Duett

Gestern war Antoinette noch ganz auf sich allein gestellt gewesen.

Heute sieht man sie auf einer Bank gegenüber vom größten Tanzsalon Paris’ sitzen und warten.

„Ich bin adoptiert worden“, sagt sie grinsend. Der Stolz lässt sich kaum in ihrer Stimme verkennen.

„Hmpf“, grunzt ein Mann, der neben ihr sitzt. Sein Interesse könnte nicht weniger geweckt werden, daher möchte er sich nicht angesprochen fühlen.

„Gerade hatte ich meine erste Tanzstunde. Jetzt warte ich auf meine >Mutter<“, erzählt Antoinette weiter, nicht weniger begeistert.

„Das ist eine Bushaltestelle“, erläutert der Mann, bemüht sich jedoch nicht, sie direkt anzusprechen. Ebenso hätte es sich um eine Feststellung handeln können, um – zum Beispiel – seine Ungeduld zu beschwichtigen oder seine Abneigung kundzugeben.

„Ich muss nun nimmer mit dem Bus fahren. Ich werde immer abgeholt“, erwidert sie, den Mann neben sich neugierig beäugend: „Bloß aus Gewohnheit warte ich hier.“

Der Mann sieht auf die Uhr.

„Wie spät ist es denn?“, fragt Antoinette.

„Fünf Minuten zu spät.“

Der Mann holt ein Handy hervor und hält es, nach Wählen einer Nummer, an sein Ohr.

„Ich verspäte mich“, spricht er.

„>Zeit ist relativ<“, erläutert Antoinette: „Das hat mein >Vater< gestern zu mir gesagt.“

„Ich komme immer zu spät? Wer ist denn Schuld? Der Bus. Ja – der Bus!“

„>Auf nichts und niemanden darf und kann man sich verlassen!<“

„Vielleicht geht deine Uhr ja falsch!“, gebärdet sich der Mann und legt auf.

„>Für alle Zeit der Welt nicht! Ich möchte nur, dass es so ist wie früher<“, spielt Antoinette zur Schau: „Das war das Letzte, was ich von ihm hörte.“

Wortlos erhebt sich da der Mann. Der Bus kommt an und er steigt ein. Zwei, drei Augenblicke später, weg ist er.

„Was er damit wohl gemeint hat?“, wundert sich Antoinette nun allein: „Ich werde ihn morgen einfach fragen“, beschließt sie schließlich, in dem Moment ihr ein Schmetterling ins Blickfeld flattert, der sie wie eine alte Freundin begrüßt.

Antoinette kichert und sieht ihm eine Zeit lang nach.

Als sie dann auf die Uhr der Bushaltestelle blickte, um nachzusehen, wie spät es denn tatsächlich war, bemerkte sie, dass die Zeiger im Uhrzeigerunsinn voranschritten. Gerade war es noch jetzt, einen Moment danach: Vorher.

Eigentlich hätte ihre >Mutter< bereits kommen müssen.

Gestern war Antoinette noch ganz auf sich allein gestellt gewesen.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15074

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