Eine kleine italienische Reise

Entlang dem Fluss Sile lagen kleine Boote, darunter eine venezianisch an­mutende Gondel als Krönung gewissermaßen und als Hinweis, dass Venedig nicht mehr weit war. Das nahezu stehende Wasser des Flusses und die bunten Boote ließen mich an Bilder Vincent van Goghs aus Südfrankreich denken. Jesolo, nicht Lido di Jesolo, fiel nicht sehr ins Auge, wenn man es mit malerischen italienischen Dörfern und Orten verglich. Wir, mein Bruder und ich, ließen uns auf dem Dorf­platz unter einem Sonnenschirm nieder und nahmen einen Imbiss in einem Buffet, jeder ein panino und ein Coke. Es war spätsommerlich warm, von einem wolkenlosen Himmel strahlte die Sonne kräftig, aber zurückhaltend gegenüber dem Hochsommer. Von zu Hause weggefah­ren waren wir bei Kälte, Wind und Regen, aber kaum hatten wir die Alpen hinter uns gelassen und uns nach ihren Ausläufern in der Po-Ebene gefunden, war alles italie­nisch: die Sonne, der Himmel, die Vegetation, die Häuser, die Men­schen. Der Tagliamento hatte sich als bescheidenes Rinnsal in einem überbreiten Schotterbett gegen Süden bewegt, wie er es immer tut, außer nach langem Regen oder zur Schnee­schmelze. Das adriatische Meer und die Lagune von Venedig waren nicht weit von Jesolo entfernt, und am Ortsrand machte sich das Meer in einiger Entfernung schüchtern in einem blassen Streifen bemerkbar.

Dann fuhren wir auf dem schmalen Landstreifen in Rich­tung Punta Sabbioni und kamen durch Orte, deren melodi­sche Namen uns von unseren Aufenthalten als Kinder in Erinnerung geblieben waren. Verein­zelt standen verfallene Gehöfte mitten auf den Feldern und verliehen der Landschaft, zumal die Touristen längst zu Hause waren, einen Hauch von Verlassenheit und Abwanderung. Schilder wiesen den Weg zu zahlreichen, nun sich selbst überlassenen Ferienanlagen, Campingplatz reihte sich an Cam­pingplatz, Wasserrutsche an Wasserrutsche, dazwischen gab es Tennis- und Bas­ketballplätze und Minigolfanlagen. Im kommenden Som­mer würde das Leben wieder erwachen. An der letzten Kreuzung vor der Via Amalfi befand sich noch immer der Supermarkt für Strand- und Cam­pingartikel und allen möglichen Ramsch. Es war, als wä­ren wir erst kürzlich hier gewesen, doch waren mittlerweile um die fünfzig Jahre vergangen.

Schnurgerade führte die Straße weiter zur Lagune von Vene­dig. Wir gaben Acht, vor allem ich als Beifahrer, die Ab­biegung nach links in die Via Amalfi nicht zu übersehen. Und da las ich das Schild: Via Amalfi! Welch wunderbarer Name! Er zergeht, spricht man ihn genieße­risch aus, auf der Zunge. Un­willkürlich dachte ich an das Amalfi süd­lich von Neapel, an die biedermeier­lich-romantischen Bilder der Küste vor Amalfi von Jakob von Alt und an Goethes Italienische Reise. Dorthin, nach jenem Amalfi, war es zwar noch ein weiter Weg, immerhin aber gab es hier, im italieni­schen Norden, eine Ahnung vom tieferen Süden. Die Straße, so erfuhren wir später, hatte ihren Na­men nach einem Bach namens Amalfi, der irgendwo in der Nähe unscheinbar sein Dasein fristete, um schließlich in die La­gune von Venedig zu münden. Vor Jahr­zehnten war die Straße, erinnerten wir uns, nicht as­phaltiert gewesen, unser Auto war damals zum Haus der Bozzatos gerumpelt, was uns Kin­dern ziemlichen Spaß bereitet hatte.

Bruno Boz­zato und seine Frau, deren Vornamen ich ver­gessen habe, waren die Vermieter von Ferien­wohnungen gewesen, und im Internet hatten wir gese­hen, dass Gianni, ihr Sohn, mit dem wir gespielt hatten, die Ferienanlage weiter betrieb. Im ersten Anlauf fuhren wir am An­wesen vorbei und erreichten eine Querstraße ent­lang von Wo­chenendhäusern, jedenfalls er­weckten sie diesen Eindruck. Die Obstgärten – Pfir­siche, Wein, Marillen, Äpfel – , die fast bis an den Strand gereicht hatten, gab es nicht mehr, das erkannten wir auf den ersten Blick. Wir kehrten um und nahmen die kleine Einfahrt, die wir zuvor über­sehen hatten. Und da stand das Einfahrts­tor zur Ferienan­lage und daneben ein ge­waltig wir­kender Bunker, der uns damals fasziniert hatte. Das tat er auch jetzt, wo wir da­vor ­standen und das Auto parkten. Er war ver­wachsen mit Gesträuch und Gebüsch, teilweise von Efeu einge­hüllt und lugte uns finster und kriege­risch entgegen. Unser Auto war das ein­zige in der un­mittelbaren Umgebung. Ruhig lag die Ferien­anlage vor uns. Wir nahmen unsere Foto­apparate und gingen die Zufahrtsstraße ent­lang. Rechterhand stand eine große Zelthalle mit Tischten­nistischen und zahlreichen Fahrrä­dern. Dann kam das Haus, in dem wir gewohnt hatten. Es wirkte völlig unverändert, nicht nur dem ersten Eindruck nach. Vielleicht war es irgendwann frisch gestrichen worden – es zeigte sich in einer Mischung aus Rosa und Orange – , die Türen und die Fenster allerdings waren gegenüber früher un­verändert. Dem Eingang gegenüber stan­den unter einer weinbe­rankten Überdachung Aluminiumtische, die ich gleich wiederer­kannte und die wie das Haus selbst die lange zurückliegende Zeit plötzlich wie im Zeitraffer heftig heranzogen, als wäre ein Erinne­rungsmagnet wirksam geworden.

Mein Bru­der und ich stell­ten uns in den Ein­gangsbe­reich des Hauses und nach ein paar Sekunden foto­grafierte uns der Fotoapparat mit dem Selbstaus­löser. Zwei älter gewordene kleine Buben standen vor dem Hauseingang. Nach wie vor schien das ganze Gelände wie verlassen, nur eine Katze ließ sich blicken, nahm uns misstrauisch zur Kenntnis und schlich dann unin­teressiert von dannen. Hinter dem Haus gab es einen Zu­bau, in dem wir mit den Eltern ge­wohnt hatten, einmal oder zweimal war un­ser damals kleiner Bru­der dabei gewesen. Und auf einer früher freien Fläche hatten die Boz­zatos kleine Ferien­bun­galows errichtet, die ebenfalls leer und verlassen der Urlaubssaison nachtrauerten.

Wir gingen umher, erinnerten uns an Be­kanntes, weniges war neu für uns. Da sahen wir eine Frau aus ei­ner der Ferienwohnungen kommen, offenbar war sie mit dem Rei­nigen nach der Saison beschäftigt. Die Katze hielt sich in ihrer Nähe auf. Mein Bruder, der ganz gut Italienisch be­herrscht, sprach sie an. Dass wir hier mehrmals auf Urlaub gewesen seien und mit Gianni Bozzato gespielt hätten und dass das alles um die fünfzig Jahre vorbei sei. Sie sei Giannis Frau, sagte sie – ihren Namen weiß ich nicht mehr – , und Gianni und sie führten den Betrieb seit dem Tod Bruno Bozzatos weiter. Sie war eine kleine, runde und feste Frau, die wohl ziemlich zupacken musste. Wir zeigten ihr ein altes Foto, auf dem mei­n Bruder und ich vor einer Pfütze hockten, während Gianni davor stand. Alle drei beo­bachteten interessiert das Ge­sche­hen darin. Gianni schien in dieser Runde der Experte gewe­sen zu sein, er trug pro­fesso­rale Brillen und schien die biologi­schen Vorgänge in der Pfütze zu kommentie­ren. Auf dem alten Foto erin­nerte mich Gianni an den ganz jungen Cesare Pa­vese, den ich eine lange Zeit sehr gern gele­sen hatte. Mein Bruder nannte unseren Namen und den meines Großvaters, und Gi­annis Frau glaubte, aus Erinnerun­gen ihres Man­nes und ihres Schwieger­vaters, Bruno Boz­zato, davon gehört zu haben. Ob wir ihn, Gianni, heute oder morgen treffen könnten, fragte mein Bruder auf Italienisch. Unser Be­such sei zwar überra­schend, deshalb wollten wir auch nicht lange stören, bloß unserem Be­dürfnis, den frü­heren Erlebnissen nach­zugehen, sie kurz aufleben zu lassen, folgen. Gianni sei am Strand, sagte seine Frau, er habe dort einen fahrba­ren Eisstand, und heute, an diesem warmen Spät­som­mertag, nehme er die Gelegenheit wahr, Eis anzupreisen, bald werde es da­mit vorbei sein.

Wir stiegen ins Auto, fuhren zum Strand, und statt der Obstplantagen, durch die früher Feld­wege zum Meer geführt hatten, gab es schmale asphaltierte Straßen. Die Annä­herung ans Meer war auto- und radfah­rerfreundlich er­schlossen worden. Dann zeigte sich vor uns das Meer, wir parkten und sahen das Ver­halten der Strandbenützer regelnde Schilder, die es früher nicht gegeben hatte, da war alles frei und ohne Vorschriften gewe­sen. Vom Parkplatz zum Strand hin hatte man Stein­platten und Holz­stege ver­legt, aber sobald sich der Strand öffnete, erkannten wir, dass er bis auf die Zufahrt und die Wege ge­nauso naturbelassen war wie vor Jahrzehnten. Die Sanddünen waren mit Seegras bewachsen, das sich im Wind wiegte, Hunde tummelten sich, Kinder toll­ten herum. Die Erwachsenen lagen brav auf ihren Liegen oder Decken, lasen, schliefen in der milden Sonne oder spielten mit ihren Kindern Federball oder bauten mit ihnen Burgen oder andere Bau­werke aus dem feuchten Sand. Manchmal riefen sie nach ihren Kindern, wenn die sich zu weit entfernt hatten oder das Wasser nicht verlassen wollten. Wir tranken im Strand­buffet einen Espresso unter dem Son­nenschirm, dann krem­pelte ich die Ho­sen hoch, ging hin­unter zum Meer und ließ meine Füße von den Wellen um­spielen. Mein Bruder schwamm ein gutes Stück ins Meer hinaus. Der wei­che nasse Sand wich im Rhythmus der Wellen zurück und entzog mir den Boden unter den Füßen. Es war ein wun­derbar kühles Gefühl der Unsicherheit. Mein Bruder machte sich auf den Weg, Giannis Eis­stand zu suchen, mit freiem Auge konnten wir ihn von unserem Standort nicht ausmachen. Der Leuchtturm, Faro la Pagoda, den ich in Erinnerung hatte, stand noch da, allerdings hatte er damals viel weiter entfernt und höher gewirkt. Die Ent­fernungen hatten im Laufe der Zeit eine Längenkontraktion erfahren, heute nahm ich die Maße realistisch wahr, nicht mit einem kind­lichen Faktor multipliziert.

Ich kehrte zum Strandbuffet zurück, während sich mein Bru­der auf die Suche nach Gianni machte. Nach ei­niger Zeit kam er zurück. Er hatte Gianni ge­fun­den, ihm ein Foto von unseren früheren Aufenthalten gezeigt, und Gianni konnte sich so­fort erinnern. Wir sollten nach siebzehn Uhr, da kehre er nach Hause zurück, in die Via Amal­fi ­kommen, dann würden wir ein Gläschen trinken. Wir saßen noch eine Zeit unter dem Son­nen­schirm, bestä­tigten uns gegenseitig, dass der Strand nahezu unverändert sei. Gianni schob den Eis­wagen vor­bei und grüßte die Leute vom Buffet. Er kam mir groß und stämmig vor. Wir hatten noch Zeit und beschlossen, an die Land­spitze, nach Punta Sabbioni, zu fahren, wo die Fähren nach Ve­nedig überset­zen und zu­rückkommen. Es war zwar ruhiger als in der Sommersaison, doch aufgrund der nachsommer­lichen Witterung herrschte doch einiges Trei­ben. Der Campanile schimmerte in der Ferne, ebenso Santa Maria della Salute und in anderer Richtung erkannten wir Burano und Torcello. Etwas vor siebzehn Uhr parkten wir vor der Ferienanlage, gingen hinein, aber da war wie vorher nie­mand. Nicht einmal die Katze ließ sich blicken. In einem der Bungalows wohnte offenbar ein junges Pärchen, eine Frau kam mit einem Rad und ging in eines der klei­nen Ap­partements. Ein junger Mann folgte ihr. Sie waren Verwandte von Gi­anni, sollten wir später erfahren. Sonst war alles völlig verlassen. Auch Giannis Frau ließ sich nicht blicken.

Nach längerer Zeit sagte ich zu meinem Bruder, Gianni habe wohl kein wirkli­ches Inte­resse, uns Nostal­giker zu treffen. Doch da bemerkten wir Gi­annis Frau, wie sie – offenbar immer noch mit Reinigungsarbeiten be­schäftigt – aus einem der Gebäude kam und mit dem Handy telefonierte. Gianni komme gleich, sagte sie, und mein Bruder verstand das und übersetzte es mir. Er habe noch den Eiswagen einstellen und etwas Unvor­hergesehenes erledigen müssen, daher sei er verspätet. Wir sollten doch einstweilen ein Glas Prosecco mit ihr trin­ken. Wir ließen uns an einem kleinen Tisch hinter dem Haupthaus nieder und stießen an. Sa­lute, sagten wir zu einander. Da kam ein Auto und parkte neben dem Haus. Es war Gi­anni. Wir standen auf und begrüßten uns. Er war tatsächlich stämmig, aber nicht so groß, wie er mir auf dem Strand erschienen war, ich und mein Bruder waren etwas grö­ßer. Gianni lachte und schien sich über unseren überraschenden Besuch doch zu freuen. Mein Bru­der holte die Fotos von damals her­vor, darunter dasjenige mit der Pfütze und Gianni als Erklä­rer dieses örtlichen Biotops. Wie wir selbst war auch Gi­anni sofort um fünf­zig Jahre zurückversetzt, das merkte ich an seinen Reaktionen und am Di­alog mit meinem Bru­der. Gi­anni schlug vor, mit Rotwein auf uns anzu­stoßen. Er holte eine Flasche Valpoli­cella. Er sagte, früher hätten sie selbst Wein angebaut, aber nach einer katastrophalen Über­schwemmung, die fast alle Plantagen und die ganze Infra­struktur im Umkreis zer­stört habe, hätten sie und die benachbarten Betriebe sich kom­plett auf Bade- und Radtou­rismus umge­stellt. Gi­anni öffnete die Fla­sche, schenkte ein, seine Frau blieb beim Prosecco. Mir kam vor, unser Groß­vater beo­bach­tete uns lächelnd, sich wundernd, dass aus den kleinen En­keln alternde, wenn nicht alte Män­ner ge­worden waren. Und neben ihm schaute uns der da­malige Münchner Gast der Boz­zatos zu, der mehr­mals zur selben Zeit wie wir hier gewesen war, als hätten er und unser Großvater eine Über­einkunft geschlossen, eine Überein­kunft, die in einer gemein­samen Nähe zu einer schlimmen Zeit begründet war. Dass sie ihr gemeinsam auch nachtrauerten, wäre vielleicht zu viel vermutet, aber eine gewisse still­schweigende Überein­stimmung hatte wohl be­standen. Unser Großvater mütterlicherseits, seine zweite Frau – unsere Stiefgroßmutter – , der Münch­ner und die alten Bozza­tos waren längst tot. Gianni sagte, seine Eltern seien ganz in der Nähe begraben.

Der tiefrote Wein, der verhalten leuchtete, schmeckte hervorragend und hatte eine wunderbare Temperatur. Wir achteten darauf, die in Italien geltende Promillegrenze nicht zu überschrei­ten, vor allem mein Bruder, der mit dem Auto fuhr, musste konsequent sein. Der Wein ließ uns die Grausamkeit, unweigerlich dem Abschied entgegenzugehen, eine kurze Zeit ertragen. Der Wein zerging auf dem Gaumen, ähnlich wie das Wort Amalfi in phonetischer Hinsicht, und die leichte Berauschung verlieh mir ein wohliges Glücksgefühl. Ob es Gianni auch so ging, weiß ich nicht, meinem Bruder schon, bin ich mir sicher. Das Kätzchen hatte sich ange­nähert und schmiegte sich abwechselnd an meine Füße und die meines Bruders, diejenigen der Bozzatos interes­sierten es nicht, die kannte es zur Genüge. Wir schlugen vor, dass Giannis Frau von uns dreien ein Foto schoss, und wir standen auf, legten die Arme um die Schultern des anderen und lächelten in die Kamera. Das Foto wurde akzeptabel, und wir wirkten unge­künstelt heiter. Ich habe es vergrößern lassen und werfe den einen oder anderen Blick darauf. Langsam mussten wir ans Aufbrechen den­ken, um nach Ca­orle zu fahren, wo wir eine weitere retroo­rientierte Station einlegen wollten. Dort hatte jeder von uns ein paar Mal mit unse­rer Großmutter väterlicherseits einige Wo­chen ver­bracht, doch waren wir Brüder nie gemein­sam gefahren, ohne besonderen Grund. Und wir wollten unbedingt noch die Bunker besichti­gen, in denen wir als Kinder herumge­krochen waren, ohne uns die Knochen zu brechen.

Hochinteres­siert an allem Kriegerischen waren wir damals gewesen, nicht nur an den edlen Menschen in Karl Mays Romanen. Das hatte sich allerdings bald zu einer kriegsdienstverwei­gernden Hal­tung geändert und ist bis heute so geblieben. Bloß die jugendliche Radikalität wich mittlerweile einer pragmatischen Einstellung. Ich glaube, ich darf das auch für meinen Bruder behaupten. Es han­delte sich um mehrere unterirdisch verbundene Bunker, die wie in einem Dschungel mit Ge­sträuch und Efeu verwachsen, musealen Anschauungsstücken gleich, ihrem Zweck entfremdete Zeu­gen einer blutigen Vergangenheit darstellten. Soweit ich mich erin­nere, hatten wir sie als Kin­der ungehindert betreten und darin herumgehen können. Außen hatte man vor einiger Zeit QR-Codes an­ge­bracht und englische Erläuterungen dazu geschrie­ben. Die Bunker dienten als Anschau­ungs­objekte für Historiker, für den Geschichts­unterricht, für Besucher, die Verwandte in den Kämpfen des Zweiten Weltkriegs verloren hat­ten und ihnen nachspüren wollten. Eine eigen­artige Entdeckerromantik begleitete unser jetzi­ges Ein­dringen als Erwach­sene in die düsteren leeren Klötze. Wir hielten einige Motive mit unseren Digitalkameras fest, um sie zu Hause unserem jüngsten Bruder zu zei­gen. Bald ver­schwand die Sonne hinter den urwüchsi­gen Pflanzen, und es wurde Zeit, nach Caorle aufzu­brechen und dort den Aufenthalten mit unserer Großmutter nachzugehen.

Es war nicht schwierig, ein Hotel zu fin­den. Es war still geworden, und der Strand und das Meer wirkten zwar verlassen, aber auch erleichtert, sich nach den Menschen­massen in der Hochsaison rege­nerieren zu können. Abends aßen wir ein Fischgericht in einem auf einem kleinen innenhof­artigen Platz gelegenen Restaurant. Wir konnten im Freien sitzen, so mild war es bis in die Nacht hinein. Nach etwas Wein entwi­ckelten mein Bruder und ich die Kom­petenz, auf ver­schiedenen Gebieten, von der Politik bis zur Musik, mehr oder weniger Sinn­volles beizutragen. Am nächsten Tag wussten wir uns wieder realistisch einzu­schät­zen. Es schien die Sonne, das Meer blendete, und auf der Strandpromenade ließ es sich ungestört spa­zieren, so wenige Men­schen waren unterwegs. Das Hotel Marco Polo, in dem meine Groß­mutter zweimal mit mir einen Italien­urlaub verbracht hatte, gab es noch, alt und gebrechlich und den Sicherheitsvor­schriften nicht mehr entspre­chend wartete es auf seine Generalsanie­rung. Mein Bruder war mit ihr in einem anderen Hotel abgestiegen, dessen Namen und Lage ihm entfallen waren. Am späten Vormittag machten wir uns auf den Weg nach Udine und dann nach Cividale del Friuli, der alten Haupt­stadt Friauls, mit ge­pflas­terten, engen Gassen und intimen Plätzen. Tief unter der Teufelsbrü­cke floss grün der Nati­sone. Und irgendwann, auch wenn es schwerfiel, mussten wir den Heimweg antreten. Beide erwartete uns die Routine, die wir anlässlich dieser kleinen Reise eine Weile hatten verlassen können, und die ­kurze Wiederkehr kindlichen Glücks war vorbei.

Günther Androsch

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 14029

 

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