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Unbekannte Orte

Wenn ich auf dem sanft abfallenden Hügel stehe, den blauen, ungetrübten Himmel über mir habe, und den Blick über das vor mir liegende Tal schweifen lasse, gelingt es mir, mich als Teil dieser Landschaft zu sehen. Schafe umgeben mich und ihr Blöken ist wie ein schützender Mantel aus Lauten, der sich dämpfend auf alles legt. Das Weiche, das der Anblick der Schafe in der Ferne vermittelt, verliert sich, wenn sie näher kommen. Ihr Fell ist schmutzig und zottelig, ihre Gesichter sind ausdruckslos und ihre Augen schauen mich nicht wirklich an. Ich weiß nicht, ob sie auf das Nahe blicken oder auf das Innere, das Ferne ist für sie ohne Belang. Ihre Münder sind mit dem Abrupfen des Grases beschäftigt und es scheint, als wäre das ihre ganze Bestimmung. Mir kommen sie nicht nahe, sie umgeben mich und ich bin weder ein Teil von ihnen noch interessieren sie sich für mich. Als Futterquelle scheide ich aus, folglich ist meine Anwesenheit für sie ohne Belang. Ich bin einfach da, nur so. Schafe sind friedliche Tiere, sie sind bescheiden, unaufdringlich, sie lassen über sich bestimmen, lassen sich scheren und lassen sich schlachten. Lämmer sind weich und verletzlich, sie werden geopfert. Wofür?

Wenn ich mich bewege, weichen sie zurück, geben mir den Weg frei. Dabei will ich gar keinen Weg nehmen. Ich trete näher an den Baum, der frei und selbstverständlich hier sein Zuhause hat. Zufällig ist er hier groß geworden und nun spendet er denen Schatten, die ihn finden. Seit vielen Jahren graben sich seine Wurzeln in den kargen Boden. Das ist kein leichtes Geschäft, aber sie wissen, dass es für sie weiter nichts zu tun gibt. Verdorren wollen sie nicht unter der Sonne, dazu ist ihnen das Leben zu kostbar. Also suchen sie den Lebenssaft in der Erde und finden ihn auch, aber mühsam. Ihre schwere Arbeit geschieht im Dunkeln und bleibt für immer verborgen. Trotzdem sind es die bescheidenen Wurzeln, die aus der Tiefe das lebensnotwendige Wasser holen und den Baum wachsen lassen. In Jahren gewinnt er an Größe und breitet seine Äste mit einer Selbstverständlichkeit aus, über die ich nur staunen kann.
Unmerklich entsteht ein Blätterdach, das den Zauber der Sonnenstrahlen aufzunehmen und zu verwandeln weiß. Schön ist es, darunter zu stehen, an einem Tag wie diesem. Das Rauschen der Blätter lässt die Macht der Gedanken verstummen und hüllt mich ein in jene Geborgenheit, die manchmal im Traum zu Gast kommt und schwerelos macht. Das Rauschen ist leise, aber es schließt den Kosmos um mich. An den starken Stamm gelehnt bleibt meinem Rücken auch nicht die Kraft verborgen, die sich hinter der Rinde gesammelt hat. Lange dauert es, bis ein Baum diese Größe erlangt, und nicht jeder schafft es, den Widrigkeiten zu trotzen und seine geheimen Kräfte zu entwickeln.
Dieser Baum kann seine Kraft, ohne ein Aufhebens davon zu machen, weitergeben. Gastfreundlich ist er und lädt mich ein, bei ihm zu verweilen. Es tut gut, mich an ihn zu lehnen und seinen Gleichmut entlang meiner Wirbelsäule in mich eindringen zu lassen. Gleichmut kann mich der Baum lehren auf jene gefühlvolle Art, die nur ihm zu eigen ist. Gleichmut und Bleiben. Beides wird einem zuteil, wenn man die Widrigkeiten des Himmels genauso hinzunehmen versteht wie die Sonnenstrahlen.
Und noch eines gehört zum Vermächtnis dieses Baumes. Die Einsamkeit ist sein Begleiter, doch sie macht ihn weder schwach noch traurig. Wahrscheinlich ist sie es, die ihm die Kraft verleiht, mir Schutz zu spenden unter seinem rauschenden Blätterdach und meine Augen mit den tanzenden Lichtpunkten zu erfreuen. Was wären die Sonnenstrahlen, könnten sie nicht durch die vom Wind bewegten Blätter ihre Geheimnisse entfalten und besonders schillern und glitzern und mir so von ganz anderen Welten und Zusammenhängen künden. Diese Lichtflecken sehen und in mein Inneres lassen, ist etwas vom Schönsten, was es gibt. Sie vertreiben die dunklen Flecken und machen Platz, um etwas noch Unbekanntes entstehen zu lassen, das mich gespannt macht.

Jetzt bleiben nur noch die Hände, die nicht anders können, als über die rissige Rinde zu streifen und fühlend das unhörbar pulsierende Leben zu ertasten, das dahinter verborgen ist. Ihnen kann nichts entgehen, sie nehmen am deutlichsten wahr, was im Inneren vor sich geht. Kummer und Schmerz und auch die Verletzungen dringen durch meine Haut. Rasch erzählt mein Blut es dem Herzen. Wunden und Narben sprechen Bände. Sind sie auch nicht sichtbar, so lassen sie sich doch von den Fingern ertasten, denen ein besonderer Spürsinn mit auf den Weg gegeben ist. Ein Baum erlebt viel, sein Leben ist lang und hier auf dem Hügel ist er allein. Die Blätter raunen ihre schwer verständlichen Worte in die Weite, doch außer den Schafen hört sie meist niemand. So vermischen sie sich mit deren Blöken und werden zu einem Geräusch, das dem Pulsieren des Blutes gleicht und ohne auf sich aufmerksam zu machen den Rhythmus der Welt mit anschlägt, nach dem alles auf seine Weise lebt und sich bewegt oder still ist, wenn die Zeit es verlangt. Dem Puls im Innern des Baumes können die Hände nachspüren. Ein gleichförmiges Dahinfließen in den zahllosen engen Kanälen können meine Finger erahnen. Weder Hast noch Stillstand kennt der Puls des Baumes. Er hat gelernt, alles hinzunehmen, in sich aufzunehmen, in Holz zu verwandeln und zu bewahren. Da gibt es viel zu lesen in den Ringen, die sich Jahr für Jahr bilden. Wie eine Blindenschrift entziffern sie meine Finger. Und diese Schrift verbindet sich mit der Erinnerung an all jenes, das ich gehört und gelesen und weiß und ahne, und so entsteht etwas Neues in mir.
Liebevoll streichle ich über die Rinde und lasse meine Zuneigung als Pfand zurück, ehe ich mich verabschiede.

Auf dem Weg über das karge Gras begleitet mich noch das Lied jenes Baumes, der sich mir anvertraut hat, und dessen Botschaft ich mit mir nehme in das Dorf, dem ich entgegengehe. Niedrige, weiß gekalkte Häuser erwarten mich. Freundlich blicken mich ihre kleinen quadratischen Fenster an. Die Wimpern unten sind mit roten Blumen geschminkt und die Lider zieren perlenbehangene Spitzen, so dass die Fenster in der Tat Augen gleichen, die den Besucher mit einem Lächeln begrüßen. Ich nicke zum Gruß, als wären wir seit langem bekannt, dabei war ich niemals zuvor hier.
Anscheinend bekümmert das niemand. Kann sein, wir kennen uns von alters her. Nur mir ist die Erinnerung verlorengegangen, während das Auge des Hauses mich sehr wohl wiedererkennt.

Ja, so ist das mit Häusern, man darf sie nicht unterschätzen. Haben sie jemand ins Herz geschlossen, so sind sie ihm treu und heißen ihn wieder willkommen. Mit einem Lächeln gehe ich entlang und fühle die Wärme, die die weiß gekalkte Mauer für mich gespeichert hat.
Ich bin in einer Gasse, deren Boden mit hellem Kalkstein gepflastert ist. Er ist glatt geschliffen von den abertausend Füßen, die darübergegangen sind und unsichtbare Spuren hinterlassen haben. Der Klang meiner Schritte fängt sich in den Mauern und gibt mir das Gefühl, nicht allein zu sein. In die Häuser führen bunt gestrichene Türen, die die Fröhlichkeit der Bewohner erahnen lassen. Die Tür muss bunt sein, rot am besten, das ist einladend. Links von mir führt eine Steinstufe zum Eingang des Hauses, eine schmale Tür, so ist es recht. Nicht jedem wird sie sich öffnen.
Eine Katze liegt auf der von der Sonne erwärmten Stufe. Sie räkelt sich und genießt. Das können uns die Katzen lehren. Den Weg zwischen den Häusern gehe ich entlang. Hier sind es die zurückhaltenden Farben Weiß und Grau, die für Ruhe sorgen. Aber die Blumen auf den Fenstersimsen und an den Haustüren sorgen für Aufheiterung. Gelb mischt sich mit Blau und Rot und immer wieder Weiß. Grün sind die Blätter, das Beiwerk der blühenden Blumen. Meist nimmt man es als selbstverständlich hin und schenkt ihm keine besondere Aufmerksamkeit. Es ist satt vom Licht, das es im Übermaß getrunken hat und reckt sich schützend zurückhaltend um die Blüten. Stolz ist das Grün auf seine Schützlinge und weiß sich zu bescheiden.

Nun sind es die Stimmen, die an meine Ohren dringen, unverständlich und fremd. Die Gasse mündet in einen Platz, auf dem reges Treiben herrscht. Es ist Markt und ich werde mit einem Übermaß an Lebendigkeit empfangen. Ganz selbstverständlich werde ich ein Teil davon. Hier kann ich eintauchen und teilhaben. Niemand scheint meine Fremdheit zu bemerken, so fühle ich mich heimisch und drängle mich wie all die anderen zu den einzelnen Ständen. Ich werde angelächelt und lächle zurück, ich blicke in dunkle Augenpaare und kann ihnen begegnen, ohne ausweichen zu müssen. So macht es Spaß, sich unter Menschen zu bewegen. Es gilt das grundlegende Recht des Angenommenseins. So kann die Seele anfangen, sich zu öffnen und frei zu werden. Dieses Geschenk empfange ich hier unter Fremden. So fangen meine Augen an, sich zu öffnen für die Vielfalt der Waren, die feilgeboten werden. Bunt ist alles und laut, so wie ich es lange nicht erlebt habe, dennoch spüre ich eine Harmonie, die wohltuend ist. Bunte Stoffe werden vor mir ausgebreitet. Es sind Farben, die mit ihrer Leuchtkraft nicht geizen müssen: Grün und Orange und Blau und Pink und Violett und Gelb. Die Muster besitzen eine Selbstverständlichkeit, die durch nichts zu überbieten ist. In diesen Stoffen ist das Leben eingefangen, mit dem ich mich einhüllen will. So kann mir nichts geschehen.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 15078

Ruinenruin

Am Beginn des Fuß- und Radweges parallel zur Rohrbacher Bundesstraße mahnt eine Hinweistafel alle Fußgänger, sich links zu halten, also dicht neben der stark frequentierten Fahrbahn zu verbleiben. Wegen des Steinschlags aus den Klüften der Urfahrwänd, der, obzwar durch die alljährlichen Felsräumungen, durch aufwendige Armierungen, Fangnetze, Stahlanker und Betoninjektionen im Zaum gehalten, eben nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Hier, entlang einer vollständig abgebrochenen Ortschaft,  rauscht weniger die Donau als vielmehr der Verkehr vorbei. Zwar gibt es auch einen inoffiziellen Steig, der dem Flussufer folgt, aber der gilt als Parcours der Hundeführer.
Einem schnappigen Köter oder seinem nicht minder bissigen Halter auf handtuchbreiter Fläche auszuweichen, lässt sich nicht immer mit der gebotenen Eleganz vollführen. Wenngleich sich eine Pumpgun im Lärmschatten von Bahntrasse und vierspuriger Bundesstraße wahrscheinlich weniger auffällig abfeuern ließe als unter der Zeugenschaft unzähliger vorbeifahrender Automobilisten. Aber es ist ja so: Man erschießt ja nicht nur den Pitbull und früher oder später kommt man wirklich in die Bredouille und weil man sich vielleicht nicht auf Notwehr ausreden kann, fasst man bei bisheriger Unbescholtenheit trotzdem einige Jahre Gefängnis aus, die man zusammen mit diversen Stumpfköpfen in Stein oder Graz-Karlau verbringt und damit der Gesellschaft der verlorenen Seelen ein weiteres Mitglied hinzuaddiert. Und Doris Day kriegt man ebenfalls nicht als Bewährungshelferin zugeteilt.

Man bleibt also auf dem Streifen Asphalt neben der Rohrbacher Bundesstraße, der man aber natürlich nicht bis Rohrbach, sondern nur bis Puchenau zu folgen beabsichtigt. Gekommen war man durch die Ottensheimer Straße, war mit einer Mischung aus schwermütiger Erinnerung und schwelendem Groll durch dieses Quartier gestapft, das ironischerweise immer noch Alt-Urfahr heißt, gleichwohl die wirklich alte Bausubstanz bald nur noch an der Hand eines Sägewerksarbeiters abzuzählen sein wird. Den Rest des lieblichen Ensembles bilden entkernte Gebäude mit konservierten Blendfassaden und der schlichte Barock der Neureichen – diese Allerweltshochstapelei phantasielos konzipierter Wohneinheiten mit obligatorischem Planschbecken im Vorgarten.

Natürlich will man es nicht darauf anlegen, von einem zufällig herabkollernden Stein erschlagen zu werden, in Quasi-Adaptierung des Ödön von Horváth-Abgangs enden, dem bekanntlich ein herabfallender Platanenast auf den Champs-Élysées das Lebenslicht ausblies. Aber andererseits muss man auf die Radfahrer achtgeben, von denen man nicht weiß, ob sie auf einen achtgeben. Der typische Neurastheniker am Velo ist ja bekanntlich von eher schlichter Anwandlung: nach oben buckeln, nach unten treten – und das mit einer bewundernswerten Unablässigkeit, die selbst die Einsicht in die Notwendigkeit elementarer Verkehrsregeln nicht zu bremsen vermag. Am allerlustigsten sind Kinder unterwegs, wenn sie, im Herumeiern Schwung nehmend, ihren Altvorderen fröhlich krähend in die Parade fahren. Aber sie tragen wenigstens Helm und radeln allfälligem Felsgeriesel immer schon voraus.

Man blickt also ab und zu in die Wand, bzw. die Felswände und -vorsprünge hoch, sucht das Relief des verwitternden Granits nach Auffälligkeiten ab, von denen man aber natürlich nicht weiß, wie sie auszusehen hätten. Überhängende Steinbrocken, die anmuten, als würden sie sich kaum wahrnehmbar im Luftzug wiegen, als Gefahrenquelle ausnehmen kann jeder, der auch nur halbwegs seinen Augen traut. Man blickt aber auch regelmäßig den Weg zurück, um allenfalls aufschließende Radfahrer rechtzeitig zu gewärtigen.
Man hat einen Blick für das Gesträuch in Sepia, das filzig und dornenreich die Flanken der Abhänge hochkriecht und sich im Vorfrühling noch nicht sattgrün wie zur Hochzeit der Vegetation zeigt. Man hält im Unterholz des ausgewiesenen Naturschutzgebietes nach den letzten Ruinen der devastierten Ortschaft Ausschau, die man vor Jahren noch gesehen glaubte. Reste einer gemauerten Vorhausfläche, Ansätze eines Kellerabgangs, aufgehendes Mauerwerk. Das „Gasthaus zur Schiffmühle“ kann man nicht mehr lokalisieren. Den Aufgang in den Urfahrer Königsweg ebenso wenig.

Gegenüber, am jenseitigen Ufer der Donau, zeigt sich die pittoreske Kirchenlandschaft von St. Margarethen. Mit der einzigen Einsiedelei in Landeshauptstadtnähe, die bedauerlicherweise von keinem schrulligen Schratt mehr unterhalten wird. Klar, wenn der Kirche schon die Priester ausgehen, werden auch die gottesfürchtigen Selbstgeißler nicht Schlange stehen, sich um eine schimmelige Bleibe in einem Kabäuschen in grottiger Einschicht zu raufen.
Weil die Bäume noch kahl sind wie jene Weihnachtstannen, die, wenn sie nicht längst verheizt oder gehäckselt wurden, sich spätestens ab Maria Lichtmess im Wohnzimmer als armseliges Staudengerippe präsentieren, sieht man die Umrisse der sogenannten Rosenburg auf der benachbarten Anhöhe ganz gut durch einen struppigen Wald durchscheinen. Die Phantasiefestung des Edward Schiller, die diesen nicht glücklich machte, allenfalls die Kinder, die zum Lampionfest pilgerten, das die Gewerkschaft der Gemeindebediensteten einst hier veranstaltete.

Man dackelt weiter und gewinnt schließlich den Puchenauer Ortsteil Anschlussmauer. Der Name verweist freilich nicht darauf, dass im 1938er Jahr zu viele Landsleute dem Anschluss die Mauer gemacht haben, vielleicht sogar die gleichen, die sich dann 1945 als erste Opfer verstanden, sondern auf die sogenannte Anschlussmauer als Teil des Bollwerks der Maximilianischen Befestigungsanlage. Und die war genau hundert Jahre früher entstanden, nie wirklich zum Schuss gekommen und kaum einmal zwanzig Jahre als militärische Anlage in Betrieb gewesen, ehe man sie aufgab.

Die Häuser von Anschlussmauer sind in die Leite einer der Ausläufer der Flanken des Pöstlingberges gebaut und etwas lärmgeschützt dank einer Wand, die die Sicht auf die Bundesstraße verbarrikadiert. Das erinnert einen an jene vereinsamte Alte, die, in Waldegg an einer Straßenführung parallel zur Westbahnstrecke wohnend, damit drohte sich umzubringen, falls die hochgezogenen Lärmschutzwände ihr die Sicht auf die rangierenden Züge nehmen würden.
Man weiß nicht, was aus ihr wurde. Die zwei Stockwerke hohen Hürden stehen jedenfalls und wurden schon bald nach ihrer Errichtung innerseits der Gleisanlagen mit dem Schriftzug „Shamsir“ an verschiedenen Stellen verunziert, was vielleicht auf den gleichnamigen persischen Säbel verweisen soll und wohl ein Signet des islamischen Wahnsinns darstellt.

Das Ensemble der Überreste des sogenannten Linzer Lagers wurde nie unter Schutz gestellt, wie es die ausgewiesene Kunsthistorikerin Renate Wagner-Rieger bereits in den 1960er Jahren gefordert hatte. Vielmehrt wurde seither den Relikten beim Zerbröseln zugesehen, sowie da und dort auch noch ein bisschen nachgeholfen. Dass 1975 die linke Klause Kunigunde – sämtliche Bauten unterstanden dem Patrozinium weiblicher Heiliger – geschliffen wurde, war der Notwendigkeit geschuldet, dem stetig wachsenden Verkehrsaufkommen durch Ausbau der Bundesstraße Rechnung zu tragen. Somit also Folge eines Sachzwangs. Dennoch ist es schade um den Anschlussturm, der zuletzt als Wohngebäude in „verkehrsgünstiger Lage“, wie es im Immobilienmaklereuphemismus heißt, gedient hatte: auf einer Insel zwischen Bahngleis und Autopiste.

Jetzt steht man am Waldsaum vor einem überwachsenen Felsblock, der eine für das Mühlviertel typische Verwitterungsform aufzuweisen scheint: Steinlagen wie geschlichtete Tortenböden. Nach genauerem Hinsehen erkennt man das bloßgelegte Mauerwerk aus ineinander gepackten Bruchsteinen, den Rest jener hangwärts führenden Anschlussmauer, die sich hier mit der Klause verband, allein einen Fuhrwerksdurchlass offenlassend, der im Bedarfsfall massiv verbarrikadiert werden konnte.
Man überlegt, weiter nach Puchenau hineinzugehen, in diesen Ort ohne Zentrum, in dem Roland Rainer seine Idee der Gartenstadt in die Realität umsetzen konnte, sich gewissermaßen als Harry Glück des verdichteten Flachbaus verwirklichte, weniger als austriakischer Ebenezer Howard auf potenziellem Überschwemmungsgelände. Beschließt dann aber den Hang hoch durch den Wald zu stapfen, was einen gleich keuchen macht und einem den Ratschlag seines praktischen Arztes in Erinnerung ruft, man könne doch das eine oder andere Bier von mehreren am Abend des Vortags getrunkenen ebenso gut auch nicht trinken. Allerdings, der Springinsfeld ist man ohnehin nicht mehr und Bier reinigt bekanntlich die Nieren und überhaupt: Was sind schon fünf Bier, wenn man zehn eh nicht getrunken hat?

Durchs Laub schlurfend, wühlt man eine mutmaßliche Granatenkartusche oder Büchsenkartätsche aus der Humusdecke und will die Sache gleich gar nicht näher in Augenschein oder gar mit nach Hause nehmen, um sie, in den Schraubstock eingezwängt, experimentell anzubohren. Wie es jener Jugendliche mit seinem brisanten Fundgut gemacht haben musste, ehe der mitsamt Elternhaus in die Luft flog. Natürlich könnte man den Entminungsdienst alarmieren und den Spezialisten, die sich von nervenaufreibender Fliegerbombenentschärfung erholen, den Sonntag damit ruinieren, dass man sie zur Bergung eines, wie sich dann herausstellt, leicht angerosteten, uralten Sodawassersiphons rief.
Stattdessen setzt man die Besteigung des mit lichtem Mischwald bewachsenen Berghangs fort, wähnt auf dieser wilden Passage unweigerlich, weil logischerweise, auf jenen Wanderweg treffen zu müssen, der von der Schießstättenstraße als Kreuzweg abgeht und im Wald schließlich als Turmstraße an Ruinen der Maximilianischen Befestigungsanlage vorbeiführt. Kommt aber plötzlich vor einem Jägerzaun zum Stehen, der ein Areal mit Jungbäumen einhegt, um sie solcherart vor Wildverbiss zu bewahren. Den Jägerzaun im schwierigen Gelände zu umgehen wird insofern zur Herausforderung, als von unterbrochener Waldarbeit loses Geäst herumliegt, zu Scheiterrundlingen portionierte Stämme des Aufgelesenwerdens harren und das Erdreich zudem durch Ziehen und Rücken der Hölzer mit dem Sappel so aufgewühlt wurde als wären die Eber durchmarschiert.

Man legt eine kurze Rast ein, sondiert die Lage, rekognosziert das Terrain, wie man früher im Militärsprech zu sagen pflegte und lenkt seine Schritte dann traversiere zum Hang. Damit weicht man einerseits dem Jägerzaun aus, hält andererseits auf die Anschlussmauer zu, die sich als unübersehbare Barriere vom Ort herauf in sturgerader Linie durch den Wald zieht.
Man erschreckt zwei Rehe, die zunächst auf die Mauer zuschießen, sich aber noch rechtzeitig abwenden, ehe sie an ihr zerschellen. Unter erregtem Ohrenspiel, was eine gewisse Empörung kundzutun scheint, traben sie aus dem Sichtfeld hangabwärts.
Die Anschlussmauer zeigt sich als ein mit dem Felsmaterial der Gegend versehenes Bloßsteinmauerwerk, dem ein Bewuchs aus Stauden und struppigen Baumkrüppeln aufsitzt. Ihre geschätzten drei Meter Höhe mit herangeführten Leitern zu überklettern, wäre jetzt keine Schwierigkeit und vor hundertsechzig Jahren wahrscheinlich auch keine gewesen, wenn sich das Gelände damals so präsentiert hätte wie heute. Aber zu Zeiten des Biedermeiers gab es hier keinen Wald und man hätte sich unweigerlich ins Schussfeld der im Schartenstock der Edelburga-Warte auf Posten befindlichen Füsiliere begeben. Selbst Geschosse abgefeuert aus Steinschlossgewehren können einem das weitere Vorgehen ganz schön verhageln.

Die Anschlussmauer endet mit einem absurden rechteckigen Durchguck knapp über Kopfhöhe an der Außenmauer der ehemaligen Warte, einer Bastion über halbkreisförmigem Grundriss. Am Mauerfuß sammelt sich Ziegelbruch von den Fensterlaibungen. Man streift am leicht nach innen geneigten Gemäuerhalbrund entlang, trifft jetzt nach einigen Schritten tatsächlich auf einen Weg und steht gleich darauf am ehemaligen Einlass in den Wehrbau. Massive Türangeln finden sich dort in den Stein gefügt. Auf solche Weise verankert, dass es unmöglich bleibt sie herauszuziehen, auch wenn eine sich in lockerer Haltung vermeintlich zu lösen scheint. Das deutet darauf hin, dass sie nicht eingestemmt, sondern vielmehr beim Versehen der Steinmauer in die vorbereiteten Ausnehmungen einer Lage eingelegt und verkeilt worden sind.

Setzt man mit kühnem Schwung durch das Portal, stürzt man unweigerlich in eine Grube, die sich an der Stelle auftut, wo schon vor langem eine Zwischendecke eingebrochen ist. Den Bau eines armierten militärischen Beobachtungsstandes als eine Anordnung von Fallgruben zu denken wie die Theaterbühne von Alfred Jarry, daraus in Gestalt einer einzigen Person im Bedarfsfall die gesamte polnische Armee entsteigt, wäre denn doch etwas hirnrissig. Um in das Innere der Warte zu gelangen, ohne ein Fall für die Bergrettung zu werden, klettert man eben durch eine der Fensterhöhlen und landet im ehemaligen Magazinstock auf dem Schutt eingestürzter Gewölbe. Die Anmutung des Ruineninneren hat weniger etwas Beklemmendes als vielmehr etwas Beklagenswertes: Warum musste der funktionslos gewordene Massivbau auch so verkommen? Als man vom Verdeck das provisorisch gedachte Holzdach abnahm, um es zu Ofenscheitern zu zerkleinern, wurde die darüber aufgebrachte Erdschicht, die ursprünglich als Splitterschutz fungiert hatte, zur Humusdecke für die mit dem Wind verbrachten Pflanzensamen. Man möchte sich ausmalen, die hier und in den anderen Türmen stationierten Kanoniere hätten in Friedenszeiten auf abgedunkelter Erde Champignons gezüchtet, wie weiland der Spitzweg’sche Vorposten, der Socken strickte – mit nicht aus der Ruhe zu bringender Raffinesse. Den verschiedenen Wetterbedingungen im Jahreszeitenwechsel ausgesetzt, konnte es aber nur eine Frage der Zeit sein, bis das Mauerwerk anfing, Schaden zu nehmen. Von der Kehre oberhalb der Warte betrachtet, sitzt dieser regelrecht ein Wäldchen auf. Eine Wald-in-Wald-Idylle? Eine pittoreske Szene mit Ablaufdatum jedenfalls.

Während man darüber nachdenkt und sich versonnen endlich wieder nach dem Weg wendet, fährt man unversehens einer Läuferin in die Parade, die mit aufgesetztem Kopfhörer in hochfahrender Gazelleneleganz die ehemalige Turmstraße heruntergesportelt kommt. Das Malheur ist natürlich nicht damit aus der Welt, dass man sich entschuldigt, dabei peinlich darauf bedacht, nicht das von sich zu geben, was man sich eigentlich denkt. Sie fängt sich, eben so wie man sich fängt, schlingt ihren Kopfhörer um den Hals, daraus irgendetwas Unzumutbares greint, das nur Menschen für Musik halten können, deren Gehörschaden irgendwo zwischen Thalamus und primärer Hörrinde zu lokalisieren wäre. Der Austausch von Unfreundlichkeiten unterbleibt trotzdem. Man einigt sich darauf, dass, wenn schon nichts anderes, so doch der Frühling bald kommt. Dann nimmt sie das Laufen wieder auf und man sieht ihrem flatternden Haar noch eine Weile nach und glaubt, es seien die Korinther gewesen, die den Spartanerinnen nachsagten, sie hätten alle einen Vogel. Aber vielleicht brachten die Ersteren das nur deswegen auf, weil sie bei Zweiteren so gar kein Leiberl hatten.

Wenig später steht man vor dem Turmruinenrund des Turms 15, Luitgarde, der, im Gegensatz zur Warte, nicht in den Hang, sondern auf verebnetes Gelände gesetzt worden war. Es umfangen ihn noch der Graben und jenes Erdwerk, das man das Glacis nannte, sodass sich die Anlage gegen die gedachte Angriffslinie als ein in seine unmittelbare Umgebung eingebetteter Kegelstumpf präsentierte. In unseren Tagen betritt man durch den aufgerissenen Eingang an der sogenannten Kehle einen großen, hohlen Gugelhupf, der dadurch entstanden ist, dass von drei konzentrischen Rundgängen nur noch der äußere erhalten geblieben ist, die Balkendecken der inneren längst den Weg allen Irdischen gegangen sind. Wahrscheinlich wurde nach dem Verkauf der einzelnen Bastionen der Sache des Verfalls auch hier etwas nachgeholfen. Deckenholz ließ sich, zugeschnitten, als gut getrocknete Feuernahrung in jeden Ofen schieben.

Im Zentrum des Gugelhupfs erklimmt man einen vermeintlichen Schutthügel, den die Feuerstelle einstiger Lagerfeuerromantik, selchig müffelnde Asche und einiges Dosenblech krönt. Dort pflanzt man sich auf und betrachtet im Rundblick einen mit Baumbesatz überzogenen Mauerkranz. Die sich nach und nach durch die Backsteintonnengewölbe arbeitenden Wurzeltriebe werden letztlich der Ruinen Ruin sein, sinniert man und bedauert, dass der Eigentümer, Stift Wilhering, nicht auslichten lässt.
Der zentrale Schutthügel inmitten der Turmruine ist gar keiner, sondern der innerste Raum, in dem entweder ein Brunnenschacht abgeteuft war wie im Leondinger Turm 9 oder im Heilhamer Turm 24, oder Sprengmittel eingelagert wurden. Ein von klafterdickem Mauerwerk umschlossener Zylinder mit Backsteinkuppel.
Man fragt sich, ob man hier über dem vermuteten Zutritt einmal die Schaufel ansetzen sollte, um ins Innerste vorzudringen und  – ja, auf was wohl zu stoßen? Auf Graffiti, die gelangweilte Sappeure Anno Tobak in den gebrannten Ton der Ziegel geritzt haben?

Für heute hat man keinen Klappspaten dabei und so macht man sich weiter auf der preisgegebenen Turmstraße, der das Pflaster geraubt worden ist, das nirgendwo mehr vollständig, sondern nur noch an bestimmten Stellen aufliegt. Man weicht vom Weg ab, um nach der Ruine der Batterie Thekla zu sehen, welche zusammen mit jener namens Klara einen niemals errichteten Turm 17 in den abschüssigen Lagen des Pöstlingberges ersetzen half. Man streicht vorbei an den trostlosen Überresten des Seraphina-Turms 16 und tritt vom Wald heraus auf eine Wiese, in der jener Felsenkopf zu vermuten ist, der gesprengt worden war, um den Geschützen der in der Nähe befindlichen Bastionen kein natürliches Hindernis innerhalb der Bestreichungsradien zu belassen. Bei dem Manöver zerbröselte der Felsen in weitum streuende, rasiermesserscharfe Splitter, die der Überlieferung nach einer Marketenderin das Leben kosteten. Noch vor einigen Jahren konnte man die Splitter von der Hochfläche der markanten Erhebung auflesen. Jetzt findet sich eine Grasnarbe als Decke darüber geschlagen.

So nahe am Berg, der eine Basilika in der Nachfolge eines an einen Baum genagelten Gnadenbilds trägt, weiß man nichts anderes mit sich anfangen, als ins Wirtshaus zu gehen. Dort isst und trinkt man unter Leuten, die es auch nicht anders betreiben. Später wird man dann entlang der Hohen Straße, die auch noch Hansbergstraße heißt, nach Linz zurückgehen.

Man wird keine der zur Übung gewordenen Sonntagsbesuche mehr machen. Man wird daheimbleiben, in Büchern lesen und abends das Radio anmachen. So erfährt man, dass noch am gleichen Tag die Rohrbacher Straße auf behördliche Anordnung gesperrt wurde. Es gingen Steine aus der Urfahrwänd auf die Fahrbahn ab.

Bernhard Hatmanstorfer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 15045

Im Alsergrund

Anfang Oktober ist es, mehr noch, es ist genau der erste, und ich komme endlich ins Hotel. So gegen halb sechs Uhr abends muss es sein. Ich fahre vom Schottentor eine Station mit der Straßenbahn die Währinger Straße stadtauswärts, dann gehe ich ein Stück im Regen, mit einer Mappe unter dem Arm, auf die vom Schirm das Wasser tropft. Aber die Mappe ist dicht, es dringt kein Wasser hinein. Der Stockschirm ist grün, es ist einer vom Spar, und obwohl er mich im Zug, in der Straßenbahn, in der U-Bahn stört, bin ich froh, ihn mitgenommen zu haben, so sehr schüttet es. Die Stra­ßen glänzen, auf den Gehsteigen und Fahrbahnen spiegeln sich die Lich­ter, die der Autos, die der Straßenbeleuchtung, die der Geschäfte, impressionistisch zergehen sie im Flüssigkeitsfilm und in den Pfützen. Der Regen lässt mich eine seltsame Geborgenheit fühlen, und es scheint mir, als weinte er über die verlorene Jugend der mächtigen alten Stadthäuser.

In der Währinger Straße, direkt gegenüber den Physikalischen Instituten der Universität Wien, liegt mein Hotel. Mein Gepäck habe ich schon am Morgen abgegeben, weil ich früh angekommen bin und dafür Zeit gehabt habe. Es ist ein Haus aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert oder Ende 19. Jahrhundert. Oder Anfang 20., das ist ziemlich dasselbe, und weit fehle ich nicht, bin ich mir sicher. Ich hole meine hellbraune Reisetasche, die mich schon während meiner Interrail-Reisen begleitet hat und die ich an der Rezeption habe stehen lassen dürfen. Der Lift in den 4. Stock braucht ewig, ich bekomme beinahe Angst, er würde überhaupt nicht stehen bleiben, son­dern mit mir ein Experiment zur Relativitätstheorie, zur Gravitation etwa, durchführen, mit stetig wachsender Geschwindigkeit über das Dach hinaus rasen, im­merhin sind die Physikalischen Institute nur ein paar Meter entfernt. Aber da hält er doch. Ver­winkelt orientiere ich mich an den Zimmernummern an den Wänden, ein Pfeil dahin, ein Pfeil dorthin. Schließlich stehe ich vor meinem Zimmer. Num­mer 400. Statt einer Magnetkarte gibt es einen Schlüssel, schwer liegt er in meiner Hand. Ein sympathischer Zug einer stehengebliebe­nen Zeit.
Eigentlich betrete ich eine Wohnung, kein bloßes Hotelzimmer: eine enge Diele, von der es zur Toilette geht, eine Garderobe, ein Bad, ein großes Zimmer mit drei Betten, ein Wohnzimmer fast, hoch oben über der Währinger Straße. Ein winziger Röhrenfernseher steht auf dem dunklen Schreibtisch, an dem man sitzen muss, um das Bild zu erkennen. Vom Bett aus geht da nichts. Höchstens mit einem Opern­glas. Im Vorraum, in der Garderobe steht ein alter knarrender Kasten, mit Kunststofffolie ausgelegt, die mit Röschen verziert ist. Hemden und Unterwäsche lege ich hinein. Vorher vergewissere ich mich, dass kein Staub auf den Folien liegt. Es scheint sauber zu sein. Keine Motten oder sonstiges Getier.
Ich telefoniere mit meinem Handy mit Wolfram. Es han­delt sich um einen Rückruf, den ich kurzhalten will, doch geht das bei Wolfram kaum, er hört nicht zu reden auf, selbst wenn es um nichts geht. Irgendwie schaffe ich den Ausstieg, ohne unhöflich zu sein. Er hat mir das Gasthaus „Wickerl“ zum Abendessen empfohlen, unten in der Porzellangasse. Ich werde danach Ausschau halten. Hungrig bin ich, wir haben wäh­rend der Besprechung tagsüber zwar ausreichend Brötchen bekommen, kleine Häppchen, aber keine warme Mahlzeit. Ich packe die Reisetasche aus, lege die Dinge aufs Bett, auf den Tisch, auf die Couch, einen Teil, der dort hingehört, ins Bad. Die Schuhe lasse ich an, ebenso das Sakko. Der Schirm ist in der Diele aufgespannt und gibt knisternde Geräusche von sich. Die Reiseta­sche ist jetzt leer. Morgen in der Früh kommt alles wieder hinein, was jetzt irgendwo im Zimmer liegt. Wenn ich zurückkomme, werden die Dinge geordnet, selbst wenn es nur für ein paar Stunden ist. Jetzt habe ich keine Lust dazu. So gehört es sich für einen Pedanten, würden ei­nige meiner Bekannten sagen, nämlich dass er peinlich Ordnung hält. Naja. Ich nenne mich positiv ordnungsliebend.

Ich entspanne den Schirm, gehe hinaus, sperre die Tür von außen ab, hole den Lift, steige ein, nachdem er endlich gekommen ist, drücke die Taste fürs Erdgeschoß, und er fährt tatsächlich nach unten. So lange kommt es mir jetzt nicht vor, die Schwerkraft hilft mit, wenigstens dem Gefühl nach. Eine scharfe Ana­lyse eines Physikers im Angesicht der Physikalischen Institute. Ich gehe an der Rezeption vorbei, die ein paar Stu­fen hinauf rechterhand liegt. Draußen bimmelt die Straßenbahn, die Autos verspritzen das Regenwasser der Pfützen, die Leute jonglieren sich mit ihren Schirmen über die Gehsteige, ich atme vor dem Hotel die kühle, vom Regen feuchte Luft, die erfri­schend zum Gehen hin­unter in den Alsergrund ermuntert. Die Ampel schaltet auf Grün, nach­dem ich gewartet habe und die Autos in ziemlichem Tempo vorbeigerast sind und bei Rot abrupt gebremst haben. Ihren Sprit­zern habe ich entgehen können. Am Anfang der Bolt­zmanngasse gibt es ein Gasthaus, das geschlossen ist, also weiter, entlang den Physikalischen Instituten und dann nach rechts in das letzte Stück der Strudlhofgasse. Rechts steht die schöne Villa, in der früher die Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika war und links sehe ich eine Tafel, die auf den Schauspieler Raoul Aslan hinweist, der in diesem Haus gewohnt hat.
Und dann ist sie wieder vor mir, wie schon ein paar Mal, wenn ich in Wien war und in der Nähe nächtigte, früher oft an der Ecke Alserstraße/Lange Gasse, und ihr nahe sein wollte: die Strudlhofstiege. Vor Jahren habe ich Doderers Roman gelesen, er hat einen schwarzen Einband, ich habe ihn von meinem Vater geschenkt oder nach seinem frühen Tod bekommen, ich weiß es nicht mehr. Oben ist ein Spruch auf die Mauer gesprüht: „Balkone strahlen vor Schein­freiheit“. Ich gehe hinunter, kann mich nicht recht entschei­den, nehme ich die Kehre nach links oder nach rechts, ich gehe quasi planlos, einmal so, ein­mal so. Die Stiege ist beleuchtet, klar, die Sturz-, Belästigungs- und Rutschgefahr ist nicht ohne. Ein Mädchen kommt mir entgegen, es ver­meidet meinem Blick zu begegnen.
Dann bin ich unten, überquere die Liechtensteinstraße, biege in die Fürstengasse ein, die am Palais Liechtenstein entlang­führt. Schließlich habe ich die Porzellangasse erreicht, durch die der D-Wagen nach Nussdorf fährt und bimmelt und die leuchtet und im Regen glänzt. Märchenhaft. Die Pfützen reflektieren die Lichter, und diese glänzende Nässe, die Regelmäßigkeit des Regens, die Si­cherheit im kleinen privaten Revier unter dem Schirm schaffen eine abendliche Melancholie, eine anregende Melancholie, die nicht belastend ist, im Gegenteil, sie trifft die angenehm heimelige Stimmung im Alsergrund. Fast fühle ich mich hier zu Hause.

Ich habe Hunger und halte Ausschau nach dem Gasthaus „Wickerl“. Es zeigt sich mir nicht. Da fällt mir ein: Vor Jahrzehnten, als ich in Wien an der Nationalbibliothek zu tun hatte, kam ich oft in die Porzel­langasse. Gleich in der Nähe ist die Seegasse mit dem ältesten jüdischen Friedhof in Wien, glaube ich. Und die Berggasse, in der Sigmund Freund wohnte und praktizierte, ist auch nicht weit. Ich besuchte damals Tom, der an der Universität Wien ein Doppelstudium belegte, Informatik und Recht. Beides schloss er ab. Er wohnte im „Porzellaneum“, dem Heim des Studentenheimvereins der Wie­ner Universität. Wir spielten im Garten des Heimes Schach, und wenn es kalt war oder reg­nete, spielten wir im Gasthaus „D’Landsknecht“. Ich weiß nicht mehr, wo es liegt, aber weit, wo ich vor dem Porzellaneum stehe, kann es nicht sein. Ich halte Ausschau. Zunächst erwische ich die falsche Richtung, eh klar, daher nehme ich die andere, und da ist es schon, das „D’Landsknecht“. Bäuerliches Am­biente, warme Atmo­sphäre. Schirm zuklappen, Platz suchen, im Nichtrau­cherbereich, wenn möglich. Dunkles Holz. Ein Tisch am Fenster ist frei, ich sehe draußen den grauvioletten Ton der Dämmerung und höre den Regen. Die Kellnerin bringt mir die Speise­karte und fragt mich nach meinem Ge­tränkewunsch. Nein, kein Alkohol, nicht schon wieder Kopfweh. Also kein Bier, kein Wein, ein Fruchtsaft mit Leitungswasser. Sie trägt ein weiß-blaues Dirndl, kess, hat kleine Zöpf­chen, ein bisschen lolitahaft wirkt sie. Ein Surschnitzel wird es, vorher eine Suppe, das Abendmenü. Hinter mir sitzt eine Altherrenrunde, der Schmäh rennt. Heiterkeit, Gelächter.
Ich rufe meinen Bru­der an, der mir ein Angebot für ein neues Auto per eMail geschickt hat. Nein, er ist kein Au­tohändler, aber er hat eine gute Hand für Autos, überhaupt für alles Technische, er ist ein wirklicher Ingenieur, im Gegensatz zu mir. Ich bin bloß ein Papieringenieur. Stu­denten sind nicht allzu viele hier, vielleicht ist es zu früh am Abend, die werden später das Lo­kal noch füllen.
Inzwischen ist es draußen dunkel geworden, und die Lichter und ihre Reflexionen auf den regennassen Flächen haben an Intensität gewonnen. Die deftige Portion vertilge ich mühe­los, wieder eine gute Tat für mein wachsendes Bäuchlein. Ich überlege, ein Schnäps­chen zu nehmen, unterlasse es aber. Ich will keine Kopfschmerzen provozieren, die sich bei mir nach jedem kleinen Schluck Al­kohol melden. Oft auch ohne Alkohol. Also zahlen, bitte! Und das Dirndl kommt nach eini­gem Warten.

Auf der Porzellangasse klatscht der Regen auf. Mein Schirm ver­mittelt mir wieder ei­nen kleinen Bereich individueller Beschütztheit, es ist nahezu romantisch darunter. Jedenfalls fühle ich Geborgenheit, eine gleichmäßige Gebor­genheit im Rhythmus des Regens. In einem Zielpunkt kaufe ich mir eine Flasche Mineralwas­ser, falls ich in der Nacht Durst bekomme. Das Fließwasser im Hotel, ich traue ihm nicht. Nach der Fürs­tengasse überquere ich die Liechtensteinstraße, und dann sehe ich die Strudl­hofstiege wieder vor mir, hell beleuchtet. Heute gefällt sie mir gar nicht so sehr, die Fill­grader Stiege, die von der Gumpendorfer Straße hinauf zur Mariahilfer Straße führt, ist dagegen ein architektonisches Meisterwerk. Aber durch Doderer ge­winnt die Strudlhof­stiege an inneren Werten. Und das ist doch das Wichtigere gegenüber äußeren Merkmalen. Ich steige bergan und sehe oben wieder den aufgesprühten oder aufgemalten Text „Balkone strahlen vor Schein­frei­heit“. Dann wird es dunkel in der Strudlhofgasse, die kräftige Beleuchtung ist vorbei. Ich biege links in die Boltzmanngasse ein, gehe entlang dem Phy­sikgebäude, links sind die Häu­ser niedrig und lassen mich an das alte Wien, die Pest, den lie­ben Augustin, den Gevatter Tod, die Sagen aus der Residenz- und Kaiserstadt Wien denken.
Im Hotel muss ich wieder auf den Lift warten, er ist besetzt. Endlich kommt der langsame Herr, öffnet ebenso langsam, fährt langsam an und fährt und fährt. Kurze Orientierung. Da ist mein Zimmer, Nummer 400. Ich sperre mit dem schweren Schlüssel auf.
Gegenüber sind einige Räume der Physikalischen Institute beleuchtet, wahrscheinlich manche die ganze Nacht durch. Es laufen wohl Experimente und Versuchsreihen, die überwacht wer­den müssen, möglicherweise auch von Menschen, nicht nur von Computern. Hin und wieder schaue ich hinüber. Einige Fenster werden dunkel, einige bleiben hell. Die Straße glänzt. Die Autos sind weniger geworden, ich höre ihr Fahrgeräusch auf der nassen Fahr­bahn, die nach wie vor vom Regen benetzt wird. Und in meinem Altwiener Hotelzimmer denke ich an Hernals, an die Pezzlgasse, das Gast­haus „Liebstöckl“, an die Höhnegasse. Sie alle sind weit weg vom Alsergrund und doch in ei­nem verbindenden Kreis der Stadt. Ir­gendwie ist alles gegenwärtig für mich, obwohl es die damit verbundenen Personen physisch nicht mehr gibt, außer meiner Tante, der älteren Schwester meines Vaters, die demnächst ih­ren neunzigsten Geburtstag feiert. Ich ziehe die Vorhänge zu, schalte den winzigen Fern­sehapparat ein und schaue mir ein Spiel der Champions League aus dem Bett an. Wie Zwerge fuseln die Spieler über den Bildschirm.
Meine Augen brennen. Bald schlafe ich ein, beim Geräusch des Re­gens, das durch die Vor­hänge dringt, beim zeitweiligen Hupen der Autos.

Günther Androsch

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Atem holen

Alles ist im Fluss, heißt auch nicht viel mehr als: Alles verläuft sich, verrinnt, unterliegt dem Wandel. Andernfalls wäre Existieren die Verewigung des erstarrten Moments – das Schicksal der im Bernsteintropfen eingegossenen Urzeitfliege. Die Metapher vom „Fluss des Lebens“ – mag sie verfangen? Wo soll es denn münden, dieses mäandrierende Gewese? Etwa im Tod, von dem sich der Gläubige erhofft, er stünde zwischen der Verheißung eines Aufgehens in Gott und der irdischen Plackerei? Ist es Sarkasmus, zu monieren, die Zeit hätte lediglich für Lebewesen Bedeutung und keineswegs für die Materie als solche, für das Universum als Ganzes? Lediglich.
Schwermütig sollte man nicht in den Zug steigen. Man wählt einen Platz am Fenster und sieht ein in Gegenrichtung vorüberziehendes Landschaftsband. Darin die vertrauten Intarsien der Geschäftigkeit: Ackerrillen furchende Traktoren, über Baugerüste turnende Maurer, rasende Automobile. Große, weiße Vögel staksen über eine Wiese. Sind es Störche? Kurz vor der Einfahrt in Wels läuft auf der Fassade einer Fabrikhalle ein Mädchen mit abgerissenen Armen – für alle Zeiten in ihrer Dynamik festgefroren – auf den flüchtigen Betrachter zu. Welchen Rat wollte man ihr zurufen?
Hinter Haiding verzehren Maschinen einen Berg. Dieser Waldhügel hieß das Kranall oder Kronal. Der Name soll von den Krähen rühren, die mit den Kreisen ihrer Flugmanöver die Anhöhe umflorten, die das verschwundene Gemäuer einer Feste getragen haben soll. Bald wird es den Berg nie gegeben haben. Die ominöse Burg hat es angeblich schon davor nie gegeben.
Irgendwo zwischen Neumarkt und Riedau wirft sich ein Mensch vor einen fahrenden Zug. Allen nachfolgenden beschert das einen aufgezwungenen Halt, da die Polizei die Ereigniszone für ihre Erhebungsarbeiten kurzfristig sperrt. In welcher Verzweiflung sich einer das antut, sich von anrollendem Stahl über Gleisen förmlich zermanschen zu lassen?

Schärding gilt als Durchfahrtsort auf dem Weg ins benachbarte deutsche Grenzland, als Molkereiadresse und Hochwasserzone allenfalls. Wer hier aussteigt, hat eine Weiterreise also wirklich nicht vor.
Man kann aber auch nach einem Ort sehen, den man vor Jahren einmal flüchtig durchmessen hat und ihn als Ausgangspunkt nehmen den Inn überzusetzen.
Das Bahnhofsgebäude ist ein trostloser Zweckbau, der darauf abgestellt scheint, seinen Zweck nicht zu überleben. Eine Schuhschachtel unter einem gekiesten Flachdach, aus dem an den Tropfkanten Birkenschösslinge windschief sprießen. Die Ankunftshalle präsentiert sich düster verfliest wie eine Rinderschlachtstätte in Rawalpindi. Dem Snackautomaten wurde die Frontscheibe eingeschlagen und der Spenderkasten nie wieder befüllt. Der Automat offeriert ausschließlich Staub und körnigen Glasbruch. Poster, die Reisemöglichkeiten anbieten – wollen sie einem nahelegen, doch woanders hinzufahren? Die Bahnhofsrestauration hat seit ewigen Zeiten zu. Herausgerissene Bänke und umgeworfene Stühle scheinen nicht auf den Anbruch besserer Tage zu hoffen.
Es heißt aber, der Spatenstich zum Start des Neubaus wäre bereits erfolgt. Der amtierende Bürgermeister, ein Vertreter der Österreichischen Bundesbahnen, sowie der Verkehrslandesrat und Landeshauptmannstellvertreter in Personalunion hätten vor versammelter Schar aus Pressevertretern und den unvermeidlichen Gratisblitzern der Feierlichkeitsverköstigung in gelungenem Zusammenspiel lehmigen Aushub auf ihre Schaufelblätter gehäuft.

Man quert die Bahnhofstraße und findet sich wieder vor einem Dornröschenschloss. Das Dornröschenschloss ist ein Gasthaus, das auch Fremdenzimmer anpreist, was im Vorfeld eines Bahnhofs keine abwegige Dienstleistung verheißt. Indes überwuchern den Gastgarten Holunder, Efeu und Dornenranken. Ein Kastanienbäumchen wiegt seine Blätter im zarten Lufthauch. Unter den schlaffen Fangarmen einer Weide morscht, von Stauden umzingelt, ein klobiger Wohnwagenwürfel. Das Gartentor widersetzt sich dem Öffnen mit natürlicher Gegenwehr: Rost heißt hier das Übel. Ein sich aus dem Erdboden wölbender Wurzelstrang liegt auch noch irgendwie im Weg. Man turnt um eine vergessene Mülltonne herum und lässt sich von der Aussicht berücken, hier fließe Bier aus Hacklberg aus dem Zapfhahn. Die Laternen beiderseits des Portals tragen die Embleme der einen der zwei noch existierenden Passauer Brauereien. Schon wähnt man sich in bessere Stimmung versetzt und ignoriert die Spinnweben. Ignoriert auch, dass die zum Aushängen der Speisekarte gedachte Schautafel unter einer der Laternen leer ist. Hinter den geschlossenen Kastenfenstern hängen gräulich gewordene Vorhänge, die Rahmenzier der Fensterlaibungen wirkt stellenweise wie angebissen. Um den Türsturz rankt sich wilder Wein und auf den Steinstufen liegen Laub und verrottende Pflanzentriebe, die der Wind hierher kehrte. Von der zweiflügeligen Kassettentür mit Rauglasoberlichte schält sich der blaugrüne Anstrich, der Türknauf trägt die Farbe der Eisenfäule. Was einen dennoch drängt einzutreten, weiß man hinterher nicht mehr. Vielleicht wollte es die Vollendung einer Bewegung sein, zu der man ansetzte, als man das Gartentor passierte. Die Tür des verlassenen Gebäudes öffnet sich knarzend, aber ohne größeren Widerstand. Lediglich der nicht in der Schwellenvertiefung eingerastete Bolzen eines Standriegels schabt über den Boden und schnitzt eine Kerbe in Form eines Viertelkreises in den mehligen Staub. Den dahinterliegenden Windfang verlässt man durch eine Schwingtür, die einen in den düsteren Zwischenbereich zwischen den Gaststuben fegt. Hier die „Altbayerische Bierstube“, dort der „Frühstückssaal“ und in der Mitte der verschattete Gang ins Haushintere, zu den Toiletten und ins Stockwerk vermutlich. Der abgestandene Geruch von Ewigkeit hinter fest verschlossenen Fenstern schlägt einem entgegen und erinnert einen an die kümmerliche Wohnsituation längst verstorbener Verwandter landwärts. Ein Pult mit darüber aufragendem, ausgeleertem Fächerschrank könnte eine Art Rezeption gewesen sein. In der Staubschicht auf dem Pult hat sich jemand mit dem Schriftzug DOOF in krakeligen Kapitalien verewigt. Was neben allerlei Unrat den Boden bedeckt, könnten die herausgerissenen Seiten eines Telefonbuches sein.

Man wendet sich nach der Bierstube, in die man durch den Rahmen einer eingetretenen Tür einsteigt. Aus der Umfassung ragen Glaszacken, deren Fehlstücke beim Auftreten unter den Sohlen knirschen, wie die Hauer aus dem Maul einer Geisterbahnmonstrosität. Ein kupferfarbenes Blechschild mit der Aufschrift „Pils vom Fass“ hängt über der Theke, deren Borde nichts mehr enthalten als ein paar vereinsamte Gläser, Fliegenleichen und ein Kalenderblatt vom Rauchfangkehrer, Jahre Schnee. Dann meint man die Stille, mit der man rechnete, von einem knurrigen Vibrieren erfüllt. Im Halbdunkel das Refugium eines lauernden Hundes zu stören, wäre das Vorletzte, von dem man sich wünschte, es möge einen ereilen. Dass er einen beißt, das aber wirklich Letzte.
Schließlich entdeckt man über einer Bank hingestreckt den Schattenriss eines schnarchenden Mannes. Zu seinen in schwerem Stollenschuhwerk steckenden Füßen ein aufmontierter Rucksack, wie ihn Huckepacktouristen schultern. Dem friedlich Schlafenden erzittert mit jedem Atemzug sein Vollbart in drolliger Weise, ganz so als wollte der etwas selbständig von sich abbeuteln, was seinen Träger nicht extra zu beschäftigen brauchte. Die über der Brust verschränkten Arme heben und senken sich mit den Lungenstößen. Man schätzt den Liegenden nicht viel jünger als man selbst, mag ihm aber nur ungern das gleiche Gemüt wie das eigene andichten: von zeitweilig geradezu ruppiger Ungeselligkeit und bisweilen sehr verhaltener Freundlichkeit. Wer steigt auch schon in aufgegebene Wirtschaften ein, den nicht die Not, ein Obdach vor den Unbilden zu finden, zwänge? Im Moment lauert im Freien jedoch keine finstrige Nacht oder eiseskalter Dauerregen.
Man versucht sich an den Zapfhähnen, denen aber nicht einmal ein klägliches Fauchen entweicht. Längst sind die an nichts mehr angeschlossen. Dabei täte die Einrichtung der Gaststube es noch machen: Tische und Stühle und Bänke, sowie ein paar verfaulende Sitzkissen. In einem Aschenbecher mumifizieren Kippen. Aus den Lampenschirmen wurden die Birnen gedreht. Über dem vermeintlichen Stammtisch scheinen Mücken zu flirren oder es wabern Spinnweben im fadenscheinigen Gegenlicht vor einem der Fensterkästen mit den patinierten Gardinenschleiern. Von der Decke löst sich Rigips-Dekor. An den Wänden wirken die Fehlstellen der Bilder wie Lichtpausen. Auf einmal denkt man sich die Welt von allen Menschen verlassen, träumt sich dieses Bild ins sonore Schnarchen eines anderen hinein. Was würde einem fehlen? Mit einem Schlage die Möglichkeit, sich von allen anderen absetzen zu können, selbstgewählt alleine zu sein. Das aber würde einen in den Wahnsinn treiben.

Ehe man Wurzeln schlägt, beschließt man, wieder zu gehen, auf dieselbe Weise wie man gekommen ist. Verhalten schlägt die Tür, als man abermals im Unkrautgarten steht. Man umrundet jetzt das Haus, indem man in den Bahnhofweg, in die fußläufige Strecke ins Zentrum, einbiegt. An der Westfassade prangt der Schriftzug GASTHOF auf der Höhe des Stockwerks unter dem Dachfirst. Die Buchstaben G und O haben hier auf der Wetterseite Schaden genommen. Eigentlich steht dort CASTH F zu lesen, aber man weiß jetzt ohnehin schon Bescheid und lenkt seine Schritte weiter, bald entlang eines großen Feldes, in dem in Abständen mächtige Bleistifte liegen, die mit ihren Spitzen auf verplombte, kreisrunde Öffnungen im Erdreich weisen, in welchem ansonsten Bagunta oder eine andere Rübensorte gedeiht. Diese Flur heißt Brunnwies und womöglich haben die seltsamen Bleistifte mit der Beobachtung des Grundwasserspiegels zu tun, sagt man sich, da man niemandem begegnet, der es einem anders deuten könnte.

Bernhard Hatmanstorfer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 14073

Linz, Sonntag: In Search of a Wirtshaus

„Die Folge der Speisen geht von den schweren zu den leichten.“
Jean Anthèlme Brillat-Savarin, Physiologie des Geschmacks
„Allein eine der besten gedämpften Speisen, welche aus Fischen
bereitet werden können, ist die folgende: (…).“
Carl Friedrich von Rumohr, Geist der Kochkunst

Manchmal überkommt es einen halt. Nein, ich meine nicht jenes Gebaren in rauen Vollmondnächten, in denen man als Verwunschener zum Werwolf mutiert und in Altstadtlokalen bis zum Morgengrauen herumlungert und seine Trinkkumpane anstänkert. Manchmal will man ganz einfach Linz nicht verlassen, um nach – sagen wir – Wels zu pilgern und sich am Kaiser-Josef-Platz im einzigen wirklichen Wirtshaus vor Ort einzuquartieren, und den Tag, der natürlich ein Sonntag ist, bestens umhegt zu vergessen. Manchmal will man auch in Linz sonntags speisen gehen. Würstel vom Stand und Pizzen in Ehren, aber das Zeug gibt es im Notfall immer, man braucht dafür keine Scheibe einschlagen und den Alarmknopf betätigen. Am Sonntag, dem Tage angemessen, darf man wohl etwas gediegener vespern.

Ich stelle mich also folgender Herausforderung: Finde eine Adresse zwischen Volksgarten und Neuer Welt, die man empfehlen kann und kehre ein! Die Expedition startet im Alleingang und in Erstbewältigung an einem Sonntag im zweiten, kalten Monat des Jahres um 9 Uhr 30 vom Basislager, ohne Proviant und GPS, mit Notizbuch und Regenschirm. Es nässelt, allerdings noch sehr verhalten, sodass die klammen Finger noch keinen Schirmknauf halten wollen.

Unmittelbar am Volksgarten gab es über viele Jahre die Stieglbier Stube, deren letzte Betreiberin während eines nicht enden wollenden Hausumbaus in den Ruin gezwungen worden ist. (Begegne ich der heute, grüße ich sie eher nicht, in nüchterner Berücksichtigung der Tatsache, in welchem Zustand sie sich zumeist befindet.) Seither ist in den ebenerdigen Räumlichkeiten ein Kindergarten eingerichtet.
Im Volksgarten führt ein ungleiches Paar seine beiden ungleichen Hunde aus. Großer und kleiner Hund zerren an den Leinen nach verschiedenen Richtungen. Mit Blick auf das Entree des neuen Linzer Musiktheaters dämmert mir, Toni Mörwald kocht hier im Restaurant „das Anton“ auf, will es das Geraune unter Gastrosophen. Mein Bauchgefühl meldet mir allerdings: Gerade heute lässt er den Schneebesen nicht in der Kasserolle dengeln. Meinetwegen. Dieser Fimmel mit Gedeckobligo, bevor es richtig ans Futtern geht, wird man mit Brotresten und schmierigem Aufstrich eingekocht, diese leicht überkandidelte Etepetete-Kultur vor fummelig machender Hintergrundbeschallung aus dem Trichter ist ohnehin nicht meine Liga.

Abseits des Trafohäuschens, dem Hans Kupelwieser eine witzige wie ebenso wohl witzig zu reinigende Ummantelung aus Kugeln verpasst hat, fällt mir ein kupferner Ouroboros auf. Die Selbstverzehrung ist aber auch keine Lösung. So tauche ich unter der Bahnüberführung an der Wiener Straße durch, der Demarkationslinie zur Pampa.

In der Anastasius-Grün-Straße gibt es ein Heurigen-Tschecherl. Das hat sonntags freilich zu. Das nächste Kabuff findet sich wenige Schritte weiter vor der leer stehenden Trafik, die einst ein rühriges Mütterlein mit ihrer Tochter bis zur letzten Ölung führte. Die Bumse scheint aber nur zum Trinken und Anbraten tauglich. Aus dem Halbdunkel bei offen stehender Tür gurgelt eine südosteuropäische Konversation. Entweder ist man eben mit dem Schließen oder vorerst noch gar nicht mit dem offiziellen Aufsperren zugange.
Der „Thai Markt“ mit seinen quirligen, schnatternden Frauen aus Fernost hat natürlich zu. Der Sack Jasmin-Reis will heute anderswo umfallen.

Mit Blick in die Anzengruberstraße zeigt sich mir ein neu errichtetes Wohngebäude. Auch hier gab es einmal einen Raucherkobel für den weniger betulichen Gast. Der ist ganz offensichtlich nicht mehr.
Der ehemalige Würstelstand an der gegenüberliegenden Straßenseite unter der Birke, den ein aufgeweckter Betreiber einst ohne lästige Absprache mit den Behörden phantasievoll erweitert hatte, ist auch schon Geschichte, die Fläche Tabula rasa. Die Hunde können am Stamm des Baumes wieder unbeeinträchtigt das Bein heben.

Ich passiere einen Juwelier. Gegenwärtig benötige ich weder Uhren noch Brillantenkolliers. Der Juwelier ist hier so angestammt wie sein eingesessener Nachbar gegenüber und letzter Vertreter einer bunten Schar von Gewerbetreibenden. Zwar finden sich nach wie vor Gewerbetreibende  im Umfeld der Unionkreuzung, aber von bunt und Schar kann nicht unbedingt die Rede sein: Kaschemmen und Handyambulanzen dominieren das Bild, Wettbüros und Grafflwerkanbieter runden es ab.
Vorbeischlendernd am Theater Phönix tue ich mir schwer, den Eingang zum Bühnengeschehen von den Zutritten in diverse Bedürfnisanstalten zu unterscheiden. Das Wirtshaus im Foyer ist längst passé. Ich frage mich: Wie halten es die Theaterbesucher, wenn sie sich nach einer Vorstellung noch vorstellen können, etwas zwitschern zu gehen, aber nicht in eines der grindigen Musikcafés einfallen wollen?

Gegenüber laufen in den Räumlichkeiten eines ehemaligen Möbelhändlers, die jetzt einem Fitnessstudio Quartier bieten, vor auslagengroßen Fensterscheiben Menschen unterschiedlichen Alters in unterschiedlicher Hastigkeit auf Laufbändern vor sich her. In Bayern hat ein findiger Kopf Laufbänder für rekonvaleszente Rennpferde ersonnen, fällt mir ein. Laufbänder für Hunde gibt es längst. Und das Hamsterrad ist ja doch auch eine ganz putzige Sache. Wenigstens solange man nicht Hamster in einem billigen Pferch sein muss.
An der Ecke zur Hamerlingstraße, an dem Ort, an dem über Generationen ein Kaufhaus gedieh, findet sich eine der Franchise-Filialen der bekanntesten Hamburger-Rösterei. Heute nicht, sage ich mir und ziehe weiter, quere die Straße und begebe mich an einer Bäckereifiliale vorbei. Hat natürlich auch zu. Den gegenüberliegenden Neubau an der Unionkreuzung ziert der Schriftzug „Wiener Straße – das Einkaufszentrum mitten in Linz. Einkaufen bei Freunden.“ Das Erschreckende: Letzteres stimmt wahrscheinlich sogar. Denn wer sollte sonst hier einkaufen, außer Freunde von Freunden?

In einem schmalen Haus, eingezwickt zwischen zwei größeren: ein Döner. Geschlossen. Auf der anderen Seite hat ein Gegenstück, das Pizza und Kebab offeriert, auch nicht geöffnet. Der Stammsitz der ehemaligen, in diverse Nöte geratenen Fleischhauerei Nothaft ist ein Schnellimbiss für mexikanisches Essen geworden, oder was man hierzulande dafür halten muss oder sich darunter vorstellen darf. Vermutlich Tortillas, Enchiladas und weiß der Teufel. Hat noch nicht auf. Jemand macht sich daran, von außen an den Überklebungen der Fensterscheiben zu kletzeln. Muss der Geschäftsführer sein, ein unbefugter Spaßvogel wohl eher nicht.

Das einstige Gasthaus zur Stadt Salzburg hat seit geraumem keinen Betreiber mehr. Im Stockwerk steht ein Kastenfenster offen. Schwer zu ergründen, ob ein verbliebener Bewohner lüftet oder eine erste Maßnahme zum beschleunigten Abwohnen gesetzt worden ist. Das Vorstadthaus scheint jedenfalls angezählt. Dieser Bautyp verschwindet nach und nach völlig aus dem Stadtbild und kein Gestaltungsbeirat stößt sich daran.
Gegenüber hat die Grieskirchner Bierstube ihre Adresse. Aber auch dieses Lokal hat schon bessere Zeiten gesehen. Nunmehr hält es sonn- wie feiertags geschlossen, sperrt unter der Woche immer erst um 17 Uhr auf. Einst war einer seiner Pächter jener umtriebige Sprecher der Innung gewesen, der einmal im Jahr vor versammelter Presse unterhalb der Nibelungenbrücke ins Wasser gegangen ist. Derselbe schrullige Wirt, der quer durch die Gaststube seines Lokals im Franckviertel Wäscheleinen spannte, weil man seinen Gästen was bieten muss, wie er es nannte.  (Unter ranzigen Unterkleidern zu dinieren, stelle ich mir abenteuerlich vor.) Der Wiederbeleber der glücklich verloren geglaubten Tradition des Stachelbiers.

Einige Meter weiter: Ein Geschäft mit russischen Lebensmitteln. Heute natürlich zu. Aber was fängt einer auch mit Kwass und Borschtsch an, dem das obligate Gen dafür fehlt?
Der Hutladen nach der Stadt Salzburg führt keine Hüte mehr. Der führt überhaupt nichts mehr. Die kahlen Auslagen ziert jener kühle, unaufdringliche Charme, wie er Bestattungsunternehmen eignet. An der Ecke Wiener Straße / Raimundstraße firmiert eine Bank. Ungelenk bedient sich ein Mann am Geldautomaten. Davor hat die Café-Bar „Celentano“ geschlossen. Eine Apotheke belebt das Stadtbild. Auf der anderen Straßenseite lädt „Rosi’s Pub“ ein. Nur heute allerdings nicht. Ausschließlich Montag bis Freitag, falls kein Feiertag im Kalender steht.

Ich versuche mein Glück in der Raimundstraße. An der Ecke zur Grillparzerstraße führte vor Jahren eine Kroatin das „Gasthaus zum Schwarzen Rössl“. Das Tröstliche: Das Gasthaus existiert noch immer, will es der Anschein. Hier wird Hausmannskost gekocht, verkündet ein Leitspruch. Und weiters steht unter Fenstern mit fetzigen Gardinen zu lesen: „●gut ●günstig ●reichlich“. Was indes nirgendwo zu lesen steht, sind die nicht völlig unwesentlichen Öffnungszeiten. Im Zweifelsfall bedeutet das: HEUTE GESCHLOSSEN.
Wieder auf der Wiener Straße mache ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Einkaufsstelle für karibische und afrikanische Fressalien aus. Auch nicht mein Fall: gratinierte Waranhaut und Victoriabarschflossensoufflé. Hat aber eh nicht auf. Die daran anschließende Pizzeria, die gefühlte sechzigste auf einer Strecke von knapp hundertfünfzig Metern, ebenso.

Auf meiner linken Seite stadtauswärts, noch einmal eine, genau: Pizzeria. Pizzerien führen nicht selten wenig originelle Namen im Hausschild. Weil deren Betreiber eben in den seltensten Fällen aus Ligurien oder anderen Regionen Italiens stammen. Die Pizzeria vor mir nennt sich „Zum Mafiosi“. Wenn das noch kein Grund ist, sie zu meiden, tut es allenfalls der Blick auf die Speisekarte. Wenn sich die italienische Küche in Pizza, Pasta und Lasagne erschöpfte, wären garantiert alle Italiener schon vor Generationen nach Amerika ausgewandert und hätten sich freiwillig von den Apachen skalpieren lassen.
In der Lissagasse bei der Herz Jesu Kirche bittet man beim Kirchenwirt nicht zu Tisch. „Sonn- und Feiertag Ruhetag“ ist freundlich-unauffällig affichiert. Auf der anderen Seite der Wiener Straße hat das „Indisches Spezialitäten Restaurant“ zu. Also nix mit frittierten Heuschrecken und Tandoori Masala.
An der Ecke zur Dürrnbergerstraße, wo sich früher das Kaufhaus Wiesinger befand, in dem man alles was das Herz begehrt, von der Tetra Pak-Milch bis zu Stützstrümpfen und Selbstbindern, erwerben konnte, hat eine Konditorei geöffnet. Nicht gerade die Einladung für Laktoseintoleranzgeplagte.

Hinter den Auslagenscheiben eines ehemaligen Wäschegeschäfts strudelt sich ein türkischer Bäcker in mehlweißem Ornat an einem voluminösen Teig ab. Nichts gegen türkische Süßspeisen, wer es sich auf Picksüßigkeit der Marke „Plombenzieher“ steht, möge sie schnabulieren und darauf bauen, ihn oder sie werde die Zuckerkrankheit eh schon nicht ereilen. Allein, dass noch niemandem aus der türkischen Community der Stahlstadt die Idee gekommen ist, ein türkisches, anatolisches, kurdisches Restaurant zu eröffnen, verwundert schon. Oder sind die allesamt so betütelt, dass ihnen nur Pizzabacken und Hammelfleischhobeln einfällt? (Wenn ich mir an dieser Stelle auf der Stelle etwas wünschen dürfte, dann wäre es ein feinsinniger Grieche, der Fangarme vom Kalmar nicht als gegarte Fahrradschläuche offeriert und süffigen Retsina, der das Schädelweh nicht im Bukett hat, dekantiert.)
Das „Zwei Adler“ an der Wiener Straße 73, an der Ecke zur Richard-Wagner-Straße, existiert schon lange nicht mehr. Allein die zwei sich aufplusternden Vögel in Stein zieren nach wie vor den Dachfirst des Gebäudes. Gegenüber, dort wo einst eine Schmiede stand, würde abermals ein Kebab-Pizzeria-Schnitzel-Kabuff locken. Wenn es nicht Sonntag wäre.
Auf meiner Seite komme ich an einer weiteren Pizzeria, diesmal mit deklariertem Zustellservice vorbei. Wenn nicht irgendwann, so will zumindest einmal in der Woche selbst der leidenschaftlichste Teigausroller seine Ruhe haben, steht zu vermuten. Das Auslegen von Einleggemüse, Meeresfrüchten, Pressschinken und Käsegraupen über Teigflächen ohne Unterlass kann garantiert dem Stumpfsinnigsten früher oder später den letzten Nerv rauben.

Am Bulgariplatz gehe ich kurz die Gürtelstraße hoch. Das Wirtshaus, das ich von früher hier in Erinnerung habe, gibt es nicht mehr. Ich entdecke stattdessen ein Imbisslokal. Hat aber zu. Dennoch scheint man sich hier Sinn für Ironie zu bewahren: Die schuhabstreifergroße Plattform vor dem erhöht angesetzten Eingang ziert eine Tafel mit der Aufschrift „Gastgarten“.
Die Poschacherstraße übersetzend komme ich an einer Hauswand an der Gedenktafel für Anton Bulgari vorbei, einem Opfer des Austrofaschismus. Kränze und Blumengebinde liegen davor aus. „Vergeben, aber nicht vergessen“, heißt es auf den Kranzschleifen.

Der Bulgariplatz ist leider ein innerstädtischer Nicht-Ort, ein Verkehrsknoten ohne irgendein Angebot, das auch dann zum Verweilen einladen könnte, wenn die Ampeln nicht gerade auf rot stehen. Okay, es gibt die Dreifaltigkeitssäule zu schauen, die im Jahre Schnee der Hausherr eines verschwundenen Gehöfts gestiftet hat. Aber damit hat es sich auch schon.

Ich paradiere an Hochbauten vorbei, die den Schick der späten fünfziger Jahre bewahren. Als Kunst am Bau, beziehungsweise zwischen den Bauten, und fehlende Wärmedämmung noch etwas her machten. In der Auslage eines China-Ladens winkt eine goldene Maneki-neko in enervierender Hektik. Das Glück herbeiwinken, soll diese Geste bedeuten. In der Bayern-Stub’n sammelt sich eine neue Sparrunde, steht auf einem Zettel zu lesen, der hinter der Eingangstür pickt. Erster Einzahlungstag ist aber nicht heute. Heute ist Sonntag und Sonntag ist Sperrtag.
Zwischen den Häusern gewinne ich einen Blick auf den Gabrielenhof. Dieser schmucke Ansitz eines längst verblichenen Brauereibarons gäbe ein wunderbares Domizil für ein Gasthaus. Die Villa im Besitz der Stadt fungiert freilich als Logis für einen Kindergarten. Auch recht. Dafür gibt es das „Poschacherstüberl“, ein ausgewiesenes Raucherlokal. Das hat offen, aber daran gehe ich vorbei. Man vermag sich hier nämlich ohne die Mühsal eines Speisenangebotes durchzubringen und ich mich unter die Mühlkreisautobahn.
Gleich darauf eröffnet sich mir der Blick auf das WIFI. Ich denke, das hauseigene Café ist heute als geschlossen zu denken. Ich komme an einem Oldies-Pub vorbei. Es hat zu. Womöglich sogar für immer, aber solange will ich gar nicht bleiben. Ich gerate ans „Technologie Zentrum Linz“, dann zur gläsernen Zentrale der stadteigenen LINZ AG. Man braucht aber nicht fragen, wie die Aktien stehen.

In der Fichtenstraße dann – wirklich originell – eine Pizzeria für den versierten Schnofel. Zu.
Ich stapfe weiter, die klammen Finger in die Jackentaschen gekrampft. Rechts die Zentrale der Linzer Berufsfeuerwehr. Einmal habe ich dort einen ohne Schikanen zu betretenden Eingang gesucht, um Informationen über einen bestimmten Feuerwehreinsatz zu eruieren und bin jämmerlich gescheitert. Jetzt stehe ich an der Einmündung der Rosenbauerstraße in die Wiener Straße vor einer großen, lückenhaft umzäunten Brachfläche: dem ehemaligen Areal des Coca Cola-Werks. Für Generationen von Volksschülern war hier der Zielort der beliebtesten Schulexkursion – nach dem Besuch der Feuerwehr.
Vorbei an der Berufsschule gehe ich in die Turmstraße hinein und muss erkennen, das „Gasthaus zum Turmfalken“ ist ein Mexikaner geworden. Der hat natürlich nicht offen. Das Hotel nebenan wirkt wie eine aufgegebene Garage für Werbefahrten-Busse: Wer darauf hereinfällt, wird festgehalten und solange mit teuren Billigangeboten geködert, bis er wirklich nicht mehr zuschnappen kann. Also begebe ich mich auf der Wiener Straße weiter. Vorbei an einem Döner-Kabuff. Das ist verrammelt. Vis-à-vis hat die Wurstbude beim ehedem wegen seiner Fassadenfärbelung so geheißenen Spinatturm nicht auf. Ich wechsle die Straßenseite.

In der einst so bezeichneten Todeskurve findet sich zunächst ein Etablissement, etwas weiter vorne eine Konditorei. Ein Paar spaziert im selben Augenblick in die Konditorei, in dem ich mich über Firmenniederlassungen in den abbruchreifen Häusern entlang des abgekommenen Glacis des verschwundenen Einserturms wundere. Eine erste Adresse halluziniert man anderswo.
Ich bin im Stadtteil Neue Welt angekommen, es ist 10 Uhr 30. Vor mir wackeln ältere Kirchgängerinnen mit ihren leicht bedrohlich wirkenden Handtaschen und jüngeres Volk in der Minderzahl aus der Sankt Antonius-Kirche, einige sammeln sich ratschend vor dem Pfarrheim. Ich beschließe, der Salzburger Straße zu folgen und frage mich, ob dieser unscheinbare Eckbau an der Abzweigung zur Schumannstraße jenes Gasthaus gewesen sein mag, in dem ich einst mit meiner Schwester nach unserem Herkommen von Verwandten im unteren Mühlviertel auf ein Kracherl, wie ich glaube, gelandet bin. Oder befand sich die Gaststätte ganz genau an der Stelle, an der heute eine Filiale dieser sympathischen Bank mit den gekreuzten Giebelbalken thront? Und wie hieß diese rustikale Bleibe mit der gediegenen Wartesaalatmosphäre gleich noch? Etwa „Zur Neuen Welt“?

Zwei Männer mit Stielbürsten seifen Plakatwände mit Tapetenkleister ein und bringen zusammengefaltete Werbebanner darauf auf, entfalten die Papiere mit geübten Bewegungen und im Nu zeigt sich die Welt um ein paar erbauliche Botschaften bereichert.
Ich nehme den Angerholzweg entlang des Zauns der umfriedeten Wasserschutzzone mit der Idee, ein bestimmtes Lokal, das vor hundert Jahren „Zum englischen Garten“ geheißen hat, zu betreten. An der Abzweigung Arnleitnerweg beginnt es zu regnen, ich schlage die Kapuze meiner Jacke über den Kopf, schlendere durch einen von allen Kindern verlassenen Kinderspielplatz. Das Sportplatzrestaurant „Stadt München“, Ecke Schwindstraße / Teutschmannweg, wirkt von außen nicht so, als hätte es geöffnet. Aus einer Halle erklingen das Klacken und Klötern von Stöcken auf Asphaltbahnen und die erregten Rufe der Schützen.

In der Haydnstraße verzaubert mich einmal mehr die Wohnanlage des Architekten Kurt Kühne, die in der Gestaltung eines Angerdorfplatzes gehalten ist. Es fehlt aber die Penetranz des Pittoresken, der Knusperhäuschen-Stil der Wohlmeinenden. Freilich heißt hier zu wohnen auch, in Kauf zu nehmen, dass man rundherum nirgendwo einkaufen gehen kann, weil es weder Supermarkt, Tankstelle noch Greißler gibt. In Berlin soll sich gar eine idente, der Gartenstadtidee verpflichtete Siedlungszeile befinden.
Wieder auf dem Angerholzweg verbleibe ich auf ihm bis zur Einmündung des Zötlweges, dann stehe ich vor dem Gasthaus Bratwurstglöckerl. Es regnet noch kräftiger und ich spanne den Schirm. Vom auf Klapptafeln ausgewiesenen Tagesangebot am Eingang ins Traditionsgasthaus spricht mich nichts an. Es liegt, keine Frage, an mir und meiner Tagesverfassung, dass mir heute nach einem Alt-Wiener Zwiebelrostbraten oder Medaillons im Speckmantel mit Rösti und anderer Begleitung nicht der Sinn steht. Außerdem ruiniert mir ein Werbebanner jenes Gernegroßen, den meine jüngere Cousine geheiratet hat, den Appetit. Der Pharisäer hat doch tatsächlich Fleischhauerei und Immobiliensammeln als Hand in Hand gehendes Doppelgewerbe kreiert.

Nach einer Weile mühseliger Unentschlossenheit raffe ich mich auf nach Hause umzukehren. Ich werde mir Leberkäse in der Pfanne schmurgeln. Die kulinarische Übersetzung des Umstands, dass dieser Sonntag kein Höhepunkt mehr werden wird.

Bernhard Hatmanstorfer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 14040

Wein Ende Brücke

Hin und wieder muss man nach Wien. Nach Paris, London oder New York – Seoul nicht zu vergessen – natürlich auch. Aber nicht so oft wie nach Wien und Wels oder Passau. Durch Ertüchtigungsmaßnahmen entlang der Trassenführung der Westbahn, insbesondere dank des Wienerwaldtunnels zwischen Chorherrn und Hadersdorf-Weidlingau, hat sich die Distanz zwischen Linz und Wien auf kommode fünfundsiebzig Minuten Zugfahrzeit verringert. Man verfrachtet sich beispielsweise des Morgens in den sogenannten Railjet nach Budapest Keleti pályaudvar und steigt nach einem unnötigen Zwischenhalt in St. Pölten am Wiener Westbahnhof wieder aus. Erlebt den Bahnhof zur wuseligen Einkaufsmeile umgestaltet, verschafft sich in einer der Trafiken eine Tageskarte der Wiener Linien und entschwindet in die Rolltreppenröhre in den Untergrund, die einen auf die Ebene oberhalb der U3 befördert.

Man muss nicht bis zur Haltestelle Gasometer in Simmering mit dieser U-Bahn-Linie mitfahren, aber wenn man doch dort aussteigt und sich über die leergeräumte Geschäftswelt auf dem Verbindungsniveau der Gasometerrondelle wundert, durchquere man diesen Ort der Trostlosigkeit, dem eine Neubelebung nicht und nicht zu gelingen scheint, unbedingt in der Absicht, das Wiener Stadt- und Landesarchiv zu besuchen. Aufmerksamkeit verdienen die jeweiligen Kleinausstellungen im Foyer; als vorbildlich sauber gehalten erweisen sich die Toiletten. Die in das Backsteingewände eingeschnittenen Schmalfenster verdeutlichen an der Fase zwischen Fensterkante und Wandschluss die Mächtigkeit des ehemaligen Industriegemäuers. Daran könnte sich der Gedanke knüpfen, dass sich Maximilian d’Estes allererster Probeturm seines ambitionierten Fortifikationsvorhabens in der Simmeringer Heide befand, ehe ein Pendant am Linzer Freinberg errichtet wurde.

Man kann aber auch gleich wieder die U3 zurück nehmen und, sagen wir, am Stubentor einen Kordon Kontrollorgane passieren, die das Mitführen eines Fahrausweises zwischen Perron und Ausgang überprüfen und nach solcher Perlustrierung den Weg in die Wollzeile nehmen. Dort wälzt man sich von einer Buchhandlungsauslage zur nächsten, ehe man in eine der Handlungen eintritt und eine schöne Weile damit zubringt, Bücher in die Hände zu nehmen, in ihnen zu blättern, die Inhaltsangaben zu studieren und den einen oder anderen Erwerb zu erwägen. Schließlich kommt man mit einem Lehrwerk der japanischen Sprache der Autoren Okutsu Keiichiro und Tanaka Akio wieder auf die Straße, bemerkt die nahende Mittagszeit und den Umstand, dass man hungrig geworden ist. Daran knüpft sich die Überlegung, wohin essen gehen und, des Weiteren, dafür den Bezirk zu wechseln oder doch im ersten zu verbleiben.

Man entscheidet sich fürs Verbleiben, weil man ja den „Reinthaler“ in der Gluckgasse kennt. Dort isst man dann im Souterrain Leberknödelsuppe und geröstete Knödel, während andere Gäste ebenso à la carte speisen oder eines der Tagesgerichte wählen. Man begeistert sich am herben Charme der 1970er-Jahre-Einrichtung: Resopalvertäfelung, herrlich unbequeme Uraltbürostühle und eine ganggenaue Würfeluhr. Drei Herren treten an einen für sie reservierten Tisch. Einer gleicht dem Kurt Sowinetz aufs Haar, ein anderer dem ebenso verstorbenen Fritz Imhoff in seiner Korpulenz, schließlich der dritte – als wäre Jörg Mauthe vom Totsein beurlaubt. Für einen vierten, einen Floridsdorfer, wie sie ihn rufen, wird ein Getränk bereitgestellt. Der zieht es dann aber vor, sich den dreien nicht beizugesellen. Über die Tische entwickelt sich ein launiger Heckmeck. Man erkennt den Schmäh als Schmiermittel der Geselligkeit. Freundschaften erfahren ihre Belastungsproben in anzüglichen Witzen. Ein Blick auf die Würfeluhr über dem Raumteiler zwischen Schankzimmer und Extrastüberl: Im Nu sind zwei Halbe Bier vergangen. Die verflossene Zeit ist an den aus den Gefäßen entwichenen Flüssigkeiten ablesbar. Im französischen Arrondissement Cognac spricht man vom „La part des anges“, vom Anteil der Engel, wenn man die Verdunstungsverluste des reifenden Weinbrands bemisst, könnte einem einfallen.

Schließlich geht man vom „Reinthaler“ wieder weg und überlegt einen Besuch des „Wien Museums“ am Karlsplatz, um Katalogrestposten und sonstiges Schrifttum zu sichten und in eventu nach dem Verbleib des quadratmetergroßen, sandsteinernen römischen Kanaldeckels in der Schausammlung zu fragen [Man erführe dortselbst am Kassapoint von einem freundlichen Studiosi mit bundesrepublikanischer Sprachfärbung, diesen verwahre seit geraumem das Römermuseum am Hohen Markt.], kommt aber davon ab und schlendert stattdessen durch die Innenstadt, bevor man sich am Stephansplatz in die U1 stellt, um nach Transdanubien überzusetzen, unterlässt es jedoch, zuvor am Praterstern in die U2 zu wechseln, um endlich die in Bau befindliche sogenannte Seestadt in Aspern in Augenschein zu nehmen und fährt, in der sich allmählich leerenden Garnitur der U1 verbleibend, bis zur Endhaltestelle Leopoldau. Dort glaubt man sich nicht bloß an die Peripherie versetzt, man bemerkt, dass man sich genau dort nun auch tatsächlich befindet, verschlagen zwischen den Bezirken Floridsdorf (21.) und Donaustadt (22.) und den an Wien angrenzenden niederösterreichischen Gemeinden Gerasdorf und Hagenbrunn.

In Sichtweite eines künstlichen Berges, einer Deponiehalde mit fuhrwerkendem Raupenfahrzeug, quert man der Überführung der Seyringer Straße folgend Bahngeleise und geht von der Pinkagasse Richtung Lafnitzgasse durch eine Welt der Klein- wie Vorstadthäusler und findet sich endlich in einer parzellierten Schrebergartenidylle mit Hinweistafeln zu Schutzhäusern, Verhaltensreglements („Radfahren verboten!“) und Schließzeitenusancen („Die Haupteingänge sind in der Zeit vom _ bis _ , sowie vom _ bis ­­_ jeweils eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit zu versperren!“). Man muss an Karl Weidingers lapidaren Schund, der im Untertitel „Die Verhaftung der Dunkelheit wegen Einbruchs“ lautet, denken. In der Thayagasse folgt man dem Verlauf der Schnellbahntrasse, deren Viaduktbögen, Konstruktionen aus Stahlbeton, parallel zur Hochbahngasse einem seltsam anmuten. Unter- wie Oberbau scheinen verschiedenen Bauepochen zu entstammen, der ältere Unterbau eindeutig einer Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Man weiß nicht, dass man es mit der Hinterlassenschaft der sogenannten Floridsdorfer Hochbahn zu tun hat, die als Kriegswichtiges ab 1916 von überwiegend italienischen Kriegsgefangenen errichtet worden war, jedoch ihre Vollendung nicht vor dem Zweiten Weltkrieg erlebte. Tatsächlich erfolgte eine Revitalisierung der Trasse erst zum Ende des Säkulums, was man aber en détail nicht vermutet, wenn man es nicht nachliest. Zwischen den Viaduktbögen finden sich in den Tragepfeilern raumgroße Aussparungen, die auch wirklich von einigen der Schrebergartenpächter an der Hochbahngasse als Unterstände beansprucht werden, gleichwohl der Einstieg jeweils über Kopfhöhe ansetzt. Mehr oder weniger geschickt eingepasste Barackenwände bezeugen eine solche, der Neugierde der Passanten verstellte Nutzung.

An der Endhaltestelle Siemensstraße verpasst man den Bus nach Stammersdorf und verbringt die Wartezeit bis zum Eintreffen des nächsten damit, die wenig beschauliche Gegend zu erkunden: Ein verkehrsreicher Straßenknoten und ein Schienenstranggeflecht fallen auf. An der Bahnbrücke über den Siemensplatz bemerkt man eine Skulptur, deren Schöpfer auf der daneben affichierten Tafel genannt wird: Prof. Wander Bertoni. Die ebenso affichierte Bezeichnung „Weinende Brücke“ irritiert das Verständnis derart, dass man nicht Weinen, sondern Wein assoziiert und „Wein-Ende“ als Flurnamen fehldeutet. Zwei Bogensegmente aus Edelstahl formen die Plastik im öffentlichen Raum, ihr Ineinandergreifen bleibt unterbrochen. Von Wander Bertoni hat man freilich schon gehört, von seinem ominösen Eiermuseum gelesen. In einem Anfall von Konfusion mutmaßt man eine polnische Abkunft. In der Tat entstammt Wander Bertoni der Reggio Emilia, geriet 1943 als Zwangsarbeiter nach Wien und studierte nach dem Krieg an der Akademie der Bildenden Künste bei Fritz Wotruba. Das Werk „Weinende Brücke“ erinnert an den Beitrag der italienischen Kriegsgefangenen am Bau der Floridsdorfer Hochbahn. Man weiß sich dieser Umstände eingedenk erst nach dem späteren Nachlesen der historischen Fakten.

Mit dem Bus nach Stammersdorf fährt man bis zur Haltestelle Brünner Straße und wechselt dort in die Straßenbahn der Linie 31 Richtung Schottenring. Vorbei am Augarten gewärtigt man die beklemmenden Hochbauten der Flaktürme, die dank nicht-abgedeckter Öffnungen in den Seiten ihrer verwandelten Bestimmung als Tauben(kot)grüfte gerecht werden. In der Meldemannstraße überkommen einen böse Reminiszenzen. Am Gestade zum Donaukanal könnte man über das Treiben um einen herum sinnieren oder ebenso die Eßlinggasse hochgehen und tut es auch. Am Börseplatz beachtet man die Terrakottakacheln an der Fassade der Börse und das Kinderjauchzen aus dem gegenüberliegenden Gmeinerpark mit den voller Ausgelassenheit in Beschlag genommenen Spielgeräten.

Im Iuridicum nutzt man das Angebot der öffentlichen Toiletten, klappert in der Schottengasse abermals Buchhandlungen ab, begibt sich durch die Herrengasse auf den Michaelerplatz und schwenkt von dort auf den Kohlmarkt ein. Bevor man den Meinl am Graben betritt, läuft einem ein Hubert-Gorbach-Darsteller über den Weg, eines der Reptilien der Schwarzbraunen Koalition und gleich bedauert man es, ihm einen Schlag ins Gesicht zu verpassen nicht den Anstand zu haben. Im Geschäft kauft man Kreuzkümmel, Fruchtaufstrich von der Kornelkirsche und Apfel-Preiselbeere-Sprudel, begegnet auf der mit Samtläufern ausgeschlagenen, knarzenden Treppe zwischen den Stockwerken dem niederösterreichischen Landeshauptmann mit der Clownsglatze und erwehrt sich noch einmal des Anfallsgefühls des Zuschlagenmüssens, ehe man sich einer der umscharten Kassen nähert, wo die angenehme Tunlichkeit herrscht, die eingekauften Waren eingepackt ausgehändigt zu bekommen. In einer weiteren Buchhandlung am Graben erwirbt man die Taschenausgabe des Romans „Mittelreich“ von Josef Bierbichler als Mitbringsel für seine lesemanische Mutter sowie ein Bändchen der Reihe Reclam Sachbuch über die Indianer Nordamerikas, in dem man unter anderem vom Los der Oneida erfährt.

In der Herrengasse verschwindet man abermals in den Schlünden der U-Bahn, ist betört von der Anmut japanischer wie koreanischer Frauen und steigt am Westbahnhof in den Zug nach Bregenz, fährt allerdings nur bis Linz mit. In Bregenz gibt es ein Kunsthaus. Das man bereits hätte gesehen haben sollen, als dort vor Jahren die große Louise Bourgeois-Retrospektive angesetzt war. Aber Barbara Kruger hat man ja auch verpasst.

Bernhard Hatmanstorfer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 14036

Via Amalfi

Drei ältere Herren
Saßen bei Tisch
Unter der Spätsommersonne.
Eine Flasche roten Weins
Näherte sich der Neige.

Die Pfirsichplantagen
Gab es nicht mehr,
Aber der Strand
War naturbelassen
Und fast so wild
Wie vor fünfzig Jahren,
Und das Meer
War wunderschön
Und friedlich,
Und die Bunker waren
Geheimnisvoll wie damals
Und dicht verwachsen.

Die Frau des Italieners
Nahm am Rande
An den Erinnerungen teil.
Ein Glas Prosecco
Stand vor ihr.

Alte Fotos,
Auf denen die drei älteren Herren
Noch dünne Buben waren,
Führten ihnen
Erbarmungslos
Die Flüchtigkeit der Zeit
Vor Augen.

Da konnte nur,
Dachte sie
Im Stillen,
Der rote Wein
Eine Weile trösten.

Günther Androsch

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 14030

Eine kleine italienische Reise

Entlang dem Fluss Sile lagen kleine Boote, darunter eine venezianisch an­mutende Gondel als Krönung gewissermaßen und als Hinweis, dass Venedig nicht mehr weit war. Das nahezu stehende Wasser des Flusses und die bunten Boote ließen mich an Bilder Vincent van Goghs aus Südfrankreich denken. Jesolo, nicht Lido di Jesolo, fiel nicht sehr ins Auge, wenn man es mit malerischen italienischen Dörfern und Orten verglich. Wir, mein Bruder und ich, ließen uns auf dem Dorf­platz unter einem Sonnenschirm nieder und nahmen einen Imbiss in einem Buffet, jeder ein panino und ein Coke. Es war spätsommerlich warm, von einem wolkenlosen Himmel strahlte die Sonne kräftig, aber zurückhaltend gegenüber dem Hochsommer. Von zu Hause weggefah­ren waren wir bei Kälte, Wind und Regen, aber kaum hatten wir die Alpen hinter uns gelassen und uns nach ihren Ausläufern in der Po-Ebene gefunden, war alles italie­nisch: die Sonne, der Himmel, die Vegetation, die Häuser, die Men­schen. Der Tagliamento hatte sich als bescheidenes Rinnsal in einem überbreiten Schotterbett gegen Süden bewegt, wie er es immer tut, außer nach langem Regen oder zur Schnee­schmelze. Das adriatische Meer und die Lagune von Venedig waren nicht weit von Jesolo entfernt, und am Ortsrand machte sich das Meer in einiger Entfernung schüchtern in einem blassen Streifen bemerkbar.

Dann fuhren wir auf dem schmalen Landstreifen in Rich­tung Punta Sabbioni und kamen durch Orte, deren melodi­sche Namen uns von unseren Aufenthalten als Kinder in Erinnerung geblieben waren. Verein­zelt standen verfallene Gehöfte mitten auf den Feldern und verliehen der Landschaft, zumal die Touristen längst zu Hause waren, einen Hauch von Verlassenheit und Abwanderung. Schilder wiesen den Weg zu zahlreichen, nun sich selbst überlassenen Ferienanlagen, Campingplatz reihte sich an Cam­pingplatz, Wasserrutsche an Wasserrutsche, dazwischen gab es Tennis- und Bas­ketballplätze und Minigolfanlagen. Im kommenden Som­mer würde das Leben wieder erwachen. An der letzten Kreuzung vor der Via Amalfi befand sich noch immer der Supermarkt für Strand- und Cam­pingartikel und allen möglichen Ramsch. Es war, als wä­ren wir erst kürzlich hier gewesen, doch waren mittlerweile um die fünfzig Jahre vergangen.

Schnurgerade führte die Straße weiter zur Lagune von Vene­dig. Wir gaben Acht, vor allem ich als Beifahrer, die Ab­biegung nach links in die Via Amalfi nicht zu übersehen. Und da las ich das Schild: Via Amalfi! Welch wunderbarer Name! Er zergeht, spricht man ihn genieße­risch aus, auf der Zunge. Un­willkürlich dachte ich an das Amalfi süd­lich von Neapel, an die biedermeier­lich-romantischen Bilder der Küste vor Amalfi von Jakob von Alt und an Goethes Italienische Reise. Dorthin, nach jenem Amalfi, war es zwar noch ein weiter Weg, immerhin aber gab es hier, im italieni­schen Norden, eine Ahnung vom tieferen Süden. Die Straße, so erfuhren wir später, hatte ihren Na­men nach einem Bach namens Amalfi, der irgendwo in der Nähe unscheinbar sein Dasein fristete, um schließlich in die La­gune von Venedig zu münden. Vor Jahr­zehnten war die Straße, erinnerten wir uns, nicht as­phaltiert gewesen, unser Auto war damals zum Haus der Bozzatos gerumpelt, was uns Kin­dern ziemlichen Spaß bereitet hatte.

Bruno Boz­zato und seine Frau, deren Vornamen ich ver­gessen habe, waren die Vermieter von Ferien­wohnungen gewesen, und im Internet hatten wir gese­hen, dass Gianni, ihr Sohn, mit dem wir gespielt hatten, die Ferienanlage weiter betrieb. Im ersten Anlauf fuhren wir am An­wesen vorbei und erreichten eine Querstraße ent­lang von Wo­chenendhäusern, jedenfalls er­weckten sie diesen Eindruck. Die Obstgärten – Pfir­siche, Wein, Marillen, Äpfel – , die fast bis an den Strand gereicht hatten, gab es nicht mehr, das erkannten wir auf den ersten Blick. Wir kehrten um und nahmen die kleine Einfahrt, die wir zuvor über­sehen hatten. Und da stand das Einfahrts­tor zur Ferienan­lage und daneben ein ge­waltig wir­kender Bunker, der uns damals fasziniert hatte. Das tat er auch jetzt, wo wir da­vor ­standen und das Auto parkten. Er war ver­wachsen mit Gesträuch und Gebüsch, teilweise von Efeu einge­hüllt und lugte uns finster und kriege­risch entgegen. Unser Auto war das ein­zige in der un­mittelbaren Umgebung. Ruhig lag die Ferien­anlage vor uns. Wir nahmen unsere Foto­apparate und gingen die Zufahrtsstraße ent­lang. Rechterhand stand eine große Zelthalle mit Tischten­nistischen und zahlreichen Fahrrä­dern. Dann kam das Haus, in dem wir gewohnt hatten. Es wirkte völlig unverändert, nicht nur dem ersten Eindruck nach. Vielleicht war es irgendwann frisch gestrichen worden – es zeigte sich in einer Mischung aus Rosa und Orange – , die Türen und die Fenster allerdings waren gegenüber früher un­verändert. Dem Eingang gegenüber stan­den unter einer weinbe­rankten Überdachung Aluminiumtische, die ich gleich wiederer­kannte und die wie das Haus selbst die lange zurückliegende Zeit plötzlich wie im Zeitraffer heftig heranzogen, als wäre ein Erinne­rungsmagnet wirksam geworden.

Mein Bru­der und ich stell­ten uns in den Ein­gangsbe­reich des Hauses und nach ein paar Sekunden foto­grafierte uns der Fotoapparat mit dem Selbstaus­löser. Zwei älter gewordene kleine Buben standen vor dem Hauseingang. Nach wie vor schien das ganze Gelände wie verlassen, nur eine Katze ließ sich blicken, nahm uns misstrauisch zur Kenntnis und schlich dann unin­teressiert von dannen. Hinter dem Haus gab es einen Zu­bau, in dem wir mit den Eltern ge­wohnt hatten, einmal oder zweimal war un­ser damals kleiner Bru­der dabei gewesen. Und auf einer früher freien Fläche hatten die Boz­zatos kleine Ferien­bun­galows errichtet, die ebenfalls leer und verlassen der Urlaubssaison nachtrauerten.

Wir gingen umher, erinnerten uns an Be­kanntes, weniges war neu für uns. Da sahen wir eine Frau aus ei­ner der Ferienwohnungen kommen, offenbar war sie mit dem Rei­nigen nach der Saison beschäftigt. Die Katze hielt sich in ihrer Nähe auf. Mein Bruder, der ganz gut Italienisch be­herrscht, sprach sie an. Dass wir hier mehrmals auf Urlaub gewesen seien und mit Gianni Bozzato gespielt hätten und dass das alles um die fünfzig Jahre vorbei sei. Sie sei Giannis Frau, sagte sie – ihren Namen weiß ich nicht mehr – , und Gianni und sie führten den Betrieb seit dem Tod Bruno Bozzatos weiter. Sie war eine kleine, runde und feste Frau, die wohl ziemlich zupacken musste. Wir zeigten ihr ein altes Foto, auf dem mei­n Bruder und ich vor einer Pfütze hockten, während Gianni davor stand. Alle drei beo­bachteten interessiert das Ge­sche­hen darin. Gianni schien in dieser Runde der Experte gewe­sen zu sein, er trug pro­fesso­rale Brillen und schien die biologi­schen Vorgänge in der Pfütze zu kommentie­ren. Auf dem alten Foto erin­nerte mich Gianni an den ganz jungen Cesare Pa­vese, den ich eine lange Zeit sehr gern gele­sen hatte. Mein Bruder nannte unseren Namen und den meines Großvaters, und Gi­annis Frau glaubte, aus Erinnerun­gen ihres Man­nes und ihres Schwieger­vaters, Bruno Boz­zato, davon gehört zu haben. Ob wir ihn, Gianni, heute oder morgen treffen könnten, fragte mein Bruder auf Italienisch. Unser Be­such sei zwar überra­schend, deshalb wollten wir auch nicht lange stören, bloß unserem Be­dürfnis, den frü­heren Erlebnissen nach­zugehen, sie kurz aufleben zu lassen, folgen. Gianni sei am Strand, sagte seine Frau, er habe dort einen fahrba­ren Eisstand, und heute, an diesem warmen Spät­som­mertag, nehme er die Gelegenheit wahr, Eis anzupreisen, bald werde es da­mit vorbei sein.

Wir stiegen ins Auto, fuhren zum Strand, und statt der Obstplantagen, durch die früher Feld­wege zum Meer geführt hatten, gab es schmale asphaltierte Straßen. Die Annä­herung ans Meer war auto- und radfah­rerfreundlich er­schlossen worden. Dann zeigte sich vor uns das Meer, wir parkten und sahen das Ver­halten der Strandbenützer regelnde Schilder, die es früher nicht gegeben hatte, da war alles frei und ohne Vorschriften gewe­sen. Vom Parkplatz zum Strand hin hatte man Stein­platten und Holz­stege ver­legt, aber sobald sich der Strand öffnete, erkannten wir, dass er bis auf die Zufahrt und die Wege ge­nauso naturbelassen war wie vor Jahrzehnten. Die Sanddünen waren mit Seegras bewachsen, das sich im Wind wiegte, Hunde tummelten sich, Kinder toll­ten herum. Die Erwachsenen lagen brav auf ihren Liegen oder Decken, lasen, schliefen in der milden Sonne oder spielten mit ihren Kindern Federball oder bauten mit ihnen Burgen oder andere Bau­werke aus dem feuchten Sand. Manchmal riefen sie nach ihren Kindern, wenn die sich zu weit entfernt hatten oder das Wasser nicht verlassen wollten. Wir tranken im Strand­buffet einen Espresso unter dem Son­nenschirm, dann krem­pelte ich die Ho­sen hoch, ging hin­unter zum Meer und ließ meine Füße von den Wellen um­spielen. Mein Bruder schwamm ein gutes Stück ins Meer hinaus. Der wei­che nasse Sand wich im Rhythmus der Wellen zurück und entzog mir den Boden unter den Füßen. Es war ein wun­derbar kühles Gefühl der Unsicherheit. Mein Bruder machte sich auf den Weg, Giannis Eis­stand zu suchen, mit freiem Auge konnten wir ihn von unserem Standort nicht ausmachen. Der Leuchtturm, Faro la Pagoda, den ich in Erinnerung hatte, stand noch da, allerdings hatte er damals viel weiter entfernt und höher gewirkt. Die Ent­fernungen hatten im Laufe der Zeit eine Längenkontraktion erfahren, heute nahm ich die Maße realistisch wahr, nicht mit einem kind­lichen Faktor multipliziert.

Ich kehrte zum Strandbuffet zurück, während sich mein Bru­der auf die Suche nach Gianni machte. Nach ei­niger Zeit kam er zurück. Er hatte Gianni ge­fun­den, ihm ein Foto von unseren früheren Aufenthalten gezeigt, und Gianni konnte sich so­fort erinnern. Wir sollten nach siebzehn Uhr, da kehre er nach Hause zurück, in die Via Amal­fi ­kommen, dann würden wir ein Gläschen trinken. Wir saßen noch eine Zeit unter dem Son­nen­schirm, bestä­tigten uns gegenseitig, dass der Strand nahezu unverändert sei. Gianni schob den Eis­wagen vor­bei und grüßte die Leute vom Buffet. Er kam mir groß und stämmig vor. Wir hatten noch Zeit und beschlossen, an die Land­spitze, nach Punta Sabbioni, zu fahren, wo die Fähren nach Ve­nedig überset­zen und zu­rückkommen. Es war zwar ruhiger als in der Sommersaison, doch aufgrund der nachsommer­lichen Witterung herrschte doch einiges Trei­ben. Der Campanile schimmerte in der Ferne, ebenso Santa Maria della Salute und in anderer Richtung erkannten wir Burano und Torcello. Etwas vor siebzehn Uhr parkten wir vor der Ferienanlage, gingen hinein, aber da war wie vorher nie­mand. Nicht einmal die Katze ließ sich blicken. In einem der Bungalows wohnte offenbar ein junges Pärchen, eine Frau kam mit einem Rad und ging in eines der klei­nen Ap­partements. Ein junger Mann folgte ihr. Sie waren Verwandte von Gi­anni, sollten wir später erfahren. Sonst war alles völlig verlassen. Auch Giannis Frau ließ sich nicht blicken.

Nach längerer Zeit sagte ich zu meinem Bruder, Gianni habe wohl kein wirkli­ches Inte­resse, uns Nostal­giker zu treffen. Doch da bemerkten wir Gi­annis Frau, wie sie – offenbar immer noch mit Reinigungsarbeiten be­schäftigt – aus einem der Gebäude kam und mit dem Handy telefonierte. Gianni komme gleich, sagte sie, und mein Bruder verstand das und übersetzte es mir. Er habe noch den Eiswagen einstellen und etwas Unvor­hergesehenes erledigen müssen, daher sei er verspätet. Wir sollten doch einstweilen ein Glas Prosecco mit ihr trin­ken. Wir ließen uns an einem kleinen Tisch hinter dem Haupthaus nieder und stießen an. Sa­lute, sagten wir zu einander. Da kam ein Auto und parkte neben dem Haus. Es war Gi­anni. Wir standen auf und begrüßten uns. Er war tatsächlich stämmig, aber nicht so groß, wie er mir auf dem Strand erschienen war, ich und mein Bruder waren etwas grö­ßer. Gianni lachte und schien sich über unseren überraschenden Besuch doch zu freuen. Mein Bru­der holte die Fotos von damals her­vor, darunter dasjenige mit der Pfütze und Gianni als Erklä­rer dieses örtlichen Biotops. Wie wir selbst war auch Gi­anni sofort um fünf­zig Jahre zurückversetzt, das merkte ich an seinen Reaktionen und am Di­alog mit meinem Bru­der. Gi­anni schlug vor, mit Rotwein auf uns anzu­stoßen. Er holte eine Flasche Valpoli­cella. Er sagte, früher hätten sie selbst Wein angebaut, aber nach einer katastrophalen Über­schwemmung, die fast alle Plantagen und die ganze Infra­struktur im Umkreis zer­stört habe, hätten sie und die benachbarten Betriebe sich kom­plett auf Bade- und Radtou­rismus umge­stellt. Gi­anni öffnete die Fla­sche, schenkte ein, seine Frau blieb beim Prosecco. Mir kam vor, unser Groß­vater beo­bach­tete uns lächelnd, sich wundernd, dass aus den kleinen En­keln alternde, wenn nicht alte Män­ner ge­worden waren. Und neben ihm schaute uns der da­malige Münchner Gast der Boz­zatos zu, der mehr­mals zur selben Zeit wie wir hier gewesen war, als hätten er und unser Großvater eine Über­einkunft geschlossen, eine Überein­kunft, die in einer gemein­samen Nähe zu einer schlimmen Zeit begründet war. Dass sie ihr gemeinsam auch nachtrauerten, wäre vielleicht zu viel vermutet, aber eine gewisse still­schweigende Überein­stimmung hatte wohl be­standen. Unser Großvater mütterlicherseits, seine zweite Frau – unsere Stiefgroßmutter – , der Münch­ner und die alten Bozza­tos waren längst tot. Gianni sagte, seine Eltern seien ganz in der Nähe begraben.

Der tiefrote Wein, der verhalten leuchtete, schmeckte hervorragend und hatte eine wunderbare Temperatur. Wir achteten darauf, die in Italien geltende Promillegrenze nicht zu überschrei­ten, vor allem mein Bruder, der mit dem Auto fuhr, musste konsequent sein. Der Wein ließ uns die Grausamkeit, unweigerlich dem Abschied entgegenzugehen, eine kurze Zeit ertragen. Der Wein zerging auf dem Gaumen, ähnlich wie das Wort Amalfi in phonetischer Hinsicht, und die leichte Berauschung verlieh mir ein wohliges Glücksgefühl. Ob es Gianni auch so ging, weiß ich nicht, meinem Bruder schon, bin ich mir sicher. Das Kätzchen hatte sich ange­nähert und schmiegte sich abwechselnd an meine Füße und die meines Bruders, diejenigen der Bozzatos interes­sierten es nicht, die kannte es zur Genüge. Wir schlugen vor, dass Giannis Frau von uns dreien ein Foto schoss, und wir standen auf, legten die Arme um die Schultern des anderen und lächelten in die Kamera. Das Foto wurde akzeptabel, und wir wirkten unge­künstelt heiter. Ich habe es vergrößern lassen und werfe den einen oder anderen Blick darauf. Langsam mussten wir ans Aufbrechen den­ken, um nach Ca­orle zu fahren, wo wir eine weitere retroo­rientierte Station einlegen wollten. Dort hatte jeder von uns ein paar Mal mit unse­rer Großmutter väterlicherseits einige Wo­chen ver­bracht, doch waren wir Brüder nie gemein­sam gefahren, ohne besonderen Grund. Und wir wollten unbedingt noch die Bunker besichti­gen, in denen wir als Kinder herumge­krochen waren, ohne uns die Knochen zu brechen.

Hochinteres­siert an allem Kriegerischen waren wir damals gewesen, nicht nur an den edlen Menschen in Karl Mays Romanen. Das hatte sich allerdings bald zu einer kriegsdienstverwei­gernden Hal­tung geändert und ist bis heute so geblieben. Bloß die jugendliche Radikalität wich mittlerweile einer pragmatischen Einstellung. Ich glaube, ich darf das auch für meinen Bruder behaupten. Es han­delte sich um mehrere unterirdisch verbundene Bunker, die wie in einem Dschungel mit Ge­sträuch und Efeu verwachsen, musealen Anschauungsstücken gleich, ihrem Zweck entfremdete Zeu­gen einer blutigen Vergangenheit darstellten. Soweit ich mich erin­nere, hatten wir sie als Kin­der ungehindert betreten und darin herumgehen können. Außen hatte man vor einiger Zeit QR-Codes an­ge­bracht und englische Erläuterungen dazu geschrie­ben. Die Bunker dienten als Anschau­ungs­objekte für Historiker, für den Geschichts­unterricht, für Besucher, die Verwandte in den Kämpfen des Zweiten Weltkriegs verloren hat­ten und ihnen nachspüren wollten. Eine eigen­artige Entdeckerromantik begleitete unser jetzi­ges Ein­dringen als Erwach­sene in die düsteren leeren Klötze. Wir hielten einige Motive mit unseren Digitalkameras fest, um sie zu Hause unserem jüngsten Bruder zu zei­gen. Bald ver­schwand die Sonne hinter den urwüchsi­gen Pflanzen, und es wurde Zeit, nach Caorle aufzu­brechen und dort den Aufenthalten mit unserer Großmutter nachzugehen.

Es war nicht schwierig, ein Hotel zu fin­den. Es war still geworden, und der Strand und das Meer wirkten zwar verlassen, aber auch erleichtert, sich nach den Menschen­massen in der Hochsaison rege­nerieren zu können. Abends aßen wir ein Fischgericht in einem auf einem kleinen innenhof­artigen Platz gelegenen Restaurant. Wir konnten im Freien sitzen, so mild war es bis in die Nacht hinein. Nach etwas Wein entwi­ckelten mein Bruder und ich die Kom­petenz, auf ver­schiedenen Gebieten, von der Politik bis zur Musik, mehr oder weniger Sinn­volles beizutragen. Am nächsten Tag wussten wir uns wieder realistisch einzu­schät­zen. Es schien die Sonne, das Meer blendete, und auf der Strandpromenade ließ es sich ungestört spa­zieren, so wenige Men­schen waren unterwegs. Das Hotel Marco Polo, in dem meine Groß­mutter zweimal mit mir einen Italien­urlaub verbracht hatte, gab es noch, alt und gebrechlich und den Sicherheitsvor­schriften nicht mehr entspre­chend wartete es auf seine Generalsanie­rung. Mein Bruder war mit ihr in einem anderen Hotel abgestiegen, dessen Namen und Lage ihm entfallen waren. Am späten Vormittag machten wir uns auf den Weg nach Udine und dann nach Cividale del Friuli, der alten Haupt­stadt Friauls, mit ge­pflas­terten, engen Gassen und intimen Plätzen. Tief unter der Teufelsbrü­cke floss grün der Nati­sone. Und irgendwann, auch wenn es schwerfiel, mussten wir den Heimweg antreten. Beide erwartete uns die Routine, die wir anlässlich dieser kleinen Reise eine Weile hatten verlassen können, und die ­kurze Wiederkehr kindlichen Glücks war vorbei.

Günther Androsch

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 14029