die Ereignisse, die hinter ihr lagen. Sie sah in der Tragik zugleich auch die Komik. Alles war gut gegangen, alles sehr feierlich. Die aus Deutschland stammende Königin hatte ihr, der kommunistischen Weltkriegsteilnehmerin und Befreierin von Berlin, der sowjetischen Kulturoffizierin in Ost-Berlin, die Hand geschüttelt und ein paar freundliche Worte gesprochen über ihre Übersetzertätigkeit in der deutschsprachigen Literatur, sehr gnädig. Auch Rilke und Böll, Kafka, Frisch, Dürrenmatt und eben Grass. Die kannte sie aus ihrer Münchner Studienzeit. Sie waren fast Kolleginnen, hatte Silvia Sommerlath doch als Dolmetsch für Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Schwedisch gearbeitet, dazu noch die schwedische Gebärdensprache erlernt. Die Königin war offensichtlich gut gebrieft worden über die Gäste des Abends. Auch Zhenja hatte sich vorbereitet und schenkte der Königin ein Foto von sich in Berlin 1945 in der Uniform der Baltischen Flotte. Sie sah aus wie eine dunkelhaarige Marlene Dietrich.

Das Unglück war, dass Zhenja und Natascha nicht nebeneinander an der Tafel platziert worden waren, sondern nach den Gesetzen der Diplomatie, also der Kommunikationsfähigkeit. Zhenja kam neben dem schwedischen Dichterfürsten Tomas V. zu sitzen, auch ein Nobelpreisträger, dessen Deutsch blendend war. Sie kannte seine Gedichte in russischer Übersetzung und schätzte sie. Er war überglücklich über seine Nachbarin, mit der er sich über Marina Zwetajewa, seine Lieblingsdichterin, austauschen wollte. Was halten Sie von der Beziehung von Marina Zwetajewa zu Rilke, von „Meinem weiblichen Bruder“, wie sie ihn in einer hymnischen Schrift nannte. War da mehr? Und natürlich Marina Zwetajewa mit Anna Achmatowa vergleichen. Rilke und Lou Andreas-Salomé? Rilke und Russland? Ernst, oder nur Schwärmerei und Wortgeklingel wie so vieles bei Rilke?

Natascha saß weit weg, verdammt zwischen die Vertreter der russischen Botschaft, sie verdrehte die Augen ins Weiße und machte ein Gesicht wie ein sterbendes Pferd. Als Vorspeise wurden verschiedene Früchte des Meeres, Schätze der Ostsee, gereicht, reich garniert nach schwedischer Art. Ein Heer von Livrierten schritt an den langen Tischreihen entlang, bot große Platten an und legte auf. Es musste schnell gehen und reibungslos wie ein Uhrwerk, waren doch 1200 Gäste in einem eng begrenzten Zeitraum abzufüttern. Zwischen den Häppchen mit Dorsch, Lachs und Kabeljau, Thunfisch, Krebsen und Krevetten lagen Salatblätter, fein ziselierte Petersilrosetten, gedrechselte Zwiebelringe, zu Spiralen geschnitzte Kohlrabis, gesplittete Zucchini- und Gurkenscheibchen, aufgedröselte Broccoliköpfchen, gekringelte Passionsfrüchte, aufgezwirbelte Zitronenhälften und zu kleinen Kugeln gedrehte Karotten, das frischeste Orange, das sie je gesehen hatte. Sie meinte, alles war genau zu erkennen und blickte durch den Saal hinüber zu Natascha. Diese nickte aufmunternd, und so langte sie zu.

Bei Zweifeln hätte sie normalerweise die Brille genommen oder Natascha gefragt. Aber an der königlichen Tafel wagte sie nicht, ihre Brille aus dem Täschchen zu nesteln und aufzusetzen oder den berühmten Tomas V. zu fragen, ob das Orange auch sicher Karotten seien. Was denn sonst, doch keine Orangenschalen. Als sie den ersten Bissen nahm und die vermeintlichen Karotten ihre Kehle passierten, war es schon zu spät. Sie bekam einen Erstickungsanfall und fiel dem schwedischen Dichter in den Frackschoß wie eine welke Blume. Sie verlor so schnell das Bewusstsein, dass sie den kurzen Aufruhr, der danach entstand, nicht mehr miterlebte. Histaminischer Schock mit Atemlähmung. Zhenja wachte erst drei Tage später in einem Krankenbett des Karolinska auf, nachdem man sie künstlich beatmet hatte. Natascha war Tag und Nacht um sie, Grass hatte ein Bett für sie ins Zimmer stellen lassen und den Krankenhausaufenthalt bezahlt. Von den täglichen Besuchen der Grassen hatte sie nichts mitbekommen. Der Tisch und das Fensterbrett waren voll mit Blumensträußen und Bonbonnieren. Tomas V. hatte einen Strauß weißer Rosen geschickt mit herzlichen Genesungswünschen in Form eines deutschen Sonetts, las sie später im Briefchen. Sie war drei Tage mehr tot als lebendig gewesen, erzählte ihr Natascha. Wären sie beisammen gesessen, hätte die Tochter das Unglück verhindern können, denn sie würde erkannt haben, dass das Orange nicht von frischen Karotten stammte, sondern von Kaviar, auf den Zhenja allergisch war. So schwer, dass es lebensbedrohlich war, wenn sie nur mit ihm in Berührung kam. So ungewöhnlich und unglaubwürdig für eine Russin wie für einen Franzosen eine Weinallergie.

Zhenja kicherte still in sich hinein, wie sie dem schwedischen Langweiler mit seinem Russenschwarm entgangen war. Sie war völlig gelassen und schuldfrei gegenüber dem Tumult, den sie an der königlichen Tafel auslöste, hatte sie doch keine Erinnerung daran, nur Natascha bedauerte sie zutiefst, dass sie ihr so große Sorgen bereitet hatte. Sie entschuldigte sich tausendmal bei ihr für den Kummer, aber nie direkt, sondern stellvertretend bei mir. Ich diente ihr als punching ball, ihr mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa, das sie gegenüber Natascha nie aussprach. Sie verstanden einander ohne Worte, eine dichtere Symbiose zwischen Mutter und Tochter habe ich nie davor oder danach erlebt. Sicher eine Krankheit, auf beiden Seiten.
Ihr erster Mann war in den ersten Kriegstagen in Weißrussland gefallen, ihr zweiter nach der Geburt von Natascha, an einer Überdosis Alkohol. Vor lauter Freunde, sagte sie, andere sagten, er war immer schon Alkoholiker, ein ganz normaler Russe eben.

Wie oft hatten wir dieses Spiel gespielt: Mit wem würdest du am liebsten essen gehen? Sie immer mit Kafka, ich immer mit Dostojewski. Aber entschuldige, Zhenja, du weißt besser als ich, welch schwieriger Esser Kafka war. Natürlich wusste sie das besser als alle anderen, hatte sie doch die erste Übersetzung vom „Brief an den Vater“ erstellt, das berühmte schwarze Bändchen von 1963, einem kurzen Moment in Chruschschtows Tauwetter, und später nach der Perestroika alle seine Tagebücher. Bei Austriazismen war sie manchmal unsicher und zog mich zu Rate. Sie liebte Kafka und nannte ihn ihren Herzensbruder, den kleinen, klugen Bruder, den sie sich immer gewünscht hatte.

Das wäre kein fröhlicher Schmaus geworden, was er aß und so wie er aß, wandte ich ein. Übrigens, Dostojewski war auch kein angenehmer Tischpartner, das getreueste Abbild von sich selbst hat er in den „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ abgegeben, an denen ich mich mein ganzes Studium hindurch abarbeitete. Er war ein Rüpel und hat die Tischmanieren seiner sibirischen Katorga nie abgelegt. Du weißt doch, wie Turgenjew ihm in Baden-Baden aus dem Weg ging, weil er sich so sehr für seinen ungehobelten Landsmann genierte.

Aber genau das macht den Franz zu meinem Herzensbruder, mein Bruderleben, wir haben so vieles gemeinsam. Er war nicht kompliziert, wenn man ihn nur sich selbst sein ließ. Wir hätten jiddisch miteinander geredet und gemeinsam über Löwys Theatertruppe gelacht. Er lachte ja so gerne, am liebsten über seine grausamsten Texte, wenn er sie vortrug. Max Brod schildert die Szene, wie er sich beim Vorlesen der „Strafkolonie“ vor lauter Lachen verschluckte und außer Atem geriet.

Dann ging es weiter mit den Träumereien. Glaubst du, du hättest ihn retten können? Ja, war sie überzeugt, vielleicht nicht physisch, vor der Tuberkulose, aber seelisch, ich hätte ihn von seinem Leiden an der Jüdischkeit befreit. So wie Dora, aber da war es schon zu spät.

Aber Zhenja war Zhenja geblieben, auch nach dem traumatischen Stockholm. Sie konnte bei aller Gebrechlichkeit schon wieder scherzen: Da haben wir’s, voilà, der Beweis, mein Körper ist doch mehr jüdisch als russisch. Zhenja war in einem ukrainischen Stedtl geboren und aufgewachsen, mit Jiddisch als Muttersprache, mit strengen Bräuchen, die sie allerdings schon lange nicht mehr einhielt, bis auf die Lebensmitteltrennung. Schade um das schöne Dinner, schade um die sechs weiteren Gänge. Auch das ein Scherz, denn sie hätte es auch bei voller Gesundheit höchstens bis zum zweiten gebracht. Seit sie die 900 Tage und Nächte der Belagerung Leningrads und den großen Hunger überlebt hatte, konnte sie nur gerade so viel essen, dass sie nicht verhungerte. Sie kannte seit damals keinen Appetit und keinen Hunger mehr. So war der Große Vaterländische Krieg für sie nie zu Ende gegangen.

Wie weit meine Brillenwarnungen sie beim Dinner im Schloss beeinflusst haben, ich weiß es bis heute nicht. Sie hat es mir nie erzählt, und ich habe trotz unserer Freundschaft nicht zu fragen gewagt.

28.12.21

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 22012

 

Küchenkulturen von New York bis Moskau 4

Brautkauf in Tiflis bei Chatschapuri und Zinandali

Winter und Frühjahr 1991 waren in der verbleichenden Sowjetunion eine sehr unruhige Zeit.
Für Journalisten gab es natürlich nichts Aufregenderes, als einer Supermacht beim Sterben zuzusehen. Unabhängigkeitsbewegungen und nationale Streiks flammten im ganzen Land auf, keine der 15 Sowjetrepubliken blieb verschont. Es war klar, das Haus brannte lichterloh, es gab nichts mehr zu löschen.

Ich raste mit meinem Team durch das Riesenland und machte Momentaufnahmen von einer Zeitenwende. In der Ukraine gärte es schon seit den späten 80er-Jahren, zuerst die heftigen Bergarbeiterstreiks, wo soziale Fragen im Vordergrund standen und später in nationale Bewegungen übergingen. Am Beginn des Jahres meldeten sich die baltischen Staaten mit Unabhängigkeitsforderungen, dann kam Belarus und schließlich im April war der Kaukasus an der Reihe. Besonders heftig war der Kampf um die Macht in Georgien. Also flogen Vladimir, mein Kameramann, und Pavel, der Assistent, nach Tbilisi, wo gerade der letzte Präsident Swiad Gamsachurdia in bürgerkriegsähnlichen Tumulten gestürzt worden war und sich die Provinz Abchasien für selbständig erklärt hatte.

Im Informationsministerium, wo wir uns akkreditieren mussten, teilte man uns einen Dolmetsch für Georgisch zu, obwohl wir natürlich alle Russisch sprachen, also ein Aufpasser und Berichterstatter für das MI. Das war Gigi, ein junger Übersetzer für Englisch. Es war ein außergewöhnlich schöner Mann, hochgewachsen und imposant wie ein mittelalterlicher Held. Er war lustig und gesprächig, voll von den herrlichsten Geschichten. Schnell stellte sich heraus, dass er den Job in diesem KGB-Ministerium nur angenommen hatte, um ins westliche Ausland zu kommen. Von unserem ersten, verordneten Einsatz an in Gori, Stalins Geburtsdorf, verstanden wir uns prächtig mit Gigi. Er war durch und durch westlich geprägt, keine Funke von KGB-Mentalität.
Was mich besonders interessierte, war, dass sein Vater ein Cousin des gestürzten Präsidenten war. Meinem Wink, diesen Abkömmling eines der ältesten Adelsgeschlechter kennenzulernen, kam Gigi gern nach und verschaffte uns eine Einladung ins Patriarchenhaus. Eine Stadtburg hoch über dem wilden Fluss Kura, am Rande einer Schlucht gelegen, öffnete sich für mich, und ich fühlte mich wie im siebenten Himmel. Ja, ich hatte einen Traumjob, hochaktuell im Zeitgeschehen mit Einblicken in die tiefste Geschichte.

Ein Raum, groß wie ein Rittersaal, hatte in der Mitte eine voll gedeckte Tafel, an der das ganze Geschlecht der Gamsachurdia Platz gehabt hätte. Auf einem thronähnlichen Stuhl saß ein alter, bärtiger Mann von imposanter Größe, Gigis Vater. Die Mutter und andere weibliche Personen hielten sich zum Servieren im Hintergrund. Ich wollte das Gespräch sofort auf die politische Lage bringen, hatte aber nicht mit dem georgischen Brauch der Trinksprüche gerechnet. Nach den Runden an die Gäste mussten diese ihrerseits mit den Toasts antworten, ein langes, streng festgelegtes Ritual, das in keiner georgischen Runde fehlen durfte, sei es eine Königstafel, ein Familientisch oder ein Holzbrett bei Weinbauern. Frauen sprachen keine tosti, durften nur nicken und zuprosten, daher kam ich nie zu Wort. Es dauerte gefühlte zwei Stunden, und dann brachten die Frauen die Teller und Flaschen, das Gelage konnte beginnen.

Ich bat mir aus, die starken Getränke auszulassen und gegen einen Traubensaft einzutauschen. Der Hausherr genehmigte es gnädig, befahl dafür noch mehr Obstsäfte zu bringen, von Granatäpfeln und Zwetschken, dazu alle Arten von Mineralwässern, an denen Georgien reich ist. Zu allen Arten von Getränken erklärte der Patriarch, welches Stalins Lieblingsgetränk gewesen sei: Zinandali, der Weißwein aus Kachetien, Saperavi, der dunkelste Rote, Borschomi, das grässlich salzige Mineralwasser, und Ararat 7, der armenische Edelcognac.
Die Hausfrau hatte alle berühmten Gerichte der georgischen Küche aufgetragen; die Speisen wurden nicht hintereinander serviert, sondern alles stand gleichzeitig auf dem Tisch: Chatschapuri, das Käsebrot, gefüllte Auberginen, riesige Platten mit Schaschlikspießen, Lobio, die Bohnenpaste, Sazivi, das Hähnchen in Nusssauce, Chinkali, die gefüllten Teigtaschen, Tkemali, die Pflaumensauce, das beste Ketchup der Welt.

Gigis Vater wandte sich kein einziges Mal an mich, sondern nur an die drei Männer. Obwohl ich ihm als Chefin des Teams vorgestellt worden war, begann er mit Vladimir über mich zu verhandeln. Er redete nicht um den heißen Brei herum, sondern sprach seinen Plan offen aus: Ich sollte Gigi heiraten, damit er aus dem unruhigen Land rauskam. Der alte Haudegen war sicher, dass es zu einem Krieg kommen würde, und Gigi sollte in Sicherheit sein. Er bot dafür 20.000 DM. Wir zwinkerten einander zu. Vlado ging scheinbar ernsthaft auf den Handel ein, trieb aber den Preis höher bis auf 30.000 DM. Die Eheschließung würde mich nicht belasten, denn dem Vater schwebte vor, dass Gigi einen österreichischen Pass bekommen würde, mit dem er dann weiter nach GB oder USA gelangen könnte, wo die Familie Gamsachurdia eine weitverzweigte Verwandtschaft habe.

Dass ich 15 Jahre älter war als Gigi, machte ihm auch kein Kopfzerbrechen. Die Familie würde schon das richtige georgische Mädchen für ihn finden. Er blinzelte fröhlich mit den Augen, die schon langsam glasig wurden. Ich amüsierte mich köstlich, wie der Patriarch mit Vlado einen Pakt schloss, mit vielen tosti besiegelte und mit viel Ararat begoss. Der Brautpreis war inzwischen auf 50.000 DM geklettert. Er wollte zeigen, dass es ihm ernst war, und machte sich zu einem Nebenzimmer auf, um das Geld zu holen. Aber es muss ihn jemand aufgehalten und abgefangen haben, wahrscheinlich seine Frau oder andere Verwandten, er kam nicht mehr ins Zimmer zurück. Was der Alte wahrscheinlich nie erfahren hat, war, dass Gigi und ich uns tatsächlich näherkamen und er in den nächsten Monaten jedes Wochenende etwas Wichtiges in Moskau zu erledigen hatte.

Ich lernte Georgisch, Gigi brachte Schallplatten mit georgischer Musik mit, dazu viele Speisen und Getränke, solange, bis ich auch schon bald meinen Lieblingsweißen- und -roten hatte, meine Wohnung füllte sich mit Souvenirs, und ich begann unter Gigis Aufsicht, mit georgischen Speisen zu experimentieren, und habe bis heute damit nicht mehr aufgehört.

Veronika Seyr
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Küchenkulturen von New York bis Moskau 3

Asja fiel mir sofort auf, als ich sie zum ersten Mal sah, beim Botschaftsempfang zum Nationalfeiertag. Sie servierte Tabletts mit Getränken und Kanapees, in einem schwarzen Kleid mit weißem Schürzchen. Die Frau war über 50, und für eine russische Frau in diesem Alter auffallend schlank und zart. Das glatte, schwarze Haar hatte sie zu einer eleganten Spirale aufgesteckt, das schmale Gesicht war vollständig ungeschminkt. Sie hätte in jedem Lokal zwischen Wien und Paris servieren können. Sie zog mich an. Als ich sie kennenlernte, erfuhr ich, dass sie aus der südossetischen Provinz Georgiens stammte, aber schon lange in Moskau lebte.

Sie war Köchin in der Schweizerischen Botschaft und hatte einen sagenhaften Ruf. Mit der Chefin Heidi T. war ich befreundet, und sie erlaubte, dass Asja, einigen unserer Diplomaten bei Empfängen und Dinners aushalf. So engagierte ich Asja für einen österreichischen Adventabend in meiner Dienstwohnung. Und wie kann eine österreichische Vorweihnacht stattfinden ohne Vanillekipferl?

Ich kaufte selbst alle Ingredienzien ein, den Vanillezucker hatte ich aus Österreich mitgebracht. Das Briefchen von Dr. Oetker zeigte auf der Rückseite ein Vanillekipferl, darunter das Rezept und die Anleitung. Ich konnte Vanillekipferl seit meiner Kindheit selbst machen, hatte ich mit meinen Schwestern doch unter der Anleitung unserer Mutter hunderttausende Kipferl hergestellt und vielleicht ebenso viele gegessen. Teig kneten, immer und immer wieder, bis zur richtigen Konsistenz. Dann ruhen lassen.

Aber derzeit hatte ich extrem viel zu tun, und ich würde keine Zeit zum vorweihnachtlichen Backen finden. Ich übersetzte für Asja den Text, schreib einige Arbeitsanweisungen dazu, stellte das Backblech auf den Ofen, eine Schale für das Zucker-Vanille-Zitronenabrieb-Gemisch zurecht, dazu eine Blechdose, mit Seidenpapier ausgeschlagen, in der sie die fertigen Vanillekipferl aufbewahren sollte. Am Tag davor erklärte ich Asja in meiner Küche noch einmal alles und zeigte ihr die Zutaten. Sie war hell, klar und schnell auffassungsfähig. Sie hatte schon mehrmals bei mir gekocht, noch öfter serviert, sie kannte sich aus in meinem Haushalt.

Kein Problem. Es würde alles gutgehen. Von Besuchen in der Schweizerischen Botschaft hatte ich die Erfahrung, dass sie die kompliziertesten Speisen aus aller Herren Länder köstlich und ansehnlich zuzubereiten wusste, die sie sicher nicht aus ihrer südossetischen Heimat kannte.
Schließlich rissen sich alle Kolleginnen um Asja, sei es als Köchin, Servierkraft oder Schulter zum Ausweinen, zumindest für die, die der russischen Sprache mächtig waren. Auch sie schüttete mir ihr Herz aus, bei mir ist alles gut, aber Mann, Sohn.
Bei mir waren es die heimischen Vanillekipferl, die ich ihr anvertrauen wollte. Als ich spätnachts und erschöpft von meinem zweitägigen Besuch aus Minsk in meine Wohnung am Ukrainski Bulvar zurückkehrte, lag ein leichter Hauch von Vanille über den Zimmern.
Fein, danke, Asja.

In der Küche stand die mit geschmückten Christbäumen und Engeln verzierte Blechdose auf der Anrichte, genau dort, wo ich sie hingestellt hatte. Ich befreite mich von meinen hochhackigen und völlig durchnässten Stiefeln und öffnete erwartungsvoll die Keksdose. Blanke Leere gähnte mir entgegen. Hastig durchstöberte ich alle Küchenschränke, nichts. Ich sah mich in der Küche um, alles blitzblank sauber, nicht das geringste Bröserl. Wie immer, Asja war immer perfekt.
Danke, Asja!

Da entdeckte ich, dass das Fach für die Backbleche neben dem Herd leer war.
Das brachte mich auf den Gedanken, im Rohr nachzusehen. Ich ging in die Knie und öffnete die Tür.
Was sah ich dort? Das ganze Backblech war ausgefüllt mit einem einzigen, großen Vanillekipf. Sie hatte genau nach dem Bild auf dem Oetker-Briefchen die ganze Teigmasse zu einem einzigen Riesenkipf verarbeitet, fein mit Zucker überstreut, noch immer duftend, aber leider steinhart.
Nachdem wir gemeinsam unmäßig gelacht hatten, zerschlugen wir den Kipf mit einem Hammer in kleine Teile, um nicht zu sagen in Brösel, und füllten sie in die Keksdose. Wie soll ein Mensch aus Südossetien denn wissen, dass es Kipferl und einen Kipf gibt. Sie hatte sich genau an das Rezept und an das Bildchen auf dem Oetker-Päckchen gehalten.
Danke, Asja!

Bei jedem Besuch von Asja in diesem Winter pickten wir Vanillekipf-Krümel aus der Keksdose und lachten uns krumm und bucklig. Es erleichterte sie, hatte sie doch einen Alkoholiker-Mann zu Hause, einen Afghanistan-Veteranen, und einen Sohn, der sich zum Kämpfen nach Tschetschenien gemeldet hatte.
Asja, mit welcher südossetischen Speise hätte mir etwas Ähnliches passieren können?
Hm, vielleicht mit den Teigtaschen, den Chinkali. Aber wir brauchen keinen Oetker mit dummen Bildern. Das hätte dir schon deine Mutter oder die Schwiegermutter beigebracht.
Auch bei den Georgiern eine Leibspeise. Übrigens, auch kipferlähnlich, mit Füllungen aus Kräutern, Erdäpfeln, Käse oder Pilzen.
Und wir zerkugelten uns noch immer über den Vanille-Kipf, als im TV Präsident Boris Jelzin das Zepter an einen kleinen, unbekannten KGBler namens Putin übergab.

16.12.21

Veronika Seyr
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Küchenkulturen von New York bis Moskau 2

Von Crepes, Apfelstrudel und Vanillekipferln

Im Haus der Wagners in New York war ich mehr Haustochter als Au-pair-Mädchen.
So etwa freute sich die älteste Tochter Kit, damals im letzten Jahr der High School, über mich als ältere Schwester und als Entlastung gegen ihre kleinen Geschwister.
Sie bestand darauf, dass ich in ihrem Zimmer schlief, ihre Kosmetika benutzte und sie mich an ihrer Garderobe teilhaben ließ. Die Kultur der BHs war eine Erleuchtung für mich. Sie weihte mich ein in die Geheimnisse des Beine- und Achselrasierens, des Körperpuderns und der Tampax. Stolz präsentierte sie mich in ihrer Klasse, ihre Lehrer luden mich ein, etwas über mein Heimatland zu erzählen und den Unterschied zwischen Austria und Australien zu erklären. Alle waren begeistert, ein lebendes Exemplar aus dem Land des „Sound of Music“ vor sich zu haben, dessen Melodien damals alle kannten und nachträllerten. „Edelweiss, Edelweiss.“

Zum Nations Day der High School etwa sollten alle ausländischen Angehörigen in ihren Trachten in die Schule kommen und etwas Landestypisches mitbringen. Kit wollte mich dabei haben, und ich fühlte mich doppelt geehrt. Aber was anziehen und was mitbringen? Zum Glück blieb genügend Zeit, um mir von zu Hause mein Salzburger Dirndl schicken zu lassen, man hatte es mir erst in meinem letzten Salzkammergut-Sommer schneidern lassen. Die Familie Wagner war begeistert, sahen sie doch in mir eine Ähnlichkeit mit Maria, dem Kindermädchen der Familie Trapp. Als ich erwähnte, dass meine Mutter mit einem der Trapp-Mädchen in die Schule gegangen war, flippten sie vollständig aus. Da ich Salzburger Nockerl nicht beherrschte und sich diese überdies nicht für Transport und öffentliche Präsentation eigneten, verfiel ich auf den Apfelstrudel, der ja auch in New York bekannt war, weil ihn die Wienerwald-Restaurantkette anbot, garniert mit Ice Cream oder Marshmallows.

Die Familie Wagner hatte mich kurz nach meiner Ankunft in ein Kino der Radio City eingeladen, wo Sound of Music in Endlosschleife lief – der ganze Saal sang die Lieder lauthals mit – und danach führte sie mich in das Wienerwald auf der 5th Ave. Kit hatte den Film schon fünfmal gesehen und kannte sogar alle Dialoge auswendig.

Zusammen mit dem Dirndl ließ ich mir fertigen Blätterteig schicken – von meiner Mutter gemacht und abgepackt, weil es industriell gefertigten im Jahre 1967 noch nicht gab. Die Zutaten mussten sich finden lassen: Äpfel, Brösel, Rosinen, Butter, Ei, Zucker – alles keine Hexerei, dachte ich. Als ich alles feinsäuberlich beisammen hatte, schritt ich ans Werk. Leider war ich noch so ein Greenhorn, dass mir nicht auffiel, dass ich salted butter gekauft hatte, denn im Haushalt der Wagners aß ich keine Butter und wusste daher nicht, dass es keine ungesalzene Butter gab, zumindest nicht in dem von uns frequentierten Supermarkt.

Zwei große Backbleche hatte ich zubereitet, eines für die Familie, eines für die Schule. Die beiden Strudelstriezel sahen wunderbar aus und dufteten so köstlich, dass alle in der Küche zusammenliefen. Zum Auskühlen stellte ich die beiden Backbleche auf die Küchenterrasse. Beim Abendessen wurden wir durch ein furchtbares Rappeln und Scheppern aus der Ruhe gerissen und wir stürmten zum kitchen porch. Ein Backblech lag am Boden und der Strudel zerschmettert am Boden, das andere auf dem Tisch war zur Hälfte weggefressen. Das Wagner-Haus grenzte an einen Wald, und Rehe, Füchse, Dachse, Eichkatzerl und Skunks querten frei das große Grundstück. Aber der Geruch war eindeutig – es muss ein Stinktier gewesen sein, das sich hier gütlich getan hatte.

Mr Wagner versuchte mit seinen Chirurgenhänden den Striezel vom Boden aufzulesen, den angefressenen ließ er den Skunks. Als sich alles beruhigt hatte, servierte Mr Wagner einige der geretteten Stücke – aber welch ein Schreck! Mein applestrudel war so grässlich und abscheulich ungenießbar, dass die Gesichter zu schrecklichen Grimassen verkamen. Oh Gott, die gesalzene Butter! Da konnte auch die dick aufgetragene Schicht von Puderzucker nicht helfen. Die kleine Amy fragte ängstlich: That’s what you like to eat in your country?
So schmerzhaft und peinlich kann das Erlernen einer neuen Kultur sein.

Die Bewohner des Waldes bekamen alles, und ich ließ mir bis zum Nations Day noch auf die Schnelle eine Dose Mozartkugeln schicken.
Ich dürfte nicht allzu unangenehm aufgefallen sein, zumindest bekam ich im nächsten Quartal eine Einladung der Hudson High School, einen Kurs in „European Enlightment“ für die Schulabgänger zu halten.

16.12.21

Veronika Seyr
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Küchenkulturen von New York bis Moskau 1

Von Crepes, Apfelstrudel und Vanillekipferln

Weihnachten 1967 verbrachte ich bei meiner Gastfamilie in New York als Au-pair-Mädchen. Im fünften Monat dachte ich, ich bin einigermaßen amerikanisiert, ließ mich auf alles ein und probierte alles aus. Meine Gastfamilie war entzückt von meinem britischen Akzent, den man mir in der Schule beigebracht hatte; aber ich wollte schnell Amerikanerin werden und stieg rasch von biscuits auf cookies um.
Ich war Gesellschafterin bei einer halbblinden Frau, große Schwester einer Siebzehnjährigen und Helferin bei zwei behinderten Kindern. Vera hatte Jugenddiabetes und war mit 40 fast erblindet. Die Mutter meiner Schützlinge, Mrs Wagner, oder Vera, wie ich sie inzwischen anreden durfte, bat mich einmal, „Crepes“ als Vorspeise zuzubereiten. Sie liebte es, mich Vero’ zu nennen, und lachte herzlich über Vera und Vero’. Ich las ihr oft vor, am liebsten waren ihr Baudelaire und Jane Austen.

Der Haushalt hatte zwar ein Hausmädchen aus Norwegen, einen mexikanischen Gärtner, ein Kindermädchen aus Schweden und eine Köchin aus Irland, aber Spezialaufträge gab sie gerne an mich. Als hollandstämmige Einwanderertochter hatte sie eine Schwäche für Austria. Ihre Eltern, das Ehepaar Finkernegel, pflegten Urlaub an Österreichs Seen zu machen.
Vero, you know crepes?
Yes, of course, I do, Vera.
Look, here is the right pan for crepes.
Vera, schon fast erblindet, kramte im closet unter all den Töpfen und Pfannen und ertastete eine Platte mit Elektroanschluss, die sie mir hinstellte. Kurz war ich verwundert, vergaß es aber wieder.
That’s the right thing. We are going to be about ten persons around the table.
Fine. I’ll make it.
Ich erinnere mich genau, wie ich erstarrte, als mein Gehirn Krebs in cancer übersetzte, war doch mein Gastgeber, Prof. DDr. Richard Wagner, Vicepresident of the Medical Society, einer der bedeutendsten Krebschirurgen New Yorks. Oft kam er spät nach Hause und hatte sieben- bis zehnstündige Operationen hinter sich.

Mein Englisch war nicht schlecht nach einem Provinzgymnasium, aber ich hatte keine Ahnung von französischer Küche und verstand „Krebs“. Ich machte mich im örtlichen Supermarkt auf die Suche nach Krebsen.
Weder Scampi noch Shrimps waren bis dahin in meinem Wortschatz aufgetaucht, 1967 aus Wien nach New York verpflanzt. So ist das Hirn, es geht immer von Bekanntem aus.
Natürlich fand ich keine solchen Tiere, wie ich sie aus den Mühlviertler Bächen kannte, die ich mit Brüdern, Cousins und örtlichen Buben entlang der überhängenden Ufer „ausgenommen“ hatte.
Diese grau-grünen Tiere haben wir an Lagerfeuern gebraten, zusammen mit Forellen, wenn wir Glück hatten. Heimlich, weil illegal. Am Dimbach, am liebsten zwischen der Mühle und dem Schmied. Der Giessenbach war zu steil und zu wild. Ich war da gerne dabei, froh, dass mich die Buben mitnahmen, weil geschickt mit den Händen, aber noch zu klein, für solche Raubzüge verantwortlich zu sein.

Ich las aufmerksam den Aufdruck auf der Packung: Boil in salted water an then …
Die Shrimps waren klein und rosig, schrumpelig wie die billige Extrawurst im Mayonnaisesalat, den wir am Weihnachtsabend bei uns zu Hause bekamen. Mit Hörnchen, Gurkerln, gekochten Eiern und Kapern, viel Mayonnaise, einem Spritzer Zitronensaft und obendrauf Schnittlauch.
Wir liebten es, diese Hörnchen zwischen den Lippen und dem Gaumen auszuschlürfen und überboten uns mit unanständigen Geräuschen, die nur zu Weihnachten geduldet wurden. Hörnchen fand ich auch nicht, aber die dicken, kurzen Makkaroni waren einigermaßen Ersatz dafür.
Also stellte ich die große Schüssel auf den Tisch und erwartete Lob. Mir schmeckte es.
Veronica, what is this? Where are the crepes?
It is your Krebs-Salad, as you told me.
But I told you crepes!
But theese are the Krebs!

Aufklärung, viel Gelächter und Makkaroni-Schlürfen. Die Amerikaner sind freundliche und tolerante Menschen, auf jeden Fall in diesem Milieu. Es schmeckte ihnen, allerdings anders als die dünnen, geschmacklosen französischen Palatschinken.
Vera, ihr Mann Richard, die Kinder und alle Gäste waren hochzufrieden mit meiner Vorspeise.
Meine amerikanische Gastfamilie erzählte diese Anekdote noch oft unter viel Lachen bei ihren Dinners weiter. Der „Kreps-Salat“ wurde noch oft von mir verlangt und als Tradition in die Familie aufgenommen. Veras Eltern, die Finkelsteins, gebürtig aus den Niederlanden, erzählten mir später von ihren sprachlichen Irrtümern. An Beispiele kann ich mich leider nicht mehr erinnern.

Ich weiß nicht mehr, für welche Gelegenheit ich Vera versprochen habe, einen typical Viennese Apfelstrudel zu machen.

15.12.21

Veronika Seyr
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Das zornige Eichhörnchen

Meistens sind die Rätsel, die uns die Natur aufgibt, leicht zu lösen, wenn man vom Menschlichen absieht und nur in den Kategorien der Natur denkt.
Neulich entdeckte ich mich, wieder in den primitivsten Anthropomorphismus zurückgefallen zu sein, den ich schon so oft bei mir festgestellt habe.

Am 1. April kam ich in meinen Schrebergarten am Hüttelberg. Mit Schrecken stellte ich fest, dass alles, was ich am Vortag an den Rand eines frisch bereiteten Beetes eingesetzt hatte, ausgegraben war. Da lagen herumgeworfen ein Petersil, ein Oregano, ein Basilikum, ein Schnittlauch-alles-Kräuterstöckerl aus dem Supermarkt, die ich im Garten heimisch und fruchtbar machen wollte. So wie jedes Jahr, und ich war gar nicht unerfolgreich.
Von einigen habe ich sogar im Winter geerntet und ins Frühjahr gebracht. Den Schnittlauch zum Beispiel, dazu Salbei, Thymian und Zitronengras. Das Lorbeer-Stöckerl vom Hofer entwickelt sich schon zu einem dichten Busch.

Der erste Gedanke beim Anblick der Verwüstungen war:
Wer ist mein Feind?
Also ich-bezogen: Wer hat etwas gegen mich und meine Aktivitäten?
Beim Besichtigungsrundgang entdeckte ich, dass das kleine Beet vor der Hütte, in dem ich die ersten Rucola-Samen eingesetzt hatte, vollkommen umgewühlt war. Rundum lagen Avocadokerne.
Weiter oben am Weg steht ein großer Keramik-Kübel, in dem ich vor Jahren einen selbstgezogenen Oleander eingepflanzt, dazu immer wieder Avocadokerne versenkt hatte. Jetzt hing die Oleander-Pflanze schief im Topf mit braunen Blättern, die Avocados waren ausgegraben und rundherum ausgestreut.

Dass sie auch angenagt waren, bemerkte ich in meiner Aufregung zunächst nicht.
Den oberen Rand deckte ich mit zwei Ziegelsteinen ab. Trotzdem waren der Oleander und die angewachsenen Avocados am nächsten Tag wieder durch den Spalt herausgewühlt. Also keine Füchse, es muss was Kleineres sein.
Meine Wahrnehmung war verengt von der Frage: Wen habe ICH zum Feind? Wer tut MIR das an? Die zwei nächsten Fragen: Wen störe ICH? Was tue ICH wem an?, die lagen schon eine kleine Erkenntnisstufe höher.

An wen dachte ich zuerst: an Füchse. Diese leben hier schon immer, haben mir langlebige Nachbarn in der Gartensiedlung erzählt. Als die Hütte jahrelang leer stand und der Garten nicht bewirtschaftet wurde, habe eine Füchsin mit Jungen ganzjährig das Untergeschoß bewohnt. Aber die Fußabdrücke passten nicht – ich habe sie fotografiert und später zu Hause gegoogelt. Fuchsspuren hatte ich schon in einem früheren Jahr an angenagten und im Garten verschleppten Arbeitsschuhen erkennen können. Auch wird der Komposthaufen regelmäßig durchwühlt. Es könnten aber auch Krähen oder Ratten sein. Krähen sind allgegenwärtig, zu sehen und zu hören. Von einer Rattenplage wissen die Nachbarn nichts.

Dann saßen wir am Ostermontag in Liegestühlen auf der Wiese, meine Schwester und ich. Wir hielten Köpfe und Körper in die Sonne und genossen die seltene Wärme. Vor uns machte die alte Föhre einen lockeren Schatten. Die Forsythien stehen in Hochblüte, der Kirschbaum beginnt gerade zu blühen, Bienen umschwärmten ihn schon. Birne und Vogelbeere kommen ein bisschen später. Links und rechts stehen Marillen und Pfirsiche in rosa Blüte, Äpfel und Zwetschken in Weiß, alle recht bescheiden, weil sie noch jung sind.
Da sehen wir es gleichzeitig, als würden wir simultan blinzeln:
Ein Eichhörnchen springt von der Weißtanne auf den Elektromasten, balanciert über den Kabelstrang auf meine Schwarzföhre zu. Da sitzt es, hält inne, die Pfötchen vor der Brust erhoben. Es ist ganz nahe, ich sehe Augen und Pfoten und das Zucken des Schwanzes.
Wenige Bruchteile von Sekunden nur, aber sehr deutlich. Wie eingebrannt auf der Rückseite meiner Augen.
Es ist still, und wir bewegen uns nicht. Trotzdem macht das Eichhörnchen knapp vor der Föhre kehrt und verschwindet in den Bäumen gegenüber.

Erst da beginnen wir zu sprechen.
Hast du es gesehen? Das Eichhörnchen.
Ja, ich kenne es schon lange. Früher wohnte es hier im Baum. Seit ich die Föhre stark beschneiden ließ, habe ich es nicht mehr gesehen. Aber abgenagte Bockerl und Zapfen liegen immer wieder auf dem Boden, also holt es sich Nahrung aus dem Baum.
Ich glaube, sage ich, es ist mir böse, weil ich den Baum so stark ausgedünnt und in eine für mich ansprechende Form gebracht habe. Einerseits um den Nadelfall zu verringern, andererseits um ein Meditationsbild zu erhalten: Die geschwungenen Äste habe ich vollkommen nackt gemacht und von einem Gartenarchitekten zu einem chinesischen Schriftzeichen ziselieren lassen. In meinen Augen bedeutet es: Haus und Friede. Im Sommer schimmern Stamm und Äste rötlich gegen den blauen Himmel, im Winter mit Schnee schwarz.
Es rächt sich nun an meinen Pflanzen. Vermutungen und Annahmen, kein Wissen. Alles falsch, weil ich nur im Sinne einer Beziehung denke und nicht im Sinne der tierischen Bedürfnisse.

Wir reden noch länger über die vielen Rätsel, die mir die Natur sogar auf einem so beschränkten Platz wie einem alten Schrebergarten aufgibt.
Der Bussard, der sich kurz nach meinem Einzug bei mir vorgestellt hat, die Äskulapnatter, die ins Dach der Hütte eingezogen ist, die Frösche, die schon kurz nach seiner Errichtung den Mini-Biotopteich entdeckt und sofort mit der Nachwuchsproduktion begonnen haben, die Erdkröte Bufo Bufo, die sich im Abfallhaufen eingenistet hat und mit ihren langgezogenen, metallisch-knarrenden Öok-Öok-Rufen eine Partnerin anlockt. Große Freude, als ich die ersten Antworten mit dem kurzen Ük-Ük höre.

Meine Schwester hält mich nicht für verrückt, teilen wir doch eine Kindheit, in der wir am Mondsee unter der Drachenwand Dörfer für die Zwergerl bauten, mit Leidenschaft und der Überzeugung, dass es sie wirklich gibt. Gleiches Bedauern, dass wir nie das Einhorn zu Gesicht bekamen, das wir erwarteten, zwischen den hohen Tannen, Flechtenschleiern, Farnen und Felsbrocken auftauchen zu sehen.
Erst am nächsten Tag, als der Blumentopf wieder umgegraben war und ich die Kräuterpflanzen übers Beet verstreut vorfand, machte ich mich an eine genaue Ursachenuntersuchung. Ich fand neben dem Oleanderstock ausgehöhlte, schon eingeschrumpelte Schalenhälften von Avocados.

Da erst fiel mir ein, dass ich zwei Avocados beim Aufschneiden braun vorgefunden, die Kerne in die Erde versenkt, die Hälften aber neben dem Topf liegengelassen hatte. Avocados, das Super-Food. Schon die Azteken fanden sie süß, fett und nussig und opferten sie ihren Gottheiten. Natürlich wissen die Eichhörnchen nichts von den ungesättigten Fettsäuren, von den nützlichen Vitaminen A und E, dem Jungbrunnen für die Haut, der Low-Carb-Ernährung ohne Kohlehydrate und von den vielen Proteinen, die lange satt machen. Aber sie werden es gespürt haben. Wahrscheinlich ein Festessen für mein Schrebergarten-Eichhörnchen.
Welches Eichhörnchen bekommt schon einmal eine solche Köstlichkeit, ganz für sich allein?
Oder hat sich eine ganze Familie darum geschart? Danach wird es sich auf die Suche nach ähnlichen Genussquellen gemacht haben, in den Streifen mit den jüngst eingepflanzten Kräutern. Eichhörnchen sehen nicht gut, ihr Geruchssinn und Gedächtnis sind aber ausgezeichnet. So finden sie auch ihre über Sommer und Herbst angelegten unterirdischen Futterlager. Mit denen kommen sie über den Winter, dabei verbreiten sie die Samen durch die Wälder.

In meinem Fall war das so, dass ich über die Jahre alle möglichen Kerne in der näheren Umgebung meiner Hütte in die Erde versenkt habe: in den Oleanderstock, in das Rucola-Beet vor der Terrasse, aber auch im Rand des Kräuterrabattls. Alles nur entlang ihres Geruchs- und Geschmacksinnes. Hat absolut nichts mit mir zu tun.
Das kluge, scharfnasige Eichhörnchen ging einfach seinem Bedürfnis nach Köstlichkeiten nach, nach etwas, was ihm guttut, etwa so wie wir auf dem Weg über Graben und Kohlmarkt instinktiv zum Demel gezogen werden. Weil wir übereingekommen sind, dass uns das schmeckt, das wollen wir einfach immer wieder haben, den Zucker, das Fleisch oder das Cola.

Wenn man schon zum Eingeständnis seines Irrtums oder der falschen Annahme gekommen ist, muss man weiter darüber nachdenken, warum das so ist. Warum wir falsch denken und danach falsch handeln. Es ist ja keine ideologische und auch keine moralische Frage, sondern eine praktische. Dabei kann ich nur von mir ausgehen und dabei annehmen, dass es bei den anderen nicht viel anders sein wird. Weil wir Menschen der Hybris erlegen sind, dass wir nicht Teil der Natur sind, sondern uns außerhalb, gegenüber oder oben drüber stellen. Wir haben uns abgetrennt vom Kreislauf der Natur und uns ihr entfremdet. Wie ein Baum ohne Wurzeln, da kann nichts Gutes herauskommen. Dieses falsch interpretierte „Macht euch die Welt untertan“, mit dem seit der Erfindung des Calvinismus der Kapitalismus operiert und sich als alternativlos, als einzig mögliche Wirklichkeit generiert, ja als die Natur selbst.

Erleichtert und froh über meine Erkenntnisse, telefoniere ich mit meiner Schwester darüber. Ich bin nur halbschuld, stelle ich fest.
Sie teilt meine Freude, ermahnt mich aber nachdringlich, keine Avocados mehr zu kaufen. Nicht wegen der Eichkatzerl, sondern wegen ihres katastrophalen ökologischen Fußabdrucks.
Weißt eh, Wasserverbrauch, fast so schlimm wie Rinder, Ausbeutung der Indigenen, Konzerne, Profite, Transporte, Chile, Fußabdruck. Sie ist eine strenge Ökologin.
Ja, das weiß ich alles. Aber was soll ich machen? Ich mag sie, sie schmecken mir und tun mir gut. Es ist schließlich das einzige Fett, das ich verwende. Vielleicht war ich in meinem früheren Leben ein Eichhörnchen? Meine leicht vorstehenden Schneidezähne könnten doch ein Anzeichen dafür sein, oder?
Die Zähne sind eine Familientradition.
Wie bei den Habsburgern die Lippe.
Auch Eichhörnchen haben Traditionen.
Meine Schwester hat perfekt gerade Zähne.

13.4. 21

Veronika Seyr
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Man steht am Fenster 1

von und mit Vinzenz Ludwig Ostry

Radio Rot-Weiß-Rot
Erinnerungen von V.S.

Es gab für mich viele Gründe, den Samstag im Bräuhaus zu lieben.
Auch alle Sonntage, Feiertage, Namens- und Geburtstage, sowie alle gewöhnlichen Tage. Als Kind liebte ich einfach das Leben, und alles, was dazugehörte, Menschen, Tiere und Blumen gleicherweise. Vor manchen Menschen musste man sich in Acht nehmen, hatte ich gelernt, einige Tiere lösten größten Respekt aus, und daher waren mir die Blumen am liebsten. Sie konnten einem nichts Böses antun. Warum das so war, darüber habe ich erst später nachgedacht und meine Privattheorie dazu aufgestellt.

Gegen 6 Uhr abends, am Samstag, kamen alle Tätigkeiten bei uns und im Bräuhaus zum Erliegen und mündeten in ein sanftes Nichtstun. In den Stunden davor hatte große Geschäftigkeit geherrscht. An Samstagen wurde im Badhaus der große Ofen angeheizt, um Warmwasser zu machen. Denn der Samstag war Boddog (= Oberösterreichisch für Badetag). Wir in unserem Haus, der Villa Seyr, hatten damals noch kein Fließwasser, geschweige denn ein Badezimmer. Daher wurden die kleineren Kinder zu dritt in die große Badewanne im Badhaus des benachbarten Bräuhauses gesteckt und so lang abgeschrubbt, dass es für eine Woche reichen musste.
Es war kalt in diesem Raum mit Steinplatten und dunkel wie in einer Höhle. Im Ofen loderte das Holzfeuer, und im ganzen Raum waberte der Nebel vom heißen Wasserdampf. Daneben plätscherte immerwährend das Wasser aus einem Hahn in den großen Grand, ein Steinbecken. Danach wurden wir einzeln in Laken gepackt und übers Bergerl nach Hause getragen. Das konnten die Tante Sefi sein, oder die Ida-Tant oder die Omama selbst. Daheim warteten die frischen Pyjamas auf die frischen, nach Hirschseife duftenden rosigen Körper, frische Socken und die Bademäntel aus Flanell. Meiner war einer aus einem alten Bettüberwurf, von Mama selbst zusammengenäht, dunkelblau mit gelben Girlanden drauf, dazwischen Sterne und Monde in allen Phasen. Ein richtiger Zaubermantel war das, dementsprechend liebte ich ihn und fühlte mich wichtig.

Warum ich dabei war, als sich die Erwachsenen um das Radio der Großmutter scharten, weiß ich nicht mehr. Vielleicht weil ich einfach immer überall dabei sein wollte, weshalb ich von Omama den nur halbwegs schmückenden Beinamen „Flederwisch“ verliehen bekam. Manchmal kam es mit einem Lachen heraus, manchmal mit einem Staunen oder auch drohend mit gefletschten Zähnen. Aber an den Samstagen herrschte Friede. Ich saß der Omama auf dem Fleckerlteppich zu Füßen und beschäftigte mich mit den Wollresten in ihrem Korb. Ich durfte damit spielen, sie ordnen, aufwickeln, abwickeln und ihr reichen.

Wenn sich die Omama in ihrem riesigen Lehnsessel zurechtsetzte, verstand man, wer die eigentliche Herrin des Hauses war. Nicht Tante Sofie, die Frau des Alleinerben, meines vielgeliebten Onkels Klaus. Auch nicht der Älteste, Onkel Karl. Er machte sich am guten Philips zu schaffen, bis er zum Strich 15 1265 UKW bei Linz-Freinberg kam.

In der großen Stube stand in der fensterseitigen rechten Ecke über der Singer-Nähmschine auf einem an der Wand befestigten Brett ein großer Philips-Radioapparat, umrahmt von einer großen Zimmerlinde und anderen verschlungenen Pflanzen. Omama nahm in ihrem Lehnsessel Platz, in dem sie ansonsten nienie, die ganze Woche über, nicht saß. Sie hatte aus einem Korb ihr Stopfzeug herausgenommen und begann mit dem ersten Socken. Der ganze Korb war voll davon, ein buntes Völkchen. Die härenen vom Knecht Sepp, die eleganteren meines Vaters oder von Onkel Klaus. Kindersocken- oder -strümpfe waren meiner Erinnerung nach nicht dabei, die stopften die Mütter oder Tanten. Die der im Haushalt lebenden Köchin Nannerl und der Haushaltshilfe Berta machten diese sich selbst. Der Ukrainer Ivan trug keine Socken, sondern Stiefeltücher, die am Montag, dem Waschtag, mit den Betttüchern der ganzen Großfamilie auf der Leine flatterten.

Man hatte sich versammelt, um der Radiosendung „Man steht am Fenster“ von Radio Rot- Weiß-Rot aus Linz zu lauschen. Die beschwerliche Arbeitswoche ging zu Ende. Es herrschte fast so eine feierliche Stimmung wie am Sonntag in der Kirche. Die Signation in den schicksalsträchtigen Bumm-bummbumm – bumm, den dumpfen Glockenschlägen der Fünften. Eine unerträgliche lange Pause, dann kam es aus dem Apparat: „Man steht am Fenster. Es spricht Vinzenz Ludwig Ostry.“
Omama setzte sich im Lehnstuhl zurecht, straffte ihren krummen Rücken, steckte ihre Haarnadeln um den Dutt herum fest und widmete sich ab nun nur noch ihrem Stopfzeug. Im weit ausladenden Ohrensessel, grau-rot-grün, ein kleiner, vogelartiger Kopf mit feinen Linien und Löckchen um die Stirn. Ihr Rücken hatte schon damals begonnen, sich zu krümmen.

Die anderen Erwachsenen saßen um den großen Esstisch, der Knecht Sepp hockte schief am Bankerl vor dem Kachelofen, die Ida-Tant, Omamas Schwester, hatte ihren eigenen Lehnstuhl unter der Treppe.
Papa war am Samstagnachmittag aus Tulln gekommen und saß am dritten Fenster, der Hausherr Onkel Klaus nahm das Kopfende ein. Seine Frau, Tante Sofie, machte sich zusammen mit Nannerl und der Berta in der Küche zu schaffen. Durch die offene Tür ließ sich leises Klingeln und Scheppern vernehmen. Sie bemühten sich, die feierliche Stille nicht zu stören. Es war so still wie bei der Wandlung in der Kirche.

Allein schon der Name Vinzenz Ludwig Ostry war eine Botschaft wie aus einer anderen Galaxie. Niemand hieß bei uns Vinzenz oder Ludwig noch Ostry. Es gab nur die Kaisernamen. Ich war überzeugt, dass er in Wirklichkeit Österreich hieß und aus unerklärlichen Gründen verkürzt ausgesprochen wurde. Die männliche Stimme war tief und knarrig wie eine alte Eichentür mit einem Geheimnis dahinter. Sie klang so wie die Balken und Sparren auf den weitläufigen Dachböden über dem riesigen Bräuhaus.
Für mein Kinderhirn klang „Vinzenz Ludwig Ostry“ überhaupt nicht wie ein Name, sondern eher wie ein Ort – das einzige Wort, das ich verstand, war Fenster. Das Bräuhaus hatte viele Fenster, die großen auf die Straße und die Donau hinaus. Nach hinten hin, zum Hang, in dem das Haus stand, waren es nur noch Luken. „Man steht am Fenster“ – eine Zauberformel, mit der alles in Erstarrung verfiel: Die Zeit, die Luft, die Menschen, nicht einmal die immer zitternden Blattenden der Zimmerlinde wagten eine Bewegung.

An den Inhalt dieser Radiosendungen habe ich natürlich keine Erinnerung und sicher nichts davon verstanden. Radio Rot-Weiß-Rot Salzburg-Linz-Freinberg wurde kurz nach dem Staatsvertrag eingestellt. Der Sender war kurz nach Kriegsende von der amerikanischen Besatzungsmacht in ihrem Bereich eingerichtet worden und diente der „Erziehung der Österreicher zu einem mündigen, gut informierten Volk“. Kant lässt grüßen in der Eröffnungsansprache des amerikanischen Generalmajors Walter M.

Wir lebten in St. Nikola, nach Mauthausen waren es 25 Kilometer, nach Braunau weniger als 100.
Später, als wir schon in Tulln wohnten, hatten wir wieder einen Philips, etwas kleiner als der im Bräuhaus, aber wieder auf einem Brett an der Stirnwand des Esszimmers thronend, rechts darüber das Kruzifix, darunter der Sitzplatz meines Vaters. Rechts davon billige Kopien der betenden Hände von Dürer und des Mädchens mit dem Vogel von Rubens (?), welchem wir auf allen Kinderfotos ähnlich sahen.

Wenn die Signation zur „Lieben Familie“ ertönte, strömten alle Bewohner unter dem Philips zusammen, ließen alles liegen und stehen, um den Florianis zu folgen – ein Hausfeger sozusagen. Da war ich schon alt genug, um der Sendung inhaltlich zu folgen. Das Tröstliche daran war, dass es auch in einer hochoffiziellen Radiofamilie viel Streit und Turbulenzen gab, nicht nur in unserer.

Vinzenz Ludwig Ostry war von den Amis engagiert worden als außenpolitischer Kommentator und analysierte in der Sendung „Man steht am Fenster“ jeden Samstagabend die internationale Situation. Es herrschte der Kalte Krieg, und Österreich war von den vier alliierten Mächten besetzt. Wir lebten in der Russen-Zone. Im Vordergrund des Kommentars stand natürlich immer Österreich in seinem Kampf um die Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit. Verhandlungen in Moskau, Chruschtschow, Figl, Raab, Kreisky, die Amerikaner, die Sowjets, die Amis und der Ivan. Diese Namen fielen immer wieder. Als 1953 Stalin starb, klang die Spannung ab und Hoffnung kam auf. Ostry wird wieder Österreich.

Warum meine Familie einer Lösung so besonders entgegenfieberte? Oder tat das ohnedies jeder Österreicher und jede Österreicherin in diesen Jahren? Meine Familie lebte im Unteren Mühlviertel, im Grenzgebiet zwischen der sowjetischen und amerikanischen Zone. Onkel Klaus und seine Fuhrleute mussten jeden Montag auf der Enns-Brücke die gefährliche Zonengrenze überqueren – der Nabel des Kalten Krieges –, um aus der Linzer Brauerei Bier heranzuschaffen, das sie dann zu den Wirten im Mühlviertel ausführten.
Diese Menschen lebten in der sowjetischen Zone nahe der Grenze, als sich in der Tschechoslowakei am 23. Februar 1948 der kommunistische Putsch ereignete. Sie lebten in ständiger Angst vor den Kommunisten, so viele Jahre lang schon, warteten auf jeden Hoffnungsschimmer und lechzten nach jedem Wort der Erleichterung. In dieser meiner Erinnerungszeit von 1953 und 1954 konnte Vinzenz Ludwig Ostry wahrscheinlich schon mit einigen positiven Perspektiven aufwarten.

Tante Sofie und ihre Helferinnen haben nach dem Abspann das Abendessen auf den Tisch gestellt, dampfende Schüsseln mit Stosuppe und Erdäpfeln, Kümmel drin und Schnittlauch drauf. Das Zerknacken der Kümmelkörnchen zwischen den Zähnen, die Omama schneidet einen neuen Brotlaib an, davor ein mit dem Messer gezeichnetes Kreuz am unteren Boden, sich selbst bekreuzigen und das allgemeine Dankgebet. Die Männer bekommen ihr Bier, die Spannung flaut ab. Es folgt aus der fernen Ecke das Radio mit der Musiksendung „Schöne Stimmen, feine Weisen“. Schubert. Schöne Müllerin oder Wintereise. Fremd bin ich ausgezogen, fremd komm ich wieder heim. Onkel Klaus war gerade erst aus der russischen Gefangenschaft nach Hause gekommen, er wog 48 Kilogramm. Die Wangen so dünn, dass die Kiefer durchschienen.

War’s der innige Schubert? Irgendwann lodert ein Flämmchen auf. Ein Wort, eine Bemerkung. Onkel Karl gegen Onkel Klaus. Beide Brüder meines Vaters waren an der Ostfront und haben unterschiedlich alle Kriegsjahre durchgemacht. Karl war Nazi geworden, illegaler, schon vor 1938, als Lehrling in der Kaufmannschaft war er eine leichte Beute. Er konnte nach 38 ein arisiertes Kolonialwarengeschäft in Sarmingstein erwerben und zog lustig in den Krieg gegen Kommunisten und Juden. Klaus wurde als 18-Jähriger einberufen, war immer mit der Wehrmacht irgendwo im Osten bis nach Stalingrad, danach fünf Jahre Kriegsgefangener in sowjetischen Lagern. Er hat nie darüber gesprochen, ist aber jedes Jahr zu einem „Kameradentreffen“ nach Deutschland gefahren. Wahrscheinlich eine Art von Therapie, sich untereinander auszusprechen, das Unaussprechliche, das sonst nirgendwo Platz fand. Onkel Klaus war der Lustigste von allen Verwandten, immer zu Späßen und Scherzen bereit, den Kindern hat er alles erlaubt und verziehen. Ich glaube, ich habe ihn mehr geliebt als meinen Vater. Der war ja fast nie zu Hause, und wenn er da war, hatten wir größere Angst vor ihm als vor dem lieben Gott.

„Wo warst du?“
„Wir lagen im Kursker Bogen.“
Stosuppe, Erdäpfel, Kümmel, Schnittlauchbrot und Bier.
„Und warum seid ihr nicht abgerückt nach Süden? Uns entlasten im Kursker Bogen? In den Kaukasus, in den Kuban, auf die Krim?“
„Ich weiß es nicht, wir hatten keine Ahnung von der Gesamtlage. Nur Befehle. Ich war überall.“
„Du Feigling. Du hast nicht an die Sache geglaubt.“

Sie liefen in der langgestreckten Stube auf und ab, in gegensätzlichen Richtungen, und warfen sich russische Ortsnamen an den Kopf: Minsk, Pinsk, Smolensk, Rschewsk, Moskau, Kursk, Sewastopol und immer wieder Stalingrad.
Karl, der Überzeugte, wurde verletzt und kam aus dem Kursker Kessel heraus, Klaus, der jung Verheizte ohne Überzeugung, geriet in die Falle von Stalingrad und erlitt eine lange sowjetische Gefangenschaft. Es gibt ein Foto von Onkel Klaus aus der Zeit der Rückkehr, als er angeblich nur 48 Kilo gewogen haben soll und Monate zur Erholung brauchte. Immer wieder schauderten wir bei den Erzählungen über die halb verhungerten Heimkehrer, die gestorben waren, weil sie gleich Schweinsbraten und Knödel in sich reingestopft haben, anstatt sich mit Grießkoch oder Hafersuppe langsam aufpäppeln zu lassen.

Mein Vater saß auf der Fensterbank, verschanzte sich hinter Stößen von Schularbeitsheften, der Wiener Kirchenzeitung und der Presse. Und schwieg.
„Und du, Franzl, sog a wos.“
Er hatte nichts zu sagen, mein Vater. Er war eine Art von christlichem Wehrdienstverweigerer. Er wurde zwar auch 1940 in die Wehrmacht einberufen, hat sich aber bis 1943 innerhalb der Wehrmacht verstecken können – so das Familien-Narrativ.

Später die Botschaft: Er hat nie einen Schuss abgegeben und nie jemanden getötet. Das war sein größter Stolz, der sich auf uns übertrug. Wir waren reingewaschen und fragten nicht weiter. Damit begnügte ich mich und setzte nie tiefer.
Das heißt, ich fragte nach, aber mit den 68ern mit der Nazi-Keule, wogegen die Eltern wehrlos waren und immer schweigsamer wurden. Wir waren ungerecht und haben uns damit viel verpatzt.
Was hat der Ostry gesagt? Er meint, dass Figl und Kreisky gut verhandeln in Moskau. Helfst God, meine Großmutter, ließ die Stricknadeln fallen und bekreuzigte sich dreimal. Karl und Klaus, die Streithähne von der Ostfront, blieben bei ihren gegenseitigen Vorwürfen.

Omama, aus ihrem Lehnsessel heraus, ermahnte die Brüder:
„Jessamarantana, still bist, Karl!
Die Großmutter schlug ein Kreuz über sich.
„Tuats ned streiten, Buam. Es is vorbei, laung scho, Godseidaunk. Und mia san olle am Lebm bliem.“
Sie legte das Strickzeug mit den Socken in den Schoß, reckte sich auf zum Weihwasserkessel und besprühte alle Anwesenden mit einem Palmzweig.
Ich sehe mich noch immer zu ihren Füßen lagern, bekam einen sanften Nieselregen ab und fühlte mich geborgen: Mir kann im Leben nie etwas passieren.
Ob andere Geschwister und Cousinen so etwas miterlebt haben, wie so einen Samstagabend mit Vinzenz Ludwig Ostry, kann ich auf diesem Tableau nicht erkennen.

Die Kampfhähne Karl und Klaus wollten sich nicht beruhigen.
„Mia san am Lebm bliem, aber die Burner, die ham zwoa Söhne im Feld lossn. Füa die Heimat. Die ham füa die Heimat gekämpft und sind ehrenhaft gefallen.“
Karl ließ nicht locker.
Die Bauernfamilie Schmutz mit dem Hofnamen Burner hat 16 Kinder durchgebracht auf den kargen Böden des Mühlviertels, bis ihnen der Krieg die zwei älteren Söhne raubte. „Jo, die die ham oba 16 ghabt“, wirft Karl ein.
„Du Bua, tua di ned versündigen, wir warn a amol siebm. Deine Zwillingsschwestern Rosina und Fritzi san vor dir gstorbn, und dann no der Josef von der Spanischen Gripp im 18er-Joa. Der Zusammenbruch der Monarchie, die Spanische Grippe, die Inflation, die Brauerei und die Seilerei sind den Bach runtergegangen. Wir ham grad noch das Bräuhaus halten können, den Wald und die Landwirtschaft.“

In der linken Ecke des Schlafzimmers meiner Großmutter stand hinter der Tür ein großer Schranktresor. Dreimal so hoch wie ich damals. Ein schwarzes Monstrum, hässlich, dick, schwarz-grün mit großen, goldenen Lettern. Manchmal sperrte sie ihn auf, und ich sah Bündel von riesigen Geldscheinen liegen, dick wie Hühnerbrüste. Kriegsanleihen von 1914 und 1915. Ich durfte damit spielen, aber sie sagte immer: „Das war einmal ein Vermögen, später hat man einen Teller mit dünner Hühnersuppe und eine Schachtel Zündhölzer dafür bekommen. Vergiss das nie, wie schnell das gehen kann.“

Es brauchte noch mein ganzes halbes Leben, damit ich verstand, wie die Großmutter zu diesem unvermittelten Gedankensprung kam, vom Zweiten Weltkrieg zurück zum Ende der Monarchie, dem Zerfall des Landes, dem Verschwinden des Kaiserhauses und der Hyperinflation. Für sie brachte all das mehr Schrecken als das Verschwinden Österreichs im Deutschen Reich und der Zweite Weltkrieg. Für sie waren der Erste Weltkrieg und seine Folgen das viel größere Trauma, über das nichts hinausgehen konnte. Auch nicht, dass drei ihrer Söhne, ein Schwiegersohn und ein Schwiegerenkel im Krieg waren, einer verschollen, einer drei Jahre in Kriegsgefangenschaft. Ihr Mann war Anfang des Krieges plötzlich verstorben, und sie musste die Familiengeschäfte übernehmen ohne eine männliche Unterstützung.

Ich kann nicht wissen, warum das so war, nur Vermutungen anstellen:
Weil sie nach 1914 noch relativ jung war mit vielen Perspektiven, das Leben vor ihr lag mit allen seinen Möglichkeiten. Sie war eine Schönheit, die Familie war wohlhabend, wuchs und entwickelte sich, der Mann an ihrer Seite, ein erfolgreicher Geschäftsmann und angesehener Lokalpolitiker. Sie waren absolute Kaisertreue, das Haus Habsburg und das Reich gaben dem Leben einen festen Rahmen. Die Weltverhältnisse schienen unverrückbar. Als diese in Trümmern auseinanderfiel, das musste das Trauma gewesen sein, von dem sich meine Großmutter nie wieder erholte und wogegen alle späteren Schrecken verblassten. So wie meiner Großmutter muss es vielen ihrer Generation gegangen sein. Vielleicht erklärt das unter anderem die geringe Widerstandskraft gegen die Hitler-Barbarei. Mein Vater zumindest hat immer behauptet, dass es nur zwei Möglichkeiten gab, der Nazi-Ideologie zu entgehen: Entweder man war überzeugter Kommunist oder gläubiger Christ.

Teil 1: 28. - 30.5.20

Veronika Seyr
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Internationaler Sockentag

Meine Bettler-Galerie – 4. Dezember, internationaler Sockentag

Dass der 4. Dezember als internationaler Sockentag eingetragen ist, war mir bis gestern nicht bekannt. Ich bin damit groß und alt geworden, dass das der Barbara-Tag ist. Aber ich bin ja immer offen für das Neue.

Genau an diesem 4. Dezember 2020 ging mir die rumänische Bettlerin vor meinem Spar-Gourmet so sehr auf die Nerven, dass ich zur Tat schritt.
Ich kaufte aus dem Laden alles heraus, was ich für die nächsten vier Tage zu brauchen glaubte.
Fast alles Unsinn, das heißt so viel, dass ich das nicht verkochen, geschweige denn alles allein verdrücken würde können. Gäste? No chance.
Eine Riesenscheibe vom Hokkaido-Kürbis, Zwiebel, Knoblauch, Salat, Paradeiser in jeder Form, dazu Gewürze, Trockenfrüchte und einige Konserven für die nächsten zwanzig Jahre.
Ich bin keine Trümmlerin, sondern wollte nur über meine Grippeperiode drüber kommen, ohne auf die Straße gehen zu müssen.

Als ich mit den Taschen aus dem Spar-Gourmet auf die Wiedner Hauptstraße heraustrat, begrüßte mich diese Bettlerin wieder mit ihrem Danke, guten Tag, alles Gute. Ich habe es mir seit langem zur Gewohnheit gemacht, nur direkt an Projekte zu spenden oder ehrenamtlich Hand anzulegen.
Diese Frau sitzt nun schon drei Jahre vor meinem Laden, immer, ob Sommer oder Winter, in Fetzen eingehüllt, grässlich, abstoßend, unansehnlich, mit einer unangenehm blechernen Stimme sagt sie ihre eingelernten Sprücherl auf. Natürlich habe ich beobachtet, dass immer wieder Männer vorbeikommen, die sie wahrscheinlich abkassieren.
Ich habe ihr noch nie Geld gegeben, wie andere die Wechselmünzen in ihren ausgestreckten Becher reinwerfen. Gar nicht so wenige Wiener machen sich so ihr Gewissen leichter.
Ich denke viel darüber nach, warum sie und ich nicht.

Was mich packte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls lief ich in einiger Gefühlsaufwallung in meine Wohnung schräg gegenüber und packte alles, was ich für die nächste Lieferung zur Caritas-Sammelstelle am Mittersteig ausgesondert hatte. Ein eigener Sack war eine Sammlung von Socken, zum teil historische, aus Russland, Bosnien, Albanien, der Türkei und Mazedonien. Die meisten Frauen, mit denen ich als ITV-erin in Berührung kam, beschenkten mich mit ihren Handarbeiten: Socken, Satteltaschen, Pölster, Kissen, Decken und gestickte Deckchen, Stick- und Strickwerk. Das meiste habe ich selbst getragen, gepflegt und hochgehalten, sogar ausgelegt, zum Teil bis heute. Zum Beispiel Deckchen von vergewaltigten Frauen aus dem Moraca-Lager.

Die CARLA ist seit dem Lockdown leider auch geschlossen.
Wurscht, dachte ich mir, und lief wieder auf die Straße zum Spar-Gourmet, zur hässlichen, schlecht tönenden, alten Bettlerin. Ich stellte die zwei Taschen vor ihr ab und ging wieder in den Spar hinein, weil ich Eier, Obers und Topfen vergessen hatte. Eine Tasche war voll mit Socken, keine aus der balkanischen Strickung, sondern neumodisch.
Als ich kurz danach zurückkam, sah ich sie, wie sie als Erstes eine Wollmütze über die alten Kopftücher zog, an den Händen meine Handschuhe, und an den Füßen probierte sie gerade die Socken.
Da konnte ich nur flüchten. Wohin nur?

4. Dezember, internationaler Tag der Socken.

Wien, 6.12.20

Veronika Seyr
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Apokalypse reloaded III: Angewandte Geographie

Noch einmal der selbe Ort und fast die selbe Personage. Wir spielten einmal wie so oft im Hof Weltreisen, Hedi, Franzi und ich. Dazu gruben wir mit Stöckchen Kanäle, Gänge und Gruben in die Erde, durch die wir dann unsere Murmeln laufen ließen. Sie waren gewunden und die Löcher so tief, wie wir nur graben konnten.
Was war der Wettbewerb? So viele Ziele wie möglich aufzusagen, wohin die Murmeln rollen sollten.

Als Älteste von uns Dreien war ich im Vorteil. Ich denke, ich werde etwa neun gewesen sein, Hedi zwei Jahre jünger, Franzi noch vor der Einschulung.
Es war wahrscheinlich der neunte Geburtstag, als ich ein Buch geschenkt bekommen habe, damals sehr aktuell, Thor Heyerdahls „Aku-Aku“. Später kam „Kontiki“ dazu. Als frühe Vielleserin waren das meine Lieblinge. Später folgten die Reisebeschreibungen von Sven Hedin und Amundsen.
Aber da meine Eltern eine Art von verallgemeinernd-verwirtschaftender Kulturerziehung betrieben, bekamen alle Geschwister einmal ihren Moment: Es wurde von meinem Vater in dramatisierter Art das jeweilige Lieblingsbuch vorgelesen, am großen Familientisch nach dem Abendessen und dem Rosenkranz. Bei den älteren Geschwistern werden es damals die diversen Karl Mays gewesen sein, für die ich mich nicht interessierte. Endlich kam mein Lieblingsbuch Aku-Aku an die Reihe. Mein Vater hatte ein dramatisches Talent, beim Lesen alles zu rhythmisieren und musikalisieren. Er vertonte Kinderbücher genauso wie klassische Balladen. Er versetzte mit Aku-Aku alle in Begeisterung, und von nun an sprachen wir über nichts mehr anderes als über Ozeanien und die Osterinseln. Das hatte gravierende Folgen.

Wie die älteren Geschwister das verarbeitet haben, weiß ich natürlich nicht mehr. Aber unter uns Jüngeren war das lange ein Thema. Wie kommen wir von Tulln, Königstetterstraße 13, nach Ozeanien, Tahiti, Fidschi, auf die Osterinsel, nach Australien, in die Karibik, nach Tasmanien und Japan? Wir berauschten uns an komplizierten Namen wie Kilimandscharo und Fudschijama, Popokatepetl und Taklamakan, Atakama, Kysyl-Kum und Amur-Darja, Samarkand und Buchara, Ratanui,Tschuktschen, Sulawesi und Sambesi. Wir gruben Gänge in den Gartenhof, bauten Gruben, so tief wir konnten und träumten vom Durchstich auf die andere Seite der Erdkugel.

Wir hatten unser Vergnügen daran, Buchstaben oder Wortteile umzustellen und konnten davon nicht genug kriegen: Fudschi-Kili, Kumm-Kiesel-kumm, Lula-Wasi, Bem-Sasi. Bei den Tschuktschen – Tschek-tschucktschuck … wäre Franzi einmal fast erstickt, weil er seine Zunge verschluckte. Mein Lieblingswort war der Popokatepetl, bei Hedi war es Dshallalabad. Uns konnte man nicht Schuld geben für unsere ungewöhnlichen Spiele.
Wie alle Kinder waren wir nur die Papageien der Eltern. Papa mit seinem dramatischen Vortrag von „Walle walle, manche Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe ...“
Er selbst schien Spaß an Wortverdrehungen zu haben und hat uns zur Nachahmung angeregt. Bei uns ging damals eine Hausschneiderin aus und ein, die kleine Ausbesserungs- und Strickarbeiten übernahm, eine Frau Muck aus Muckendorf-Wipfing, das Dorf nach Langenlebebarn und vor Zeiselmauer. Er konnte sich köstlich darüber amüsieren, wie wir uns ärgerten, wenn er die Anfangsbuchstaben verdrehte zu Frau Wick aus Mickendorf-Wupfing. Nein, Papa, protestierten wir, so heißt sie nicht, sie heißt Frau Muck aus Muckendorf-Wipfing, und immer wieder andersrum. Aha, die Frau Mick aus Wupfendorf-Mipfing. Ein frühzeitiges, kindliches Rappen.

Den Hauptmurmeln, also jenen, die den Anfang machten, gaben wir die Namen unserer Lieblingshelden. Sie waren etwas größer als die „Arbeiter“ und bunter. Die Anführer wurden in die Gänge geschossen, die Mannschaften folgten ihnen nach, so drangen wir immer weiter zum Erdmittelpunkt vor.
Bei mir war es eindeutig Darwin, beim kleinen Franzi einfachheitshalber Thor, Hedi hat sich nie entscheiden können und sich in Amundsen, Colombo und Cook gleichzeitig verliebt. Bevor wir die Murmeln in die Gänge setzten, spuckten wir auf den großen Darwin, Thor und Cook und ließen sie los auf ihre Erkundungsfahrten. Wir besaßen damals als nicht wohlhabende, kinderreiche Familie noch nicht den Luxus eines Globus und daher nur ungefähre Vorstellungen von der Weltkugel. Ich war mit Darwin eher auf den Süden gerichtet, Thor nach Ozeanien, und Cook schiffte dazwischen herum.

In unser Spiel vertieft, bemerkten wir nicht, dass sich unser Vater einmal über uns beugte.
Was spielt ihr denn da?
Wir spielen nicht. Wir entdecken die Welt und erobern sie.
Wo wollt ihr denn hin?
Zum Kilimandscharo und zum Fudschijama. Ich als die Älteste.
Wie kommt ihr denn da hin?
Durch die Erdkugel einfach durch und durch.
Und was ist, wenn ihr dort am anderen Ende rauskommt?
Das wissen wir nicht, wir sind noch nicht so weit. Weißt du es?
Vater war für uns ein Gott und wusste alles.
Also, wenn ihr in Afrika beim Kilimandscharo herauskommt, hängt ihr in den Höhlen und Bäumen kopfüber wie die Fledermäuse. Das sind die Antipoden, die Kopffüßler. Sie gehen am Kopf und das nur rückwärts. Aber passt auf, gejagt und gefuttert wird nur nachts.
Wenn ihr beim Fudschijama herauskommt, müsst ihr abwechselnd auf den Händen und dem Popo gehen. Es gibt dort nur Reis zu essen, manchmal auch Nudeln und Algen.
Wir kannten damals weder Reis noch Nudeln noch Algen, nur Erdäpfel, Grießschmarrn und Sterz. Trotzdem wurden wir groß und stark.

Das Murmelspiel stellten wir bald ein. Dafür übten wir unermüdlich, ohne unsere Kapitäne Darwin, Thor und Cook, in unserem heimischen Garten, vom dicksten Ast des Kirschbaumes kopfüber herunterzuhängen, herunterzufallen, auf den Händen zu gehen und auf dem Hintern im Gras herumzurutschen. Eine kleine Affenhorde. Mir war am wichtigsten, nachts möglichst nicht zu schlafen, um die Jagd nicht zu verpassen.
Als Franzi im nächsten September eingeschult wurde und ihn die Lehrerin fragte, was denn sein Vater so arbeite, antwortete er: Mein Vater ist ein Prophet.
(Er war Mittelschullehrer und wurde als solcher mit Professor angeredet.)
Gut. Und was arbeitet deine Mutter?
Die macht gar nichts, die ist immer nur zu Hause.

12.6. 20

Veronika Seyr
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