Schlagwort-Archiv: think it over

Heimat

Wer über diese Erde geht,
Dem klebt sie an den Füßen.
Jeder Schritt, eine uneingelöste Schuld,
Nimmt seine eigene Spur mit.

Der Blick erreicht seine Grenze in Lichtgeschwindigkeit
Und  findet an ihr keinen Halt.
Jeder Blick, ein Ausgleiten an sich selbst,
Fällt in sich selbst zurück.

Lebt es sich hier:
Fortschreitende Wiederkehr.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 16117

An die Botschafterin

Wie nur, hast du den Schnee nicht auf den Dächern gesehen?
Lang noch dauert es – und da kommst du in leichten Kleidern?
Es trägt der Mensch noch immer feste Strümpfe
Und zieht sich Polyestermützen fest
Aufs Hirn.

Die Augen müde von der Millionenshow, schleppt er seinen Körper ins Auto,
seinen bergenden Konsumschützenpanzer.

Was willst du, uns‘ren wundgeschliffenen Seelen mit deiner anstößigen Botschaft?
Wir kehren heim mit Stundenlohn
ins Mietgebäude aus Stahlbeton.
Dreh’n die Heizung auf
Anschlag.

Und hören von den Selbstmordtouristen, von den iranischen Uran-Anlagen.
Legen Musik auf und brennen – auf japanische Tonträger
Denn noch ist´s nach Osten nicht fern …
Noch fehlt das hitzige Licht über den Köpfen.

In den zerschnittenen Himmeln unserer Straßen
Suche, Botschafterin, nach deinem Frühling.

Von mir aus, doch lass uns in Frieden.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 16115

Mittelstand und Mittelstrand

Die Österreicher haben, mit wenigen Ausnahmen, gelernt, ihren Unmut über die Politiker des eigenen Landes durch eine Veränderung ihres Wahlverhaltens zu äußern. Dass sie hierbei eine starke Tendenz nach weit rechts erkennen lassen, ist legitim, schließlich machen sie ihre Kreuzchen beim Spitzenkandidaten einer im Parlament vertretenen Partei, jedoch zeugt es ebenso wenig von Selbsterkenntnis wie von ökonomischem Weitblick.
Es ist nichts anderes als eine Protesthandlung, gleich der eines Welpen. Sie mag auf den ersten Blick verständlich erscheinen, doch nötigt der Welpe seine Halter und nicht zuletzt sich selbst, auf einem verunreinigten Teppich zu gehen.
Die Ursache des Malheurs ist, wie so oft, ein Irrtum.

Viele Jahre wurde den Menschen, die eine evidente oder vermutliche Inklination zum rechten Rand haben, über die Medien ausgerichtet, dass sie den neuen Mittelstand dieses Landes bildeten.
Und, seien wir ehrlich, welcher Mensch fühlt sich nicht in seinem, gleich wie beschaffenen, Dasein bestätigt, wenn er erfährt, dass er ein Teil der Mitte der Gesellschaft ist?
Er hat die selben Sorgen wie die anderen Angehörigen des neuen Mittelstandes. Alle paar Jahre einen neuen unterklassigen gebrauchten deutschen sogenannten Mittelklassewagen erstehen zu können – das eint ebenso wie der Drang, sich auf dem mittleren Badestrand eines ägyptischen All-inclusive-Hotels die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen. Wenn alle die Strände links und rechts des mittleren meiden, wird das schon seinen Grund haben.
Der Mensch von Welt und neuem Mittelstand achtet darauf, das neueste Smartphone zu besitzen und ist stets vielkanalig empfangsbereit, um nichts Relevantes zu verpassen. Seine Freunde, in den sozialen Netzwerken zwangsläufig zahlreicher als im realen Leben, leiten Meldungen weiter, posten Fotos und eigene geistige Ergüsse, die ihn in seinen Ansichten bestärken. Das ist nur logisch – schließlich wären sie nicht seine virtuellen Kumpane, würden sie Dinge von sich geben, die dem, was er hören und lesen möchte, diametral gegenüberstehen.

Weil er mit den Regierenden unzufrieden ist, wählt er einfach den Mann, der seiner und der Ansicht seiner Freunde nach der Erlöser Österreichs sein wird. Dieser ist kein Freund von Menschen mit Migrationshintergrund. Sie würden den Einheimischen Arbeitsplätze wegnehmen.
Der Mensch des neuen Mittelstandes hat Angst vor Ausländern, weil der fesche Politiker ihm ständig, oft laut schreiend, mitteilt, dass diese gefährlich wären. Ob die Putzfrau seines Stammlokals Ausländerin ist, kümmert ihn nicht, denn er besucht das Gasthaus oder die Diskothek stets in den Abendstunden, und geputzt wird dort am Morgen.
Dann wird der Oppositionelle Bundeskanzler und tatsächlich ist von einem Tag auf den anderen alles anders im Staate Österreich.

In Windeseile werden die Ministerien umgefärbt, und auch in staatsnahe Betriebe werden Männer gesetzt, die ihre Ideologie auf der Zunge, im Herzen und auf der Wange tragen.
Die Warnungen der Intellektuellen erreichen zwar die Ohren der neuen Mittelständler, lösen sich jedoch zwischen diesen im Nichts auf. Dass Österreich innerhalb der Europäischen Union isoliert ist, stört die neuen Machthaber nicht – sie sind viel zu beschäftigt, ihre eigenen Leute an den Trog zu führen, und dies in einer Aura aus beinhartem Neoliberalismus, gepaart mit alter Deutschtümelei.
Bald erkennt der Mensch des neuen Mittelstandes, dass er in einen Angehörigen der nun neuesten Mitte transformiert wurde.

Das neue gebrauchte Auto geht sich nicht mehr aus, das Smartphone ist zu alt, um darauf die neuesten Serien in halbwegs guter Qualität anschauen zu können, und der mittlere Strand des Hotels ist für Menschen reserviert, die dem Mittelstand anderer Länder angehören und es sich immer noch leisten können, dort zu liegen.
Was wird er also tun?
Er geht auf die Straße und fordert mehr Geld, doch es ist keines da. Nun sieht er ein, welche Dummheit er begangen hat, diesen Politiker zu wählen.
Plötzlich ist er den Mitbürgern, die eine andere politische Einstellung haben, nicht mehr übel gesonnen. Er biedert sich ihnen vielmehr an, verweist darauf, dass sie nur gemeinsam den Staat sanieren könnten.
Es gibt Neuwahlen und eine neue Regierung. Sie verspricht, die Ordnung wieder herzustellen.

Der erst neue, dann neueste Mittelstand findet sich dort wieder, wo er ökonomisch und intellektuell hingehört, und ist froh, dass alle Staatsbürger gemeinsam die Last zu tragen haben, die die abgewählten Machthaber dem Land durch wirtschaftliche Unwissenheit, Egoismus und Nepotismus aufgebürdet haben.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 16103

Balkongedanken

Die Sonne sprenkelt gegen mein Fenster. Es ist Sommer und einer der wenigen nicht regnerischen Tage. Gewitter haben ihre Spur im Garten hinterlassen. Schnecken tauchen, hasten, rennen durchs Gehölz. Der Blick aus dem Fenster – selbst der Sonnenuntergang zieht melancholisch alle Aufmerksamkeit auf sich, als letzter Blick auf diese Welt. Hier auf dem Boden meines Balkons gesellen sich ein paar Aktenordner zu mir, und ein Stuhl leistet mir unbeholfen Gesellschaft. Wenigstens er. Es fühlt sich richtig an, hier zu liegen, hier zu liegen und nie wieder aufzustehen. Ich werde eins mit dem Boden und kann klar denken. Der Stuhl blickt verächtlich auf die halbleere Jacky-Flasche. WAS?! Schreie ich ihn stumm in meinen Gedanken an, du auch noch!? Hast du nicht genug gesehn? Du würdest deine Gedanken doch genauso ertränken, wenn du einen Mund hättest, um dich zu betäuben, ein Ohr, um dich zu beschweren! Du hast doch eh keinen Grund, rebellisch zu sein, wofür willst du kämpfen? Seit Jahren beugst du dich, trägst stoisch deine Bürde, bis sie dich nicht mehr wollen. Aber dann ist es zu spät, sieh deine Heimat, dein Haus langsam in der Ferne immer kleiner werden, bis es ganz verschwunden ist. Dort wirst du andere treffen wie dich, an diesem Ort. Der letzte Ort. Ich bin dieser Welt überdrüssig, oder sie meiner. Das kann keine Richtigkeit haben, dort zu stranden, wo kein Schiff vorbeikommt. Kein Held, ohne je Rettung zu erfahren. Apathisch dort im seichten Ufer wartend, mit nichts außer einer Hand voll Seeluft.

Manchmal, wenn die Nacht hereinbricht, dann kann man sie sehen, eher kürzer als lange verweilend, ihre eigene Existenz nicht ohne die begehrenden Blicke andrer ertragend und doch nur ein Hauch eines lange gekannten entglittenen Gefühls, das Glauben verlangt, als letzten Wegweiser vor der völligen Finsternis, dem völligen Nichts. Nie lag ein Gedanke ferner als ihr noch einmal zu begegnen. Das aber lockt sie herbei, die Möglichkeit, unerschütterlich Kämpfende zu bestärken, die Anderen auf den rechten Pfad zu weisen und das Gute zu bestärken, übt für sie nicht dieselbe Faszination aus wie die beinahe Gegangenen zu erreichen. Sie macht uns zu den Ihren. Warum sollte es uns auch vergönnt sein, den Pfad zu verlassen und aufhören zu wandeln, während sie doch ein Leben fernab ihr selbst führt. Auf diese Weise teilen wir jene Bürde. Ein Tropfen für einen Verdurstenden, der im Flug die spröden Lippen nicht erreicht. Nur die Bewegung der körperlosen Flüssigkeit spiegelnd in den Augen jener, die ganze Meere sahen. Ihre einzige Schwäche, die Wenigen, die ihr durch die Finger rinnen, nie die süße Frucht des leichten Lebens erstanden. Den Blick unweigerlich auf den Pfad gerichtet, laufen sie ihre Strecke unerbittlich.

Das erste Mal hier zu sein und gleichzeitig nicht zu sein, ist lange her, der Boden geduldig und wissend, in weiser Voraussicht ahnend, über welche Stelle ich stolpern würde, nur um sein Gefühl zu bekräftigen. Und die Sterne. Sie füllen die Bühne, gewohnt perfekt einstudiert zeigen sie sich und doch, bei aller Routine, erwartungsvoll blickend von dort oben. Auf alles, was ich war, was mich ausmachte. Die Erinnerungen fließen aus mir heraus, mein Geist hastend nach den immer gleichen Anhaltspunkten, ein Diaprojektor, der mit jeder Vorführung weniger Anziehungskraft besitzt.

Der Wunsch, von einem Moment auf den andern nicht mehr da zu sein, schlängelt sich gewohnt grazil durch das Dickicht verpasster Chancen und besserer Ichs von hinten an. Doch angeschlagen taumelnd wird ihm immer dieselbe Stelle zum Verhängnis, bezeichnend stehen die Stacheln existenzbeendender Maßnahmen viel zu real vor der konturlosen Gestalt. In unvermeidbarer Symbiose als wiederkehrendes Überlebensmodell mit Daseinsberechtigung allerdings als zahnlose Gefahr im durchsichtigen Alltag.

Michael Krapf

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 16097

Lügen

„Schade, jetzt ist es weg“, sage ich zu meiner kleinen Tochter, als sie freudestrahlend ins Zimmer läuft, um das Christkind zu sehen. Solche und mehr Lügen über Osterhase, Nikolaus, Krampus und Co. hab ich ihr seit frühester Kindheit aufgetischt, und ich hoffe inständig, dass mir das nicht irgendwann zum Verhängnis wird.
Aber ehrlich gesagt bin ich sogar noch schlimmer: Eines Tages, als wir im Wald spazieren gingen, funkelte etwas zwischen den Bäumen, und als sie mich fragte, was das sei, erwiderte ich verträumt: „Vielleicht sind das kleine Elfen, die gerade im Sonnenschein tanzen.“ Sie freute sich wahnsinnig über das, was ihre kleine Fantasie – angefixt durch Mamas Lüge – ihr da zu sehen ermöglichte.

Ich freute mich auch, nämlich über die Grenzenlosigkeit, die meine süße Kleine noch erlebt. Über das Glück in ihren Augen, während sie in dieser „alles ist möglich“-Welt lebt, die neben Hexen und Zauberschülern auch das Christkind und den Osterhasen beherbergt. Ich frage mich manchmal, ob ich traurig war, als ich erfahren habe, dass diese Wesen nicht existieren. Leider habe ich keine Erinnerung mehr an diesen Tag, aber mir ist heute noch sehr bewusst, dass der Zauber von damals weg ist – gefressen von bösen Monstern, wie „Geldsorgen“ oder einer allzu nüchternen „Realität“. Vielleicht sind diese Lügen, die wir Kindern auftischen, in Wirklichkeit kleine Zugeständnisse. Wir gestehen ihnen damit eine Art Galgenfrist zu, bevor für sie der Ernst des Lebens beginnt und aus fantasievollen kleinen Leuten, die weltverbessernde Ideen entwickeln, funktionierende Retorten-Bürger werden.

Ich finde es schade, dass die Grenzenlosigkeit dieser kindlichen Zauberwelt weichen muss, wenn man als mündiger Mensch in die Strukturen dieser Gesellschaft gepresst wird. Es darf nicht sein, dass man über den Tellerrand hinaus an etwas glaubt, das vielleicht sehnsüchtig in einem schlummert und das einem vielleicht sogar das Gefühl gibt, ein Stück weit frei zu sein.

Obwohl wir den Kindern, wenn sie größer sind, nach und nach ihre Kindlichkeit aberziehen und die anfänglichen Lügen dann wieder zurücknehmen, gibt es doch noch Institutionen, die sich das Recht vorbehalten, ihre sogenannten Wahrheiten in die Welt hinaus zu blasen.
Da wird dann von fünf Pflichten, einem dreifaltigen Gott, dem Messias, einer ewigen Ordnung oder von vier Ausfahrten gesprochen – schlicht, die fünf Weltreligionen. Der Glaube an diese Religionen ist laut unseren gesellschaftlichen Normen anerkannt.

Nun frage ich mich aber doch, warum der kindliche Glaube an Elfen, Zauberer und Co. als falsch betrachtet wird, während der Glaube an die fünf Weltreligionen anerkannt ist. Ich denke, dass jeder Mensch auf dieser Welt das glauben sollte, was tief in ihm schlummert. Es sollte keine Prediger geben, die den Menschen ihre Ansichten einimpfen und ihnen überlieferte Lügen ohne jegliche Beweiskraft auftischen.
Ebenso sollten jene Menschen, die auf diese Lügen angesprungen sind, sich fragen, weshalb sie sich auf der Suche nach Spiritualität nicht einfach auf ihre Kindheit besinnen, um den Zauber dieser Tage wieder entstehen zu lassen. Lügen sind also relativ, obwohl das Wort für sich einen äußerst kraftvollen und im negativen Sinne dominanten Charakter aufweist.

Leider muss ich meine Kleine nach den derzeitigen gesellschaftlichen Moralvorstellungen anlügen, wenn ich ihr den Glauben an ihre Zauberwelt nicht nehmen will. Schade, dass es sowas wie eine globale Fairness nicht gibt – eine Ethik der Superlative – wo alles wahr sein darf, was in unschuldiger Verträumtheit wahr sein will, und nichts als Lüge beschimpft wird, was in edler Gesinnung mündet.

Ich wünsche mir, dass meine Kleine auch mit dreißig oder gar hundert Jahren noch verträumt durch den Wald spaziert und sich bei einem Funkeln insgeheim denkt, sie hätte dort oben wieder eine Elfe im Augenwinkel gesehen. Ich wünsche mir eine Welt, die sie in diesem Glauben belässt, ohne ein selbsternanntes Recht auf Zuerkennung und Benennung von Wahrheit oder Lüge. Ich wünsche mir eine Welt, die erkennt, dass auch das Verschweigen von Wahrheit eine Lüge ist, wenn dadurch – und wenn auch nur in kollateraler Form – jemand geschädigt wird. Schlussendlich wünsche ich mir noch eine Welt, die Kinder nicht anlügt, sondern ihnen statt Lügen die Möglichkeit gibt, ihre Fantasie durch Vermutungen wachsen zu lassen. Ich vermute also, dass Elfen existieren – bitte verzeihen Sie mir diese Lüge.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 16067

Lasst die Kinder Kinder sein

Tagein tagaus sehe ich
selbständige Kinder, die Hilfe benötigen,
disziplinierte Kinder, die sich nicht im Griff haben,
leise Kinder, die laut weinen,
geduldige Kinder, deren Füße zappeln,
verständnisvolle Kinder, die tausend Fragen haben,
starke Kinder, die ihre Tränen unterdrücken,
mutige Kinder, deren Lippen vor Angst beben,

Kinder, die Rücksicht nehmen
auf uns Erwachsene.

Maria Buchegger

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 16051

Politpersonal

Der Präsident
Da hat man ihn behangen
Mit Titeln, Ehren und mit Orden
Und ist dann doch aus ihm
Nur ein verzog‘nes Kind geworden

Der Bundeskanzler
Es hat sich in die Nische
Die ihr der Markt noch lässt
Die Faust der Sozialisten
Fest hineingepresst

Der Wirtschaftsminister
Ein Putzerfisch im großen Teich
Putzt den kapitalen Wal
Und verkündet stolzesbleich
Dies ist mein Freund
Mit ihm teil ich das Reich

Der Rattenfänger
Ist er die Antwort
Wie er beteuert
Dann ist die Frage
ziemlich bescheuert

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 16002

 

Titellos

Das Dorf, von dem ich erzählen möchte, ist kein besonderes.

Man könnte es sogar als „ein wenig verschlafen“ bezeichnen, eingeschneit im Wandel der Zeit. Aber ich möchte weniger über das Dorf an sich berichten, sondern vielmehr über die Kinder, die darin lebten. Es handelt sich dabei um ganz gewöhnliche Kinder, die vormittags in die Schule gingen und sich nachmittags draußen auf dem Dorfplatz versammelten, um miteinander zu spielen.

Die Geschichte begann an einem 1. Advent, als die Schulglocken läuteten und die Kinder aus ihren Klassenräumen stürmten, um draußen zu spielen, wie sie es jedes Mal taten. Der erste Schnee fiel vom Himmel herab und küsste sacht die Wangen der Kinder, dass diese rot wurden, während das Lachen derselben den Platz mit einer herzlichen Wärme erfüllte.

Alles war wie immer.

Scheinbar …

Sie alle hatten es im ersten Moment gar nicht bemerkt, weder die aufmerksamen noch die unaufmerksamen, doch stand da wahrhaftig – mitten auf dem Dorfplatz – ein Klavier, schwarz und einsam im sanften Schneegestöber. In seinem weißen Umfeld, erschien es den Kindern einem dunklen Auge gleich. Ein Auge, das sie unheimlich anstarrte, womöglich mit bösen Absichten.

Keines der Kinder wagte es, näher heranzutreten – unruhiges Gemurmel ging umher, Gewisper und Geflüster.

Da trat ein kleiner Junge hinter dem Klavier hervor. Seine Haare waren schwarz wie das Holz des Instruments, seine Haut weiß wie die Tasten. Er trug einen pelzigen Mantel, der bis hin auf den Boden fiel, und irgendetwas – so wirkte es auf die Kinder – schien ihn mit dem dunklen Auge zu verbinden. Tatsächlich setzte er sich auf den Hocker davor und begann zu spielen …

Zuerst langsam. Einzelne Noten – winzig und leise. Doch als sodann die kleinen Finger zu den tieferen Tasten liefen, brauste ein klingendklängend Sturm jedweder Töne aus dem Inneren des Klaviers – eine Melodie, abstrakt und ungestüm.

Die Kinder ringsum fürchteten sich vor dem, was sie da hörten und sahen. Sie beschlossen daher, den fremden Jungen und sein schwarzes Monster in Ruhe zu lassen, und sich wieder dem eigenen Spiel zu widmen.

Der Tag verstrich rasch und die Nacht zog über das Dorf. Die Kinder verabschiedeten sich voneinander und gingen nach Hause – der unheimliche Junge klappte den Deckel über seine Tasten und ging dorthin, wohin niemand wusste. Vielleicht sollte der Spuk am darauffolgenden Tag ein Ende haben und alles so sein wie immer …

Am nächsten Morgen jedoch stand das Klavier an derselben Stelle und, nachdem die Kinder aus der Schule kamen, saß auch der unheimliche Junge wieder dort und spielte seine Melodie.

Heute hörte man sie friedfertiger.

Dennoch ließen die Kinder den Jungen in seiner grotesken Welt allein und spielten ihr Spiel in der eigenen.

So verwehte die Zeit des Advents, ein Tag glich dem anderen, keine Veränderung zog einher …

Und dann war es endlich soweit: Die Sonne, am Morgen des 24. Dezembers, stieg empor, und die Kinder eilten auf den Dorfplatz, um die Zeit bis zu Heilig Abend ein letztes Mal miteinander zu verbringen. Heute war schon keine Schule mehr und darum – so erklärten es sich die Kinder – saß auch noch niemand beim schwarzen Klavier in ihrer Mitte.

Vormittags war der unheimliche Junge nie da gewesen.

Sie spielten, so herzhaft wie niemals zuvor, während Schnee von den seidenen Wolken herabfiel und das schwarze Klavier mit einer dünnen Schicht überzuckerte.

Dann, als die Kirchenglocken zur Mittagsstunde läuteten und die Kinder normalerweise Schulschluss hätten, horchten alle auf.

Und es begegnete ihnen die Stille. Eiskalte Stille.

Unschlüssig hörten die Kinder auf zu spielen und blickten hinüber zum Klavier. Doch kein kleiner Junge saß dort und spielte seine Melodie. Das dunkle Auge, das gar nicht mehr so dunkel schien, stand einsam und verlassen da, und sein Blick war traurig.

Zumindest empfanden es die Kinder so. Sie alle schwiegen, befangen und beschämt.

Da trat eines aus ihren Reihen hervor und näherte sich dem Instrument. Die anderen zögerten zuerst, aber nach ein paar verstrichenen Augenblicken folgten einige, und gleich darauf alle, bis jedes Kind um das Klavier herum stand. Nach wie vor sagte niemand etwas. Und niemand getraute sich, eine der verschneiten Tasten niederzudrücken.

Tränen glitzerten, der Schnee fiel unaufhörlich, aber die Melodie kehrte nicht zurück.

Denn der Junge war fort.

Da löste sich aus der Erinnerung ein Funken, der zu einem gewaltigen Feuer könnte auflodern, ein kleiner Funken, der große Hoffnung in sich barg.

Die Hoffnung, dass der Junge nächstes Jahr wieder kam, um seine Melodie auf dem schwarzen Klavier zu spielen, und alles so war wie immer …

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15097

Duett

Gestern war Antoinette noch ganz auf sich allein gestellt gewesen.

Heute sieht man sie auf einer Bank gegenüber vom größten Tanzsalon Paris’ sitzen und warten.

„Ich bin adoptiert worden“, sagt sie grinsend. Der Stolz lässt sich kaum in ihrer Stimme verkennen.

„Hmpf“, grunzt ein Mann, der neben ihr sitzt. Sein Interesse könnte nicht weniger geweckt werden, daher möchte er sich nicht angesprochen fühlen.

„Gerade hatte ich meine erste Tanzstunde. Jetzt warte ich auf meine >Mutter<“, erzählt Antoinette weiter, nicht weniger begeistert.

„Das ist eine Bushaltestelle“, erläutert der Mann, bemüht sich jedoch nicht, sie direkt anzusprechen. Ebenso hätte es sich um eine Feststellung handeln können, um – zum Beispiel – seine Ungeduld zu beschwichtigen oder seine Abneigung kundzugeben.

„Ich muss nun nimmer mit dem Bus fahren. Ich werde immer abgeholt“, erwidert sie, den Mann neben sich neugierig beäugend: „Bloß aus Gewohnheit warte ich hier.“

Der Mann sieht auf die Uhr.

„Wie spät ist es denn?“, fragt Antoinette.

„Fünf Minuten zu spät.“

Der Mann holt ein Handy hervor und hält es, nach Wählen einer Nummer, an sein Ohr.

„Ich verspäte mich“, spricht er.

„>Zeit ist relativ<“, erläutert Antoinette: „Das hat mein >Vater< gestern zu mir gesagt.“

„Ich komme immer zu spät? Wer ist denn Schuld? Der Bus. Ja – der Bus!“

„>Auf nichts und niemanden darf und kann man sich verlassen!<“

„Vielleicht geht deine Uhr ja falsch!“, gebärdet sich der Mann und legt auf.

„>Für alle Zeit der Welt nicht! Ich möchte nur, dass es so ist wie früher<“, spielt Antoinette zur Schau: „Das war das Letzte, was ich von ihm hörte.“

Wortlos erhebt sich da der Mann. Der Bus kommt an und er steigt ein. Zwei, drei Augenblicke später, weg ist er.

„Was er damit wohl gemeint hat?“, wundert sich Antoinette nun allein: „Ich werde ihn morgen einfach fragen“, beschließt sie schließlich, in dem Moment ihr ein Schmetterling ins Blickfeld flattert, der sie wie eine alte Freundin begrüßt.

Antoinette kichert und sieht ihm eine Zeit lang nach.

Als sie dann auf die Uhr der Bushaltestelle blickte, um nachzusehen, wie spät es denn tatsächlich war, bemerkte sie, dass die Zeiger im Uhrzeigerunsinn voranschritten. Gerade war es noch jetzt, einen Moment danach: Vorher.

Eigentlich hätte ihre >Mutter< bereits kommen müssen.

Gestern war Antoinette noch ganz auf sich allein gestellt gewesen.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15074

Der Zivildiener

Du stehst.
Der Schnee fällt.
Und der Atem dreihundert moorgrüner Soldaten verflüchtigt sich in schüchternen Wolken.

Du bist nun einer von ihnen – „Rekrut“. Stehst stramm in einem der fünfzehn Glieder und zwanzig Rotten, dein Blick ist im Nacken des Vordermanns, und du zitterst.
Jemand unter Niemanden.

„Wenn Sie ein weiteres Mal irgendwohin anders hinblicken als geradeaus, ist das das Letzte, was Sie jemals tun werden – haben Sie mich verstanden!“, bellt einer der vier Kommandanten jemanden in deinem Augenwinkel an.
Sie kontrollieren euch.
Dabei stieben unzählige Namen in die kalte Luft …

Du stehst.
Der Schnee fällt.
Und die Rekruten ziehen langsam ab.

Reihe um Reihe wird in das vor dir liegende Objekt geführt. Auch du wirst abgeholt. Ein Kommandant bringt dich und neunzehn deiner Kameraden in einen Raum, in dem von jedem einzelnen ein Foto geschossen wird.
Lächelst du?
Dies stellt sich dir nicht als Frage.

Nachher verlässt du das Objekt und reihst dich erneut ein – in den Kreis der vier Kommandanten. Einer derselben pfeift dir in diesem Moment ins Ohr …

Du stehst.
Der Schnee fällt.
Und mit dem Pfeifen erklingt, irgendwie erlöst von seiner Tragik, in bös neckender Art Schoenbergs „Verklärte Nacht“. Dabei ist es Tag. Noch …

Du hast dir immer mehr vom Sonnenuntergang erwartet.
Dass er dich hinreiße und eins werden lasse mit der Welt – nur für einen Augenblick, wenn sein gnadenvoller Kuss am Horizonte die Farben verlegen erröten lässt und alles für einen Moment den Atem anhält.

Für dich kann das nur der Mensch.
Was er tut und was er antut. Er, dazu mächtig, der Milch ihre Reine zu rauben und sie schwarz werden zu lassen. Wenn seine Worte in der Luft verhallend, schallend als Gelöbnis die Zivilisten zu Zeugen machen und je so brausen die Dutzenden, Hunderten, gar Tausenden! – badend im prasselnden Regen tosenden Beifalls!
Ja dann – dann hältst auch du den Atem an und beginnst, dich zu wundern.

Du lächelst?
Jedoch heute stehst du.
Und der Schnee segelt an dir vorüber, als wärst du der Zeit entwichen.

Du stehst.
Es ist der 1. Tag.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15056