Schlagwort-Archiv: anno

Dunkler Matsch

Es kriecht eine Spinne,
klettert in den Gang,
flüstert Gift,
von alter Zeit,
Bewegungsunfähig im Eis,
Fisch in der Winterstarre

Gold graben im Sand,
Entschuldigungen verstecken sich,
ein Schneckenhaus,
ohne Schnecke

Zwischen Mond und verschneitem Wald
werden Gewichte transparent

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 17104

Palmström wagt‘s

Neue Seite, neues Glück
Denkt Palmström und verfasst ein Stück
Von Königen und ihren Huren
Von Schurken, die in Kutschen fuhren

Von presserischer Fürstenlast
Vom Volk, das ängstlich duckt und hasst
Und er schildert lang und breit
Die ganze Ungerechtigkeit
Der feudal’n Vergangenheit:

Tyrannei drückt brave Bauern
Die Haus und Hof und Wald und Feld
In Sonne und in Regenschauern
Seit Urgedenken schon bestellt

Mit immer neuer Last und Steuer
Reibt das fürstlich Ungeheuer
Ihm das Fett aus seinen Gliedern
Dem Bauernstand, dem allzu bieder‘n

Und entehrt noch obendrein
Das kaum erwachs‘ne Töchterlein

Furor packt nun Palmström hart
Und er verlässt die Gegenwart
Um das Schlimmste zu verhindern
Um das Greuel abzulindern

Und ein Stück wär’s auch geworden
Alles, was bis heut verdorben
An der Wurzel wär‘s gepackt
Des Drachen Häupter abgehackt

Leicht möglich, wir wär’n heut befreit
Aus all uns‘rer Unmündigkeit:

Denn Palmström ist gar weit gegangen
Er hielt den Kaiser schon gefangen
Als er im Großen Bauernkrieg
Kämpfte für der Freiheit Sieg

Da trat Korf in seine Kammer
Und ach, es ist und bleibt ein Jammer
Auffahrend aus seinem Stück
Vergaß er’s
Und ließ es irgendwo
Im sechzehnten Jahrhundert
Zurück.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

Diesen Text können Sie seit Dezember 2018 auch hören, gelesen vom Autor.

www.verdichtet.at | Kategorie: anno und unerHÖRT! | Inventarnummer: 17089

Die Errettung der Schwalben

Als sich der Vorfall ereignete, von dem ich jetzt erzählen möchte, war ich ganze fünf Jahre alt.
Der Sommer war schön gewesen, ein ganz besonders guter Sommer, sagten die Erwachsenen. Die Donau führte Niedrigwasser, und wir kleineren Kinder konnten ohne Gefahr in den warmen Tümpeln zwischen den Uferfelsen planschen, die älteren durften sogar im Hauptstrom schwimmen. Dazwischen waren wir oft in den Wäldern Beeren sammeln und Schwammerl pflücken, am Dimbach durften wir Forellen und Krebse fangen, der Obstgarten mit Äpfeln und Zwetschken, mit Quitten und Nüssen versprach reiche Ernte, der spärliche Weizen und Hafer waren auch schon gedroschen, in den Gärten der Tanten blühten die Dahlien und Gladiolen, die Hofhündin beim Schmiedgruber hatte vier Junge geworfen, das Hausschwein Rosalia meiner Tante Sofie fünf Ferkel, und ich hatte meinen jüngsten Bruder bekommen – genau in dieser Reihenfolge interessierte mich der Kreislauf der Natur. In der Kirche und in jedem Haus wurde das Erntedankfest vorbereitet.

Das Leben war ein einziges fröhliches und reiches Geschenk, und ich wünschte, dass sich daran in alle Ewigkeit nie etwas ändern sollte. Ich hatte lesen gelernt und war nicht mehr auf die Gnade der älteren Geschwister angewiesen. Zusätzlich hatte mir mein Vater, der in der großen Stadt arbeitete, die erste Blockflöte mitgebracht. Ich war sicher, ich würde Musikerin und Komponistin werden.

Anfang September schlug das Wetter plötzlich um; es brach ein furchtbares Gewitter los, und danach hörte es nicht mehr auf zu regnen. Am Abend saß die ganze große Familie mit allen Dienstboten um den Esstisch herum und betete in endlosen Schleifen den Rosenkranz. In den verschlossenen Fenstern flackerten hinter den Vorhängen die Kerzen. Draußen blitzte und donnerte es, in den Pausen hörte man das anschwellende Rauschen der Donau, während der Regen an die Fenster peitschte. Warum klopften einige Tropfen besonders hart und laut an die Scheiben? Durch das enge Donautal heulte der Sturm, manchmal in einem misstönigen Winseln, manchmal in einem rasenden Getöse, als hätte er alle Felsen und Wälder der Ufer mit sich gerissen, dann wieder in leisem, dumpfen Grollen. Dazwischen murmelten wir die Gegrüßet-seist-du-Marias auf und ab. Ein ganzer Schwarm gehetzter, vom Schreck gepackter Geister raste durch den engen, gewundenen Strudengau wie durch eine auf Hölle gestimmte Äolsharfe, an der niemand Geringerer als der Teufel den Ton angab.
Dann wieder das Vaterunser und das ewige Gegrüßet-seist-du-Maria, dein Leib sei gebenedeit, Heilige Jungfrau, Mariamuttergottes, da konnte es nur noch unbarmherziger und grausamer werden. Aber die verschlafenen Kinder waren schon längst, in Decken gehüllt, in die Zimmer im Oberstock gebracht worden.

Am nächsten Morgen sah man, was die Nacht gebracht hatte: Vom Krautberg hinter unserem Haus war eine Mure abgegangen, die sich fast bis an den ersten Holzstadel heranschob, in wüsten Wellen, von Felsblöcken, Wurzeln und Baumstämmen durchsetzt. Kurz danach brach im Schweinestall meines Onkels eine Seuche aus, alle Tiere mussten notgeschlachtet werden. Wir kannten sie alle persönlich, von der Geburt bis zur Blunzen und zum Speck. Jedes hatte einen Namen, auf den es hörte, und jedes seine Persönlichkeit. Dieses schnelle Vergraben hinter dem Stall und das notdürftige Verscharren in Gruben mit Erde und Kalk, aus denen manchmal noch die Beine herausstanden – die Urkatastrophe meiner Kindheit. Gestank und Fliegenschwärme waren von geringerem Grauen, jeder Bauernhof hatte so etwas. Auch wenn die Kadaver längst verwest waren, konnte ich später nie wieder an diesem Ort vorbeigehen. Die Schweinezucht sollte uns nicht nur ernähren, sondern das zweite Bein des Haushalts der Großfamilie werden, nachdem das Biergeschäft nicht gut ging. Im Bierkeller meines Onkels stand das Wasser schon knöchelhoch, die Holzfässer begannen zu schwimmen, und die Gesichter der Erwachsenen wurden immer ernster.
Von Sintflut und Arche Noah war die Rede, danach, oben um den Tisch. Die Geschichte kannte ich schon vom Vorlesen des Vaters aus der Kinderbibel, sie war eine meiner Lieblingsgeschichten, wegen der Tiere in Paaren, obwohl die Bedeutung von biblischen Strafen der Sünden für mich noch im Dunkeln lag. Mein älterer Bruder raunte mir in einer Rosenkranzpause zu, das ist nur wegen dir, du bist schuld. Warum? Wegen der Schwalben. Ich sah an mir herunter, sah nichts Schuldiges außer meinen kurzen und dünnen Beinen, sah wieder hoch auf das rot-schwarze Kreuzerlstichmuster im groben Naturleinen des Tischtuchs. Daran hielt ich mich bei den endlosen Gebeten, Litaneien und Gesängen, die mir vor den Augen wie endlose rot-schwarze Ameisenstraßen vorbeiliefen und das Hirn verriegelten. Am Ende nahm meine Großmutter einen Besen aus dem Weihwasserkessel heraus und besprengte uns alle in großen, feuchten Bögen.

Die Dorfbewohner gingen trotz aller Arbeit jeden Nachmittag in die Kirche, um mit dem Rosenkranz gegen den Regen anzubeten, so wie sie in trockenen Sommern mit Kreuzen und Heilgenbildern unter Gesängen und Litaneien durch die Wiesen und Felder zogen, um Regen zu erbitten.
Der September war die Zeit, in der sich die Schwalben auf den Telegraphendrähten zwischen unseren beiden Häusern versammelten, um in den Süden zu fliegen. In den Eingängen des Bräuhauses und in den Ställen nisteten jedes Jahr Schwalben in ihren an die Decken geklebten Nestern. Es gehört zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen, wenn die erste kam, der Vorbote des Frühlings, wenn sie im Frühjahr in Scharen einzogen und wir erklärt bekamen, dass es immer dieselben Paare waren, die kurz darauf viele piepsende, gelb geränderte, weit aufgesperrte Mäulchen stopften, sirrend, pfeifend und zwitschernd ein- und ausflogen, unermüdlich. Ich hatte von den Erwachsenen gelernt, an dem Verhalten der Schwalben die Wetterprognosen abzulesen. Je nach Luftdruck flogen sie hoch oder tief, ebenso wie die Fliegen. Die beiden zusammen waren verlässlicher als das Barometer meiner Großmutter.

Während die Erwachsenen immer sorgenvoller ihren Tätigkeiten nachgingen und immer wortkarger wurden, beobachteten wir Kinder die Schwalben auf den Telegraphendrähten. Sie saßen dicht gedrängt, manchmal mehrstöckig, manchmal flogen Gruppen gemeinsam wieder auf, zogen Kreise weit hinaus über die Donau und ließen sich wieder nieder. Wer befahl ihnen, dass sie da draußen sitzen mussten und nicht in ihren Nestern die Regentage abwarten konnten? Niemand hatte Zeit, so eine Frage zu beantworten, sollte sie jemand gestellt haben.
Aber wie so oft, wird die unbestimmte Antwort unter Achselzucken wahrscheinlich gelautet haben: die Natur eben. Zum Beispiel, wenn eine Muttersau fünf Ferkel bekam und eine andere nur zwei, das war doch ungerecht, oder unter einem Schwalbennest ein zerbrochenes Ei oder ein winziger Vogelkörper lag, wobei klar war, dass die Katzen Minka und Murli in so eine hochgelegene Ecke nicht hinaufgelangt sein konnten. Unten machten sie sich gütlich an der Beseitigung dieser Unfälle.
Oder die während der Schweineseuche getöteten Tiere, die alle ihre Namen hatten, sie waren doch unschuldig, hatten nichts angestellt, wurden ermordet und hatten uns nicht einmal zu Schinken, Speck, Schmalz und Blunzen verholfen, immer hieß es: die Natur eben. Aber ich war, wie bereits gesagt, fünf Jahre alt, und in Anbetracht der Umstände, denen man sich zu fügen hatte, konnten meine Fragen nicht beantwortet und meine Wünsche nicht berücksichtigt werden.
Ohne mich vorzudrängen, glaube ich in Erinnerung zu haben, dass ich der Liebling meiner Großmutter war. Dieses Gefühl eben, gegenseitige Zuneigung. Sie war meine Heilige und sie ließ mich schlimm sein. Sie verteidigte mich sogar vor anderen Erwachsenen, denn ich galt als schwieriges, zumindest ungewöhnliches Kind.

An einem Nachmittag entdeckte ich auf dem Mäuerchen unterhalb der Telegraphendrähte die ersten toten Schwalben. Ich stand fassungslos da und sah dem Massensterben zu. Die Vögel fielen einfach von den Drähten, wie Steine. Es regnete Vögel. Manche der kleinen Lebewesen zuckten noch mit den nach oben gedrehten Beinchen. In großer Aufregung sammelte ich sie in einen Korb, der neben dem Hühnerstall für das Eierausnehmen bestimmt war, und lief zu meiner Großmutter.
Sie stand an dem riesigen Herd in der Küche und rührte in einem großen Topf. Omama, bitte. Ich streckte ihr den Korb entgegen.
Hier verlassen mich meine Erinnerungen über diesen Vorfall. Die Verzweiflung aber spüre ich bis heute in der Kehle aufsteigen, wahrscheinlich meine erste Begegnung mit dem Sterben, mit der Hilflosigkeit angesichts der grausamen Natur. Solche Worte hatte ich damals natürlich noch nicht, aber das Gefühl.

Den Ofen kann ich genau beschreiben, weil er noch lange über diesen Vorfall hinaus dort in dieser Küche stand. Damals, mit fünf, werde ich kaum über den oberen Rand hinausgeragt haben, unten gemauert, mehrere Türchen, Fetzen, darüber weiße Kacheln, dann Eisen, Gestänge darum herum und oben auf der Platte, Eisen, vier Löcher mit abnehmbaren Eisenringen, Schürhaken drumherum und Riesentöpfe. Links oben köchelte immer der größte Topf von allen mit dem „Sauquascht“- Schweinefutter – dort kamen im Laufe des Tages alle Abfälle hinein, die als Schweinefutter geeignet waren.
Vorne vielleicht ein Topf mit Stosuppe, einer mit Erdäpfeln, Schmalz aus Schweinespeck, Grammeln, frische, das war mir das Liebste, gleich hinter der Küche eine Backstube, aus der es duftete. Wenn daraus das frische Brot in langen oder runden Körben kam, kam das Himmelreich auf die Erde.
Das große runde Brot kam aus dem Korb auf den Tisch. Großmutter holte aus der Lade unter dem Esstisch ein Messer hervor, zog an ihrer Brust ein Kreuz an der Unterseite des Brotes durch und fing feierlich an, es anzuschneiden. Das erste Scherzl bekam ich, weil ich die Kruste so gerne mochte. Sie sagte zu mir, mein Eichhörnchen.
Bevor es mit Schmalz und Grammeln bestrichen wurde, roch ich daran, Salz natürlich, an Zwiebeln und Schninttlauch erinnere ich mich, und zog das Scherzl unter meiner Nase immer wieder vorbei, sog den Geruch ein, atmete aus und ein wie ein Opiumsüchtiger mit seiner Droge.

Die Großmutter seufzte: „Die Schwalben sterben heuer wie die Fliegen, so ein Jammer, ohgottohgott, das ist kein gutes Zeichen für den Winter, der wird hart.“ Sie bekreuzigte sich mehrmals, führte das Kreuz an ihrem Halskettchen an den Mund, legte die Hand auf das Herz, murmelte Gebete und drehte die Augen zum Himmel.
Ich ließ den Korb fallen und stürzte ihn um. Die Schwalben purzelten auf den Kachelboden vor dem Herd, ein schwarz-weißes Häufchen in einer Regenlache. Ich sah ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht, zumindest war sie nicht böse auf mich.
Wie in allen Bauernküchen üblich, verlief oberhalb des Herdes ein Gestänge, auf dem Geschirrtücher, Lappen und Putzfetzen aufgehängt waren, aber auch unsere nassen Socken und Kleider, die in der Früh dann nach Holz und Rauch rochen.
Omama räumte alle Tücher vom Gestänge weg und setzte die Schwalben darauf, eine nach der anderen, die noch ein Lebenszeichen von sich gaben. Sie befestigte die Krallen mit Vogelringen, die gleichzeitig die Füßchen stärken sollten. Einige drehten sich sofort nach unten und fielen dann mit einem leisen Zischen auf der heißen Ofenplatte auf. Es roch leicht wie nach verbranntem Haar. Omama fischte sie sofort herunter, öffnete eine Ofentüre und warf sie ins Feuer. Dort zischten sie noch etwas lauter als auf der Platte, manche explodierten zwischen den glühenden Holzscheiten, wahrscheinlich die Gedärme, manche lüfteten ein letztes Mal die Schnäbel nach oben, vor allem die Jungen mit den gelben Schnabelrändern, die Flügel- und Schwanzfedern plusterten sich noch einmal auf in einem winzigen Feuerregen und verbrannten still in kleinen, roten Flammen, im Höllenfeuer. Wofür sie bestraft wurden, konnte ich nicht verstehen. Aber dass manche im Verbrennen noch die Füßchen ausstreckten, als wollten sie sich ein letztes Mal entspannen, fand ich tröstlich. Sie wurden im Sterben wieder lebendig.

So sah die biblische Welt meiner Großmutter aus: Schwarz oder weiß, gut oder böse, oben oder unten, Himmel oder Hölle, Gnade oder Verdammnis. Und immer das schreckliche „Die Natur eben, da kann man nichts machen.“ Dann schloss Omama schnell die Ofentür und schaute nach, ob sich eine Schwalbe oben gehalten hatte. Sie wollte für mich ein Wunder vollbringen, obwohl sie nicht daran glaubte.
So ging es lange. Allmählich kamen mehr andere Hausbewohner dazu, die auch Schwalben eingesammelt hatten.
Langsam ließ man das Herdfeuer ausgehen und legte feuchte Tücher auf die Platten. Jetzt schlafen sie und bald du auch, sagte meine Großmutter, zog mich an sich und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

Das Ende der Schwalben-Rettung an diesem finsteren Abend bekam ich nicht mehr mit, es sollen aber einige Schwalben gerettet worden sein. Die Erwachsenen sprachen nie wieder darüber, und ich wagte nicht zu fragen. Der nächste Morgen war strahlend, die Sonne stand groß im blauen Himmel, und auf den Telegraphendrähten saßen die Vögel dicht an dicht, flatterten auf und ordneten sich neu nach ihren Gesetzen, übten ihre Formationen vorher schon, das Sirren und Zwitschern klang in unseren Ohren fröhlich, als sei nichts geschehen und als freuten sie sich auf ihre lange Reise. Irgendjemand meinte, sie nehmen die Jungen zwischen sich und verabreden sich, wer für wen Verantwortung übernimmt. Der Trost einer Familie nach der Katastrophe. Aber ich bekenne, die Bilder von diesem Schauspiel könnten auch vor der Tragödie entstanden sein.

20.2.17

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 17083

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Störungen aus der Vergangenheit

Sie hängen schwer,
blutrote Trauben,
der schwarze Vogel pickt
Löcher in den Horizont,
……………………………………. kleiner

Barlicht zeichnet ein Farbsystem,
Grauer Spiegel,
in der Röhre
Das Störbild elektrisierte ein Kind
Schwarz-weißes Heulen,
Ich rannte aus dem Zimmer,
vor alten Geräuschen aus dem All

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno| Inventarnummer: 17080

Der Tee war zu stark

Der Magen ist voll,
ein Smoothie,
er dreht sich,
Geschmacksrichtungen verzerrt und sauer,
das Blitzlichtgewitter wird weniger,
Träume wirken wie auf Psychedelika,
Suche nach mir,
in verschiedenen Zeitstrahlen,
ein Film von gestern bis heute,
Kalt wie die Ostantarktis
Heiß wie in Dasht-e Lut,
ich mittendrin

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 17073

Franz ohne Sisi

Gehe dir entgegen,
darüber eine schwere Gewitterwolke,
ein Rabenpärchen mitten im Grün,
darüber der dämmernde Abend,
Füße gehen,
Beben werden kleiner,
Zum Prunk verstaubter Zeit,
Kaiser und Adelige,
weiter in den Wald,
dort wird das künstliche Meeresrauschen
leiser

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno| Inventarnummer: 17067

Sparen in den 50er Jahren

Meine Omama verstand es wie alle aus der Zweifach-Kriegsgeneration, „sich was vom Mund abzusparen“. Sie war Sparmeisterin und Wiederverwerterin, sie warf einfach nichts weg. Ihre Erfahrung sagte ihr: „Aufheben für schlechte Zeiten.“ Die um 1900 Geborenen konnten alles noch einmal gebrauchen! Alte Unterwäsche und Leintücher zu Putzfetzen zerschnitten, alte Zeitungen in den Händen weichgerieben als Fensterputz- und Klopapier, Seifenreste in zerrissene Nylonstrümpfe, alte Semmeln zu Bröseln zerrieben fürs Schnitzelpanieren und für den Apfelstrudel, Einkochen, Einwecken, Hamstern, Tauschen, Restlessen – übrigens: Wer kennt noch das klassische Restlessen, den „Grenadiermarsch“? (Rezept, wie ich es von Omama und Mama gelernt habe: in Zwiebeln und Fett angeröstete Knödelstücke, Nudeln, Kartoffeln, die von Vortagen übriggeblieben waren, mit viel, viel Kümmel – zum Verdauen.)

Und diesen Sinn, alles gut auszunützen, nichts zu verschwenden, haben diese Großmütter an ihre Töchter, unsere Mütter, weitergegeben. Und auch wir – die Nachkriegsgeborenen der ersten Generation – wurden zu Wiederverwertung und Sparsamkeit erzogen – nachhaltiges Wirtschaften, ökologisches Bewusstsein – solche mittlerweile wieder hoch geschätzten Tugenden – das kann man von uns lernen! Wir wissen einige gute Rezepte zur Verwertung von altem Brot, denn „Brot wegwerfen ist eine Sünde“. Überhaupt in einem waren sich unsere Mütter der Kriegsgeneration einig: Beim Essen sagten sie immer ganz streng: „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt! Es gibt keine Extrawürstln!“ „Aufessen, damit die Sonne morgen wieder scheint … wirst du aufessen – nichts stehen lassen!“

Der Zeitgeist der 50er-Jahre war Sparen und Aufbauen. Die Banken unterstützten und förderten diese Lebenshaltung: Für die kleinen Sparerinnen und Sparer gab’s eine Sparbüchse, am Weltspartag den „Sparefroh“ und viele schöne Geschenke, wenn man da aufs Sparbüchl einzahlte.

Aber diese Sparsamkeit hatte auch ihre Kehrseite. Bei meiner Freundin Evi Prochaska etwa, dem dicklichen Nachbarskind mit dem lustigen Grübchen im Kinn, zeigte sich die Kehrseite ganz deutlich. Die Familie Prochaska hatte drei Töchter, alle mit dickem dunkelbraunen Haar, zu Zöpfen geflochten: die älteste, Liesl, Seitenzopf, Herta, die mittlere, Zöpfe zum Kränzchen aufgesteckt und Evi links und rechts je einen Zopf mit Zopfspangerln. An der Evi, dem unerwünschten dritten Madl, das Umstände machte und störte, wurde am meisten gespart! Durch Hemmungen mit den drei streng gezischten Fragen aller Fragen: „Wozu soll das gut sein? Wozu brauchst du das? Ist denn das notwendig?“, die Evi wurde immer gehemmter. Nach und nach verkümmerten in ihr alle Ideen und Wünsche, denn sie wären mit Geldausgaben verbunden gewesen. Evi stand immer verlegen daneben – wunschlos – ideenlos – abgedreht. Evis Mutter sagte: “Schon wieder gewachsen! Ich näh dir von dem dunkelgrünen Kleid, das der Liesi nicht mehr passt, den Saum rauf und geht schon für dich!“ Und sie sagte “Schuhe – wir kaufen sie eine Nummer größer und legen vorne Zeitungspapier rein – zum Reinwachsen.“ So steckte die Evi in einem dunkelgrünen Kleid, deren Taille zu weit unten saß, scheuerte sich mit den zu großen Schuhen Fersenblasen, und das Kinngrübchen wurde immer tiefer hineingestochen, gar nicht mehr lustig.

Angelika Mairose

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 17044

 

Weihnachten im Schatten der Eiche

Manchmal, wenn es im Juli kochendheiß und der Nachmittag leer war, trafen meine jüngere Schwester, unser kleiner Bruder und ich im tiefen Schatten der Eiche zusammen. Wir waren unserer Sommerspiele überdrüssig, waren müde und sprachen dösend von Weihnachten. Der kleine Bruder saß oben im Baumhaus, und wir sangen zu dritt Weihnachtslieder. Es wird scho glei dumpa, Wer klopfet an, In dulci jubilo-oho, Adeste fideles, Maria durch ein Dornwald ging, Sti-hille Nacht, Alle Jahre wieder, Jingle bells, Vlesustojalajolotschka, Es hat sich heut eröffnet, das himmlische Tor, die Engelen, die Bauzelen, die kugelen hervor, O Tannenbaum. Das war das Stichwort. Die Eiche begann zu rauschen und warf ihre Eicheln auf die grasenden Schweine herab.

Das Rauschen und das Abwerfen kühlte die Luft, und mich überkam das erste Staunen über das Geheimnis der Physik. Und das Geheimnis der Zeit. Jetzt und später, in vier Monaten ist Weihnachten. Und wer bin ich dann?

Hedi und Franzi hatten Scharlach gehabt, und ich war gerade vom Keuchhusten genesen.
Die vier älteren Geschwister überstanden in diesem Sommer den unabsichtlichen Vergiftungsversuch der Mutter. Sie hatte Waldmeistersekt angesetzt, der zwar wie abgestandenes Blumenwasser schmeckte, aber offensichtlich fermentiert war und alle zu ruhrartigem Brechdurchfall brachte. Im September gelang es ihr wieder nicht, denn unser Vorkoster, der Vater, entdeckte in einem Schwammerlgulasch einen bitteren Geschmack. „Mama, da stimmt etwas nicht! Kinder, Finger weg!“ Unter die essbaren braunen Baumstämmlinge hatte sich offenbar ein gleich aussehender, aber giftiger Blauröhrling geschummelt.

Im Oktober öffnete die Mutter den großen Mottenkasten auf dem Treppenabsatz und holte die Winterkleidung hervor. Wir probierten die Wintersachen, und es stellte sich heraus, dass unsere Krankheiten und der Sommer uns soweit gutgetan hatten, dass wir aus allem herausgewachsen waren. Das war nichts zu machen. Es gab niemand Jüngeren mehr in der Familie, der das Zeug erben könnte, es wurde an die jüngeren Cousinen in St. Nikola geschickt.

Im Dezember ging meine Mutter mit uns in die Stadt zum Kaufhaus Frank und kleidete uns neu ein. Was Hedi und Franzi bekamen, weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur an den Kauf meiner unglückseligen Schihose. Wir waren nicht häufig Käufer beim Frank, weil es wenig Geld für Einkäufe gab. Aber immerhin waren wir zehn Personen, die selten, aber ab und zu doch etwas Neues brauchten. So kam uns der alte Herr Frank mit freudigen Schritten und offenen Armen entgegen und begrüßte meine Mutter. Der junge Herr Frank, Joe genannt, ging mit meinem zweitältesten Bruder in eine Klasse und durfte manchmal auch schon bedienen. Gnä Frau, Frau Professor, Frau Doktor, Frau Direktor … Meine Mutter winkte wie immer mit den Armen wild wedelnd ab, sie mochte die ihr zugedachten Titel nicht und sagte uncharmant griesgrämig: Seyr genügt.

Was brauchma denn, etwas fürs gnä Fräulein? Das gnä Fräulein hatte schon sieben Weihnachtsfeste hinter sich und freute sich auf das achte Christkind. Seit dem Sommer mit den Weihnachtsliedern unter der Eiche war ich damit beschäftigt, einen Brief an das Christkind zu entwerfen.

Meinen eigenen Karl-May-Band Der Schut, meine eigenen Klassischen Sagen des Altertums von Gustav Freytag, meinen eigenen Band mit den nacherzählten Shakespeare-Stücken, und der dritte Band der Hochreiterkinder von Marlene Haushofer – das stand ganz oben. Ich sah sie schon im Flammenschein unter dem Christbaum liegen und mich im tiefsten Winkel meines Bettes lesen, allein und unendlich lang, ohne das Buch in einer bestimmten Frist auslesen und weitergeben zu müssen. An Spielzeug wünschte ich mir eine neue Babypuppe, da ich die alte, meine geliebte Lotte, den ungarischen Flüchtlingskindern von Rädda Barnen in Judenau gespendet hatte. Ein Säckchen mit neuen Murmeln wäre schön und eine ganze Tafel Bensdorp-Schokolade, die man nur zu Weihnachten und zum Geburtstag nicht durch sieben teilen musste.

Was ich mir sonst noch wünschte, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich war das ohnedies schon sehr viel. Einen Indianeranzug für den Fasching hätte ich mir wünschen können und vielleicht auch Schlittschuhe in einem Stück, nicht die Schraubendampfer, die ich bisher fuhr und immer mit Abneigung und Scham im Aufwärmbunker des Eislaufplatzes unter den Augen der reichen Kinder anschrauben musste. Aber wahrscheinlich hätte ich mir nicht getraut, so viele Dinge und solche Extravaganzen in den Brief ans Christkind zu schreiben. Wir hatten als Kinder den Trick, etwas besonders Gewünschtes, Begehrtes, Ersehntes nicht in Worten aufzuschreiben, sondern zu zeichnen.

Das wirkte nicht so unverschämt und war immer mit einem Prickeln verbunden, ob das Christkind klug genug war, den Wunsch zu erkennen.

Eigentlich mochte ich den alten Herrn Frank gern. Er war immer lustig und sah lustig aus: Er war klein, hatte volles, dunkles Haar, hielt sich leicht gebückt und schritt mit breiten Schritten aus, wobei er mit den Beinen schlenkerte, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er die Füße überhaupt auf den Boden stellen sollte. Zu uns Kindern war er aufmerksam und sagte witzige Worte. Besonders mochten wir ihn dafür, dass er uns, abgesehen von den Einkäufen, den Besuch in seinem Kaufhaus versüßte. Bei der Kasse stand ein Körbchen mit Heller-Zuckerln – das waren langgezogene, mit Marillenmarmelade gefüllte Köstlichkeiten – in das wir die Hand hineinstecken und uns auch mehr als ein Zuckerl herausnehmen durften.

Da sah ich, wie Mutter dem alten Herrn Frank etwas ins Ohr flüsterte, und der laut und strahlend zurück: „Ah, eine Schihose zum Christkind! Schön, kommen Sie, gnä Frau, schauma, was ma ham.“

Ich stand wie vom Donner gerührt, was brauchte das Christkind eine Schihose? Ging das Christkind auch auf Schulschikurs? Ich verstand anfangs gar nichts, und es schüttelte mich bei der Vorstellung vom Christkind auf Schiern oder auf der Rodel im tiefen Schnee.
Sein weißes Spitzenkleidchen, die goldenen Locken, den Heiligenschein mit den Sternchen darüber – und darunter eine Schihose, eine Pudelhaube, Fäustlinge und Goiserer mit Norwegerpullover und Hubertusfleck?

Pures Entsetzen packte mich, ich war getroffen, ich war versehrt und stand so in Flammen, dass ich mich weigerte, die von Herrn Frank präsentierten Schihosen zu probieren. Übrigens gab es eh nur ein einziges Modell in verschiedenen Größen, eng geschnitten aus schwarzem, dehnbaren Lastex mit einem Steg an den Beinen unten, wenn ich mich richtig erinnere. Ich war so störrisch, dass mich meine Mutter nicht einmal mit Gewalt in die Probierkabine zerren konnte. „Gut, wir nehmen die, entschied die Mutter, die passt sicher, aber zwei Nummern größer, bitte, damit sie die Hedi nächstes Jahr auch noch tragen kann.“

Was war der größere Schock? Dass es kein Christkind gab oder dass die Schihose so groß war, dass sie sofort von der Hausschneiderin Frau Trofeit Hosenträger und zweifache Stulpen aufgenäht bekam? Dieser Operation fielen auch die rutschfesten Stege, die mich eventuell mit dieser Schihose versöhnen hätten können, zum Opfer.

Peinlicher und qualvoller habe ich vier Jahre später nur den Kauf des ersten BHs in Erinnerung, noch immer mit Mama und im Kaufhaus Frank. Da hat der junge Herr Frank, Bruder Bernhards schnittiger Freund Joe, schon ständig bedient, wenn auch nur in der Männerabteilung. Wahrscheinlich bekam Mama beim Frank mehr Prozente, Großfamilienrabatt. Ich wäre so gerne zum Kaufhaus Stift gegangen, die hatten eine Palmers-Abteilung mit geschulter Damenbedienung. Beim Frank bekam ich ein untragbares Gerüst Marke Stalingrad, das ich sehr schnell verschwinden und mir von der ältesten Schwester Agnes einen ihrer amerikanischen Spitzen-BHs schenken ließ.

Der ganz große Skandal kam kurz nach Weihnachten. Ich war in den Ferien zu Besuch in St. Nikola, bei Tante Sofie und Onkel Klaus und ihren vier Kindern. Ich überredete einmal meine gutmütige Cousine Michaela, mit mir Kleider zu tauschen, also meine Schihose anzuziehen. Sie sah nicht nur zu mir auf und war mir hörig, weil ich älter war, sondern weil ich aus der Stadt (oö. Schdott) kam, auch wenn Tulln damals kaum diesen Namen verdiente. Aber wer und was von dort kam, galt den St. Nikolaern (o.ö. Nigloan) geradezu als überirdisch. Gerade am Dreikönigstag gab es einen schrecklichen Unfall.
Michaela geriet zu weit über die Rodelpiste am Danzer-Bergerl hinaus und brach in das Eis des Dimbaches ein. In letzter Sekunde zog Tante Sofie sie heraus. Ich sehe es noch vor mir, wie die Rodel unterging und Michaela am Bachrand hing. Im Trubel, der diesem Unfall folgte, in dem sogar ein Gendarm ins Bräuhaus kam und überprüfte, ob Tante Sofie ihrer Aufsichtspflicht nachgekommen sei, ging meine Schihose irgendwie verloren, und Hedwig kam im nächsten Winter nicht in den Genuss dieser Erbschaft. Ich nehme an, dass sie, sonst immer meine nächste Rivalin, über den Verlust nicht traurig gewesen sein wird.

Ob meine alte Babypuppe Lotte eine Nachfolgerin bekam, weiß ich beim besten Willen nicht mehr. Aber an das kränkelnde Herz mit der Erkenntnis, dass das Christkind und das liebe, kleine Jesulein nicht die Leute waren, für die ich sie gehalten hatte, daran erinnere ich wie an gestern. Lange Zeit konnte ich mich nicht entscheiden, wem ich mehr grollen sollte, meiner Mutter oder dem alten Herrn Frank, ob er mir das Christkind geraubt hat, es entzaubert, verstoßen oder ob er mich davon erlöst hat? Ich entsagte und genas, indem ich mich für einen Trick entschied, dass sich das Christkind wahrscheinlich auf diese Weise von mir verabschiedet hat. Es war ja schließlich allmächtig und allwissend. So wurde meine Schihosen-Geschichte doch wieder ganz rund.

8.12.16

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16152

Der Anfang der Welt

Das Erzählen dieser Geschichte hat einen großen Vorteil. Es kann mir niemand widersprechen. Wer von Ihnen war schon auf den Kurilen oder kennt jemanden, der diese Inselgruppe bereist hat?

Nein, ich selbst war auch noch nie auf den Kurilen, dafür aber mein russischer Freund Lew Nikolajewitsch G. Er war von Beruf Pilot beim sowjetischen Atomministerium, er transportierte aber keine Passagiere, sondern die geheimsten Frachten für die Atomindustrie quer durch die Sowjetunion, von Uranbergwerken, Uranlagern, Aufbereitungsanlagen zu den verschiedenen Anwendungsorten. Von dieser ministeriumseigenen Fluglinie wusste niemand im Land, die Angestellten durften nicht einmal zu ihren Familien über ihren Arbeitsplatz und die Einsätze reden, auch nicht von den Orten, die sie anflogen. Diese lagen prinzipiell in geschlossenen Regionen, die keine Namen hatten, nur Nummern. Und selbst die Piloten hatten nur eine Ahnung, was sie in ihren Flugzeugen transportierten. Lew flog die größten Transportmaschinen von Tupolew kreuz und quer über dieses Sechstel der Erdoberfläche, vom Baltikum nach Wladiwostok, vom Eismeer in den Kaukasus. Sie flogen noch ohne Radar, und außer dem Kopiloten waren noch vier Techniker an Bord.

Lew war ein zweifach höchstausgezeichneter Pilot, er war „Held der sowjetischen Arbeit“ und hatte den Lenin-Orden bekommen, zweimal hatte er durch seine Reaktion eine Katastrophe verhindert; einmal einen Zusammenstoß mit einem Wetterflugzeug über Moskau, einmal über dem Ural eine Kollision mit einem Verkehrsflugzeug. Niemand will sich vorstellen, was passiert wäre mit dem radioaktiven Material an Bord.

Lew war ein leidenschaftlicher Pilot und erzählte gerne über seine Erlebnisse. Ich weiß nicht, ob er das durfte, aber er tat es, nachdem mit der Wende das Atomministerium aufgelöst und er in Pension geschickt worden war. Zu seinen schönsten Erinnerungen gehörten seine Reisen auf Kamtschatka, Sachalin und die Kurilen. Er war sehr oft dort, denn im Fernen Osten befanden sich besonders viele Geheimorte.
Es nützte nichts, noch weiter in ihn zu dringen, er wusste es einfach nicht, ob er Atomraketen oder Uranstäbe an Bord hatte.

Während man Kamtschatka und Sachalin bereisen konnte, waren die Kurilen absolut geschlossene Territorien und sind es bis zum heutigen Tag.
Wenig bekannt ist, dass Stalin 1941 mit Japan einen Neutralitätspakt schloss, den er am 8. August 1945 aufkündigte, wenige Tage vor der Kapitulation, und umgehend mit der Eroberung der Kurileninseln begann.
Es besteht bis zum heutigen Tag kein Friedensvertrag zwischen Russland und Japan, das nach wie vor die Rückgabe seiner „Nordterritorien“ fordert.

Zu den fast vergessenen Kapiteln des 2. Weltkrieges gehört, dass die Sowjetunion keinen einzigen Schuss gegen Japan abgegeben hat und nur den USA im Rahmen des sogenannten „Hula-Projekts“ den Kampf gegen den japanischen Faschismus erlaubte.
Die 17.300 japanischen Bewohner wurden in verschiedene sibirische GULAGS transportiert, wo alle umkamen.
Aber mein Freund Lew hat die Kurilen gesehen, er konnte lebhaft davon erzählen und endlos schwärmen. Einmal hatte er zwischen Ankunft und Rückflug so viel Zeit, dass er von einem Stützpunkt auf der Hauptinsel Iturup einen Ausflug nach Shikotan machen konnte, angeblich die schönste der vier großen Inseln. Ich brauchte einige Zeit, um ihm zu glauben, dass die Kurilen das Paradies auf Erden seien. Ich nahm ihm seine Schwärmerei einfach nicht ab, hatte er als Sowjetmensch doch bis zur Wende nie einen Schritt aus dem Arbeiterparadies heraus gemacht.

Was wusste so einer schon von irdischen Paradiesen?
Er war doch mit mir im Jahre 1999 zum ersten Mal im Bolshoi-Theater, im Tschaikowski-Konservatorium, in der Eremitage und kannte Tschechows „Dame mit dem Hündchen“ nicht. Er war zwar oft in den Hohen Norden geflogen, wusste aber nie, ob es Nowaja Zemlja war, die Halbinsel Kola oder Tschukotka.
Einmal war er sich sicher, dass er sich am Nordende des Ural befand, weil es noch Wald gab und er und seine Mannschaft sich für Neujahr – Väterchen Frost  – mit kleinen Fichten eindeckten. Auf diesem Flug kannte er die ganze Fracht, sechs Fichtenbäumchen und eine Gruppe von Polarforschern, die er zurück nach Moskau bringen sollte.

Als die ersten russischen Forschungsreisenden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Fernen Osten und die 1200 Kilometer lange Inselkette erreichten, nannten sie sie Kurilen, vom russischen kuritj, rauchen. Auf den 40 Inseln befinden sich 68 Vulkane, 36 davon aktiv und fast 100 submarine Vulkane. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine derartige Dichte an rauchenden Bergen und Meeren. Mit 10.542 Metern unter dem Meeresspiegel liegt auch der tiefste Punkt der Erde in dieser Region.

Was macht die Kurilen so besonders, fragte ich immer und immer wieder. Es ist die vom Vulkanismus beeinflusste Vegetation, meinte Lew. Shikotan zeichnet sich durch eine Küste aus leuchtend weißen Kreidefelsen mit bizarren Formen aus, hunderte Meter hoch und steil wie ein gestärktes Tischtuch, nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Magnolienbäume und undurchdringlich dichte Wälder aus Kurilenkirschen, die weiten Wiesen sind mit hüfthohem, metallisch glänzenden Gras bedeckt, mit wilden rosa Wicken und gelber Schafgarbe, und über allem liegen Wolken von Wermutsduft. Wenn nicht plötzlich Nebel einfällt, kann sich das Auge an dem tief azurblauen Ozean weiden. Die unterirdischen Vulkane spucken ohne Ende Wasserfontänen und Rauch aus.
Eine Besonderheit sind die kreisrunden, mehrfach gestaffelten Wolkenreifen über den Köpfen der Vulkane, wie riesige weiße Pudelhauben.

Was den praktischen Lew aber am meisten beeindruckte, waren die fischreichen Flüsse, von denen Shikotan durchzogen ist.
„Stell dir vor, du stehst mit den Füßen im seichten Fluss und um dich brodelt und kocht es vor lauter Fischen, Lachsen und Dorschen. Du kannst sie mit den Händen fangen. Sie kommen von der ganzen östlichen Halbkugel zum Laichen auf die Kurilen. Kübelweise haben wir sie zum Flugzeug geschleppt. Es wimmelt auch von Riesenkrabben und Hanasaki-Krebsen.“

Lew war davon überzeugt, dass sich dort der Nabel der Welt befindet, der Anfang oder das Ende der Welt.
Warum, was machte ihn so sicher?
„Einmal fiel Nebel ein, wir waren gerade mit einem Schiff zwischen Shikotan und Iturup unterwegs, da wurde der Himmel immer niedriger, bis er schließlich steil ins Meer abfiel, wie eine riesige, grünliche Wand aus dickem Glas. Es vermischten sich Nebel und Feuer, Tag und Nacht, Meer und Himmel. In diesem Augenblick wussten wir, dass wir das Ende der Welt gesehen haben, oder den Anfang. Wir waren bis zu diesem Punkt gelangt, wo sich die Wellen an dieser Glaswand brachen, und dahinter war nichts, nur Leere.
Wir hielten mit dem Schiff unmittelbar an dieser Wand und berührten sie mit den Händen. Das Grauen vor dieser letzten Grenze schüttelte uns so, dass wir kein Wort sagten. Die Wand stand über uns in einer endlosen Wölbung und reichte in die Tiefe des Meeres, so weit man sehen konnte, und da …“

Lew hielt inne, er konnte lange nicht weitersprechen, er sah mich seltsam an, als überlegte er, ob ich ihm glauben oder wenigstens sein Geheimnis hüten würde.

„Und da?“, fragte ich ungeduldig und spürte einen kalten Schauder, ohne zu wissen, warum.
„Da sah ich ganz eindeutig, wenn auch wegen der Dicke der Wand und der Lichtbrechung etwas verschwommen, hinter dem Glas ein gewaltiges Menschenantlitz. Es war so groß wie die Hälfte unserer Kimmung, seine Augen wie zwei riesige untergehende Monde.“
„Wie sah es aus, dieses Gesicht, sah es jemandem ähnlich?“
„Am ehesten hätte man es neugierig nennen können“, meinte Lew sich erinnern zu können, so wie ein Kind Ameisen beobachtet. Aber darin kann man sich leicht täuschen. Das Einzige, was ich sofort folgerte und ich zuverlässig wusste, dass das nur das Antlitz Gottes sein konnte …“
„Lew, jetzt mach aber einen Schlusspunkt! Warum denn Gott?“
„Wer sonst kann am Anfang oder am Ende der Welt sein außer Gott?“
„Was hast du gemacht, als du die Grenzen des Gefängnisses entdeckt hast?“
„Ich habe gebetet“, sagte er so kurz und einfach, als wollte er nicht mehr weitererzählen, als hätte ihn meine Ungläubigkeit gekränkt.

Ich wollte es wiedergutmachen und fragte noch einmal:
„Wie sah es aus, dieses Gesicht, wie war es? Sah es jemandem ähnlich, würdest du es wiedererkennen?“
Er musterte mich lange, schweigend, plötzlich greisenhaft blicklos: „Wenn du mich schon fragst“, sagte er und wog jedes Wort, „am ehesten sah es meinem Gesicht ähnlich.“ Und seine Stimme war getränkt von Traurigkeit, als bedauere er, mir sein Geheimnis anvertraut zu haben.

1.12.16

Veronika Seyr
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