So lang ist es her.
Und ich will die Scherben
immer noch nicht aufheben,
um zu sehen,
was in mir alles zerbrochen ist.
Nives Farrier
aus: Nach Dir.
(TwentySix Verlag, 2018)
www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 18068
So lang ist es her.
Und ich will die Scherben
immer noch nicht aufheben,
um zu sehen,
was in mir alles zerbrochen ist.
Nives Farrier
aus: Nach Dir.
(TwentySix Verlag, 2018)
www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 18068
Es war der 23. Dezember 2000, als sich eine Gruppe von Menschen am Leningrader Bahnhof (hieß wirklich noch so!), Bahnsteig 2, vor dem Waggon 17 versammelte, alle dick vermummt, denn es hatte in diesem Tagen um die zehn Grad minus. Außer Andrej Bitow kannte ich niemanden persönlich, und diesen nur flüchtig und aus einer Situation, die ich am liebsten aus dem Gedächtnis streichen wollte. Ich hatte das Unglück, einmal bei einem Dinner in der Botschaft neben ihm platziert worden zu sein. Ganz am Ende der Tafel, fast schon am Katzentisch. So konnte man seine Stellung in der Hierarchie unzweideutig ermessen. Der Schriftsteller und die Kulturrätin der Botschaft unermesslich weit weg vom Gastgeber und seinem Hauptgast, dem Wirtschaftsminister, die einander in der Mitte gegenüber saßen, jeweils flankiert von ihren Dolmetschern, dann abgestuft je nach Wichtigkeit die anderen Geladenen.
Der mir oder ich ihm zugeteilte Schriftsteller hatte offenbar beschlossen, grimmig und beharrlich zu schweigen, vielleicht, weil er das immer so hielt bei solchen Einladungen oder weil er gerade mit einem Schnupfen kämpfte. Die lange, schmale Nase rann ununterbrochen, Tröpfchen im schütteren Schnurrbart, ein Taschentuch wischte über die hängenden Lider. In einem schrumpeligen Anzug eine vornüber gebeugte Person, viel zu klein für den ausladenden Botschaftsstuhl.
Oder war es umgekehrt, machte ihn erst der Stuhl so klein? Er aß nichts außer der Suppe und trank nur Wasser; vielleicht hat er ein Magengeschwür oder es ist ihm einfach Kascha und Borschtsch lieber als das hochgezüchtete Diplomaten-Essen. Ich unternahm vieles, um ihm etwas zu entlocken, mit dem man Konversation machen konnte und kam mir bald vor wie der Hofnarr in der Runde. Ich prallte an ihm ab wie an der Hütte der Baba Jaga. Neben hundert anderen Vermutungen und Annahmen wird es wahrscheinlich eine ungünstige Eigenschaft an mir gewesen sein, die ihn abgestoßen hat. Die übergroße Ehrfurcht vor großen Menschen, die kindliche Verehrung von Dichtern, die mir den letzten Grips raubte, sodass ich neben ihm ziemlich dumm gewirkt haben musste und ihm die Vorurteile gegen Westler und Diplomaten im Besonderen prächtig bestätigt haben werde. Vielleicht auch gegen Frauen, schoss es mir durch den Kopf. Er war nie verheiratet, als Familie gibt es bekannterweise nur einen Bruder. Ich war damals noch nicht lange genug Diplomatin, um meine Ressentiments gegen diesen eigenartigen Beruf abgelegt zu haben. Wie und warum sollte ich mit jemandem reden, der das offensichtlich nicht wollte? Der feindselig gegen mich eingestellt war und ich mich auch nicht für ihn interessierte?
Als Journalistin musste ich oft mit Menschen reden und sie ausfragen, obwohl sie mich nicht interessierten oder ich von vornherein wusste, dass sie mich anlogen, vor allem Politiker. Da war ich professionell genug unterwegs, weil ich ein Resultat brauchte. Aber bei einem Schriftsteller verrammelte und verriegelte sich aus einem verqueren Ehrgefühl heraus mein Hirn, sodass mir nicht einmal mehr einfiel, was ich von ihm gelesen hatte. Dabei hatte ich einiges gelesen, konnte mich aber nur vage erinnern, Reiseberichte aus Armenien und Georgien zum Beispiel. Und wie wäre es mit Puschkins „Gefangener im Kaukasus“ gewesen oder mit Tolstojs „Hadschi Murat“? Das war so eine unglückselige Situation, in die man manchmal völlig unschuldig hineingerät.
Es war offenbar ein Gast ausgefallen, und da kam der Botschafter auf die unglorreiche Idee, die Kulturrätin neben den Dichter zu setzen. Da kann nichts passieren, weil nicht wichtig genug. Ich erfuhr davon erst eine Stunde vor dem Dinner und konnte mich nicht vorbereiten, wie ich das sonst tat.
Jammerschade! Wenn ich damals schon gewusst hätte, was ich seit der Reise nach Pskow weiß, hätten wir uns vielleicht befreundet oder uns zumindest in einer gleichen Leidenschaft ausgetauscht.
Aber zurück zum Bahnsteig 2, Waggon 17 am 23. Dezember um 18 Uhr.
Bitow ist in Moskau eine bekannte Figur, ein viel gelesener Autor, Träger vieler in- und ausländischer Ehrungen, eine integre Persönlichkeit, häufig im Fernsehen zu sehen, der sicher oft gegrüßt wird wie ein Bekannter oder sogar Freund, weil man seine Bücher schätzt. Im Westen würde man ihn einen Literaturpapst nennen. Also sprach ich ihn auf das Botschaftsessen an, scherzhaft, flapsig, ob er sich davon erholt habe. Er versuchte höflich zu sein und setzte ein Lächeln auf, das zwischen unwissend und gezwungen lag, man kann auch dümmlich sagen. Also hatte er keine Ahnung, wer ich war und war dankbar dafür. Den Mantel des Vergessens darüber breiten und schweigen.
Aber das kann auch wiederum daran liegen, dass man auf einem zugigen Bahnsteig an einem dunklen, kalten Dezemberabend anders aussieht als unter den gleißenden Lustern eines Speisesaals. Seit dem unseligen Dinner waren einige Monate vergangen, und ich habe meine Schmach wettzumachen und das Trauma aufzuarbeiten versucht, indem ich alles Erreichbare von Bitow las und mich von meinen Moskauer Literaturfreunden unterrichten ließ. Der russische James Joyce, der beste lebende Stilist, der ehrlichste Erzähler, der genaueste Chronist der sowjetischen Seele, den wir haben, ein postsowjetischer Melancholiker – kein Superlativ wurde ausgelassen. Das war nicht immer so.
Er war einer der Schriftsteller der Tauwetter-Periode mit vielen Erzählungen, Romanen, Almanachen und Essays, erhielt nach dem Sturz Chruschtschows Publikationsverbot, wurde aber nicht ausgewiesen wie viele seiner Freunde und Kollegen. Erst unter Gorbatschows Glasnost und Perestroika durfte er ab 1986 wieder veröffentlichen. Das Puschkinhaus, Georgisches Album, Armenische Lektionen, Der Symmetrielehrer, Der Geschmack, alles schon in den 70er Jahren geschrieben und seither neu aufgelegt und übersetzt, und einiges davon in sehr guten Übersetzungen im Suhrkamp-Verlag.
Da traf es sich gut, dass ich von meinem Freund Mischa Shulman, einem Puschkin-Forscher, erfuhr, dass es um Weihnachten eine Pilgerreise nach Michailowskoje geben sollte, zu dem Landgut der Familie Puschkin, auf das Zar Alexander I. den Dichter von 1824 bis 1826 verbannt hatte.
Der Nachtzug ging um 18 Uhr 30 ab und sollte um 7 Uhr 30 in Pskow ankommen.
Der inoffizielle Club der Puschkinisten mit Bitow an der Spitze hatte dazu aufgerufen, 28 Menschen hatten sich eingestellt. Das war ziemlich genau ein Waggon mit zwei Zweier- und sechs Vierer-Abteilen. Es war kein Schnellzug wie der Rote Pfeil nach St. Petersburg, sondern wir bummelten gemächlich durch das flache Land nach Nord-Westen Richtung Pskow. Misha bedauerte, dass er nicht mitkommen konnte – seine Frau erwartete das zweite Kind – so war ich ganz allein unter lauter russischen Puschkin-Kennern und Liebhabern.
Trotz des Datums war es für die Russen keine Weihnachtsreise, sondern ein ungerades Jubiläum, das die Puschkinisten begehen wollten: 175 Jahre seit dem denkwürdigen Tag, als Puschkin einen Ausbruchsversuch aus seinem Verbannungsort machte, sich nach dem alten Kalender am 11. Dezember 1825 in eine Kutsche warf und die Richtung St. Petersburg einschlug. Alles unerträglich, schnell weg, nur weg von hier, ohne jede Vorbereitung und Unterstützung, ohne Genehmigung, eine Verzweiflungstat, aufs Äußerste erregt durch das Ausbleiben aller Nachrichten der Freunde in der Hauptstadt und von allerlei Vorgefühlen geplagt. Der Diener, der ihn begleiten sollte, erkrankte, dann der zweite, der ihn ersetzen sollte. Er fährt trotzdem los.
Da passierte es: Auf der Straße zum Landgut Trigorskoje, wo er sich von der Nachbarsfamilie Wulf-Ossipow verabschieden wollte, stürzte aus dem Gebüsch ein Hase heraus und kreuzte den Weg. Puschkin zögerte keine Sekunde und kehrte um. Kurz vor seinem Landgut sprang ein anderer Hase mit zurückgelegten Ohren und vorgestreckten Pfoten vor ihm in die Höhe. Er raste unentschlossen durch das Haus. Doch der Wagen stand bereit, und er konnte nicht mehr zurück. Der zweite Aufbruch. Als ihm ein schwarz gekleideter Mönch auf der verschneiten Straße entgegenkam, ließ er wieder den Kutscher wenden. Das war zu viel für sein abergläubisches Gemüt. Er fühlte, dass er vergeblich gegen einen höheren Willen ankämpfte.
Im unendlichen Universum des russischen Aberglaubens gehört der Hase zu den Schicksalskündern. Nebenbei gilt der Rammler im Volksmund auch noch als ein Symbol für die verwerfliche, ungezügelte Sexualität. Niemand, vom Kutscher bis zum Zaren, wagt es, nicht auf ihn zu achten. In Puschkins Fall hat der Hasen-Mythos sich scheinbar als Wahrheit herausgestellt.
Wenn der Hase nicht über den Weg gehoppelt wäre, hätte Puschkin nach zwei Tagen Kutschenfahrt St. Petersburg erreicht, wäre gerade rechtzeitig zum Aufstand der sogenannten Dekabristen gekommen. In seiner Abgeschiedenheit wusste er nichts von dieser Adelsverschwörung und war nicht beteiligt, hätte aber sicher aufgrund der Inhalte und der freundschaftlichen Verbindungen mit vielen der Akteure sympathisiert.
Seit dem Sieg über Napoleon brodelte es in Russland. Viele Armeeangehörige waren in Frankreich mit europäischen Verhältnissen in Berührung gekommen und forderten bürgerliche Freiheiten. Sie nützten das kurze Interregnum in der Nachfolge zwischen den Romanow-Brüdern Konstantin und Nikolaus. Mehrere hunderte Adelige, Offiziere und Schriftsteller gewannen Teile der Armee für ihren dilettantischen Umsturzversuch, verlangten eine Verfassung und die Einrichtung einer Volksvertretung. Es sollte noch fast einhundert Jahre dauern, bis es dazu kam.
Alexanders Nachfolger, Nikolaus I., ließ fünf Männer als Rädelsführer hinrichten, 120 in die sibirische Verbannung schicken, ganze Familien zogen mit ihnen, niemand außer der Gräfin Wolkonskaja kehrte zurück, nach vierzig Jahren. Fast alle Angeklagten berufen sich bei ihren Freiheitsideen auf Puschkins Gedichte und Epigramme. Keine guten Aussichten für den Dichter, der nun schon seit zwei Jahren in Briefen an den Zaren um Begnadigung aus seinem Gefängnis in der russischen Einöde bettelt. Niemand von seinen hochgestellten Freunden wagt es, sich beim Zaren für ihn einzusetzen. Er hatte immer einen äußerst heißen Charakter, sagen alle, aber diesmal, nachdem er vier Monate keine Briefe aus St. Petersburg und Moskau erhalten hatte, konnte er nicht mehr stillhalten. Ausbrechen, komme, was da wolle.
Wer war es, zwei Hasen und ein Mönch oder die Vorsehung, die Puschkin davor gerettet haben, hingerichtet oder zumindest in die sibirische Verbannung transportiert zu werden? Die Welt hätte keinen Großdichter Puschkin bekommen, denn erst in der Abgeschiedenheit von Michailowskoje bildete sich sein Talent zur vollen Blüte heraus. Er begann den Eugen Onegin, den Boris Godunow zu schreiben, er hörte das Russisch der Landbevölkerung und entwickelte die Sprache zu einer Volkssprache, wie sie bis heute gültig ist. So schrecklich die Jahre in Michailowskoje für ihn persönlich waren, sie stellten sich als Glücksfall für die Geschichte der russischen Literatur heraus. Er reifte zu dem großen Dichter heran, der bis zu diesem Tag als Genie und Nationalheiligtum verehrt wird.
So befand ich mich zusammen mit 27 Verehrern auf einer Pilgerreise, um den Hasen zu feiern, der Puschkin gerettet hatte. Im Speisewaggon, wohin sich die Gesellschaft verlagert hat, wird mächtig vorgefeiert. Andrej Bitow ist der König der Puschkinisten. Er spricht nicht viel, lacht viel, hört zu, hebt das Wodka-Glas, ohne zu trinken, an Nahrung nimmt er nur die Beilagen zu sich, Schwarzbrot, eingelegte Zwiebel, Pilze und Gurken. Da erfuhr ich, dass er magenkrank ist und einen Herzinfarkt hinter sich hat. Die Stimmung erreicht ihren ersten Höhepunkt, als sich herausstellt, dass einer der Pilger ein blinder Passagier ist, der im Russischen Häschen, zaitschik, genannt wird.
Der Schwarzfahrer, ein junger Literatur-Student, heißt Sasha Swarz, er ist der gefeierte Held dieser Nacht im Zug nach Pskow. Er hat eine Gitarre, singt recht gut, keine Puschkin-Gedichte, sondern alte Hits von Wissotzki und Okudschawa, alle singen mit, können alle Strophen auswendig. Wie immer bei solchen Gelegenheiten, muss ich meine Mundstarre der Bewunderung vor so viel Gemeinsamkeit überwinden, mit Lippenbewegungen und Wangentätscheln. Einiges kann ich doch auch schon lange mitsingen, mitklatschen und mitschunkeln. Ein Tisch wird freigeräumt für den Tanz oben.
Mir gelingt es, mich nicht als Ausländerin zu verraten, damit hätte sich die Atmosphäre sofort geändert. Viel ist nicht anders geworden, seit von Sigmund von Herberstein an die ersten Westler ins Moskowitische Reich gekommen sind und es beschrieben haben. So komme ich in den Genuss eines Tarnkappenblicks. Schon gar nicht habe ich mich freiwillig vor Andrej Bitow zu erkennen gegeben. Er bleibt bis zuletzt ohne Verdacht.
Irgendwann kann ich mit der unendlichen russischen Feierenergie nicht mehr mithalten und ziehe mich in mein Abteil zurück. Das hätte als Einziges verräterisch sein können. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist die Uhr im Restaurantwagen, die weit nach zwei zeigt und ein Schild mit der Aufschrift: Nach Mitternacht wird kein Alkohol ausgeschenkt. Ein Denkmal für das Verhältnis zur Obrigkeit: Wir tun so, als machten wir, was ihr wollt, tun aber, was uns gefällt. Ich bleibe unentdeckt, zusammen mit meiner alten, ganz einsamen Schande. Im unteren Bett meines Zweier-Abteils, knapp vor dem Augenschließen, fliegt noch der Gedanke vorbei, ob die Russen nur zu dezent sind, mich zu überführen. Die meisten anderen, glaube ich, haben in dieser Nacht nicht viel Schlaf abbekommen.
Ankunft im Dämmer des Morgens am 24. Dezember im tief verschneiten Pskow. Welch ein Wunder, tatsächlich steht der bestellte Autobus mit Chauffeur bereit, der die Gruppe in zwei Stunden die 120 Kilometer nach Michailowskoje schaukelt, wovon die meisten Passagiere nur im Schlaf etwas mitbekommen, obwohl es ohne Heizung bitterkalt ist. Ebenen in Schnee und Nebel, kaum Erhebungen, wenig Abwechslungen von Dörfern und Wäldern, eine russische Unlandschaft im Nordwesten. Flüsse und Seen sind zugefroren und verschneit, ohne Tafeln wären sie nicht auszumachen.
Dabei fahren wir durch die größte russische Seenplatte, auf der sich vor 800 Jahren Russlands Schicksal entschieden hat. In der Schlacht auf dem Peipus-See vernichtete Alexander Newski die Armee des Deutschen Ritterordens und sicherte Pskow für die Republik Nowgorod, später für das Fürstentum Moskau. Das also war der Ausblick, den Puschkin hatte, als er hier zwei lange Winter festsaß. Das musste auch für stabilere Seelen, als er eine hatte, schwer sein. Mir ging es schon in diesen zweieinhalb Stunden nicht gut.
Vom Landgut Michailowskoje ist nach zwei deutschen Besatzungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg nichts übrig geblieben, was wir nun langsam zu sehen bekommen, ist nachgebaut. Von den einst berühmten 200-jährigen Eichen- und Lindenalleen stehen nur noch einzelne alte Riesen, ein Tor, eine Brücke, ein niedriger, langgezogener Herrensitz aus Holz mit einer kleinen, überdachten Vortreppe, angeblich alles originaltreue Kopien. Der Vorplatz ist vom Schnee geräumt und dient als Parkplatz, zurzeit noch leer. Im Bus wird es langsam lebendig, und die vermummten Gestalten krabbeln ins Freie.
Ich hatte mitbekommen, dass als Erstes eine Zeremonie vorgesehen war: Es sollte ein Denkmal für Puschkins Hasen aufgestellt werden.
Die Metallskulptur hatten die Puschkinisten im Gepäck, allerdings war der als Fundament vorgesehene Holzpfahl nirgends zu finden. Da hatte nur ein Teil der Organisation geklappt. Die Pilger wussten sich zu helfen und schleppten aus einem Nebengebäude einen Balken heran, den man kurzerhand zu dem Werstpfahl erklärte, mit denen im zaristischen Reich die Staatsstraßen gesäumt waren.
Einige Männer bearbeiteten den Pfosten mit Äxten, schlugen ihn provisorisch in den Boden und setzten den Metallhasen auf ein oben angebrachtes Querbrett. Danach einige Reden von Andrej Bitow, Lew Schlosberg und einem eingetrockneten Redakteur der Literaturnaja Gazeta. Viele große Worte, wenig in Erinnerung. Die Museumsmitarbeiter bewirten die Besucher mit Brot und Salz, erwärmende Getränke sind vorbereitet, für den Hasen gibt es Gebinde aus Karotten und Kohl. Bitow hängt sie ihm unter Gelächter und Applaus um den Hals, der Schwarzfahrer Sasha Swarz schmückt den improvisierten Werstpfahl mit Kränzen aus Tannenreisig.
Die Bedeutung von Puschkin als Zentralgestirn der russischen Literatur und Kultur insgesamt ist in der nicht Russisch sprechenden Welt nie ganz angekommen. Im Gegensatz zu Tolstoj, Dostojewski oder Tschechow ist er nicht heimisch, kein Europäer und kein Weltenbürger geworden. Ist das so, und wenn ja, warum?
„Puschkin stellt in der russischen Literatur ein Zentrum dar, wie es keine andere (nationale) Literatur aufzuweisen hat. (Hallo, was ist mit Shakespeare?) Er ist der Abschluss der vorhergehenden und zugleich der Beginn und das einzige Fundament aller späteren Dichtung.
Er ist der Brennpunkt, in dem sich alle von den Vorgängern ausgesandten Strahlen treffen, und zugleich die Sonne, deren Licht die ganze spätere russische Literatur bis auf unsere Tage durchdringt. Die Literatur wäre ohne ihn ebenso undenkbar wie die russische Sprache und Nation.“
Ganz so verzückt wie der Artikel des sowjetischen Literaturwissenschaftlers Alexander Eliasberg 1924 fielen die Reden der Puschkinisten nicht aus. Bitow und Schlosberg schnitten eher ironische Töne an, mit denen sie sich über die übermäßige Puschkin-Verehrung zu Sowjetzeiten lustig machten. Der karotten- und tannenbekränzte Hase auf dem Werstpfahl zeigte am besten den Wandel, ohne die Größe Puschkin auch nur um ein Jota zu verkleinern. Dass Puschkin im Ausland nie eingemeindet und zum gemeinsamen Besitz wurde, gerade darin sieht Bitow einen Vorzug der Russen.
Das ist eben ein Geheimnis, das ganz allein den Russen gehört, erklärt Bitow augenzwinkernd. Oder war es nur die beißende Kälte, die die Tränen in die Augen zwingt? Puschkin gilt allen anderen höchstens als Tschaikowskis Libretto-Schreiber, die Dramen von Eugen Onegin, Boris Godunow und Pique Dame kennt und schätzt man anderswo höchstens als Opern, ganz zu schweigen vom unübersetzbaren Genuss an seinen Versen. Wenige Dichter sind mehr untersucht und weniger verstanden worden.
Kaum ein Dichterleben ist so dramatisch verlaufen wie das seine. Das Geheimnis, das Leben und Tod Puschkins umgibt, hat sich hartnäckig der Nachforschung entzogen, räumt auch Bitow ein und entschuldigt damit den unverständigen Rest der Welt außerhalb Russlands. Danke!
Die Puschkin-Anbetung war nicht Religionsersatz wie der Personenkult um Stalin, sondern sie war Religion. Bitow greift weit aus. Weil die Russen ein areligiöses, heidnisches Volk sind, neigen sie zu solchen Verirrungen. Sie kennen keinen wirklichen Glauben, kennen den Wortlaut der Bibel nicht, sind in diesem Sinne nicht gottgläubig, sondern beten die Ikonen und das rote Öllämpchen an, den Weihrauch und die Wachskerzen. Die sind viel handlicher als die Evangelien. Das ist Götzendienst, Popanz. Der lässt sich so leicht mit sich rumtragen, verehren, küssen, ist gemütlich und tröstlich. Denn wehe, man würde die Bibel lesen und ernst nehmen, das ist zu viel für die Menschen.
Die Russen lieben den Verstand nicht, nicht die Vernunft, nur Zauber und Spintisiererei. Niemand geht so streng ins Gericht mit den Russen wie Bitow.
In diesem Sinne seien die meisten russischen Dichter falsch verstanden worden, zuallererst Puschkin und Gogol, die er als Rationalisten und Realisten bezeichnet, andersrum wieder bei Dostojewski und Tolstoj.
Darum haben sie ihre zusammengepappten Religionen, ihre Ideologien und Nationalismen, seien es Puschkin oder Ikonen, das Volk oder Politiker. Als grausame Religionskriege rasen sie über den Erdball.
In dieser Gesellschaft von Puschkin-Liebhabern schleicht sich bei mir eine Ahnung ein, dass Puschkin dort anfängt, wo mein Verständnis aufhört, und dass Puschkin lebt und leben wird. Die kaum nachvollziehbare Innigkeit der Dichter-Verehrung wird aber eine russische Spezialität bleiben.
Trotz Bitows kritischer Anmerkungen geht der Personenkult munter weiter:
feierliche Anbetung bei der obligaten Führung durch den Landsitz. Es wird aus Puschkins verzweifelten Briefen dieser Zeit vorgelesen, das dramatische Gedicht Graf Nulin vorgetragen, das er in der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember 1825 in seiner verrauchten Bude geschrieben hat. Beim Vortrag seiner Gedichte sprechen viele laut mit, was mich an unsere Gottesdienste erinnert.
Das Mittagessen gab es im angrenzenden Freiluftmuseum Bugrowo, dem nachgebauten Dorf, in dem die Leibeigenen der Puschkins gelebt haben. Puschkin war oft dort, hat ihnen bei ihrem Leben zugesehen, ihnen zugehört, ihre Sprache studiert, sich aber an der Leibeigenschaft nie gestoßen. Zumindest gibt es nichts Schriftliches darüber.
Nach zwei Stunden Zurückrumpeln über schlecht geräumte Landstraßen blieb noch ein bisschen Zeit. Der aus Pskow stammende Journalist und Aktivist der liberalen Jabloko-Partei Lew Schlosberg leitete zum Abschluss vom Bus aus eine kurze Führung durch die Stadt, die gerade ein noch älteres Jubiläum begeht: 1000 Jahre seit ihrer Gründung durch Altslawen und Waräger. Zu sehen ist nicht viel, alles tief verschneit und im Nebel, in der Nachmittagsdämmerung nur die gigantischen Mauern und Türme des Kreml, von den vielen Kirchen nur verschwommene Konturen.
Viel, sehr viel müsste hier zu sehen und zu erfahren sein. Immerhin so viel, dass bei mir der feste Vorsatz bleibt, zu einer menschenfreundlicheren Zeit nach Pskow zurückzukommen. Lew Schlosberg sagt nichts über die jüngere Vergangenheit der Stadt, weil die jeder Russe von der Grundschule an kennt. Ich habe sie nach meiner Rückkehr nachgelesen.
Sie können das auch: Wikipedia Pskow (dt. Pleskau)
17.9.17
Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/
www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 18029
Obwohl journalistisch keineswegs unerfahren, war ich in den letzten Mai-Tagen 1991 ungewöhnlich aufgeregt. Eine persönliche Einladung vom 1. Vorsitzenden des Lensowjets zu bekommen, war auch in jenen stürmischen Monaten des Jahres 1991 nicht alltäglich. Anatolij Alexandrowitsch Sobtschak wollte dem ORF in seinem Amtsitz in Leningrad ein Interview geben. Ein Monat später sollte er als erster, mit fast achtzig Prozent der Stimmen demokratisch gewählter Gouverneur das Ruder in der nördlichen Hauptstadt übernehmen, dessen erste Amtshandlung die Rückbenennung in St. Petersburg war.
Ich hatte den Jura-Professor und Deputierten des „Demokratischen Russland“ im Obersten Sowjet kennengelernt. Es war die Zeit, als diese verkrustete Abstimmungsmaschinerie die ersten Schritte auf dem Weg in den Parlamentarismus tat, sich Parteien und Fraktionen herauszubilden begannen, und die meist wüsten, noch kaum geregelten Debatten schon mal vierzehn oder sechzehn Stunden dauern konnten. Der damals 53-jährige Sobtschak fiel in der Masse von ranzigen Armeeuniformen und mausgrauen Parteifunktionären in mehrfacher Hinsicht auf: Er wirkte jugendlich, sprühte vor Energie und sah gut aus; war schlank und hochgewachsen, hatte einen gepflegten Haarschnitt, saubere Schuhe und kleidete sich gerne entweder in Maßanzüge mit Gilets und exquisiten Krawatten oder machte mit großkarierten Jacketts und grellen Stecktüchern Furore.
Am Rednerpult stellte er regelmäßig sein dialektisch geschultes rhetorisches Talent und die brillante Intelligenz unter Beweis. Den zündenden Vortrag hatte er sich nicht etwa in der Politik angeeignet, sondern als Jura-Professor vor den wachen, westlich orientierten Studenten der Leningrader Universität. Ende der 80er-Jahre war er der unbestrittene Wortführer der Demokraten. Die westlichen Journalisten liebten ihn dafür, dass er sich auch noch nach den längsten Sessionen in den Kreml-Couloirs für Fragen zur Verfügung stellte und dabei mit offenen Worten nicht geizte.
Das war die Gallionsfigur, die das neue, postsowjetische Zeitalter repräsentierte, der Held, in den viele ihre Hoffnung auf eine demokratische Wende setzten und der sogar von den Massen dafür belohnt wurde.
Dieser politische Wunderwuzzi hatte mich also zu einem Interview eingeladen, ihn nicht wie sonst immer im Geschrei und Journalistengewühl zwischen Tür und Angel zu befragen, sondern exklusiv im Lensowjet. Der Termin wurde über die Büros festgesetzt, und wir brachen Ende Mai erwartungsvoll nach Leningrad auf. In der Eingangshalle des imposanten Gebäudes, dem ehemaligen Smolnij-Institut, wo schon Lenin seine Fäden gezogen hatte, wurden mein Zwei-Mann-Team und ich einer für sowjetische Verhältnisse eher lässigen Kontrolle durch bullenartige Sicherheitsleute unterzogen, eigentlich nur unsere TV-Ausrüstung zerlegt. Nachdem wir unsere Sachen wieder zusammengepackt hatten und die breite Treppe hinauf verwiesen worden waren, kam uns in der Beletage ein unscheinbarer, kleinwüchsiger Mann entgegen und erklärte uns, dass wir erwartet würden, uns aber noch gedulden müssten, bis der Genosse Vorsitzende Sobtschak uns empfangen könne.
Er bat uns zu einer langen Lederbank und postierte sich selbst vor einer Doppelflügeltür, die wie alles im Smolnij hoch, groß, massiv, gigantisch war. Welche Pracht in den weitläufigen Treppenhäusern und Korridoren, in deren übermannsgroßen Nischen Imitate griechischer Statuen, Amphoren und Malachitvasen zu bewundern gewesen wären, hätten sie die revolutionäre Zerstörungswut des bolschewistischen Sturmes im Oktober 1917 überlebt. Irgendwo in diesem 1808 in streng klassizistischem Stil von italienischen Architekten als Erziehungsanstalt für Höhere Töchter erbauten Palastes musste sich das Lenin-Museum befinden. Und auch das Zimmer, in dem 1934 der beliebte Leningrader Parteichef Sergej Kirov im Auftrag Stalins erschossen worden war.
Während des stummen Wartens hatte ich Gelegenheit, den Wächter, der vor dem Sobtschak-Heiligtum auf und ab ging, näher zu betrachten: unter vierzig, schätzte ich, das dünne, blassblonde Haar an der hohen Stirn angeklebt, tiefliegende Augen, Farbe nicht erkennbar unter den amphibienartigen Lidern, lange Nase, schmaler Mund, großer Adamsapfel, das blasse Gesicht in absoluter Ausdruckslosigkeit. Dem bräunlichen Anzug in bestem Ostblock-Nylonschick mit den sich wellenden Nähten, zu kurzen Hosen über grauen Socken und schlechtem Schuhwerk, dem grünlichen Hemd und dem würgend-schmalen Krawattenstrick nach zu schließen – ein verkleideter Tschekist.
Mir fiel noch auf, dass der Mann, den ich für einen internen Portier hielt, ständig auf seine Uhr am rechten Handgelenk sah und nervös an ihr herumnestelte, eine große, runde, goldene der Luxus-Sowjetmarke Zenit. Warum ich das wusste? Weil ich die gleiche habe, ich trage sie aber links.
Plötzlich ein Geräusch von innen, der Wächter stürzte an die Tür, riss die linke Hälfte auf und ließ einige Herren heraustreten, verschwand für wenige Augenblicke und bat dann uns hinein. Wir waren mit Ausrüstungsgegenständen voll bepackt, sodass uns der Mann zuerst den Außenflügel aufhielt und dann im Saal den Innenflügel. Für so viel Zuvorkommenheit dankend, drängelten wir an ihm vorbei, wobei mir seine kleine, kaum merkliche Verbeugung nicht entging: Zehn Minuten und nicht länger, murmelte er dabei, weniger autoritär als devot und ängstlich, wie mir schien.
Sobtschak saß am Ende eines endlos scheinenden, holzgetäfelten Saales, der wie alle Bürokratensäle der Sowjetunion mit einer langen Reihen von Tischen und Stühlen längs der Mitte und an der Kopfseite mit quergestellten Tischen in T-Form möbliert war, an deren Kreuzungspunkt Sobtschak seinen Schreibtisch hatte, flankiert von der sowjetischen und der russischen Fahne. Bei unserem Eintreten sprang er auf, umrundete das große T links, kam uns freundlich, offen, lachend mit ausgestreckten Händen wie alten Bekannten entgegen.
Ein solch unzeremonielles Begrüßungsverhalten hielten wir Journalisten am Ende der Sowjetunion noch für die wahre Revolution, es warf mich kurz aus dem Konzept meines Fragenkatalogs, verwirrte die Sinne der einheimischen TV-Leute und entspannte uns alle ungemein. Sein Dreiteiler war übrigens diesmal nachtblauer Nadelstreif, das Hemd lila-weiß mit Knöpfchen an den Kragenenden und die Krawatte in gedecktem Gelb mit bourbonischen Lilien. Geht er schon in Paris einkaufen, schoss es mir durch den Kopf.
Es war auch noch ungewohnt, dass ein Funktionär keine von seinem Büro geprüfte Frageliste vorgelegt bekommen wollte, sondern mich fragte, was ich denn wissen wolle. Er legte frei von der Leber weg mit seinem Vortrag los, was er für die brennendsten Probleme Russlands! – ja, Russlands, nicht der Sowjetunion – hielt. Die bolschewistische Revolution sei ein großer Fehler gewesen, es hätte zuerst die bürgerliche Revolution vollendet und der Kapitalismus entwickelt werden müssen. Ein Voll-Revisionist! Er führte aus, wie jetzt seiner Meinung nach in einem gigantischen Reformprojekt Russland – ja, er sagte Russland, nicht Sowjetunion – umgestaltet werden müsste: Durch die Zulassung des Privatkapitals die Demokratie entfalten, garantiertes Recht auf Geld und Unternehmungen für jeden Bürger als Garant für die Demokratie, das war seine Hauptthese, wie er schon oft im Obersten Sowjet, im Lesowjet und in TV-Runden dargelegt hatte.
Sobtschak sprach immer lebhaft und ungezwungen, geißelte die bodenlose Dummheit der KPdSU-Funktionäre und gab Politschnurren voller Situationskomik wieder – er war wie für das Fernsehen geschaffen. Ein scharfer Denker und brillanter Formulierer, uferte aber immer wieder aus, von der Geschichte der französischen Revolution bis zur russischen von 1905, als fast schon die Weichen gegen die Autokratie und für die Bourgeoisie gestellt waren. Seine Begeisterung galt dem kurzen 20. Jahrhundert vor 1914, als Russland vollständig in die europäische Politik, Wirtschaft und das Bündnissysem integriert gewesen sei. Ebenso verbreiterte er sich über den noch kürzeren Zeitraum zwischen dem Sturz des Zarentums im Februar 1917 mit seiner provisorischen bürgerlichen Regierung und dem bolschewistischen Oktoberputsch.
Ich bemühte mich durch mein Fragen, ihn möglichst lange bei der Stange zu halten. Da bemerkte ich in seinem Gesicht eine leichte Irritation, und er gab in Richtung Eingangstüre einen Wink ab. Ich drehte mich ganz gegen die Interview-Regeln um und sah das Türstehermännlein, das die rechte Hand hochreckte und mit ausgestreckten Fingern eine Fünf zeigte, fünf Minuten Interview hatten wir also noch. Sobtschak verscheuchte ihn ungeduldig wie eine lästige Fliege; er war in seinem Gedankenfluss gestört worden, und wir mussten die Kassette wechseln, diese Passage wiederholen, aber Sobtschak fand von Neuem in seinen Traum von einem durchkapitalisierten, demokratischen, rechtssicheren Russland hinein, das sich in die europäischen und westlichen Entwicklungen einklinken werde. Mit Vehemenz warb er für sein damaliges Lieblingsprojekt, die Schaffung einer wirtschaftlichen Sonderzone St. Petersburg mit den baltischen Republiken und anderen Anrainern der Ostsee. Er sollte damit allein bleiben, die Balten verabschiedeten sich aus der Sowjetunion und strebten auf eigene Faust nach Europa.
Zweimal noch wedelte er den ungeduldig Minuten zeigenden Zerberus hinaus, da waren es aber nur noch drei und dann zwei Finger; im Vorzimmer muss es einen hektischen Besucherstau gegeben haben. Letztendlich hatten wir mehr als eine Stunde Interview auf Band aufgenommen, bevor uns Sobtschak, intellektuell befriedigt und gesättigt wie von einem guten Mahl, entließ. An die Verabschiedung vom Türsteher kann ich mich, wahrscheinlich im Journalistenglück schwelgend, nicht mehr erinnern.
Drei Monate nach dem Mauerfall kam ein abgehalfterter Spion aus Dresden/DDR zurück und wurde vom KGB Leningrad wegen personeller Überkapazitäten als Oberstleutnant in die Reserve entlassen. Anfangs schlug er sich als Taxifahrer durch, bis ihm sein früherer Jura-Professor an der Universität eine Assistentenstelle verschaffte. Als wir im Mai 1991 W.W. Putin trafen, war er im Bürgermeister-Amt Mädchen für alles, nach Sobtschaks Wahl zum Gouverneur von St. Petersburg wurde er einer von dessen Stellvertretern, zuständig für die Außenhandelsbeziehungen, wegen seiner Deutschkenntnisse mit Schwerpunkt Deutschland.
Erst als 1998 ein gewisser W.W. Putin FSB-Chef (Inlandsgeheimdienst, Nachfolger des KGB) wurde, tauchten sein Gesicht und sein Name in einer breiteren Öffentlichkeit auf.
Erst da wurde mir klar, wer mir damals im Smolny die Tür aufgehalten hatte.
Die weiteren Karrieresprünge des W.W. Putin in den Jahren seither sind hinlänglich bekannt. Als Sobtschak 1996 abgewählt wurde, zeigte sich schon das Menetekel an der Wand: Nicht intellektuelle Romantiker mit hochfliegenden Demokratieträumen, sondern die alten KGB-Seilschaften griffen nach der Macht. In einer politischen und medialen Hetzjagd wurde Sobtschak betrügerischer Machenschaften in der Außenwirtschaft beschuldigt und ins Exil getrieben. Zwei Jahre lehrte er an der Sorbonne, kehrte 1999 nach Petersburg zurück, wurde Putins Wahlhelfer und starb 2000 unter ungeklärten Umständen – offiziell an Herzinfarkt – bei Kaliningrad, gerade als W.W. Putin zum ersten Mal russischer Präsident wurde. Dieser hat seither Regierungs- und Kleidungsstil mehrmals gewechselt, die Vorliebe für Protzuhren ist ihm geblieben.
26.12. 2013
Veronika Seyr
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veröffentlicht in Literatur&Kritik, März 2014, Nr. 481/482
www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 18030
Viel ist nicht im Gedächtnis geblieben – nur ein unklares Bild und ein gemischtes Gefühl. Auch der Zeitpunkt ist eine Rekonstruktion.
Das Bild: Ich sitze auf den Schultern meines Vaters, winke und weine.
Weine und winke. Weiter drüben steht ein Zug mit Menschen und einer mit verhülltem Kriegsgerät. Das Gefühl bleibt undeutlich. Warum ich winke und weine, das weiß ich nicht mehr, und auch nicht, ob aus demselben Grund wie die Erwachsenen. Die Russen ziehen ab. Österreich ist frei! Ein ferner Klang. Gab es bei uns ein Festessen, ein Gebet, einen Gottesdienst?
Ich persönlich stand ja mit den Russen, den Besatzern, auf vertrautem Fuß.
Auf dem Weg zur Volksschule kamen meine ältere Schwester und ich am Gasthaus Kaindl vorbei, das von der Besatzungsmacht als Soldatenquartier requiriert worden war. Diese hatten wenig zu tun und lümmelten im Gastgarten herum, wenn die Schulkinder vorbeikamen. Sie erwarteten uns, geradezu freudig und sehnsüchtig, so hab ich es in Erinnerung. Immer hatten sie kleine Geschenke für uns bereit. Ein Bonbon, eine Rippe Schokolade, ein Weißbrot. Das kannten wir damals noch nicht. Die erste Schokolade und das erste Weißbrot meines Lebens habe ich von sowjetischen Besatzungssoldaten bekommen, so viel ist sicher. Und wir waren ärmer als sie. Das Schönste aber war, wie sich mit uns beschäftigten. Sie brachten uns Kinderlieder und Auszählreime bei. Einen erinnere ich bis heute: Meschdu nami durakami, jest odin bolshoi durak, raz, dwa, tri, eto werno ty. Unter uns Narren ist ein großer Narr, 1, 2, 3 und der bist du. Man zeigte dabei mit dem Finger reihum. Das war nie bös gemeint, immer lustig und wir konnten das ohne Ende wiederholen. Vielleicht haben die russischen Soldaten die Grundlage für meine Neugier gelegt, wie sich unsere Versmaße und Reime von den ihren unterscheiden.
Die Zahlen von 0 bis 10, guten Tag und auf Wiedersehen, bitte und danke. Sie spielten auf der Balalaika, warfen uns in die Luft und fingen uns in ihrem Kreis wieder auf, dann kamen die ersten Kasatschok-Schritte. Was für ein herrliches Leben! Wir hielten unsere Begegnungen vor den Erwachsenen geheim, denn der Kontakt mit den Russen war das strikteste von allen Verboten. Was soll’s, wir hatten unser süßes Geheimnis. Was sie uns schenkten, mussten wir sofort verschlucken oder auf dem kurzen Weg bis zur Schule aus den feuchten Handflächen auflecken. Der süßeste Schulweg!
Die Eltern wunderten sich nur, dass wir so früh zur Schule gingen.
Köpfe mit blonden Locken streicheln, vielleicht an Stelle ihrer lange nicht gesehenen oder noch ungeborenen Kinder. Aber das sind viel spätere Überlegungen.
Auch der Besatzungsarmee war Feindberührung – Kontakt mit der Bevölkerung – strengstens untersagt. Das Nachmittags-Vergnügen spielte sich in der Öffentlichkeit ab. Genau um drei Uhr rückten die Soldaten in Formation aus der Kaserne aus, zogen durch die Stadt und durch die Zandt-Allee zur Donaulände hinunter. Dabei sangen sie aus voller Kehle die herrlichsten Lieder vom Don und der Wolga, begleitet von einem Musikzug. So prächtig schmettern konnte der Kirchenchor von St. Stephan nicht. Die Kinder liefen neben ihnen her, die mutigsten Buben hatten sich aus Holzlatten oder Ästen Gewehre geschnitzt und ahmten ihren Stechschritt nach. Sie ließen sich aber nicht aus der Ruhe bringen, das Kinn hochgereckt, der Blick starr nach vorne gerichtet, sie marschierten so geordnet und kerzengerade aufrecht wie die alten Linden in der Allee standen. Ich mochte die Volkslieder lieber als die militärischen. Sie klangen näher unseren Liedern. Slavnoje morje, svjaschtschonnj Baikal – der heilige Baikal. Eij uchjnem, stöhnen die Wolga-Treidler. Die schwarzen Augen von Moskau. Mir schien damals, dass es kein schöneres Leben gibt als das eines russischen Soldaten.
Es muss ein seltsames Stimmungsgemisch gewesen sein, das mich bei ihrem Abzug bewegt hat. Das Gefühl kann ich nicht wieder heraufbringen, nur die Bilder, die sind eingebrannt, abfotografiert und unter der Schädeldecke gespeichert. Wir stehen auf dem Bahnhof in Tulln in einer gedrängten Menge. Es nieselt und es ist kalt. Die weiter entfernten Gleise mit dem eingepackten Kriegsgerät sind im Nebel kaum zu sehen. Grau-grün gefleckte Ungeheuer strecken Rohre empor. Die ganze Stadt ist gekommen. Vor mir und rund um mich dicht an dicht gepresste Menschenleiber, Köpfe und Schultern. Ich bin sicher, dass Hüte geschwenkt werden und viele Hände zum Winken in die Höhe gestreckt sind. Vielleicht spielt eine Blasmusikkapelle, singt ein Kinderchor, schwingt ein Pfarrer das Weihrauchfass und wedelt mit dem Weihwasserbesen, vielleicht lüpft der Stationsvorsteher seine Kappe, salutiert und hält die rote Scheibe hoch. Los geht’s, ab in Richtung Osten und bitte auf Nimmerwiedersehen. Kann leicht sein, dass die sowjetische Militärmusik noch das letzte Ständchen gibt.
Am oberen Rand des Bildes sehe ich einen Zug stehen. Aus den Fenstern und auf den Stufen hängen ganze Trauben von Männern, die ebenfalls winken und weinen. Sie schwenken Kappen und recken Gitarren in die Höhe. Die Münder sind weit aufgerissen, „Urra, urra-urra-aahh“, wahrscheinlich, denn hören kann ich sie nicht, es ist ein Stummfilm.
Die abziehenden Russen weinen, und die Tullner weinen, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Sie weinen gegen einander an. Oder war es doch ganz anders? Vielleicht haben die einen nur die anderen angesteckt, so wie Lachen und Gähnen ansteckend ist. Oder wissen sie schon, dass Stalin alle Heimkehrer aus dem kapitalistischen Westen sofort in Lager stecken ließ? Stalin war schon zwei Jahre tot, aber sein Nachfolger Chruschtschow war auch nicht gerade für seine Menschfreundlichkeit bekannt.
Es wird irgendwann vor dem 26. Oktober 1955 gewesen sein, an dem die ausländischen Truppen laut Staatsvertrag das Land verlassen haben mussten.
Warum die einen und die anderen weinten, sangen, Hüte und Kappen in die Luft warfen, verstand ich viele Jahre lang nicht und kümmerte mich auch nicht darum. Nur dass die Österreicher vor Glück weinten und vor Erleichterung – „Österreich ist frei!“ Was war vorher? Waren wir unfrei, gefangen, in Käfigen? Wir liefen doch frei herum? Aber jetzt ist alles gut. Das war das allgemeine Gefühl, das sogar die Kinder vermittelt bekamen. So wie die Angst nur ein Jahr später im ungarischen Herbst und wieder im August 1968 nach dem Ende des Prager Frühlings.
Blende, Zeitsprung zum Ende des 20. Jahrhunderts.
Ich lebte in Moskau und leitete das Kulturinstitut an der österreichischen Botschaft. Einmal wird mir ein Mann gemeldet. Er will privat mit mir sprechen. Meine Sekretärin führt einen alten Mann herein, Typ sowjetischer Rentner, flache Leninkappe, schlechtes Schuhwerk, schlechter Anzug, schlechte Zähne, eine abgeschabte Aktentasche, die vielleicht einmal etwas Offizielles beinhaltet hat. Ich nenne ihn Dmitrij Semjonowitsch Iwanow. Er stellte sich vor als ehemaliges Mitglied der 23. Ukrainischen Armee, Befreier Österreichs mit Stationierung in Baden, später in Tulln. Ich sinke in meinem Bürostuhl zurück und versuche schnell zu rechnen, vor wie vielen Jahren, von 1999 zurück zu 1955, das sind 44 Jahre. Bilder rasen durch den Kopf. Der Zug auf dem Bahnhof. War er einer von den jungen Russen, die uns mit Bonbons beschenkt haben, uns Liedchen vorgespielt und Auszählreime beigebracht haben? Ich frage ihn das auch. Ja, möglich. Er war in Tulln, die letzten beiden Jahre, also 1954 und 1955. Ich prüfe ihn. Wo hat er gewohnt, im Gasthof in der Wilhelmstraße? Nein, er war in der Kaserne einquartiert. Sind Sie am Nachmittag um drei durch die Stadt marschiert, die Zandt-Allee hinunter zur Donaulände und zurück in die Kaserne? Das erste Ausrücken fand um 10 Uhr am Vormittag statt, aber da waren wir ja in der Schule.
Ja, das war so.
Die Donaubrücke war eingestürzt.
Richtig, von den Nazis gesprengt bei ihrem Rückzug. Die Stadt schwer zerbombt mit vielen Opfern in der Zivilbevölkerung.
Ja, da gingen die Alliierten heftig drein, wegen der Raffinerien, Fehlabwürfe.
Sie hatten falsche Landkarten.
Alles stimmt.
Sind Sie in der Zandt-Allee marschiert und haben gesungen?
Und sind Sie dabei von Kindern begleitet worden?
Ja, auch daran kann er sich erinnern.
Sie haben uns geliebt.
Ich war eines von ihnen.
Der Stolz über sein Heldenleben ließ sein Gesicht erglühen und fast jung aussehen.
Warum waren Sie so freundlich zu uns?
Wir haben den Krieg beendet, gesiegt und euch avstrizi vom Nazi-Terror befreit. Das österreichische Volk war dankbar dafür. Vielleicht nicht alle, aber man muss bei den Kindern anfangen.
Na, das habe ich anders in Erinnerung, sage es aber nicht laut.
Plötzlich werden die Bonbons und die schmelzende Schokoladenrippe in meiner Hand bitter, die Weißbrot-Semmeln sauer, die Lieder klingen falsch, die Balalaika zerspringt – war das alles nur ideologische Umerziehung der siegreichen Besatzer? Niemand sagte bei uns Befreier, niemand war dankbar, alle hatten nur Angstangstangst, manche sicher auch Hass.
Aber der Austausch von Erinnerungen ist nicht das Ziel des Besuches. Er konnte ja nicht wissen, wer hier in der Botschaft sitzt. Er öffnet seine Aktentasche und zieht ein abgegriffenes Album hervor. Avstrija 1954-1955 steht darauf in geschnörkelter Handschrift.
Die Seiten, dick wie Pappe, werden geteilt von Spinnenpapier, eingeklebte Bildchen, schwarz-weiß, klein und vergilbt. Auf den hinteren Seiten klebten Bleistift-Zeichnungen. Ich blättere schnell durch. Währenddessen murmelt Dmitrij Semjonowitsch, fast nur für sich.
Das war eine schöne Zeit, die schönste meines Lebens. Österreich ist schön. Wir waren jung, waren Sieger, die ganze Welt stand uns offen. Stalin war der Führer aller Völker.
Was will dieser Mensch jetzt von mir? 44 Jahre später.
Er zeigt auf zwei Fotos, die einen Mann zeigen, der ein Gebäude betritt. Auf einem sieht man ihn auf einer Treppe, auf dem anderen zieht er eine große Tür auf und dreht sich dabei zum Fotografen um, ein Lachen im Gesicht.
Das bin ich, erklärt Dmitrij Semjonowitsch, auf dem Schillerplatz, vor der Akademie, im Rücken das Schiller-Denkmal. Ein Genosse hat mich begleitet und mich fotografiert. Ich wollte an der Akademie studieren, ich liebe die Kunst immer schon und bin gut im Zeichnen. Das sagten sogar meine Vorgesetzten.
Jetzt ist er seit kurzem in Pension und möchte sich seinen Jugendwunsch erfüllen, an der Wiener Akademie zu studieren. Ob ich ihm da helfen könnte. Das war sein Anliegen.
Er liebt Österreich und alle seine Künstler, Mozart und Beethoven, Haydn und Schubert, Klimt und Schiele. Ein zweites Album holt er heraus mit bunten Reproduktionen von seinen Ikonen im Klimt-Stil. Eine Akademie oder zumindest eine Abteilung soll ihn aufnehmen. Ich verschlucke mich fast an meinem Tee. Er hat dazu beigetragen, Österreich zu befreien, und Österreich könnte ihm jetzt etwas zurückgeben. Aber sicher nicht einseitig, er habe ja auch etwas zu bieten. Klimt hat Ikonen gemalt, wusste es aber selbst nicht. Und die Wiener auch nicht. Das würde er jetzt gerne zu gegenseitigem Nutzen vermitteln.
Voll Beamtin, erkläre ich ihm die Aufnahmebedingungen in die Wiener Kunstakademie und dass es da keinen Kriegs-Befreier-Bonus gibt, sondern nur künstlerische Kriterien. Die würde aber nicht ich bestimmen, sondern die Künstler und Professoren. Un-mög-lich! Nje-wos-mosch-no! Tutmirleid. otschenschalj. Ich bin am Ende meiner Nerven, gleichzeitig völlig fasziniert von dieser Zeitverschränkung, seiner Geschichte, die sich mit meiner kreuzt. Möglich, dass er einer von den Soldaten war, die unsere blonden Lockenköpfe gestreichelt, uns die Bonbons aus der Ration aufgespart hatten, das platt gedrückte Weißbrot aus der Uniformbluse, im Garten des Gasthofes Kaindl. Wenn ich mich verdammt noch einmal daran erinnern würde, wie er hieß.
Wien, 25.10.17
Veronika Seyr
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Erstveröffentlichung in Literatur und Kritik, Heft Mai 2018
www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 18028
geschrieben anlässlich von Ö1-Dimensionen im Sommer 2017
Ich bin nicht Geburtsbaujahr 67, sondern 48. Aber 1967 war in vieler Hinsicht ein Neuanfang, mein Schritt in die Neue Welt, in die Welt überhaupt. So scheint es mir. Nach der Matura begann ich an der Universität Wien Dolmetsch zu studieren, Russisch-Englisch, im Nebenfach Psychologie. Beides ungeliebt, zwei falsche Entscheidungen. Überhaupt war die ganze Uni eine bodenlose Enttäuschung, keine Uni-Versität. Nichts von der in den qualvollen Schuljahren erträumten Freiheit.
Noch ein Jahr und noch eins, dann bin ich durch und weg. Dann kann mir niemand mehr etwas anhaben. Frei. Noch mehr Zwang, und das ohne den relativen Schutz eines kleinen Provinzgymnasiums. Ein gehasstes Studium, obwohl ich Erfolge erzielte, d. h. gute Noten, die mir ein Begabten-Stipendium einbrachten. 500 Schilling pro Semester für den Notendurchschnitt von 1,2. Kein Sozial-Stipendium, dazu waren meine Eltern zu reich, obwohl sie nur kinderreich waren.
Sechs Geschwister, von denen vier vor mir studierten. Von Anfang an war ich auf der Suche nach etwas anderem. Sammelte wie ein Hamster das andere, schnüffelte an vielem herum. Als Halb-Landpomeranze mit eigenwilligen Träumen hatte ich die Illusion, mit dem Dolmetsch-Studium in die UNO an den East River zu kommen. Nebenbei ging ich auf das philosophische Institut und hörte Vorlesungen bei den Professoren Mader und Heintel jun. über Feuerbach und den jungen Marx. Meistens waren es nur Schreiduelle zwischen sattelfesten Genossen und dem Professor. Mit einem befreundeten Medizinstudenten besuchte ich seine Anatomie-Vorlesungen und Sezier-Kurse. Diese hielt ich nicht lange durch, weniger wegen der zerschnittenen Brüste, Penisse, Ohren- und Handknöchelchen, sondern weil ich Formalin- und Leichengestank nicht vertrug. Die Psychologie war überhaupt die größte Pleite. Ich dürstete nach Freud und bekam Farbenlehre und Statistik.
Da kam im Frühjahr ein Rettungsengel geflogen in Form eines Briefes von Freunden meiner Eltern aus New York. Ein Arzt-Haushalt suchte für die behinderten Kinder ein Kindermädchen, eine große Schwester. Katholisch und Englisch-Kenntnisse waren die einzigen Voraussetzungen. Meine älteste Schwester stand kurz vor ihrem Uni-Abschluss und war verlobt. Die nächste war mitten in ihrer Ausbildung, die jüngste noch in der Schule. Also blieb ich, und ich griff zu. Seit den USA-Jahren meiner älteren Geschwister wollte ich auch dorthin, in dieses Wunderland. Dem Brief waren zwei grüne Scheine beigelegt, 200 Dollar für die Passage. Eine ungeheuerlich große Summe, ein Dollar war damals 26 Schilling wert. Ich lief durch Wien und suchte in den Reisebüros nach den günstigsten Angeboten. Meinen Traum von einer Schiffsreise, mit einem Dampfer über den Atlantik, musste ich mir schnell abschminken, stellte sich als unfinanzierbar heraus. Es sollte eine Eisenbahnfahrt nach Luxemburg werden, von dort mit der Billig-Fluglinie Loftleidir nach Island – sogar eine zwei Tage-Island-Rundreise ging sich noch aus – und weiter nach New York. Das machte zusammen genau 200 Dollar aus. Für das US-Visum musste ich einen Pocken-Impfnachweis vorlegen. Es stellte sich heraus, dass ich als Kind zwar gegen Pocken geimpft wurde, die Immunisierung aber nicht angeschlagen hatte.
Also nachholen. Am Tropeninstitut in Wien wiegte man bedenklich die Köpfe. Schwierig, gefährlich mit neunzehn. Sie verlangten die Unterschrift meiner Eltern, man war ja damals in diesem Alter noch nicht volljährig. Dort wieder viel Kopfschütteln, aber ich gab nicht auf. Vor der Impfung musste ich meterlange Papiere unterschreiben, die aufzählten, welche schrecklichen Krankheiten bis zur Todesfolge ich bekommen könnte, ohne dass die Ärzte verantwortlich wären. Ich beschwor die Bilder von der Freiheitsstatue, der Skyline von Manhattan, der kalifornischen Küste und des Grand Canyon. Und Alaska, ich weiß nicht warum. An diesen Gipfeln klammerte ich mich besonders fest und an die Inseln der Beringstraße, die Treppenstufen nach Russland.
Ich hielt durch. Die Impfung in vier Portionen, das Pockenserum, in den linken Oberarm, und in den linken Oberschenkel das Gegengift, alles sehr schmerzhaft. Nach der Bezahlung und der Aushändigung des begehrten Impfpasses fuhr in mit der Franz-Josefs-Bahn nach Hause. Damals noch eine Stunde. Mehrmals verlor ich fast das Bewusstsein und rutschte von der Bank. Vom Bahnhof Tulln bis zu unserem Haus konnte ich nur noch auf allen Vieren kriechen, die ganze linke Seite hatte keine Kraft mehr. Man brachte mich ins Bett und verarztete mich mit Tee und Eierspeise. Tagelang hatte ich hohes Fieber und konnte mich über die Stufen aus dem oberen Stockwerk zum Bad nur ringelnatternartig fortbewegen. Die vier Einritzungen am Oberarm schwollen an und sahen aus wie die Beulenpest – eitrige, schwellende Dippeln in Gelb-Grün-Schwarz – und im Oberschenkel schien ein Stein zu liegen. Das Gegenserum hatte sich im Körper nicht aufgelöst.
Zu meinem Unglück war es noch dazu Anfang Juni 1967 – der Sechs-Tage-Krieg war ausgebrochen, Luft- und Wüstenkämpfe zwischen Israel, Ägypten und drei anderen arabischen Ländern. Die Welt stand in Flammen. Meine Eltern sagten kategorisch nein. Du wirst nicht reisen! Ausgeschlossen! Ein bisschen Übung hatte ich schon; im Frühjahr des Vorjahres gab es eine ähnliche Situation, als ich mit einer Gruppe von Freunden nach Prag reisen wollte.
In ihrer Kommunisten- und Kriegsfurcht fanden sie das für zu gefährlich.
Da kommt ihr nie wieder und landet in einem sibirischen Lager.
Wir fuhren und erlebten die frühen Anfänge des Prager Frühlings. Offenbar konnte ich sie jetzt überzeugen, dass dieser Krieg in der entgegengesetzten Richtung lag. Aber ich vermute, dass sie sich ihren New Yorker Freunden so verbunden fühlten, dass sie sie nicht enttäuschen wollten, keine ihrer Töchter zu schicken. Die Lähmung im linken Bein ließ ein wenig nach und ich konnte aufstehen und gehen. Dafür blühten die vier Pocken-Einritzungen im Oberarm immer mehr auf. Das war nicht lustig. Aber ich hatte diesen Traum von Amerika, die Macht der inneren Bilder. Die Beulen konnte ich irgendwie verheimlichen, sodass ich an einem der letzten Juni-Tage leibhaftig im Nachtzug nach Luxemburg saß.
Was heißt sitzen, ich lag in einer Viererkoje, hatte hohes Fieber und mir war ununterbrochen schlecht. Echt krank. Verschwommene Erinnerungen an den Bahnhof Köln, umsteigen im Morgengrauen und durch das Moseltal nach Luxemburg. Die angeblich so lieblichen Flusswindungen verstärkten nur meine Übelkeit. Im Grand Parc du Luxembourg hing ich den ganzen Tag auf Bänken herum, hundeelend und halbohnmächtig, den Koffer immer fest im Griff. Ich wartete auf den Abflug meiner Maschine nach Reykjavik spät am Abend. Dass es da und dort Warteräume mit Gepäckaufbewahrung gab, kam mir nicht in den Sinn, noch völlig ungeübt im Reisen. Meine weitesten Reisen bis dahin waren nach München gegangen, mit Zwischenstation in Salzburg, im Süden Grado und im Westen Innsbruck. Das war mein erfahrener Weltradius damals.
Im Flugzeug – meine erste Flugreise natürlich – saß ich neben einem Amerikaner. Wir kamen ins Gespräch. Sehr charmant. Sehr fesch. Michael aus Florida, stellte er sich vor, Kampfpilot im Korea-Krieg und auch jetzt noch bei der Army, derzeit in Florida stationiert. Der Korea-Krieg fing 1950 an, also musste er mindestens 37, 38 sein, rechnete ich schnell nach, für mich mit 19 alt, uralt, fesch und charmant zwar, aber auch im gesündesten Zustand unvorstellbar. Aber ich war ja ohnedies die ganze Zeit hinüber.
Im Flughafen-Hotel von Keflavik das gleiche Elend. Ein Zimmer im siebenten Stock, so hoch war ich noch nie gewesen, außer auf Bergen. Schwindel, Fieber und Erbrechen. Beim „Swedish Table- Seven Rounds- all inclusive“ – so stand es auf dem Voucher – traf ich Michael wieder. Er war schon fröhlich beschwingt bei seiner vierten Runde. Ich schaffte nicht einmal eine von den unzähligen Vorspeisen, die endlos großen Platten verschwammen vor meinen Augen, dass mir schwindlig wurde und alles zu kreisen begann. Die Schalen, Schüsseln und Tassen mit Saucen schienen mir um die Ohren zu fliegen, so dass sich der Magen wieder umdrehte. Ich stürzte zurück auf mein Zimmer. Wie habe ich es gefunden? Vielleicht hat mich auch jemand vom Personal begleitet.
Wie er hereinkam, weiß ich nicht mehr. Als er mich auf dem Bett aus meinem hellblauen Kostümchen zu schälen versuchte, leistete ich Widerstand. Meine katholische Erziehung wirkte nachhaltig, ich war kein lustiger Teenager, sondern ein ernstes Mädchen mit hochfliegenden Plänen.
Von den Ausflügen zu den Geysiren, Wasserfällen, Gletschern und Vulkanen ist kaum etwas in Erinnerung geblieben. Einzig der Blick von einer Steilklippe aus, die vulkanische Geburt einer neuen Insel, davon habe ich eindrückliche Bilder und Empfindungen. Wie das Ausatmen eines riesigen, unterseeischen Tieres spie das Meer schwarze Gesteinsbrocken in die Luft, da pfauchte, rauschte, toste, polterte, spritzte es und stieß Fontänen aus, und das in so gleichmäßigen Intervallen, als wäre das Schauspiel von einem verlässlichen Kraftwerk nach der Uhr gestellt. Ich erinnere mich noch an die streng schwefelhaltige Luft und an das kochende, weiß-schäumende Meerwasser.
Es war der 4. Juli 1967, als ich in New York ankam und von meiner neuen Familie empfangen wurde. Die Stadt irre heiß und schwül, humid, ein feuchter Backofen, keine Luft zum Atmen, ein steinharter Fetzen legte sich einem auf die Brust. Eigentlich wollten mich die Wagners direkt zu den Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag führen, ich musste aber eingestehen, dass es mir gar nicht gut ging, sorry, really sick. Zum Erbrechen gab es nichts mehr in meinem Körper, so schaffte ich es, in ihrem Cadillac versunken, einigermaßen manierlich den Hudson-River aufwärts, durch New Jersey über den Palisades Parkway, nach New City bei White Planes, Upstate N.Y., wo die Wagners lebten. Ich bekam kaum etwas davon mit.
Ein verwischter Film vor den Autofenstern bis zu 189 Little Tor Road North. Was mussten sie denken, welch krankes Vögelchen sie sich eingehandelt hatten. Mr. Wagner war Chirurg, Krebsspezialist und Vice-President der Medical Society of Surgeons von New York, ein großes Tier. Mein Oberarm mit den schwarz-bläulich-gelben Blasen wurde behandelt, immer wieder abgetupft, beträufelt und bandagiert. Ich hatte in diesem Ärztehaushalt die höchste Pflegestufe, denn ich kochte gerade wirklich die Cholera aus. So lag ich dämmernd im rundum rosa Mädchenzimmer der ältesten Tochter Kathleen, genannt Kit. Ich war keine Hilfe, kein Kindermädchen für die zwei Kleinen und der kranken Mrs Wagner keine Unterhaltung, nur ein Häufchen Elend aus Good Old Europe. Um Gottes Willen, es musste ihnen geschienen haben, als sei ich gerade noch aus der Quarantänestation von Ellis Island entkommen.
Richard-Dick war sieben und retarded, also zurückgeblieben, die vierjährige Amy mit multiple palsy, halbgelähmt, durch einen Gehirnschaden bei der Geburt. Zwei Kinder waren gestorben, nur die achtzehnjährige Kit war gesund und studierte in Boston. Ich war nicht angestellt wie die beiden Hausmädchen, sondern als Haustochter aufgenommen, und für Mrs Wagner ein kleiner Trost für die Abwesenheit ihrer Tochter.
Sie verziehen mir alles. Diese grenzenlose Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft, Geduld und Aufnahmebereitschaft der Familie Wagner/Finkernaegel, sie schlug mir in jedem Moment entgegen. Mr Wagner hatte deutsche Vorfahren, seine Frau Vera niederländische. Der Michael aus dem Flugzeug war beharrlich, er kam immer wieder vorbei und warb um mich. Er meinte es ernst, wollte mich heiraten, ernstlich, nach Florida entführen und mindestens drei Kinder bekommen. Er hatte einen guten Job in der Armee, könnte mich und die Familie leicht ernähren und uns ein angenehmes Leben bieten. Einzig, wir würden vielleicht öfters übersiedeln müssen, in alle Welt, wohin die Army ihn eben schickte.
Als ich endlich die fatale Wiener Pockenabwehr überwunden hatte, normal aufstehen, gehen und essen konnte, wollte mich meine Gastfamilie endlich nach New York City ausführen. Aber inzwischen waren in New Jersey die schlimmsten Rassenunruhen ausgebrochen. Tagelang auf den TV-Schirmen nichts anderes als Straßenschlachten in Newark und Jersey City, brennende Häuser, Schlägereien, Plünderungen und Polizeiexzesse. Auch in Detroit und Chicago. Diese Bilder waren immer und überall präsent, liefen Tag und Nacht samt Wiederholungen von dem brutalen Polizeieinsatz am „Bloody Sunday“ im März 1965 gegen den Menschenrechtsmarsch von Selma nach Alabama. Gouverneur George Wallace ließ die friedlichen Marschierer von der lokalen Polizei brutal verprügeln und mit Wasser und Tränengas auseinandertreiben.
Man konnte auf der Autobahn, dem Palisades Parkway, nicht von New City und White Planes nach New York kommen. Der Garden State New Jersey stand in Flammen. Newark war weiträumig gesperrt. Wir saßen den Rest des Juli in New City fest. So hielt diese Seite des realen Amerika bei mir Einzug.
Das Haus der Wagners hatte damals neun TV-Geräte, vom Living Room über die Schlaf- und Kinderzimmer bis in die Garagen, die Werkstatt des Hausherrn und in die Zimmer der zwei norwegisch-schwedischen Hausmädchen. Man schien sie zu kaufen wie andere Haushalte ihre Klopapierrollen. Bei uns zu Hause war gerade nach heftigen Grundsatzdiskussionen das erste Leihgerät hereingekommen und dem Vater vorbehalten, damit er für mehrere Zeitungen seine TV-Kritiken und sonstige Artikel schreiben konnte.
Irgendwann beruhigte sich die Lage in New Jersey wieder, bzw. war im TV zu sehen, wie die Aufstände von der Polizei niedergeknüppelt und im Tränengas aufgelöst wurden. Zwischen den abklingenden Fieberträumen meinte ich auf einem anderen Planeten zu leben.
Meine Gastfamilie brachte mich tatsächlich nach New York City, wo wir auf der 49th Street die beste Freundin der Wagners trafen. Mrs Friedman, die bald meine beste Freundin wurde, Louise eine Emigrantin aus London, wie mir die Wagners erklärten, eine Künstlerin, die erste emanzipierte Frau meines Lebens. Eine Außerirdische. Auf Wunsch von Kit wurde beschlossen, mich auf dem Broadway in ein Movie auszuführen, und sie wählten einen für mich passenden Film, „Sound of Music“ mit Julie Andrews in der Hauptrolle als Baronin Maria August von Trapp. Kit konnte die Songs und Dialoge auswendig, sie sang und sprach mit. Edelweiss, Edelweiss, every morning you greet me, ….. Sie hatte den Film schon fünfmal gesehen, weinte noch immer über die Schnulze und strahlte mich glücklich an. How lovely, Austria is so beautiful! You are lucky.
Ich fiel beinah von einer Ohnmacht in die andere, wie wild die Schauplätze, die Landschaften zusammengeschnitten waren. Julie Andrews lief aus dem Stadtschlösschen in Salzburg raus auf eine Wiese und schmetterte im nächsten Bild hoch über der Burg von Werfen ihren nächsten Song, gleich danach saß sie am Rande des Krimmler Wasserfalles und hütete die angeheiratete Kinderschar, die im nächsten Bild entlang des Wolfgangsees wandernd ihre Liedchen trällerte. Ich kannte das Salzkammergut seit Kindestagen sehr gut, hatte aber vom Filmschnitt keine Ahnung. Ich fühlte mich herumgeschleudert wie in einer Hochschaubahn, schwindlig, blöd im Kopf und schlecht im Magen.
Als nächsten Programmpunkt hatten meine Gastgeber den Besuch in einem Wienerwald-Restaurant vorgesehen, wo sie mir Schnitzel mit mashed potatoes, Bratensauce, Ketchup und Mayo vorsetzten. Oh Wunder – mein erstes Coca Cola. Weder meine Augen noch meine Gedärme vertrugen das. Ich erinnere mich an mein Staunen über den Palast der Toiletten im Untergeschoß, in das mich Kit begleitete. Ich musste passen und freute mich auf den Apfelstrudel. Aber was kam da auf den Tisch? Ein Riesenteller, auf dem der angebliche Apfelstrudel unter einem Berg von Vanilla Ice Cream und einer Haube Schlagobers nicht zu sehen war, geschweige denn zu schmecken. Erst bei einem Spaziergang über den Times Square zum George Washington Platz in den Central Park kam ich wieder einigermaßen zu mir und schaffte die Rückfahrt, ohne auffällig zu werden.
Trotz des schlechten Einstands wurde ich schnell zu einer New-York-Liebhaberin, besuchte oft Mrs Friedman, bald für mich Louise, die mich mit ihrem alten Volkswagen herumkutschierte. Sie führte mich zu allen berühmten Orten, in die Museen, auf die Märkte und zeigte mir die no go areas. Viel mehr als Manhattan hat man mir nicht erlaubt. Als ich das öffentliche Verkehrsnetz der nicht verbotenen Viertel intus hatte und einige Male mit dem yellow cab gut und richtig angekommen war, erlaubte man mir, allein den Schnellbus von White Planes nach N.Y. zu nehmen.
Michael aus Florida kam mich mehrmals besuchen. Er ließ nicht locker, ich sei die erste Frau, die er wirklich heiraten wollte. Die Wagners – stramme Katholiken – waren wunderbare Gastgeber und empfingen ihn freundlich, brachten es aber zustande, uns nie allein zu lassen. Bei den Ausflügen nach New York war die zarte Louise, dicht zwischen uns, unser watchdog.
Irgendwann im Herbst hat Michael sein Interesse an mir verloren und schickte mir eine Einladung zu seiner Hochzeit mit einer ihm gleichaltrigen Kubanerin Maria in Orlando. Ich wäre gerne nach Florida gefahren, aber Vera ging es immer schlechter, sie verlor den letzten Schatten ihres Augenlichts, konnte kaum mehr aufstehen und brauchte einmal pro Woche eine Dialyse. Zur ständigen Betreuung kam eine irische Krankenschwester ganz ins Haus. Moira.
In kultureller Hinsicht wurde ich nicht nur mit Sound of Music beschenkt, sondern ich lernte erstmals die Beatles kennen, gerade als sie sich als Band auflösten, die Rolling Stones, Bob Dylan, Bob Marley und andere Musiker, die bald danach in Woodstock berühmt werden sollten und viele Produkte aus Hollywood, die bisher an mir vorbeigegangen waren.
Bei jedem Besuch in New York City führte mich Louise in ein Museum, ins Kino oder eine Broadway-Revue, meistens war es Radio City Music Hall, hier hörte ich auch das erste Konzert, in dem Leonard Bernstein dirigierte und den Kindern klassische Musik erklärte. Unerhört bei uns, dass ein Dirigent sprach, noch dazu zu unruhigen Kindern. Mit der Überheblichkeit der Jugend staunte ich über Louises Begeisterung für die Moderne: Sie ging bei Keith Haring, Andy Warhol und Yoko Ono ein und aus und besuchte schwarze Untergrundtheater und gay shows. Davon sprachen wir aber vor den Wagners nichts. Obwohl wir uns einmal fast verplapperten bei der Besprechung des Skandals, den der Anschlag der Fundamental-Feministin Valerie Solana auf Andy Warhol verursacht hat. Er schloss dann seine Factory, die bis dahin jedem Kunstinteressierten offengestanden war. Viel später erst erfuhr ich, dass sie ehrenamtlich an verschiedenen sozialen Einrichtungen Kunst- und Literaturunterricht gab.
An den East River, in die UNO, kam ich erstmals nicht als Dolmetsch, sondern als Touristin. Als ich einmal auf der Besuchergalerie der Eröffnung der Sitzungsperiode beiwohnen durfte, wurde mir klar, dass ich als Dolmetsch nie das erleben würde, was mich an der UNO interessierte. Lyndon B. Johnson war US-Präsident, den ich so sehr hasste, weil er meinen geliebten Jugendhelden John F. Kennedy beerbt hatte, als hätte er ihn umgebracht.
In der Kultur des amerikanischen Alltags unterrichtete mich Kit. Wortlos, ohne Vorwurf oder Erklärung stellte sie mir ein Set mit Rasierapparaten und Pedikürinstrumenten für Frauen ins Badezimmer, einen Schminkkoffer, Batterien von Sprays, Dosen mit Körperpuder und eine Riesenpackung mit Tampons hin, alles Novitäten für mich, die erzogen war in dem Glauben, dass die Natur Schönheit schafft und Schönheit aus Natur besteht. Die Botschaft habe ich verstanden, ich war für sie ein niedliches, nützliches, aber unappetitliches und unkultiviertes Stinktier. Ich stieß einmal eine volle Puderdose um, what a mess, dieser allerfeinste Staub ließ sich nie wieder ganz beseitigen.
Im August fuhren wir zu sechst im Cadillac für zwei Wochen durch den ganzen Upstate nach Kanada, in Montreal hatte die Expo aufgemacht. Ich kann mich an wenig erinnern; die Kinder strebten nach den Disneyland-Attraktionen, ich konnte mich kaum vom israelischen Pavillon, dem L‘Habitat, losreißen. Da bekam ich die erste Ahnung von moderner Architektur. Die meisten meiner damals geschossenen Fotos zeigen verwackelte Aufnahmen vom Habitat. Erst später erklärte mir Louisa die Zusammenhänge: wie gut sich die israelischen Architekten in die Wohnanlagen der amerikanischen Ureinwohner einfühlten und damit etwas weltweit Neues und Sensationelles schufen. Damals wollte ich Architektin werden, noch nie hat mich ein Bauwerk so beeindruckt. Aber mein Einblick in die Welt war damals noch sehr schmal.
Ansonsten sind mir nur das Luxus-Hotel im Palais Royal und die Schifffahrt auf dem St. Laurent River in Erinnerung, groß und endlos wie ein Meer. Das Highlight für die Kinder kam dann in Cooperstown, einem künstlich aufgebauten Städtchen mit Figuren und Szenen aus dem Buch von James Fenimore Cooper „Der letzte Mohikaner“, der Klassiker der amerikanischen Jugendliteratur, der aus der Nachbarstadt Burlington stammte. Eine ganze Stadt als Themenpark – das gab es damals noch nicht in Europa.
Ein Disneyland für die Ausrottung der Indianer, deren Ungeheuerlichkeit mir damals nicht bewusst war und worüber mir erst Louis die Augen öffnen musste. Es war natürlich Kitsch pur, aber sehr gut gemachter Kitsch. Zu half term spendierten mir die Wagners eine Reise nach Boston zu Kits College. Im Oktober durften wir gemeinsam per Bahn nach Washington DC fahren. Als Kit zu Thanksgiving nach Hause kam, lud mich Louise zu einer Autofahrt durch Massachusetts, Connecticut und Vermont ein, auch noch ein Stückchen von der Maine-Küste nahmen wir mit, mein Wunsch, wegen Moby Dick. Ich war damals noch so romantisch und naiv, dass ich immer die Originalschauplätze sehen wollte, als könnte man damit mehr über die Literatur erfahren, sie intensiver erleben. Louises Hauptaugenmerk lag nicht so sehr auf den wunderbaren Landschaften in den Feuerfarben des Indian Summer, sondern auf den Writer‘s Homes, von Melville, Thoreau, Hawthorne, Poe, Irving und vielen anderen Schriftstellern, die von der Ostküste kamen oder dort lebten. Da erst erfuhr ich, dass sie vom Unterricht an einem privaten, jüdischen Mädchen-College ihren Lebensunterhalt bestritt. Unterwegs, auf den langen Autofahrten, rezitierte sie Gedichte von Walt Whitman und short stories von Dorothy Parker oder deren berühmte Bonmots.
Ich unterhielt sie mit Dostojewski, Kafka und den eigenen Familiengeschichten. In Nantucket machten wir im Motel „Pequod“ Halt. Wir teilten ein Zimmer mit Bad. Da sah ich an ihrem linken Unterarm eine eintätowierte Nummer. Sie zog den Bademantel sofort herunter, aber ich hatte sie gesehen, es gab kein Ausweichen mehr. Sie war nicht immer Louise Friedman gewesen, sondern ursprünglich Honza Kvetova aus Prag. Sie war mit Künstlern befreundet, von denen ich meistens nicht einmal die Namen kannte: Dorothy Parker, Carson McCulllers, Auden, Isherwood, Britten, Dali. Kurz nach ihrer Emigration hatte sie sogar eine Zeitlang in der Künstlerkolonie February House in Brooklyn Heights gelebt. Parker war drei Wochen vor meiner Ankunft gestorben, McCullers erst vor wenigen Tagen, Louise war bei ihrem Begräbnis. Sie ist nicht ganz unschuldig daran, dass ich amerikanische Literatur studierte.
Wer hat je als Au-Pair-Mädchen eine solche Großzügigkeit erlebt? So ein Glück, ins Luxus- Nest zu fallen. Die Wagners, die Finkernaegels und Louise hatten den perfekten Weg gefunden, mich zu einer glühenden, patriotischen Amerikanerin zu machen.
Sobald ich mich in meiner Gastfamilie und der Communitiy als nützlich und bei den Kindern als beliebt erwies, war es nicht schwer durchzusetzen, dass ich einen Tag in der Woche frei bekam, um an der Columbia ein Gaststudium zu absolvieren, A Survey of American Literature. Natürlich auf Louises Rat hin.
Die lokale Highschool lud mich wie viele andere Ausländer an ihrem International Day ein, über meine Heimat zu sprechen und sie vorzustellen. Ich ließ mir schnell mein letztes Dirndl (schöner als das von Julie Andrews, alias Maria-Augusta Trapp) schicken und führte den Donauwalzer vor, meine Tanzpartnerin war eine Japanerin im Kimono. Woraufhin, weiß ich nicht mehr, jedenfalls bot man mir an, in der letzten Klasse einen Kurs über „European History“ zu halten. Als gäb‘s so etwas. Zwei Dinge beeindruckten mich, waren etwas vollkommen Neues für mich: Die Schüler bekamen vom Lehrer keine langweiligen Frontalvorträge geboten, sondern nur ein Grundgerüst an Fakten und als Aufgabe Fragestellungen, die sie mit einem selbständigen Essay beantworten mussten. Sie hatten den Kurs – class – lange vorher ausgewählt und sich eigenständig mit Materialien aus der reich bestückten Schulbibliothek vorbereitet. „Inverted Classroom“ nannte man das. Die class mit zwölf students wurde noch in drei Kleingruppen unterteilt, die die Quellen gemeinsam bearbeiteten.
Das Studium ging also der Wissensaufnahme voraus. Wie viele Generationen von Schülern und Studenten würden bei uns noch durch Frontalunterricht beschädigt werden? Wie wir bei unserer kleinen, alten Geschichtsprofessorin, die die ganze Stunde die Tafel mit Namen und Jahreszahlen vollschrieb oder aus einem Buch vorlas, was wir mitschreiben und auswendig lernen mussten. So endete unser Geschichtsunterricht mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Stimmt nicht ganz, sie betrauerte noch den Tod von Kaiser Franz Joseph im November 17.
Am liebsten wäre ich in die Schule eingetreten, um diese Bibliothek benützen und einen solchen „Anti-Unterricht“ genießen zu dürfen. Auf der anderen Seite setzte mich in Erstaunen, dass ich mit meinem Matura-Wissen recht gut durch die Unterrichtsstunden kam. Das erste Semester war dem „European Enlightenment“ gewidmet. Wow! Ich brachte die Schüler, die schon ab sechzehn an der Highschool respektvoll students genannt wurden, zum Lachen mit meinem Haupthelden Kant, den sie natürlich als can‘t verstanden. Der sollte Erleuchtung bringen?
Die Finkernaegel- Großeltern waren nicht orthodox, besuchten aber jeden Sabbat eine Synagoge in Newark, nach New York die größte jüdische Gemeinde. Mr Finkernaegel hatte in der Versicherungsbranche ein Vermögen gemacht und stiftete einen Lehrstuhl in Tel Aviv. Ich fuhr mit den Wagners am Sonntag in die katholische Kirche von New City, dann gab es zu Hause Lunch, Barbecue oder Dinner. Das war ein heiliges Ritual, der Familienzusammenhalt das Wichtigste im Leben.
Für mich war klar, dass ich von hier nie wieder weggehen wollte. Ich war im Himmel angekommen, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten! Ich liebte Amerika. Österreich, Familie, Studium waren hinter dem Horizont von Long Island verschwunden, für immer, wie ich hoffte. Großes Wort Heimat, ein Ort, an dem ich angekommen bin, den ich mir erwerben und aneignen konnte.
In der Spezial-Vorschule der kleinen Amy ließ ich mich in der Betreuung von Behinderten anlernen, sodass ich sie auch zu Hause nicht nur betreuen, sondern auch fördern konnte. In kurzer Zeit war sie ihre Windeln los, der kriechende Wurm richtete sich auf und wurde gezielter in den Bewegungen. Und Wunder, sie sprach die ersten verständlichen Worte aus. Richard-Dick, dessen retardedness die verliebten Eltern nicht wahrhaben wollten, hatte mit seinen sieben Jahren schon fünfmal Kindergärten und Vorschulen gewechselt. Schließlich schlug ich vor, ihn zu Hause zu unterrichten, was voll einschlug.
Die Kinder kannten nichts anderes als ihre kranke Mutter, eine Serie von wechselnden, fremdsprachigen Hausmädchen und einen fernen Vater, der Tag für Tag im Krankenhaus acht- bis zehnstündige Operationen vollbrachte. Nebenbei führte er noch eine soziale Gemeinschaftspraxis für Unversicherte.
Mrs Vera Wagner-Finkernaegel war erst vierzig, litt aber seit Kindestagen an Diabetes und war, als ich ankam, wegen der langjährigen Insulingaben schon fast erblindet. Jeden Tag kam eine nurse für Spritzen, Körperpflege und Gymnastik. Sie konnte nur noch hell und dunkel unterscheiden, so stand ich auch ihr zur Seite. Sie mochte es, wenn ich ihr ihre Lieblingsromane vorlas, Madame Bovary und Gone with the Wind, sie nannte mich Schatzken oder ma cher Veronique in vielen Variationen. Weil von den Amerikanern niemand Vroni aussprechen konnte, machte sie mich zuerst zu Roni, dann wurde ich in Veronica umgetauft, was ich annahm und bis heute blieb.
Für den Haushalt waren zwei Mädchen aus Norwegen und Schweden zuständig, Selma und Solveig, beide etwas älter als ich und fast ohne Englisch-Kenntnisse. Aber sehr hübsch und tüchtig. Es wurde vieles ausgelagert. Selma und Solveig mussten mehr organisieren und koordinieren als selbst putzen und kochen. Für die Teppiche kam ein Service, ebenso wie für die Vorhänge, Kleidung, Daunen und Bettmatratzen, ein Team extra für den Swimmingpool und eine Firma für die Abfälle. Auch das Essen brachte oft ein Service. Zwei Gärtner hielten das weitläufige Grundstück in Ordnung, englischer Gartenstil, ein Mechaniker für den Autopark, an Samstagen kamen zwei, weil Mr Wagner gern bastelte und mit ihnen fachsimpelte. Sie werkelten in dem weiter hinten im Garten liegenden barn, einer ausgebauten Scheune, ein Männerkinderspielplatz. Als Maskottchen hielt sich Bob ein Motorrad, eine alte Triumph, mit der er in voller Montur über sein Grundstück kurvte. Das war seine Entspannung von dem anstrengenden Job in der City. Automechaniker sind die wahren Chirurgen, war sein Leibspruch. Ich sah Vera am Fenster ihres Zimmers stehen und Tränen lachen aus den trüben Augen.
Bob ist mit seinem Bike noch nie auf einer Straße gefahren.
Veras Maskottchen dagegen war eine German-Dackel-Dame, das viel geliebte Gretchen-Grätschn, Libling genannt. Ich hatte damals noch keinerlei Hundeerfahrung und war anfangs angewidert von dem, was sie dieser rostbraunen Walze auf vier kurzen Beinchen alles erlaubte. Sie lag mit ihr im Bett, aß mit ihr vom selben Teller, Vera fütterte sie und schmuste mit ihr, dann schlief Libling-Grätchen bei ihr auf der angekleckerten Seidendaunendecke ein und schnarchte dabei wie die betrunkene Witwe Bolte. Aber dieses Tier war offenbar klug und einfühlsam und erfüllte auf seine Weise Veras Bedürfnisse, viel besser als wir Menschen. Sie hielt sich immer nahe an ihren Füßen, stupste sie mit der Nase an den Knöcheln an und lenkte sie so auf allen Wegen durch das Haus. Ein Blindenhund auf Knöchelhöhe. Perfect!
Die Gasteltern überreichten mir gleich nach meiner Ankunft die Autoschlüssel zu Kits Buick und eine Broschüre von zwanzig kleinen Seiten für die Prüfung zur driver‘s licence. Die amerikanischen Teenager machten mit sechzehn den Führerschein.
Ich zog es aber vor, zu Fuß zu gehen. So schob ich fröhlich Amys Kinderwagen eine Meile zu ihrer Schule die Straße entlang. Ich redete auf sie ein, sang ihr Liedchen vor, zeigte ihr die schwarz-weiß gestreiften Stinktiere, skunks, die roten Eichkatzerl, squirrels, und die Vögel, Elstern, magpie, unterwegs. Im Indian Summer waren die Bäume besonders schön. Ihre Namen musste ich selbst erlernen, maple tree, wir memorierten sie gemeinsam und sammelten bunte Blätter und Früchte. Ein Fußgänger – noch dazu eine Frau mit Kinderwagen – war auf einer amerikanischen Landstraße so ungewöhnlich und auffällig wie ein Außerirdischer, dass alle Autofahrer anhielten und fragten, ob etwas passiert sei und ob sie uns helfen könnten. Einen Abschnitt mochte ich besonders, wenn die Bäume den Blick auf den Hudson River freigaben, wo die ausrangierten Schiffe der Navy geparkt waren. Ich war begeistert von der Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft der Amerikaner, konnte mir aber nach den TV-Bildern aus Newark vorstellen, dass es nicht überall so zuging.
Menschenfreundlichkeit ist eine Klassenfrage und abhängig vom Konto und vom Wohnort. Muss man sich leisten können, das war eine der ersten Lektionen im godblessed country.
Selma und Solveig schupften mit Leichtigkeit das riesengroße Haus, die elf Zimmer auf drei Ebenen. Sie erlernten von Vera die amerikanische Küche, bei deren Lektionen ich als Übersetzerin diente. Mäßig erfolgreich. Wir haben hier bei uns die Vereinten Nationen im Kleinen, scherzte sie, die verstehen sich ja auch nicht immer. Die Skandinavierinnen brachten mir für immer bei – jeg elskedek – I love you – ich liebe dich. Sorry, Selma und Solveig, hab‘s noch nie angewendet.
Einmal meinte die französisch angehauchte Vera, es sollte Crêpes zur Nachspeise geben. Ich verstand Krebs, dachte zuerst an cancer – sprach sie vom Job ihres Mannes, dem Krebsspezialisten? – wunderte ich mich kurz, holte aber doch die tiefgefrorenen Hummer aus dem Kühlschrank und warf sie ins kochende Wasser. Dann, fein angerichtet mit Zitrone, Dille, Mayonnaise und Senfsauce nach skandinavischer Art. Die überaus hübsche Selma – sie hatte sogar eine Uniform dafür – war fürs Auftragen zuständig, die weniger hübsche Solveig hantierte in der Küche. Vera rümpfte sofort die Nase ob des unerwarteten Geruchs, aber sie schmierte mit ihren tastenden Händen doch jam und maple sirup darauf. Was für eine Blamage. Robert-Bob Wagner löste alles mit seinem Lachen auf. Wir sind eben die vereinten Nationen. Niemand wurde beschuldigt, niemand bestraft. Aber ich sah, wie Vera litt. So schwer ist interkulturelles Übersetzen. Mein Englisch klang britisch, wie ich es von meinem Professor Wollman im Gymnasium gelernt hatte. Die Wagners liebten alles Europäische und stellten mich immer als our little Brittaine vor, weil ich einen britischen Akzent hatte, den sie cute, sweet und lovely fanden, und ich bisquits anstatt coockies sagte und cinema anstatt movies.
Damals wollte ich keine UNO-Dolmetscherin mehr werden, sondern nur eine perfekte Köchin und die Sprache lernen – american as an apple pie. Zuerst wurde ich aber nur dick. Nicht nur, weil ich neugierig genug war, alles ausprobieren zu wollen. Vor allem aber, weil ich nicht mitansehen konnte, wieviel weggeworfen wurde. Ein kaum angebissenes Sandwich mit butter, peanutbutter und jelly, die kaum angeknabberten Doughnuts und cookies der Kinder, die nicht abgenagten, fingerdicken T-Bone-Steaks, die weggelegten burgers, halbe Hendln, die nicht ausgetrunkenen orange juices und milkshakes. Ich war der erste Müllschlucker, bevor alles in den Gully wanderte. Eine große Pein für ein europäisches Nachkriegskind mit der Erziehung, dass Lebensmittel Gottesgaben und daher heilig sind. Brot wegzuwerfen war eine Sünde. Meine Großmutter machte auf die Rückseite der Brotlaibe mit dem Messer ein Kreuz und küsste es und schlug ein Kreuz um sich. Eine heilige Handlung. Ich kam mit diesem Überfluss nicht zurecht. Die Vorstellung, dass diese Menschen nie Mangel gekannt hatten, verwirrte mich. Nie Bohnenkaffee oder Butter oder Fleisch eingeteilt hatten. Zuerst ging ich auf wie ein Germgugelhupf, aber auch wieder ein wie eine böhmische Leinwand. Am Ende war ich vier Zentimeter gewachsen und meine blonde Mähne um zehn Zentimeter länger. Alles auf Polaroid-Fotos festgehalten.
Einmal wollte ich ein großes Dinner des Dr. Wagner mit einem Wiener Apfelstrudel – applesrudl – krönen. Ich bat meine Mutter um ihr Rezept und besorgte mir im lokalen Supermarkt die Ingredienzien. Glattes Mehl für den Teig, kein Problem, aber Brösel und Rosinen konnte ich lange nicht finden, Staubzucker gab es nicht, ich zerrieb Kristallzucker im Mörser zu etwas Grieseligem. Okay, das krieg ich hin und legte los. Äpfel gab es zur Genüge. Dr. Wagners Partner besaß eine Apfelfarm in Pomona County. Das Backblech reichlich mit Butter eingeschmiert, die Apfelscheiben in Butter leicht angeschmort, die Brösel mit Butter gebräunt, Rosinen und Zimt dazu. Alles war bereit, schien perfekt, perfect, das Lieblingswort der Amerikaner bei jeder Gelegenheit, auch wenn etwas nicht perfekt war.
Zwei ganze Backbleche brachte ich aus dem Ofen hervor, semmelblond und himmlisch duftend, ganz so wie zu Hause. Ich stellte sie zum Auskühlen auf den kitchen portch. Da hörte ich ein Rappeln, Scharren und Schnauben. Dann krachte etwas Metallisches zu Boden. Ich stürzte durch die Gittertür und sah gerade noch einen flüchtenden Kojoten im Wald verschwinden. Das Anwesen der Wagners lag exquisit weit abseits von stinkigen Highways und Industrievierteln zwischen dichten Ahornbäumen, wie dort üblich, ohne Zäune. Ich verfluchte den Kojoten und holte das zerstörte Backblech in die Küche zurück. So ein Glück, ein ganzer Strudelstrang war heil geblieben, und ich schnitt ein Stück davon ab. Kaum dass es meine Zunge und meinen Gaumen berührte, spuckte ich es über der Abwasch aus und kotzte gleich dazu. Der verdammte Kojote, goddamm.
So etwas Grauenhaftes hatten meine Geschmacksknospen noch nie berührt. Selma und Solveig klopften mir tröstend die Schultern und reichten mir ein Glas Wasser. What‘s happened? Baby, all okay? Ich war vernichtet. Das war kein Apfelstrudel, die Ausgeburt der Hölle.
Langsam richte ich mich auf und spüle den Mund. Sie streichen mir übers Haar und umarmen mich. So stehen wir kurz da, sie in ihren idiotischen rosa Kleidchen mit weißen Rüschenschürzchen, die naturblonden Haare mit den Käppchen hochgesteckt. Da hören wir alle drei gleichzeitig vom back door portch lautes Gerappel, Schmatzen und Gekicher. Ein Tisch fällt um, dann Stühle, burglers, Einbrecher! Ich reiße die Gittertür auf und sehe zwei Skunks sich am zweiten Backblech gütlich tun. Unverschämte Tiere, sie lassen sich kaum vertreiben.
Die Wagners und ihre Gäste erheiterten sich freundlich über meinen Kampf mit den amerikanischen Ureinwohnern. Die waren immer schon da, wir sind nur dazugekommen. Sie verlangten jeder eine geborgene Schnitte auf ihren Teller.
Alles Kollegen und Wissenschaftler aus der Medical Society of New York. Ein Laryngologe, glaube ich mich zu erinnern, stellte das letzte Urteil fest. Salz. Es ist das Salz! Die Provinzlerin aus Tulln, der Neuankömmling, hatte noch nicht mitgekriegt, dass die Amerikaner nur gesalzene Butter kennen.
Apfelstrudel mit Salzbutter, das geht aber auch wirklich gar nicht, nirgendwo und zu keiner Zeit. Der humorvolle Laryngologe drehte den peinlichen Zwischenfall noch ins Mythologische: Ich hätte dem Symboltier der amerikanischen Ureinwohner, dem Kojoten, ein Opfer dargebracht, das Land würde mir wohlgesonnen sein.
Jeder Tag dieses Lebens war voll ausgefüllt, jeder Tag brachte Neues und Aufregendes, ich meinte, im Paradies zu sein und war dankbar bis zum Umfallen. Wem? Dem Schicksal, das mich hierher gebracht hat, der Familie Wagner für die Chancen, die sie mir boten, und mir selbst, weil ich sie beim Schopf gepackt und gegen viele Hindernisse nicht losgelassen hatte. An einen mildtätigen Gott glaubte ich damals nicht mehr. Ich schrieb viele, lange Briefe an meine Familie und schilderte mein paradiesisches Leben.
Warum ich trotz allem im Frühjahr nach Wien zurückkehrte?
Vera wurde zu Weihnachten in ein New Yorker Spital eingeliefert und an eine Blutwaschmaschine angeschlossen, die die Funktion einer Niere übernehmen sollte. Aber ihr Zustand verbesserte sich nicht. Sie fiel ins Koma und starb im Februar. Es war der erste Tod eines nahen Menschen für mich.
Die Familie befand sich in Schockstarre, und ich kümmerte mich noch mehr um die beiden Kleinen. Die Ausflüge nach New York auf die Uni und zu Louise entfielen, ich übernahm nun ganz allein die Mutterfunktionen. Ich glaube, ich konnte die Kinder ein bisschen ablenken und den Schmerz lindern.
Aber es kam, wie es kommen musste – Dr. Wagner, der mich von Anfang an mit viel Sympathie und Güte behandelt hatte – machte mir einen Heiratsantrag. Wie praktisch. Er meinte, mir ein recht bequemes Leben bieten zu können, vielleicht könnte ich ja nebenbei ein bisschen studieren, wenn die Kinder größer waren. Da war‘s für mich vorbei, mich packte die Panik, in dieser Familie picken zu bleiben. Aus der Traum vom Studium, von Karriere, von der UNO, von Reisen um die Welt. Es war beängstigend. So großzügig und freundlich er war, sah er in meinen Augen zum Fürchten hässlich aus und war 43 Jahre alt. Ich hatte doch schon mit dem jüngeren, feschen Michael nichts anfangen können. Nach einer gewissen Anstandszeit nahm ich die Koffer und flog nach Hause, ja, ich floh geradezu.
Es mag für die Wagners undankbar ausgesehen haben, treulos und brutal. Genauso fühlte ich mich auch, ein Scheusal. Aber ich musste meinem eigenen Leben den Vorrang geben. Ich wollte mich nicht opfern. Es hätte nicht das Plakat auf dem riesigen billboard über der George Washington Bridge gebraucht, das mich immer bei der Einfahrt von New Jersey nach Manhattan begrüßte: “Life ist too short to be living somebody else‘s dream“, lachte da Hugh M. Hefner herunter, umgeben von einer Schar blonder bunnies, und zwinkerte mir zu. Das war genau mein Lebensgefühl. Louise stand an meiner Seite und bestärkte mich. You‘ll come back, baby, don‘t worry, you‘ll make your way.
Als mich im Sommer danach Kit mit ihren Finkernaegel-Großeltern auf einer Europa-Reise in Wien besuchte, war Dr. Wagner schon mit der irischen Krankenschwester verheiratet. Er hängte seinen Karriere-Job in NYC an den Nagel und ließ sich als praktischer Arzt irgendwo in einer Landidylle von Pennsylvania nieder. Moira arbeitete in seiner Praxis mit, und sie bekamen drei gesunde Kinder. Dann noch einige Jahre Weihnachtskarten mit Fotos. Da passte alles zusammen. Perfect! Und ich fiel in Wien geradewegs in den heißen Sommer von 1968 hinein. Als der 20. August kam, war ich mit Freunden auf der Moldau paddeln. Im Widerstand gegen die Invasion des Warschauer Paktes schloss ich mich dem Wiener Tagebuch an – einer Gründung von KPÖ-Dissidenten. Das war meine erste bewusste politische Aktion.
Juni – September 17
Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 18025
Im September 1998 organisierte die Universität St. Petersburg ein Seminar zur Frage, ob es ein weibliches Schreiben gäbe. Dazu hatte ich acht Gäste aus Österreich eingeladen und nahm aus Eigeninteresse auch selbst daran teil.
Am letzten Tag lud die Uni zur Stadtbesichtigung ein; die österreichische Schriftstellerin E.S. wollte aber lieber die Sommerdatscha der russischen Dichterin Anna Achmatowa besuchen, ihres großen Vorbilds. Die Wohnorte und Gedenkstätten in der Stadt hatte sie schon selbständig abgeklappert, aber nach Komarowo brauchte sie Begleitung. So mietete ich ein Taxi und fuhr mit ihr nach Nordwesten an den Finnischen Meerbusen. Über Komarowo hatte E.S. in der Biografie gelesen, wie schön es dort sei, und auch dem Grabmal der russischen Poetessa wollte sie einen Besuch abstatten.
Wir saßen im Fond des Wolga und unterhielten uns über A.A., ihre Kunst und ihr tragisches Leben. Zwanzig Jahre lang hat Stalin sie terrorisiert, zwei Ehemänner ermordet, den Sohn in den Gulag geschickt, ihre alten Bücher verboten, ihr jede Publikationsmöglichkeit genommen, sie ständig mit dem Tod bedroht und sie öffentlich als „Nonne und Heilige“ diffamiert.
Lange schon war es E.S.s Traum gewesen, auf ihren Spuren zu wandeln und ihr die Ehre zu erweisen. Sie war eine wahre Pilgerin und gesteht offen ein, dass sie bei A.A. schwärmerisch werde wie ein Teenager. Auch Marina Zwetajewa schloss sie in ihren Olymp ein, aber die würde sie erst in Moskau mit einem Besuch beehren.
Der Fahrer, ein Mann etwa in unserem Alter, lenkte den alten Wolga umsichtig und langsam, die vielen Schlaglöcher auf der Landstraße umfuhr er geradezu liebevoll. E.S. wollte ein bisschen Volkes Stimme hören, also übersetzte ich ihre Fragen an ihn.
Ob er Komarowo, die Datscha und das Grab von A.A. kenne?
Ja, mit der Schule seien sie einmal rausgefahren, aber sein Star sei sie nicht.
Sie sei ein bisschen überkandidelt, überhaupt habe er es nicht so mit der Poesie.
Und gesprochen hat sie wie ein sterbendes Pferd, so wie Schaljapin gesungen hat, und er schüttelte sich dabei so, dass das Lenkrad ins Schwanken kam.
Es gibt eine alte Radioaufnahme, auf der sie so klingt, dass ich Ivan nicht widersprechen kann.
Das Letztere übersetze ich für E.S. nicht, diese Beschreibung der hässlich und dick gewordenen Göttin könnte die zartbesaitete Schwärmerin vielleicht aufregen. Wenn Gäste unzufrieden waren, fiel das immer auf mich persönlich zurück. Sie brachten alle ihre Koffer voll mit eigenen Russland-Bildern, Russland-Sehnsüchten und Russland-Abneigungen mit. Und die wollten sie bestätigt haben.
Da klappte der Fahrer das Sonnenschild herunter, zog ein abgegriffenes Ledermäppchen hervor und reichte es nach hinten. In den Fächern hatte er Bildchen gesammelt – es waren die Beatles. Wo andere die Fotos ihrer Kinder, Frauen oder Enkel mit sich tragen, hatte er die Pilzköpfe immer mit dabei. Er sei ein Fan der ersten Stunde. Er träume davon, einmal nach Liverpool zu fahren und alle Orte der Beatles aufzusuchen erzählt er. Seit seiner Jugend schwärmte er für die vier, zu Hause habe er mehrere große Ordner voll mit Artikeln über die Stars. Auch alte Kassetten habe er noch, die man in der Sowjetunion unzählige Male überspielt hatte, weil es ja keine Platten gab. Auch im Radio durften die westliche, imperialistische, dekadente Musik nicht gespielt werden. Es war das größte Glück, jemanden zu kennen, der ein Mitbringsel aus dem Ausland ergattern konnte oder gar einen Ausländer kannte. Aber sogar viele russische Stars wie Wladimir Wyssotzki und Bulat Okudschawa bekamen nur im Westen Platten, die wir Ausländer dann mit Glück ins Land schmuggelten. Gut in Erinnerung ist mir die Platte von Okudschawa „Gebet des Dichters Francois Villon“ die ich an meine russischen Freunde zum Kopieren verlieh: Ich erhielt sie zurück, aber mit flachen Rillen, so oft hatten sie sie abgespielt. Bei meiner ersten Reise in die SU im Jänner 1971 hatte ich ein paar Beatles-Platten dabei, die mir zusammen mit dem Leonard Cohen beim Zoll in Brest-Litowsk abgenommen wurden. Nur den Chopin mit Nocturnes und Impromptus hat man mir gnädig gelassen.
Ivan hielt am Rande des Föhrenwaldes, in dem sich die Datschen-Siedlung befand.
Stalin, der sich für den besten und obersten Kunstkenner hielt, als Herr über Ideologie und Geschmack, über Sozrealismus und Formalismus, über Leben und Tod, zeichnete überlebende Dichter, Musiker und Wissenschaftler mit einem Lenin- und Stalin-Orden aus, dazu bekamen manche noch eine Dienstdatscha.
E.S. und ich suchten zwischen den kleinen, locker verstreut im Wäldchen stehenden Holzhäuschen nach der Nummer 39, die angeblich von A.A. bewohnt worden sein soll. Zuerst fanden wir sie nicht, dafür aber die Nummer 27, die von Schostakowitsch. E.S. ließ natürlich nicht locker, so nah am Ziel wollte sie sie zumindest berühren oder durchs Fenster ins Innere lugen. Und dann doch – was für eine Freude und gleichzeitig der Schock, wie bescheiden, ja primitiv so eine Stalin‘sche Dienstdatscha für die besten Köpfe der Sowjetunion ausgefallen war. In unseren Gärten würden sie wahrscheinlich für Schuppen für Gartengeräte oder Holzlager gehalten werden. Aber E.S. war glücklich, fotografierte einen Film aus, ließ sich von mir in allerhand Posen ablichten – mit einem Gedichtband von A.A. in der Hand. Eine Zeitlang setzte sie sich auf das dreistufige Treppchen, das zur Eingangstüre führte und blätterte in den Gedichten. Das Haus war verschlossen und hatte außer der Nummerntafel keine Hinweise auf seine frühere Bewohnerin.
Ich machte solche Pilgerfahrten immer bereitwillig mit, nicht nur weil sie zu den einfachsten und angenehmsten Pflichten meiner Kulturaustauschtätigkeiten gehörten. Den Kulturgästen aus Österreich ihre Pläsierchen zu erfüllen, machte mir wirklich Spaß. Ob es das Grab des Boris Godunow war, der Ort des Duells zwischen Puschkin und seinem belgischen Widersacher, die Panzersperren gegen die Wehrmacht am westlichen Stadtrand von Moskau, die Datscha von Boris Pasternak in Peredelkino oder die Hauskirche Lew Tolstoj, in der ich immer gerne meine eigene Entdeckung präsentierte, die Ikone mit der Madonna mit den sechs Fingern. Die sechsfingrige Liebe zum Jesuskind.
Auch spürte ich nach so vielen Jahren einen gewissen Besitzerstolz, mit dem ich die Fremden führte und sie für „mein“ Russland begeistern konnte. Ein Gast meinte einmal, zutiefst beeindruckt nach dem Besuch von Sergijew Posad: Du solltest keinen österreichischen, sondern einen russischen Orden bekommen. Ja, den Stanislav. Das verstand er aber wiederum nicht. Der polnische Lumpenorden, nachdem sich Russland wieder einmal Polen unter den Nagel gerissen hatte, das Kongresspolen.
E.S. war im siebenten Himmel, als ich sie zum Grab der A.A. auf dem kleinen, parkähnlichen Friedhof führte: eine weiße Steinstele mit ihrem eingemeißelten Halbrelief, das schöne, schmale Tatarengesicht ihrer Jugend. Ansonsten nur ihre Lebensdaten in Goldbuchstaben.
Die Grabstelle war nicht eingezäunt wie sonst meistens bei den Orthodoxen, sondern nur eine Erdfläche mit Efeu und Farnen. E.S. legte ihren Nelkenstrauß darauf. Die rechte Seite der Stele wurde umrankt von einem üppigen Rosenstock, der in diesem frühen September noch volle, rote Blüten hatte. Die schon schräg stehende Sonne warf aus dem Westen noch einen rosa Hauch über das Ganze, sodass das zarte Marmorgesicht lebendig zu werden schien. E.S.‘s Entzücken kannte keine Grenzen, sie hatte ihren Sehnsuchtsort erreicht. Ich bemühte mich, sie von meinem inneren Schmunzeln nichts merken zu lassen, hatte ich mich doch einstmals genauso verhalten, nur halt schon in sehr viel jüngeren Jahren. Diesmal schoss ich zwei Filme mit ihr und dem Grab aus.
Da ertönte in der Ferne eine Autohupe. Unser Ivan wurde ungeduldig, er wollte zurückfahren.
Schwer trennte sich die Pilgerin von ihrer angebeteten Dichter-Gottheit. Wir kehrten zum Auto zurück und drehten noch eine Runde durch das unbedeutende Dorf Komarowo, wo allerdings die Datschen der Neureichen wie die Pilze nach dem Regen sprossen.
Nur der Blick vom Strand über den Finnischen Meerbusen hinaus aufs Meer konnte einem den Atem rauben, der Grund, warum die Menschen hierher kamen. Komarowo heißt nicht nur Gelsendorf; diese in dichten Wolken auftretenden Tiere konnten einem im Sommer das Leben zur Hölle machen. Ich schätze diese nördliche Landschaft mehr, wenn sie fest und sicher versiegelt ist von mehreren Metern Schnee. E.S. ließ sich auf dem querliegenden Stamm einer Föhre nieder und versenkte sich in den Blick, den auch A.A. von hier auf die Ostsee gehabt haben muss. Danach bat sie mich, aus ihrer zweisprachigen Ausgabe ein Gedicht auf Russisch vorzulesen, sie will hören, wie das hier klingt, zu diesem Meeresrauschen und in diesem Wind. Sentimentalität ist nicht eingrenzbar, die ist wie eine DNA. Aber mich freut‘s, wieder der Besitzerstolz, wenn ich meinen Gästen etwas von der Größe und Großartigkeit Russlands näherbringen kann.
Eine Freundin, die mich einmal im Juni in Moskau besuchte, in der allergrößten, windstillen, grässlichen, feuchten Hitze, konnte es drei Wochen lang nicht glauben, dass es in Russland etwas anderes gab als Eis und Schnee. Die Bilder, die Bilder im Kopf.
Ivan hat geduldig am Auto gewartet, jetzt freut er sich, dass wir die A.A.-Andacht beenden und bereit zur Rückfahrt sind.
Ob die Leningradskoje Chaussee schon auf der Hinfahrt das gleiche Bild geboten hat und ich es beim Plaudern und Übersetzen einfach nicht gesehen habe, ich weiß es nicht.
Russland war erst Mitte August einem Bankenkrach, einem schwarzen Freitag, nur knapp entgangen. Im freien Fall gebremst nur durch einen deutschen Riesenkredit. Aber die Folgen waren noch lange nicht vorbei – es herrschte extreme Bargeldknappheit in jedem Bereich, am schlimmsten traf es die Fabriken, die die Löhne nicht auszahlen konnten, weil sie von der Zentralbank kein Geld bekamen. So wurden die Arbeiter in Naturalien ausbezahlt, in diesem Falle musste es die Produktionsstätten von Klopapier und Plastik aus der Umgebung getroffen haben. So entfaltet sich entlang der Leningradskoje ein fantastisches Bild: Kilometer um Kilometer haben sich die mit Klopapier oder Plastikgegenständen ausgezahlten Werktätigen am Straßenrand aufgebaut, fein säuberlich zu Kegelbergen aufgeschichtete weißen Rollen die einen, Haufen von buntem Plastikgeschirr, Eimern und Schläuchen die anderen.
Solche weißen Pyramiden, die habe ich schon einmal gesehen, in den Salzseen der Camargue in Südfrankreich, die quietschbunten Plastikprodukte glichen eher einem überdimensionierten Kinderladen. Meterhoch aufgestapelte Eimer, Schüssel und Wannen, im Gras kringeln sich bunte Schlagen von Schläuchen, Kabeln und Planen. Ein Kunstwerk, diese Pyramiden, stoße ich hervor. Vielleicht der ursprüngliche Sinn von Papyrus. Daran kann ich mich begeistern, diese sicht- und greifbare Absurdität, mit der sich das System vorführt, die schreiende Lächerlichkeit, die unbeabsichtigte Bloßstellung, der Irrwitz auf die Spitze getrieben, wenn alle Marktteilnehmer nur ein oder zwei Produkte miteinander austauschen und Produzenten, Verkäufer und Käufer ein und dieselbe Person sind. Wie kann man da Profit machen, was überhaupt austauschen? Es gibt Straßenabschnitte, wo ausschließlich Klopapier angeboten wird. Es reicht sicher für viele Menschenleben. Diese wie in einer Versuchsanordnung aufgebaute Endvision des Kapitalismus. Mein Gast dagegen kann dem nicht das Schräge, Verquere, Fantastische abgewinnen, das ich sehe. Sie kann nicht mitlachen und hat auch keine Lust, als Kunde aufzutreten. Eine sentimentale Trutschn, ein Nockerl, sage ich zu mir innerlich.
Ich denke an meine neu erworbene Datscha und will zwei Eimer, eine große Wanne, ein Nudelsieb, zwei Kochlöffel und einen Gartenschlauch kaufen. Die Verkäufer prügeln sich fast um mich und untereinander, dass ich auch bei anderen etwas kaufen soll. Leider, geht nicht, an Klopapier habe ich selbst großen Vorrat. Aber okay, lasse ich mich von den streitenden Anbietern breitschlagen, als Souvenir, als Erinnerung und Zeugen, weil die Erzählung von diesem Bild wird mir niemand glauben. Meinen Plastikeinkauf teile ich also auf sieben und die vier Klopapierrollen auf zwei Verkäufer auf.
Als Russland-Neuling acht Jahre nach der Wende kann E.S. nicht wissen, welch knappes Luxusgut Klopapierrollen in der Sowjetunion waren. Die alten Russland-Reisenden waren über Jahrzehnte gebeten worden, solche aus dem Westen mitzubringen. So heiß begehrt wie Schallplatten, Bic-Kugelschreiber und -Feuerzeuge, Nylon-Strumpfhosen, Burda-Schnitthefte und BHs von Palmers. Oft wurden einem das begehrte Papier und die Bics an der Grenze in Brest-Litowsk abgenommen – aus Hygiene- und Sicherheitsgründen, wie es hieß, oft auch die Burda-Hefte, wenn am Zoll eine Frau Dienst tat oder ein Zöllner eine Frau hatte, die die Schnitte nachschneiderte.
Einmal bin ich dahintergekommen, dass ein Freund von der Uni mit meinen eingeschmuggelten Klopapierrollen und Bics einen Handel begonnen hat. Nach der Wende traf ich ihn wieder, schon ein bekannter Name, er war Banker und Millionär, groß geworden mit gefakten Elektrogeräten aus Polen. An öffentlichen Orten wie etwa den Toiletten im Bolshoi bekam man von der Klofrau zwei dünne Blättchen überreicht, die man mit ihrer Durchsichtigkeit nicht benutzen wollte. Auf ihrem Tischchen waren sie in Stapeln stückweise so fein gelagert wie Goldbarren. Wie oft habe ich als Gastgeschenk zu einer Privateinladung nicht nur ein Viertel Meinl-Kaffee, sondern auch ein paar Klopapierrollen mitgebracht. In keinem Haushalt gab es auf den Toiletten etwas anderes als in kleine Vierecke geschnittene Pravdas oder Izvestias, an der Wand auf einen Nagel gespießt. Die Finger waren oft schwarzgefärbt, wenn man dieses Papier benutzte, wie es hinten aussah, wollte man nicht wissen. Wer richtiges Toilettenpapier besaß, nahm in der Kommunalka die Rolle mit aufs WC und versteckte sie nach der Erledigung wieder in seinem Zimmer. Die Kriege um geklautes Klopapier sind sowjetische Legende und bei Radio Jerewan die Witze über das rare Kulturgut Legion. Sie flogen in den Kosmos, aber konnten den ersten Arbeiter- und Bauernstaat nicht mit genügend Toilettenpapier versorgen.
Und nun dieses Bild auf der Leningradskoje. Das war mein Highlight. Ich jubilierte. Ich war einfach nur happy. Das war mein Blick, mein Beweis für die vollzogene Wende, und welcher! Wahrscheinlich zweifelte die poetische E.S. an meinem Geisteszustand, dass ich mich an diesem Irrwitz derart berauschen konnte. Ich versuchte ihr das zu erklären, aber manches muss man einfach miterlebt haben, vor allem die abgrundtiefe Absurdität des Lebens im Kommunismus. Aber so kamen wir an diesem Nachmittag beide zu unserem Genuss und Ivan zu einem fetten Fuhrlohn – in den Sparstrumpf für die Reise nach Liverpool.
13.7. 17
Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 17185
Gehe an der Höhle vorbei,
Tür geht auf,
ein Schwall an Gerüchen,
Ich blicke in die 80er,
Alkohol küsst hunderte Zigaretten,
Darts und Glücksspiel,
Die Luft atmen sie,Ein alter Mann,
Haut eingefallen,
starrt in die heiße Sonne
Florian Pfeffer
www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 18003
Kalender sind frei,
Hektik liegt begraben,
Ein Timer zählt abwärts,
zählt transparent durch meinen Körper,
Die Stoppuhr hält an,
Finger greifen nach ihr,
Wollen sie stellen,
Beachte sie kaum,
Staub an den Zeigern
Florian Pfeffer
www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 17178
Malota – Stern’s Nachfolger seit 1906
Die Straße ist die älteste Verbindungslinie aus der Stadt hinaus in den Süden. Und zwar immer schon. Zumindest seit den Römern. Ihre Verlängerung, die Triester Straße, führt auf direktestem Weg ans Meer, eben nach Triest und Venedig, einstmals österreichisch. Sie hat derzeit 3 Kirchen, 4 Apotheken, 9 Hotels und Pensionen, 4 Tiefgaragen, 3 Spar-Märkte, einen Drums-Bioladen, 8 Drogerie-Märkte, 3 Eissalons, 3 Änderungsschneidereien, 2 Schuhmacher, 7 Friseurläden, 2 Nagelstudios, einen Libro, 5 Blumenhandlungen und 3 Tankstellen, nicht gezählt sind die Geschäfte, Arztpraxen und Cafes.
Das Wortner ist als einziges Kaffeehaus übriggeblieben.
Ein echtes, altes Wiener Beisl kann man hier nicht mehr finden; einige aufgehübschte Kopien, wie die Wiener Wirtschaft, die Steirer Stuben oder Rudis Beisl versuchen etwas vom alten Flair zu retten, aber Asien ist eindeutig im Vormarsch. Kürzlich öffneten gleichzeitig und nebeneinander eine Konditorei für Allergiker und ein Restaurant für Veganer. Gut besucht, also, wir liegen im Trend.
Das alles ist noch nichts Besonderes, aber meine Straße hat ein Alleinstellungsmerkmal: Sie ist gesäumt von der längsten Lindenallee der Stadt. Und die wird man nicht so leicht ausrotten können, hoffe ich, auch wenn die Autofahrer tagtäglich daran arbeiten. Die Kastanien im Prater mögen berühmter sein und prächtiger blühen, sich spektakulär rote, weiße und rosa Kerzen aufsetzen, aber leider, Leute, sie riechen nicht! Sie sind nur ein Augenwunder und daher doch ein bisserl was von falsch. Drei Wochen von Ende Mai an – je nach Wetter – leben die Wiedner an ihrer Hauptstraße in einer süßen, betörenden Duftwolke, die sich in dieser viel zu kurzen Zeit sogar gegen den Autoverkehrsdampf durchsetzt. Sogar zu mir in den Hof dringt sie herein und füllt die Zimmer. Das macht ihnen keine Hauptstraße nach, außer vielleicht die in Drösing im Weinviertel. Aber das ist etwas anderes. Das Dorf ist so klein, dass man sogar die Rosen in den Gärten riechen kann.
Wegen der Nähe zum Ring haben sich in der Wiedner Vorstadt besonders viele Künstler niedergelassen, derer auf vielen Tafeln mit Goldbuchstaben gedacht wird. Das Gluck-Haus, das von Dvorak und Sibelius und vieler anderer weniger Bekannten. Vergessenen, Enteigneten, Arisierten, Ermordeten. Tina Walzer und Stefan Templ führen in ihrem Buch „Unser Wien – Arisierung auf Österreichisch“ viele Adressen dieser Verbrechen in Wieden auf. Die Familien Grünbaum, Steiner, Spitzer, Rieger, Heger, Künstler, Ärzte, Architekten, alle Kunstsammler und Förderer. Soweit ich weiß, wurde nicht ein einziges Haus, keine einzige Kunstsammlung restituiert. Die größte von Fritz und Lilly Grünbaum, 800 Werke, unter ihnen 150 Schiele-Bilder, sind im Leopold-Museum als Staatsbesitz jetzt unser aller Besitz. Fritz wurde in Dachau ermordet, Lilly, eine Nichte von Theodor Herzl, in Maly Trostinec zusammen mit ihrer Freundin Karoline Klauber, die sie ein Jahr lang in Wien versteckt hatte.
Die Wiehau hat vieles, aber keine einzige Buchhandlung mehr. Vor fünf Jahren schloss der Reichmann und wurde zu einer Apotheke. Gut, kann man sagen, Medikamente und medizinische Hilfe braucht jeder. Die Apotheke ist jetzt einer von den vielen modernen, gesichtslosen Gesundheitstempeln, wo einem die Pharmakonzerne das Geld aus der Tasche ziehen. Die Reichmann’sche Buchhandlung zählte wahrscheinlich zu den schönsten der Welt. Sie war groß und dunkel wie Hoggart’s Castle, die Bücher standen nicht auf Regalbrettern, sondern in sechs Meter hohen Holzschränken, wahrscheinlich aus Eiche, über die Jahrzehnte bis ins Schwarze gedunkelt. Die Bücherreihen wirkten nicht einfach aufgestellt und eingereiht, sondern wie ein Schatz, geborgen in ihren Gehäusen. Die reichen geschnitzten und gedrechselten Verzierungen an den Vorderseiten zeugten von der Ehrfurcht und der Liebe zu den Büchern als Pretiosen.
Herr Reichmann und seine Angestellten erklommen auf Holzleitern schwindelnde Höhen, um ein Buch zu suchen, oder sie verschwanden in unermesslichen Hinterräumen, sie wussten es immer genau und zielsicher zu finden. Hatten sie alle diese Bücher gelesen und dann in den Schränken unvergesslich verstaut? Sie wussten auch immer über alles Bescheid, Neuigkeiten und Wiederentdeckungen, Raritäten und Sensationen, gute Tipps und anregende Gespräche. Allein schon deshalb musste man diesen Ort und seine Bewohner lieben. Nicht nur der letzte Herr Reichmann, sondern auch seine jungen Adepten sahen aus, als würden sie dort wohnen und im Dämmerlicht ihren Büchern entsteigen: gräulich und blass im Gesicht. Das kann aber eine Sinnestäuschung gewesen sein, denn das helle Tageslicht drang nie in diese Räume. In den letzten Tagen vor der Schließung erzählte mir Herr Reichmann, dass die Schränke gerettet wurden, verkauft an einen Schlossbesitzer. Zumindest wurden sie nicht vernichtet, vielleicht zieren sie schon irgendwo ein Ritterrestaurant.
Zwei Häuser weiter, wo 108 Jahre die Stern’sche Buchhandlung & Nachfolger zu Hause war, hat vor Kurzem ein „Hannibal“ aufgemacht. Hannibal, fragen Sie, wer ist das? Der mit den Elefanten über die Alpen? Ich wusste es auch nicht, bis mir als einer Anrainerin ein Eröffnungsgutschein ins Haus flatterte, zehn Euro Rabatt, wenn ich fünfzig Euro ausgebe. Eine Kette für Interior-Design. Anstatt Bücher nun also Kerzen, Servietten, Kissen und Teetassen. Der Besucherandrang ist so groß, dass es fast kein Durchkommen gibt. Diese Menschenmassen hätte ich dem letzten Pächter der Buchhandlung, Herrn Martin Greiner, gewünscht. Er musste sich dem Druck von Thalia, Amazon, Kindle und Konsorten beugen.
Seit fast 44 Jahren wohne ich in diesem Bezirk, auf der Wieden, und der Malota gehörte zum Leben so selbstverständlich dazu wie die gegenüberliegende Paulaner Kirche mit ihren weithin hallenden Glocken oder der Habig – Hof auf Nummer 15-17. Den berühmten Herrenausstatter darin gibt es schon lange nicht mehr. Er bleibt verewigt in der ersten Szene des Romans „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth, wo der alte Trotta seinen Sohn, den frisch gebackenen Leutnant, standesgemäß einkleiden lässt. In diesem Milieu ging man selbstverständlich zum Habig auf der Wieden, wie schon der Vater und der Großvater, der Held von Solferino. Das ehemalige Geschäftslokal, eine reich ausgestattete tempelartige Säulenhalle mit Goldstuck an der Decke und Wandmalereien bis zum Marmorboden, ist zum Glück erhalten geblieben, leidet aber an ständig wechselnden Benutzern, derzeit eine Computer-Firma. Der Vorteil, sie hat die historischen Fenster ausgetauscht gegen eine große, transparente Glasfront. Architektonisch ein Verbrechen, aber die Passanten bekommen erstmals Einblicke in die Tiefen des Habig-Hofes. Ein paar Häuser weiter das ehemalige Paulaner-Kloster mit drei Höfen an der Ecke Floragasse, es ist schon lange ein Wohnhaus, so wie ich gleich nebenan im ehemaligen Ursulinenkloster wohne.
Ich habe mich in vier Jahrzehnten bemüht, ALLE Bücher beim Malota oder beim Reichmann zu kaufen, dort zu bestellen, wenn etwas nicht lagernd war, auch wenn es die Bücher in der Innenstadt sicher gegeben hätte, nie zu einer Großkette zu gehen und absolut NIE zu einem Internet-Riesen, ich schwöre das unter Eid! Trotzdem konnte ich die beiden Buchhandlungen nicht retten. Jedes Mal, wenn ich mich vor dem Hannibal durch die Menschentrauben am Gehsteig kämpfe, überlege ich, ob ich daran schuld bin, dass es keine Buchhandlung auf der Wiehau mehr gibt. Was ist daran so schlimm? Die Fleischhauer in Wieden sind schon viel früher ausgestorben.
Ich habe mein Gewissen erforscht und festgestellt: Es wäre über meine Möglichkeiten gegangen, allein den Malota zu retten, so viele Bücher hätte ich nicht kaufen können, ich hätte die ganze Buchhandlung kaufen müssen. Mein letzter Versuch, etwas gegen das Büchersterben zu tun, bestand darin, meinen literarischen Salon aus meinem Wohnzimmer in das Hinterzimmer der Buchhandlung zu verlegen. Vier Autorenlesungen habe ich veranstaltet, die letzte am 9. April 2014 mit meinem eigenen Buch. Ich brachte bis zu dreißig Besucher in die Buchhandlung, die gerne einem lebenden Schriftsteller zuhörten, mit ihm diskutierten und einen Blick in seine Werkstatt warfen. Auch das von mir nachher servierte Buffet war recht beliebt, und der Chef musste uns regelmäßig vor die Tür jagen. Der Malota war ein eher unauffälliges Lokal, nüchterne, etwas angestaubte Eleganz, es barg aber ein paar Geheimnisse. Wenn man den Verkaufsraum mit einfachen Bücherregalen und Schautischen durchquerte, öffnete sich nach einem engen Korridor ein großer Saal, ausgestattet mit Mobiliar, das sich in jedem englischen Herrenclub gut ausgemacht hätte. Ausladende Fauteuils, heimelige Stehlampen, Beistelltischchen für Pfeifen und Whiskeyglas, in der Mitte ein großer, massiver Tisch mit antiquarischen Prachtausgaben und Kunstbänden. Besser einladen zum Bleiben und Schmökern kann man nicht, das hat der letzte Geschäftsführer Martin Greiner gut erkannt.
Da ich offenbar bei ihm nicht schlecht angeschrieben war, öffnete er mir in einem hinteren Winkel ein Türchen und führte mich in den Keller, das Bücherlager. Über eine enge Wendeltreppe gelangte man in ein Labyrinth von Gängen und Räumen, die Säle hatten Tonnengewölbe aus Ziegel, die aussahen, als hätten sich hier die Wiedner schon zur Zeit der Türkenbelagerung zurückgezogen. Kann aber nicht sein, denn das Haus war nachweislich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbaut worden, wusste der Kunsthistoriker Greiner. Schade, denn die Vorstellung, dass sich die Wiener hier an den Büchern vergnügt hätten, während draußen die Armeen von Jan Sobieski und des Großwesirs Kara Mustafa Pascha aufeinanderprallten, ist allzu verführerisch. Verteidiger der Stadt war Graf Ernst Rüdiger von Starhemberg, der nicht weit von dort seinen Gassennamen hat.
Der „goldene Apfel“, wie die Osmanen Wien nannten, war zum Greifen nahe, bis die Wiener Unterstützung aus Polen, Venedig und dem Kirchenstaat bekamen. Als die Belagerten nach zwei Monaten am 21. September 1683 aus ihren Kellern wieder nach oben kamen, hatte das osmanische Heer schon Reißaus genommen und wurde von Sobieskis Truppen bis nach Belgrad verfolgt. Und alles hatten die Wiedner mit Hilfe der Bücher gut überstanden. Der Historiker hat einen nüchterneren Blick und zeigt mir die Ziegel im Tonnengewölbe, die eindeutig die Jahreszahl 1898 und den Doppeladler der Wienerberger Kaiserziegel tragen. Ob der „Hannibal“ dieses Refugium benutzt und wie, konnte ich bis heute nicht herausfinden.
Irgendetwas hält mich davon ab, einzutreten und dort Teelichter statt Bücher zu kaufen.
Jetzt am Ende gebe ich freiwillig zu, dass ich etwas geschummelt habe. Es gibt doch noch zwei Buchhandlungen, eine versteckt hinter der Eule an der Technik und eine Reise- Buchhandlung, in denen ich noch nie war und die ich wahrscheinlich auch nie betreten werde, so unbuchhändlerisch uneinladend wirken sie. In etwa so einem Abstand wie das Espresso Hawaii in Simmering entfernt ist von einem Ringstraßencafe.
Nach dem Verlust von Reichmann und Malota bin ich tränenden Auges um eine Ecke weiter gezogen zur Buchhandlung Anna Jeller auf der Margarethenstraße und wurde getröstet.
Bei allem Schmerz – hier habe ich wieder eine Buchheimat gefunden.
8.6.17
Veronika Seyr
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Der Frost schläft ein,
Nachts öffnet sich das Fenster,
Endlich wieder,
Luft tanzt im gelben Licht,
Schwere Decken liegen am Rücken,
Verwandlung,
Als ich eine Schildkröte war,
spielte ich am Meer,
Blaues Leintuch,
leises Rauschen von Stimmen,
im Hintergrund
Florian Pfeffer
www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 17116