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Ballonfahrer

„Verständnisvoll“ ist einer dieser unfassbaren Begriffe… Ein Wort, das nicht klar darstellt, wie viele Opfer man tatsächlich dafür erbringen, oder wie viel Groll man dafür hinunterschlucken muss, um eben für sich selbst als verständnisvoll zu gelten. Wie sehr man sich innerlich auch verbiegt, um Verständnis zu zeigen, das Wort selbst verändert sich nicht. Selbst Adjektive wie: „sagenhaft“ oder „unsagbar“, die man davorstellt, um die Intension zu betonen, bringen den tatsächlichen Sachverhalt oft nicht zum Vorschein. Manchmal ist es eine Kleinigkeit und mit einer einfachen Entschuldigung ist wieder alles im Lot – so als würde man in einer vollgestopften U-Bahn angerempelt, woraufhin der Rempler sich entschuldigt und man selbst gar nicht auf die Idee gekommen wäre, mit der Erwiderung: „nichts passiert“ Verständnis gezeigt zu haben.
Doch in gewissen Angelegenheiten dehnt und wächst dieser Verständnisbegriff auf Ballongröße heran. Nicht auf Luftballongröße, sondern auf die eines Heißluftballons, der schnell mal einen Korb mit Elefanten über die Alpen schleppen muss. Das sind genauer gesagt solche Situationen, die einen zutiefst verletzt haben, man aber trotz allem versucht, die Perspektive oder noch präziser, das Motiv des Gegenübers nachzuvollziehen. Wenn man dann dahinterkommt, dass man im Zusammenspiel der Ereignisse eigentlich nur ein Kollateralschaden war, ist es eigentlich noch einigermaßen verzeihbar. Wenn so eine Verletzung aber aus reiner Nachlässigkeit, Ignoranz oder gar Böswilligkeit passiert, stürzen plötzlich ganze Konstrukte diverser Weltanschauungen – die Freundschaft betreffend – in sich zusammen und der metaphorische Verständnis-Ballon wächst in schmerzhafte Dimensionen.

Leider habe ich in meinem Leben schon einige dieser Verständnis-Ballons wachsen lassen, um Konflikte mit Menschen, die mir lieb und teuer sind, nicht zu eskalieren. Genau diese Menschen, die einem so nahestehen, dass man einen mietfreien Fixplatz in seinem Herzen für sie reserviert hat, verletzen einen dann am härtesten, und selten aber doch hält der Ballon die Spannung nicht mehr aus und explodiert, einem Weltuntergangsszenario nahe, in tausend blutende Stücke. Katastrophal ist für dieses Szenario nur ein Hilfsausdruck, weil ringsum sämtliches emotionale Leben ausgelöscht wird. Die weltliche Übersetzung dieses Infernos,nennt man auch „in einen Blutrausch verfallen“ oder wenn es einem schlicht „die Sicherungen raushaut“.

Nun kann man sich unter einem Blutrausch so einiges vorstellen, doch Anna, die vor kurzem exakt so einen am eigenen Leib erlebte – es waren tatsächlich fast alle Sicherungen in ihrem Hirn geflogen – beschrieb ihn in einer späteren Erzählung wie folgt: „Als ich an diesem Abend nichtsahnend in mein Stammlokal ging, um mir nach der unfreiwilligen Trennung von meinem Exfreund in aller – passiv-aggressiven – Seelenruhe einen in die Rübe zu kippen, hätte ich niemals gedacht, dass ich an diesem Abend auch meine damals beste Freundin, zusammen mit dem Ex, verabschieden würde. Ich saß an der Bar und wartete auf Betty, weil meine erste Wahl, Christina, seit einigen Tagen nicht mehr erreichbar war. Etwas enttäuscht über Christinas Verhalten – da ich sie als offiziell ernannte „beste Freundin“ nach der Trennung dringend als Anker gebraucht hätte – war ich Betty sehr dankbar für ihren Solidaritätsakt, sich mit mir an diesem Abend zu betrinken.
Nach zwei Gläsern Wein wurde das Gesprächsthema immer brisanter, denn Betty hatte sich schlichtweg verplappert und nach meiner selbstmitleidigen Anklage, Christina sei seit einigen Tagen nicht mehr erreichbar, emsig geantwortet, dass diese mit T…horsten um die Häuser ziehen würde. Als ich sie ungläubig ansah, da ich meinte, sie nach ihrer „T-Pause“ entlarvt zu haben, und sie dabei auch noch beschämt errötete, war meine Vermutung also richtig: Sie traf sich mit Tim, meinem Tim, meinem „Wir-sollten-künftig-getrennte-Wege-gehen-Tim“, schlicht, meinem EX! Betty sah mich aus Hundeaugen an und sagte: „Bitte verrate mich nicht, ich habe geschworen, dir nichts davon zu sagen!“ Ich blickte Betty weiter an, nahm ihre Hand und begann leise draufloszuheulen, zum Glück befanden wir uns mittlerweile an einem versteckten Tischchen im hinteren Eck des Gastraumes, so konnte man mich zumindest nicht gleich auf den ersten Blick bei meinem Gefühlsausbruch erkennen.

Der Gefühlscocktail, der sich nun in mir zusammenbraute, bestand aus: 10 cl Trauer, 5 cl Empörung, 4 cl Ärger über meine eigene Dummheit, einem Dash Machtlosigkeit, einer gehörigen Portion Wut als Filler und einer hübschen Garnitur aus zerbrochenen Herzstückchen – feinsäuberlich aufgespießt und drapiert, versteht sich. Ob ich wollte oder nicht, ich trank das giftige Gebräu auf ex und was dann folgte, war ein Gefühls-Kater, der sich über Wochen hinweg bemerkbar machte. Ich konnte der armen Betty dann noch entlocken, dass die Geschichte zwischen ihr und Tim wohl schon während unserer Beziehung begonnen hatte, was mir dann emotional tatsächlich noch den Rest gab. Der Abend mit Betty war natürlich nach weiteren fünfzehn Minuten vorbei und ich schnappte mir das nächste Taxi nach Hause, wo ich sämtliche Hemmungen fallen ließ und ein Heulkonzert der Sonderklasse anstimmte.

Nach einigen Tagen des Grübelns war für mich klar: Der Abschied von meinem Exfreund war nicht der einzige in dieser Phase meines Lebens. Auch meine beste und langjährige Freundin hatte sich mit ihrem Handeln aus meiner Welt und meinem Herzen nicht nur verabschiedet, sondern geradewegs hinauskatapultiert. Nun war mir auch klar, weshalb sie sich immer weiter zurückgezogen hatte und zum Ende hin auch kaum mehr erreichbar war. Nun wurde ich also doppelt sitzengelassen, dachte ich – „großartig, einfach nur großartig.“

Nach etwa sechs Wochen, in denen ich, von innerlichen Höhen und Tiefen gebeutelt, meinen Alltag bestritt, konnte ich meine sogenannte Freundin, die von meinem Wissen über ihren Verrat noch nicht informiert war, zu einem Treffen überreden. Mir war in erster Linie wichtig, ihr meine Meinung ins Gesicht zu sagen, um meinen Gefühlen damit ein Ventil zu verschaffen. Als ich sie an diesem Abend traf, machte ich keinen Hehl aus meiner Enttäuschung und konfrontierte sie umgehend mit den Infos, die Betty mir mit alkoholgelockerter Zunge verraten hatte – allerdings ließ ich Betty wie versprochen außen vor. Christina versuchte im ersten Moment, die Flucht nach vorne anzutreten und war empört darüber, „dass ich sie so in die Falle gelockt hatte“, da ich diesen Abend im Vorfeld jedoch tatsächlich akribisch – fast schon wie besessen – geplant hatte, fiel es mir relativ leicht, im entscheidenden Moment die Ruhe zu bewahren.

Irgendwann begann Christina zu weinen, da Tim sie offenbar eiskalt hatte stehen lassen. Doch um ehrlich zu sein, interessierte mich das nicht im Geringsten. Ich rief den Kellner, bezahlte meine Rechnung und ließ meine beste Ex-Freundin alleine im Lokal zurück. Sobald ich die Türe des Lokals geschlossen hatte, atmete ich tief ein, brachte meine hängenden „Trauerschultern“ der letzten Wochen wieder in Position und ging erhobenen Hauptes zurück in mein neues Leben.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 16061

Veronika geht

Der Abschied von dem Mann, mit dem sie seit siebzehn Jahren verheiratet war, fiel Veronika leicht. Sie führten keine schlechte Ehe, doch eine, in der sie einander alles gesagt hatten, was sie dem anderen jemals hätten sagen können.
Ihre beiden Töchter gingen zur Schule, lernten gut und führten das normale Leben von Teenagern, Peter, Veronikas Ehemann, besaß eine gut gehende Firma und Veronika selbst führte das geruhsame Leben einer betuchten Hausfrau.

“Wir sehen uns in drei Wochen wieder, Peter”, sagte sie, bevor sie in das Flugzeug stieg, das sie nach Spanien bringen würde, und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
“Erhol dich gut, Veronika”, sagte Peter, nachdem er ihren Kuss erwidert hatte.
Dann bestieg sie das Flugzeug und sah freudig ihrem Urlaub in Madrid entgegen.
Dass sie nicht zurückkommen sollte, wussten zu diesem Zeitpunkt weder sie noch ihr Mann.

“Darf ich mich an Ihren Tisch setzen?”, hörte Veronika, als sie nach einem Museumsbesuch in einer Bar saß und an einem Gin Tonic nippte. Der Mann, der ihr diese Frage gestellt hatte, war ungefähr in ihrem Alter und stellte sich als Arturo vor.
Veronika bejahte und im Laufe des Gesprächs, das sich zwischen ihnen entwickelte, erfuhr sie, dass er sein altes Leben als Rechtsanwalt hinter sich gelassen und sich auf die Suche nach dem Sinn seines Lebens begeben hatte.

“Sie sprechen akzentfrei Deutsch, obwohl sie offensichtlich Spanier sind. Wie kommt das?”, fragte sie.
“Von meinem Aussehen her bin ich in der Tat Spanier, doch bin ich bei meiner Mutter in Berlin aufgewachsen. Mein Vater, er war Anwalt in Madrid, ist bei einem Unfall gestorben, als ich drei Jahre alt war”, führte er aus. “Und da meine Mutter Berlinerin war und als junge Witwe nicht alleine in Spanien bleiben wollte, ist sie mit mir in ihre Heimatstadt gezogen.”
“Wie kamen sie dann wieder hierher?”, fragte sie.
“Nach dem Abitur habe ich in Madrid Rechtswissenschaften studiert und den Beruf meines Vaters ergriffen. Damals wollte ich, wie ich heute weiß, meinem Vater, den ich nie wirklich kennenlernen durfte, nahe sein. Ich habe Spanischkurse belegt und mich durch das Studium gequält.” Er lachte. “Heute weiß ich, dass es eine Fehlentscheidung war.”

“Warum war das falsch, Arturo? Ich denke, wir sollten uns duzen, wenn Sie nichts dagegen haben”, sagte Veronika.
“Natürlich, Veronika. Es war falsch, weil man keinem Menschen nahe sein kann, den man bloß von ein paar alten Fotos kennt.”
“Das stimmt”, sagte sie. “Oft ist es sogar so, dass man einen Menschen, mit dem man seit langer Zeit zusammenlebt, kaum kennt, weil man sich einfach nichts mehr zu sagen hat und einander so annimmt oder hinnimmt, wie man sich eben kennt. Einfach um die Ordnung, an die man sich gewöhnt hat, aufrecht zu halten.”
Veronika seufzte.
“Du sprichst von deinem Mann, oder?”, fragte er, obwohl er wusste, dass es eine rhetorische Frage war.
“Bist du verheiratet, Arturo?”, fragte sie und hoffte, dass seine Antwort bejahend wäre.

Veronika fühlte sich zu dem Mann hingezogen. Er war der erste Mensch seit vielen Jahren, von dem sie sich verstanden fühlte. Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie ihr Getränk bezahlen und die Bar verlassen sollte, doch sie brachte es nicht fertig, dieser Stimme zu gehorchen.
“Nein, ich bin geschieden”, gab er zurück.
“Wo willst du denn zu dir finden, Arturo? Hier in Madrid?”
“Nein, Veronika. Ich werde morgen abreisen und aufs Land fahren.”
“Wohin?”
“In die Nähe von Sevilla. Dort gibt es ein kleines Dorf, das an einem wunderschönen Bächlein liegt. Dort ist es ruhig, es ist beinahe so still wie das Kloster, in dem ich ein Zimmer habe.”
“Das klingt nach Einsamkeit”, warf Veronika ein.
“Nein. Einsamkeit ist etwas Leidvolles, Ruhe hingegen ist etwas Schönes.”
Sie überlegte, bevor sie weitersprach.
“Dann klingt es gut und wird dir bestimmt guttun.”
“Begleite mich”, schlug er vor.
Ihre innere Stimme befahl ihr aufzustehen und zu gehen, doch Veronika bestellte einen weiteren Gin Tonic, und sie und Arturo sprachen bis Mitternacht über ihre Leben, ihre Träume und darüber, dass Wünsche hin und wieder in Erfüllung gehen.

“Du hattest recht, Arturo. Dieser Bach ist wunderschön”, sagte Veronika.
“Es freut mich, dass er dir gefällt. Darf ich dir eine Frage stellen?”
“Ja. An diesem Ort darfst du mich alles fragen.”
“Hast du schon einmal daran gedacht, alles hinter dir zu lassen?”
“Sprichst du von Selbstmord?”, fragte sie mit gespieltem Entsetzen. Sie wollte Zeit gewinnen, um sich eine Antwort überlegen zu können.
Doch dann beantwortete sie ihre eigene Frage.
“Nein, von so etwas sprichst du natürlich nicht. Die Antwort ist ja. Ich habe schon etliche Male daran gedacht, mein Leben zu ändern, und zwar radikal.”
“Warum hast du es dann nicht gemacht?”
Sie überlegte.
“Weil ich zu feige bin.”
Wieder dachte sie nach.
“Nein, Arturo!”, rief sie. “Weil ich zu sehr an meinen Status gewöhnt war.”
Das letzte Wort betonte sie.

Arturo legte seinen Arm um ihre Schulter, und sie ließ es nicht bloß zu, sie genoss es. Nie zuvor war sie an einen Menschen geraten, der sie dazu brachte zu erkennen, dass sie ihr eigenes Leben an sich hatte vorbeiziehen lassen – und noch schlimmer. Sie hatte sich selbst dabei beobachtet, wie sie eine gute Mutter war und eine Ehefrau, die ihrem Mann in allen Belangen den Rücken freigehalten und alle außerehelichen Verhältnisse stumm ertragen hatte; und das nur, um den schönen Schein zu wahren.

“Hast du deine Frau geliebt, Arturo?”, fragte sie.
“Ja, sehr. Dennoch ist es mir leichtgefallen, sie zu verlassen.”
“Wie hat sie reagiert?”
Veronika fühlte, dass diese Frage eine Indiskretion darstellte, die sie in ihrem gewohnten Leben niemals geäußert hätte, doch gleichzeitig wusste sie, dass sie mit Arturo über alles sprechen konnte.
“Sie hat mich verstanden, wie auch unser erwachsener Sohn.”

Veronika verspürte den Drang, Arturo zu küssen, und als sich ihre Lippen zum ersten Mal berührten, fühlte sie sich frei.
“Was fühlst du jetzt?”, fragte er, nachdem der Kuss geendet hatte.
“Ich fühle, dass ich den ersten Schritt in ein neues Leben gemacht habe.”
“Aufgrund eines Kusses?”, fragte er und sie wusste, dass die Verblüffung, die in seiner Stimme gelegen hatte, ehrlich war.
“Nein, Arturo. Du hast mir die Augen geöffnet. Der Kuss war eine schöne Zugabe, doch es waren die Gespräche mit dir, die mir vor Augen geführt haben, dass ich mein Leben ändern muss, um der Mensch sein zu können, der ich wirklich bin und der sein zu wollen ich vor über zwanzig Jahren aufgegeben habe.”
“Was werden dein Mann und eure Töchter sagen?”
“Das werde ich dir morgen erzählen.”

“Leb wohl, altes Ich”, sagte Veronika und ließ ihr Telefon in das Wasser des Baches gleiten.
“Wie hat deine Familie reagiert?”, fragte Arturo.
“Meine Töchter finden es gut, dass ich endlich ich selbst sein möchte. Ich soll mich ab und an bei ihnen melden, wenn ich zu mir gefunden habe.”
“Nicht viele Kinder reagieren so.”
“Sie haben gesagt, dass sie froh wären, dass ich mit meinem gewohnten Leben abschließe, und wahrscheinlich sind sie auch froh, dass ich ihnen zu Hause nicht mehr auf die Nerven gehe.”

Arturo lachte.
“Was hat denn dein Mann gesagt?”
“Er war emotionslos. Er hat mir zugesichert, mir eine größere Summe Geld zu überweisen und mich im Falle einer Scheidung fair zu behandeln.”
“Wie geht es weiter, Veronika?”
Sie zögerte ihre Antwort hinaus. Weder wollte sie Arturo verlieren, war doch die vorige Nacht, die sie mit ihm verbracht hatte, für sie die schönste seit vielen Jahren gewesen, noch konnte sie bei ihrer Suche nach sich selbst Gesellschaft brauchen.

“Auch ich weiß einen wunderschönen Ort, an dem ich mich finden kann, Arturo”, sagte sie schließlich. “Er liegt in Frankreich und dorthin werde ich morgen für zwei Monate reisen.”
“Was wird nach diesen zwei Monaten sein, Veronika?”, fragte er und sie erkannte am leichten Beben seiner Stimme, dass auch er sie wiedersehen wollte.
“Dann treffen wir uns hier, an genau dieser Stelle, und reden. Ist das für dich in Ordnung?”
“Natürlich ist es das, Veronika.”

Zwei Monate später wartete Veronika am Bach auf den Mann, der sie dazu gebracht hatte, ein neues Leben zu beginnen.
Arturo kam nicht, doch hatte er im Kloster einen Brief für sie hinterlegt. In diesem stand, dass er sich verliebt hätte und der Frau nach Belgien gefolgt wäre. Er wünschte Veronika alles Gute für ihren weiteren Lebensweg und bat sie, ihm nicht böse zu sein.
Veronika, die in Frankreich ebenfalls zarte Liebesbande geknüpft hatte, war erleichtert.
Bevor sie abreiste, ging sie ein letztes Mal zum Bächlein und sprach: “Danke, Arturo. Ohne dich hätte ich nicht den Mut aufgebracht, mein Leben zu leben.”

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 16059

Altmodischer Liebeszyklus

Ein Brunnen, der stets Wasser gibt – wenn ein Mensch den andren liebt.
Anfangs sind es Sturmfluten – Absenz lässt die Herzen bluten.
Die Vertrautheit stellt sich ein – Störendes wird gänzlich klein.
Etwaiges Denken an ein Ende – es wischt fort die Kraft der Lende.
Die stete traute Zweisamkeit – bald heißt sie schlicht Gewohnheit.
Was der Mensch kennt, ihm langweilig – Wünsche werden gegenteilig.
Das Sprechen, Reden, es nimmt ab – bis man liegt im selben Grab.
Die Liebe ist es dennoch wert – man fühlt sich sicher, ist begehrt.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 16053

Skarabäus

Ein Skarabäus nach dem anderen läuft über meinen Bauch. Ich spüre sie an meinen Beinen hochlaufen; versuche, ruhig zu atmen und nicht zu schreien. Ein Skarabäus steht für ein langes und fruchtbares Leben, hat deine Mutter immer gesagt. Die Luft riecht nach Regen; es wäre eine Erleichterung nach der Hitze der vergangenen Wochen, gäbe es jetzt ein heftiges Gewitter. Ich rieche Flieder, Rosen und Zitrusfrüchte sowie einen Hauch Lavendel. Es ist der Garten deiner Eltern, ich stehe im Arkadenhof. In seiner Mitte wachsen Lavendel, Flieder und ein Zitronenbaum. Die Auffahrt wird von Wildrosen umzäunt. Ein leichter Wind bringt eine frische Meeresbrise mit sich.
Für gewöhnlich setze ich mich zum Brunnen und lasse mir von deiner Großmutter aus dem Kaffeesatz lesen. Sie sagt mir immer ein langes Leben voraus; auf meine Frage, ob es auch ein glückliches wird, lächelt sie nur wissend. Die Enden des schwarzen Schals, den sie sich locker über die Haare gelegt hat, wehen sanft im Wind. Trotz ihrer neunzig Jahre ist ihr Gesicht noch immer schön und ausdrucksstark. Der Blick ihrer noch immer tiefschwarzen Augen bestechend klar; manchmal ist es unmöglich, dem Blick dieser Augen standzuhalten. Langsam legt sich jetzt der Geruch von gebratenem Fisch über den Garten.
Ich glaube, deine Mutter bereitet den Fisch zu, den dein Vater gefangen hat. Ich habe sie immer um ihre Kochkünste beneidet. Und um ihre Schönheit, obwohl du immer gesagt hast, ich stünde ihr um nichts nach. Trotz dreier geborener Kinder war sie schlank wie ein junges Mädchen und ihre Haut erinnert an Nougat. Das hüftlange, pechschwarze Haar hatte sie meist im Nacken verknotet und ihre bernsteinfarbenen Augen strahlten Lebenslust und Energie aus. Und immer hatte sie ein türkisfarbenes Skarabäusamulett um den Hals; ein Erbstück ihrer Ururgroßmutter. Kurz vor ihrem Tod hat sie es mir geschenkt.
Ich gehe durch den großen Garten; mein Lieblingsplatz ist unter einer alten Zeder, wo ich im warmen Gras sitzend lese und träume. Dein Vater hat mir einmal erklärt, dass es sich bei dieser Zeder um eine Libanonzeder handelt; nun, die Botanik hat noch nie zu meinen Spezialgebieten gehört, weshalb ich leider seine Ausführungen zu den einzelnen Pflanzen im Garten schon wieder vergessen habe. Während ich durch den Garten gehe, höre ich Vögel zwitschern, das Meer rauschen und sehe Schmetterlinge fliegen. Ich bleibe stehen, schließe meine Augen und bin ganz bei mir. Erst als ich meine Augen wieder öffne, realisiere ich, dass ich am Ende der Auffahrt stehe und vor mir nur das weite Meer sehe, das mit dem Horizont zu verschmelzen scheint. Vom Hafen sind Möwen zu hören und das Rauschen des Wassers.

Es ist ein Traum; ein Traum gegen das Vergessen. Nur langsam realisiere ich, wo ich bin. Leise, um meinen Mann nicht zu wecken, gehe ich hinaus auf den Balkon unseres Hotelzimmers. Nach jahrelangen Individualreisen machen wir nun zum ersten Mal einen Pauschalurlaub in einem Club in Bodrum. Ins Haus deiner Eltern kann ich nicht fahren; die Erinnerung würde mich umbringen. Obwohl ich weiß, dass ich deinem Bruder Ali immer ein willkommener Gast bin; auch mit meinem neuen Mann. Ich habe auf September bestanden, weil es schon die Nachsaison ist. Ich bin es im Alltag gewohnt, von vielen Menschen umringt zu sein. Ich habe es doch noch geschafft, eine große Familie zu gründen, aber von Zeit zu Zeit bin ich froh, wenn ich nur Stille um mich habe.

Ich träume oft vom orientalischen Garten deiner Eltern; der Traum ist nie bedeutungslos. Trägt deine Großmutter einen weißen Schal, ist etwas Gutes zu erwarten, der schwarze Schal hingegen steht für schlechte Neuigkeiten. Und an deinem Todestag sehe ich immer deine Mutter; nur du lässt dich nie blicken. Heute Nacht aber war mein Traum menschenleer und ich frage mich, ob du mich nun endgültig verlässt. Auch wenn du seit zwanzig Jahren tot bist, fehlst du mir noch oft. Ist es denn fair, den einen Menschen schon mit Ende zwanzig zu verlieren? Du bist als Schatten immer bei mir. Du warst bei mir, als ich geheiratet habe, als ich meine Kinder geboren habe, einfach in jedem Moment meines Lebens. Und auch wenn ich dich in meinen Träumen nie sehe, spüre ich doch deine Gegenwart. Doch heute hast du mich einfach im Stich gelassen. Du hast mir nur scheinbar endlos viele Skarabäen geschickt, denn genau wie deine Mutter hast du an ihre glückbringende Wirkung geglaubt.

„Ist es wieder dieser Traum?“ Herbert – mein Mann – umarmt mich von hinten. Ich drehe mich nur um und lehne meinen Kopf an seine Brust. „Ja.“ Auch wenn er nichts sagt, weiß ich, dass er tief verletzt ist und sich einmal mehr wünscht, dass du nicht mehr gegenwärtig wärst. Auch über uns bist du immer wie ein Schatten gelegen. Manchmal drückend präsent und manchmal scheinbar unauffindbar. Und ich kann ihn verstehen. Er kennt die Details unserer Geschichte und weiß, wie sehr dein Tod mich gebrochen hat. Für ihn ist es so, als würde ich dich nicht loslassen wollen. Und es tut mir so unendlich leid, dass ich es ihm nicht begreiflich machen kann, dass es mir selbst nicht ganz klar ist, warum du mich noch immer so verfolgst. Es tut mir weh zu wissen, dass Herbert sich manchmal von mir nicht geliebt fühlt.

2004 bin ich mit achtzehn Jahren nach Wien gekommen und ins Studentenheim gezogen. Du hast im Zimmer gegenüber gewohnt und es hat nicht einmal zwei Stunden gedauert, bis wir uns ineinander verliebt hatten. Şeftalem hast du mich genannt, mein Pfirisch. Weil ich Pfirsiche liebe und şeftale mein liebstes Wort auf Türkisch ist. Noch immer erinnere ich mich daran, was für ein lebensfroher und begeisterungsfähiger Mensch du warst. Und ehrgeizig; alles musstest du zu einem Ende bringen. So hast du es geschafft, vier Sprachen fließend zu sprechen, dein Studium in Bestzeit abzuschließen und dich neben allem auch noch sozial zu engagieren.
Am meisten aber habe ich deine Aufmerksamkeit geliebt. Jeden Samstag bist du in aller Frühe zum Brunnenmarkt gegangen, um mir frisches Obst und einen Strauß Blumen zu besorgen; „Damit du dich geliebt fühlst“, hast du immer gesagt.
Nie hast du mich abends unbegleitet nach Hause gehen lassen, weil du nicht wolltest, dass ich nach Einbruch der Dunkelheit alleine draußen bin; du wusstest, dass ich es nicht mochte. Aber sicherlich auch, um deine zeitweilige Eifersucht zu beruhigen. Ich weiß, dass dich der Gedanke, es könnte zum Bruch zwischen uns kommen, wahnsinnig gemacht hat.

Am liebsten aber erinnere ich mich an unseren ersten gemeinsamen Urlaub. Du hast so lange gespart, bis du mich für eine Woche nach Grado einladen konntest, weil ich dir einmal erzählt hatte, dass ich als Kind oft mit meiner Familie dort gewesen war und mich danach sehnte, wieder einmal dorthin zu fahren. Du hast sogar das Appartementhotel ausfindig gemacht, in dem ich früher mit meinen Eltern übernachtet hatte. Die Villa Giulia, ziemlich im Stadtzentrum, nahe am Hafen. Den Schmetterling aus Muranoglas habe ich heute noch; du hast ihn mir am letzten Tag auf meinen leeren Frühstücksteller gelegt, weil ich ihn am Vorabend so lange im Schaufenster betrachtet hatte. „Weil mein Glück dein Lächeln ist“, hast du gesagt und meine Hand geküsst, „komm, lass uns zum Strand gehen, bevor wir fahren, mein Engel. Jetzt ist es noch ruhig und beinahe menschenleer, so wie du es liebst!“ Du hattest mich schnell durchschaut und wusstest, dass mir trotz meines kommunikativen Wesens die Stille am liebsten war.

Manchmal sehe ich mich in meinem Traum unter dem Zitronenbaum im Garten deiner Eltern sitzen, lesend; an deinem Platz aber liegt nur die Zeitung, die du immer gelesen hast. Immer wieder frage ich mich, warum ich dich nie sehe; ich vergesse, wie du aussahst. Dann kann ich nur die alten Fotos zu Hilfe nehmen. Minze und Zitronenmelisse hat deine Mutter in ihrem Kräutergarten angebaut und die frischen Blätter für Tee verwendet. Manchmal sehe ich uns, sie und mich, im Traum in den frühen Morgenstunden im Garten sitzen und frischen Tee trinken. Es war der einzige Tee, der eine belebendere Wirkung auf mich hatte als der türkische Kaffee, den ich sonst immer trinke.

Vor allem deine Mutter hat mich damals so herzlich aufgenommen, als ich deine Familie kennengelernt habe. Besonders fasziniert war sie von meinen langen dunkelblonden Haaren und den dunkelgrünen Augen. Allerdings hat sie mir immer vorgehalten, zu blass zu sein und immer dafür gesorgt, dass ich mich viel in der Sonne aufhalte, um eine gesunde Bräune zu bekommen. Ihr überraschender Tod aufgrund einer Hirnblutung hat dich sehr mitgenommen. Auch wenn es für Außenstehende so gewirkt hat, als wärst du gefasst gewesen, hast du Höllenqualen gelitten. Du warst stundenlang im Boxverein, um dich abzureagieren; einmal habe ich dich ein ganzes Wochenende lang nicht gesehen. Es hat fast ein Jahr gedauert, bis du wieder ganz bei dir warst. Ich kann es verstehen. Sie war einer der ungewöhnlichsten Menschen, die ich kennengelernt habe. Du hast mir oft gesagt, dass ich für dich die einzige Frau bin, die sich mit ihr messen kann. Für mich war das das größte Kompliment von dir.

2004 bis 2014, das waren unsere zehn Jahre. Bald nachdem du mich deinen Eltern vorgestellt hast, sind wir zusammengezogen. Unsere erste kleine Wohnung – wir waren damals gerade mit der Uni fertig – war in der Liechtensteinstraße im neunten Bezirk. Sehr praktisch gelegen eigentlich; sehr nahe an zwei U-Bahn-Linien und zwei Straßenbahnlinien. Sie war gerade groß genug für uns beide; WC, Bad, Küche und ein kleines Wohnzimmer, das uns auch als Schlafzimmer diente. Aber es hat für den Anfang gereicht. Als wir dann begonnen haben, besser zu verdienen, haben wir uns mit der Unterstützung deiner Eltern eine wunderschöne Altbaueigentumswohnung gekauft, die groß genug war für uns und die Familie, die wir eines Tages gründen wollten. Beim ersten Besuch deiner Eltern in unserem neuen Heim hast du mich endlich gefragt, ob ich dich heiraten will. Wen denn sonst, wenn nicht dich?

Und dann kam dieser eine Abend, einige Wochen nach unserer Hochzeit. Du warst auf Geschäftsreise gewesen und wolltest mit dem Taxi vom Flughafen nach Hause fahren; wie immer wolltest du nicht, dass ich dich abhole, weil dein Flieger erst spät gelandet war und dir der Gedanke nicht behagt hat, dass ich so spät alleine durch die Stadt fahre. Als es läutete, dachte ich noch, du hättest vielleicht deinen Schlüssel vergessen. Und dann standen zwei Polizeibeamte vor mir. Dein Taxi wäre in einen Verkehrsunfall verwickelt gewesen; du seist noch an der Unfallstelle verstorben.
Mehr weiß ich nicht mehr; ich erinnere mich nur noch daran, im Krankenhaus aufgewacht zu sein. Mein Bruder Paul saß an meinem Bett, zusammen mit Herbert, seinem besten Freund, den ich ebenfalls seit Kindheitstagen kannte. An diesem Abend wollte ich dir sagen, dass du Vater werden würdest; aber das Kind habe ich in dieser Nacht verloren. Es war, als hätte ich dich somit zweimal verloren. Ein schier unerträglicher Gedanke. Monatelang hatte ich jeden Morgen das Gefühl, dass du neben mir liegst und jedes Mal wieder war es ein Schock, dass deine Seite des Bettes leer war.
Bald danach bin ich ausgezogen. Zu Paul, der im Haus meiner Eltern lebte. Da er selbst gerade alleine lebte, war er froh, mich bei sich zu haben, weil das Haus ihm immer so unerträglich still und leer vorkam. Irgendwann haben Herbert und ich zusammengefunden; er war nach deinem Tod ein ruhender Pol. Er hat mich oft im Arm gehalten, wenn ich stundenlang geweint habe und nur wortlos mein Haar gestreichelt. Es hat gedauert, aber eines Tages habe ich gewusst, dass seine beständige Liebe genau das war, was ich für einen Neuanfang brauchte. Dein Vater und dein Bruder haben mir ihren Segen gegeben und waren sogar bei unserer Hochzeit. Sie sind auch nach noch so vielen Jahren Teil meiner Familie und das wird sich nie ändern. Für sie wohl auch nicht, glaube ich.

Herbert bringt mir ein Glas Wasser. Ich leere es und gehe ins Meer schwimmen; vielleicht hilft es gegen die Unruhe. Als ich zurückkomme, finde ich das Skarabäusamulett nicht mehr.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 16022

Ghost

(inspired by Eastmountainsouth’s Song)

Klack. Klack. Klack.
02.04.2004. Das Datum war leicht zerkratzt, aber so, wie der Ring vor ihr auf dem Tisch lag, konnte man es noch immer gut lesen.
Klack. Klack.
Immer wieder griff sie mit Daumen und Zeigefinger nach dem Ring, hob ihn hoch und ließ ihn aus geringer Höhe auf den Tisch fallen.
Klack.
Sie rutschte ein Stück mit dem Stuhl zurück und legte ihr Kinn auf die Tischplatte, ohne den Blick vom Ring zu wenden. Ihr Atem war ruhig. 02.04.2004. Davor und dahinter das Unendlichkeitszeichen, eine liegende Acht. Sie presste die Lippen zusammen.
Heute war ihr zehnter Hochzeitstag. Auch Rosenhochzeit genannt. Rosen – ihre Lieblingsblumen. Auch bei ihrer Hochzeit waren die Kirche und die Räumlichkeiten, in denen anschließend gefeiert wurde, mit dem intensiven Duft von Black-Magic-Rosen erfüllt gewesen.

Für einen kurzen Augenblick schweifte ihr Blick nach links auf das Sideboard, auf dem ihr Hochzeitsfoto stand. Sie, inmitten eines blühenden Rosengartens, und er, sie zärtlich von hinten umarmend. Beide lachten glücklich in die Kamera. Ja, glücklich war das richtige Wort.
Mit einem leisen Seufzer suchten ihre Augen wieder den Ring auf dem Tisch. Das Unendlichkeitszeichen. Für immer. Davon waren sie damals überzeugt gewesen. Aber jetzt, zehn Jahre später, saß sie alleine hier am Tisch. Er war nicht mehr hier.

Fünf Jahre waren sie verheiratet gewesen. Waren gerade in ein kleines Reihenhäuschen gezogen und bereiteten sich darauf vor, ihre Familienplanung in die Praxis umzusetzen, als im Herbst 2009 eine Reihe von gesundheitlichen Rückschlägen ihrem Mann schwer zu schaffen machte.
Nach mehreren Wochen, in denen sein Krankheitsbild zwischen grippalen Infekten, Bronchitis und einer Lungenentzündung wechselte, konnte sie ihn überreden, eine zweite Meinung einzuholen. Das Ergebnis erfuhren sie an einem Freitag, den 13. Er hatte Lungenkrebs. Er, der nie geraucht und immer gesund gelebt hatte. Die Heilungschancen lagen bei 50%.
Der wolkenlose Himmel dieser glücklichen Beziehung trübte sich ein. Und wurde täglich dunkler. Die erste Chemotherapie schlug nicht an. Die zweite brachte für einige Zeit wieder Hoffnung, doch der Krebs war stärker. Sukzessive war aus dem sportlichen, charmanten jungen Mann ein abgemagertes Häufchen Mensch geworden, das am Schluss in dem großen Krankenbett so verloren aussah wie ein kleines Kind.
Es tat weh, ihn so zu sehen. Diese Verwandlung mitansehen zu müssen, und nichts dagegen tun zu können. Sie versuchte stark zu sein, stark für sie beide. Er brauchte sie, wie er sie noch nie zuvor gebraucht hatte. Ihre Nähe, ihren Zuspruch, ihre Hoffnung, ihre Liebe. Sie gab ihm alles, was sie konnte, um es für ihn leichter zu machen.
Wenn sie aus dem Krankenhaus ging, fand sie nicht oft den Weg in ihr eigenes Zuhause. Es waren ihre Eltern, ihre Geschwister oder ihre beste Freundin, bei denen sie Zuflucht suchte. Sie, die sie jede Minute, die sie bei ihm war, damit verbrachte, ihm Mut zuzusprechen und Hoffnung zu geben, brauchte auch jemanden, der dies für sie tat. Dieser Rückhalt in ihrem Familien- und Freundeskreis war ihr Lebenselixier geworden, ohne das sie diese Zeit nicht überstanden hätte.

Im März 2011 hatte der Krebs dann gesiegt. Ihr Mann wurde immer schwächer, die ganze Familie hatte ihn im Laufe eines Wochenendes im Krankenhaus besucht. Als hätten alle gewusst, dass es das letzte Mal sein würde, dass sie ihn sahen. Es waren emotionale Szenen, die sich im Krankenzimmer abspielten und die ihn mitnahmen.
Sie kannte ihn, sie wusste es. Es waren seine Augen, die ihn verrieten. Auch wenn der Körper, in dem er steckte, nicht mehr zu ihm zu gehören schien, waren es seine Augen, die bis zum Schluss glänzten und so voller Liebe waren. Liebe zum Leben, zur Familie, zu ihr, seiner Frau. Doch als seine Mutter vor ihm hemmungslos in Tränen ausbrach und etwas davon stammelte, dass es nicht rechtens sein kann, wenn ein Kind vor seinen Eltern stirbt – war es sein flehender Blick, der erkennen ließ, dass er es nicht mehr ertragen konnte. Sanft, aber bestimmt umarmte sie ihre Schwiegermutter und schob sie zusammen mit ihrem Schwiegervater aus dem Zimmer.

An diesem Wochenende war sie von sich selbst überrascht, wie ruhig und gefasst sie die Besuche über sie beide ergehen hatte lassen. Sie war immer mit im Zimmer geblieben, genau für solche Fälle wie jenen mit seiner Mutter. Sie war diejenige gewesen, die stark geblieben war. Als sie wieder den Raum betrat, hatte sich ihr Mann gerade schwerfällig die Tränen aus dem Gesicht gewischt. Sie hatte ihn zärtlich angelächelt und sich mit einem Kuss auf die Stirn verabschiedet.
Zwei Tage später war es so weit. Ihr Mann schien auf sie gewartet zu haben. Als sie sich leise zu ihm gesetzt hatte und seine Hand nahm, hatte er die Augen geöffnet und sie angelächelt. An seine letzten Worte würde sie sich bis zu ihrem eigenen Tod erinnern. „Lebe dein Leben, Süße. Aber vergiss mich nicht. Ich liebe dich.“ Dann schlief er für immer ein. 500 Tage nach der Diagnose. Er war 31 Jahre alt geworden. Die Beerdigung war kurz vor ihrem siebenten Hochzeitstag. Das Schicksal hätte das verflixte siebente Jahr nicht schlimmer enden lassen können.

Witwe mit 31 Jahren. Allein in einem Reihenhaus, das für eine vierköpfige Familie ausgelegt war. Die administrativen Angelegenheiten nach dem Tod ihres Mannes hatten ihr die Möglichkeit gegeben, ihre Trauer in Arbeit umzulegen. Die Schulden für das gemeinsame Haus konnte sie mit der Lebensversicherung ihres Mannes ausbezahlen. Sie verdiente gut, die laufenden Kosten konnte sie auch alleine aufbringen. Also musste sie nicht ausziehen.
Andere wären ausgezogen, um ein neues Leben zu beginnen. Aber so war sie nicht gestrickt. Sie verstand die Erinnerungen, die dieses Haus beherbergte, nicht als Last. Es war schön, in ein Zimmer zu gehen oder ein Bild anzusehen und sich an ihn zu erinnern. Sie wollte – nein, sie musste – sich an ihn erinnern.
Es gab Tage, an denen er so präsent war, als würde er im Nebenzimmer sitzen und fernsehen. Mit der Zeit ertappte sie sich dabei, wie sie panikartig das nächste Foto von ihm im Haus suchte, weil sie nicht mehr wusste, wie er ausgesehen hatte. Oder sich Videos ihrer Urlaube oder der Hochzeit ansah.
Bis auf drei Shirts, die sie zum Schlafen verwendete, hatte sie sich von seiner Kleidung bereits ein paar Wochen nach seinem Tod getrennt. Seinen Telefontarif hatte sie aber erst nach einem Jahr gekündigt, damit sie sich seine Stimme auf der Mailbox immer wieder anhören konnte. Bis heute – drei Jahre danach – stand die letzte Flasche seines Aftershaves im Badezimmerschränkchen, der Inhalt so gut wie verraucht. Trotzdem passierte es ab und an noch, dass sie in schlaflosen Nächten aufstand und an der Flasche roch, um sich an seinen Geruch zu erinnern.

So intensiv sie während seiner Zeit im Krankenhaus die Nähe ihrer Familie suchte, so abgekapselt lebte sie in den Wochen danach in ihrem gemeinsamen Häuschen. Sie weinte viel. So viel, dass es jeden Tag eine Herausforderung war, ihre geschwollenen Augen hinter Tonnen von Make-up und einer großen Sonnenbrille zu verstecken, wenn sie ins Büro ging.
Sie vergrub sich in Arbeit, Hausputz und Spaziergänge. Wollte mit niemandem sprechen, der ihr sein Beileid bekunden wollte. Führte Zwiegespräche an seinem Grab, das sie täglich besuchte. Ihre Familie und Freunde akzeptierten das und taten, was sie brauchte. Sie ließen sie in Ruhe und waren zur Stelle, als sie so weit war, über das Geschehene und ihr Gefühlsleben zu sprechen.
Bald wurde ihr klar, dass sie auf Dauer nicht so weitermachen konnte. Sie vernachlässigte sich selbst und lebte in der Vergangenheit. So konnte sie nicht die nächsten fünfzig oder sechzig Jahre ihres Lebens verbringen. Also nahm sie langsam wieder Kontakt zu ihrer Familie auf, die auch in dieser Zeit ihr Fels in der Brandung war.

All die Monologe, die sie in der Zeit davor an seinem Grab geführt hatte, führte sie jetzt noch einmal in Gegenwart ihrer Mutter oder ihrer Freundin. Und sie merkte, dass es ihr guttat, darüber zu sprechen. Dass es normal war, zu weinen, wenn sie an ihn dachte. Dass das Gefühl in ihr, diese allgegenwärtige Trauer, ein Teil von ihr war, den sie akzeptieren musste.
Sie strich vorsichtig mit der Spitze ihres Zeigefingers über den Rand des Rings.
Für heute hatte sie sich etwas vorgenommen. Es war der richtige Tag für sie, ein neues Kapitel in ihrem Leben aufzuschlagen. Die Seiten der letzten 34 Jahre ihres Lebens waren festgeschrieben, nicht mehr änderbar. Sie durfte es nicht zulassen, dass sie den Rest ihres Lebens immer nur zurückblickte. Sie musste auch wieder nach vorne sehen, in ihre neue, eigene Zukunft. Sich für neue Beziehungen öffnen. Vielleicht sogar noch einmal jemanden finden, mit dem sie zusammen sein wollte.
Ihre Vergangenheit war ein Teil von ihr, hatte sie geprägt, sie zu dem Menschen gemacht, der sie heute war. Aber es war Zeit, neue Wege einzuschlagen. Sie war jung und hatte ihr Leben noch vor sich. Sie musste wieder anfangen zu leben. So wie er es auch von ihr verlangt hatte.

Ruckartig stand sie auf und steckte sich den Ring wieder an den dafür vorgesehenen Finger. Automatisch fuhr ihr Daumen an die Innenseite des Ringfingers und spielte mit dem Ring. Im Vergleich zu ihrer Hochzeit hatte sie gut fünfzehn Kilo an Gewicht verloren. Der Ring saß recht locker und sie musste sich immer wieder vergewissern, dass er noch da war.
Auch ihr Mann hatte den Ehering getragen, bis er ihm im wahrsten Sinne des Wortes vom Finger fiel. Sie hatte seinen Ring seitdem als Anhänger auf einer langen Silberkette um den Hals hängen. Sie schnappte ihre Schlüssel, zog Schuhe und eine dünne Jacke an und machte sich auf den Weg.
Der Friedhof war nicht weit weg, etwa zwanzig Gehminuten. Diese Wegzeit war prädestiniert dafür, die Gedanken schweifen zu lassen. Die Zeit war die letzten drei Jahre jedes Mal wie im Flug vergangen, wenn sie diesen Weg gegangen war. So auch heute. Da stand sie nun, vor dem Grabstein ihres Mannes, der viel zu früh diese Erde verlassen hatte müssen.

Als sie auf die Grabinschrift blickte, verkrampfte sich ihr Magen und es bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. Seinen Namen zu lesen und zu wissen, was sie für sich entschieden hatte, ließ in ihr wieder das Gefühl hochkommen, ihn zu betrügen. Zu vergessen. Das Versprechen nicht mehr zu halten, das sie ihm am Sterbebett gegeben hatte.
Ihr Kopf wusste, dass es kein Betrug war. Ihr Herz wollte es noch immer nicht wahrhaben. Stumm liefen Tränen über ihre Wangen. Sie hatte es bereits zwei Mal versucht. Letztes Jahr zu seinem Geburtstag Ende August, und dann noch einmal zu Weihnachten. Sie hatte es nicht geschafft. Aber heute musste sie es hinbekommen.
Liebe ist das Einzige, das bleibt, wenn wir gehen. Zärtlich zog sie die Konturen der einzelnen Zeichen dieses Satzes, der auf dem Grabstein stand, nach. Es stimmte. Die Liebe war noch immer da. Bei ihr, ihren Familien, ihren Freunden. Solange die Liebe und die Erinnerung zu ihm da war, war er nicht vergessen.

Sie räusperte sich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann blickte sie auf ihre rechte Hand. Es war so weit. Zaghaft zog sie den Ehering von ihrem Ringfinger und hielt ihn ein paar Zentimeter über den Grabstein. Ihre Hand zitterte. Für einen Moment hielt sie inne und erinnerte sich wieder an ihren verstorbenen Mann.
Sie schloss die Augen und dachte an ihr Kennenlernen, Urlaube, Zärtlichkeiten, Küsse. Es war keine Trauer mehr, die sie überkam. Es war Wehmut. Erinnerungen an Erlebnisse, die ihr niemand nehmen konnte. Mit einer Person, die sie immer lieben und nie vergessen würde. Sie ließ den Ring mit einem leichten Lächeln fallen und ging.
Klack.

Petra Hechenberger

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 16016

Spaces

(inspired by One Direction’s Song)

Lustlos stocherte ich in meinem Abendessen herum. Heute war einer jener Tage, an denen ich kaum Appetit hatte. Meine Gemütslage schlug mir wieder einmal auf den Magen. Ich seufzte und trank einen Schluck Wasser. Währenddessen blickte ich auf mein Gegenüber.
Sein Appetit war vollkommen in Ordnung. Abwesend nahm er einen Bissen nach dem anderen, während er in einer Zeitschrift las. Er schien mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Das konnte ich von mir selbst nicht behaupten.
Ich saß mit ihm an einem Tisch. Lebte mit ihm in einer gemeinsamen Wohnung. Und doch war ich allein. Es war, als ob ein Gebirge mittleren Ausmaßes auf meiner Brust läge. Ich beobachtete ihn weiter. „Wie war dein Tag?“, versuchte ich, eine Konversation zu beginnen.
Er zuckte kurz mit den Schultern. „So wie immer“, war seine lapidare Antwort. Toll. Genervt schmiss ich das Besteck auf meinen Teller. Das Geräusch war so laut, dass er überrascht aufblickte. „Alles OK?“, fragte er. Doch mir schien, dass es eher nur eine Floskel als echtes Interesse an meinem Befinden war.

Das ging schon länger so. Ich weiß nicht mehr, wann es angefangen hatte. Wir waren schon so lange zusammen, hatten über die all die Jahre unsere kleinen Rituale gehabt. Einen Kuss morgens, wenn wir aus dem Haus gingen. Einen Kuss abends, wenn wir wieder heimkamen. Einen Gute-Nacht-Kuss vor dem Einschlafen.
Ich konnte mich gar nicht mehr erinnern, wann ich den letzten Kuss von ihm bekommen hatte. Das machte mich traurig. Aber es machte mich auch wütend. Wütend auf ihn. Wütend auf mich. Warum hatten wir damit aufgehört? Wer hatte damit aufgehört? Wer war schuld?

„Natürlich. So wie immer“, äffte ich seine vorhergehende Antwort nach. Dann stand ich auf und brachte meinen Teller zurück in die Küche. Eine kleine Kartoffel schaffte es in meinen Mund, den Rest des Essens schmiss ich in den Mülleimer.
Ich lehnte mich gegen die Spüle und sah hinüber ins Esszimmer. Er saß ruhig auf der Bank und schluckte den letzten Bissen hinunter. Er schien vertieft einen Artikel zu lesen. Wie vermutet. Nur eine Floskel, kein echtes Interesse. Sonst hätte er weiter nachgehakt. So wie früher.
So nah, wie wir uns waren, als wir noch unsere kleinen Rituale hatten – so weit entfernt schienen wir momentan nebeneinander zu leben. Nebeneinander, nicht miteinander.

Natürlich liebte ich ihn. Ich empfand etwas, das ich in meiner Definition als Liebe verstand. Nicht so wie ich meine Eltern, meine Geschwister, Freunde oder ein Haustier liebte. Sondern so, wie man einen Partner liebt. Einen Partner, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen möchte.
In Augenblicken wie diesen stellte ich aber dieses Gefühl in Frage. War es wirklich Liebe? Oder war es Gewohnheit? War es eine Tatsache, dass Liebe irgendwann zur Gewohnheit wurde? War das die Art Beziehung, die ich für den Rest meines Lebens führen wollte? Wieder zog sich mein Herz zusammen. Nein, wollte ich nicht.

Da war er plötzlich: ein Gedanke, ein kleiner Funke. Mir stiegen Tränen in die Augen. So weit war ich gekommen. Ich dachte daran, die Beziehung zu beenden. Und im selben Augenblick wollte ich sie retten.
Es gab diese beiden Optionen. Hier zu bleiben und daran zu arbeiten – wenn auch er es wollte. Oder dieses Kapitel meines Lebens zu beenden und zu gehen. Ich räusperte mich und blinzelte die Tränen aus meinen Augen, als ich merkte, dass er aufgestanden war und in die Küche kam.
„Gut war’s, wie immer“, sagte er freundlich und stellte sein Geschirr in die Spüle. Im Vorbeigehen strich er mir kurz über die Schulter und ging dann weiter ins Wohnzimmer. Ich starrte auf seinen Teller. Wieder so eine Szene. Es gab Zeiten, da hätte er sofort gemerkt, wenn es mir nicht gut ging. Hätte mich in den Arm genommen und mit mir gekuschelt. Vorbei.

In meinem Inneren kämpften Wut, Ärger und Verletztheit gegeneinander an. Und doch versuchte ich, weiterhin klar zu denken. Ich musste ihn darauf ansprechen. So lange ich mit meinen Dämonen im Geiste kämpfte, hatte er keine Möglichkeit, sich zu verteidigen bzw. seine Sicht der Dinge zu erklären.
Ich ging langsam Richtung Wohnzimmer. Die Tür war angelehnt, und durch das Milchglas konnte ich den Fernseher flimmern sehen. Vermutlich saß er mit dem Laptop auf der Couch und surfte im Internet, während im Fernsehen eine der üblichen Serien lief.
Drei. Zwei. Eins. Ich öffnete die Tür und – 100 Punkte. Es war alles so vorhersehbar. Jeden Tag. Ich setzte mich neben ihn auf die Couch und sah auf den Laptop. Irgendein Online-Shopping-Portal für technisches Equipment. Das war sein Faible. Stundenlang konnte er sich mit der Suche nach dem günstigsten Angebot beschäftigen. Und alles rund um ihn vergessen. Auch mich.

Mein Blick wanderte vom Laptop zu seinem Gesicht. Wenn er konzentriert war, biss er sich immer auf die Unterlippe. Ich musste kurz lächeln. Diese Eigenheit hatte ich immer liebenswert gefunden. Auch heute noch. Vorsichtig stupste ich ihn mit einem Zeigefinger an seiner Schulter an.
„Können wir reden?“, fragte ich leise. Etwas widerwillig drehte er seinen Kopf in meine Richtung und sah mich an. „Hmm“, murmelte er – wie mir schien – leicht genervt. Tief einatmen. Nichts falsch interpretieren. Das könnte auch nach hinten losgehen.
„Ich bin nicht… Ich will nicht…“, fing ich an, wusste aber nicht weiter. Alle möglichen Gedanken flogen durch meinen Kopf. So viel, was ich sagen wollte – oder aber auch besser für mich behalten sollte. Ich wusste nicht, wo ich die Grenze ziehen sollte.
Irritiert zog er die Augenbrauen zusammen. „Was bist oder willst du nicht?“, fragte er nach. Offensichtlich hatte ich sein Interesse an diesem Gespräch geweckt. Immerhin. Ich räusperte mich und fuhr mir nervös durch die Haare. „Bist du glücklich?“, fragte ich geradeheraus und sah ihm in die Augen.
„Klar“, entgegnete er. Kurz und einfach formuliert. Wahrlich eine rhetorische Meisterleistung. Und so tiefgründig. Ich spürte, wie die Wut in mir die Oberhand gewann. „Schön. Es macht dich also glücklich, jeden Tag etwas zu essen auf dem Tisch stehen zu haben wenn du heimkommst. Es dir auf der Couch mit dem Laptop bequem zu machen. Kurz nach elf Uhr todmüde ins Bett zu fallen, auch am Wochenende. Das sind ja echt hochtrabende Ansprüche, die du hast. Und so abwechslungsreich!“ Meine Antwort triefte nur so vor Sarkasmus.

Ergeben klappte er den Laptop zu und stellte ihn auf den Couchtisch. „Heute sind wir ja wieder mal sehr gut gelaunt…“, murmelte er, bevor er sich leicht zu mir drehte und mich ansah. „Fein! Es fällt dir auf! Das freut mich aber! Ich dachte schon, du registrierst mich gar nicht mehr!“, rief ich. Ich war aufgewühlt. Merkte, wie mir das Blut in den Kopf schoss und mein Gesicht erhitzte.
„Was soll das? Natürlich registriere ich dich!“, sagte er beleidigt. „Dann rede mit mir! Erzähl mir, wie dein Tag war! Was du erlebt hast! Was in deinem Leben vorgeht!“ Ich sprang auf und ging im Wohnzimmer hin und her. Wie ein Tiger, der nervös in seinem Gehege umherstreift. Immer wieder blickte ich ihn aus den Augenwinkeln an. Und merkte, dass er leicht den Kopf schüttelte. Er verstand mich nicht.
Ich blieb stehen und atmete durch. „Ich erzähle dir jetzt, wie es mir geht, in Ordnung? Falls es dich interessiert…“, sagte ich wieder etwas ruhiger. Er sah mich an, seinen Blick konnte ich nicht deuten. „Nur zu“, antwortete er und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.

Unterbewusst registrierte ich diese abwehrende Körpersprache. Meine Reaktion darauf war ein emotionaler Ausbruch. „ICH bin nicht glücklich! ICH will so nicht weitermachen! ICH will, dass sich etwas ändert!“ Meine Stimme brach ab. Ich zitterte.
Er sah mich aufmerksam an. Blieb ganz ruhig. „Du willst so nicht weitermachen…“, wiederholte er eine meiner Aussagen. Sie dürfte ihn wachgerüttelt haben. Ich stellte mich vor ihn hin, mittlerweile liefen Tränen über mein Gesicht. „ICH… vermisse dich!“, schluchzte ich und fing an zu weinen.
Sanft zog er mich zu sich auf die Couch und nahm mich in den Arm. So wie früher. Ich krallte mich mit meiner ganzen Kraft an ihm fest und verbarg mein Gesicht in seiner Brust.
Plötzlich war sie wieder da. Diese Nähe, die ich so sehr vermisst hatte. Den Kontakt, die Wärme, die Streicheleinheiten. Er küsste meine Stirn und hielt mich weiter fest. Langsam beruhigte ich mich wieder und lockerte meine Umarmung.
Als er das merkte, löste er sich vorsichtig und nahm mein Gesicht in beide Hände. „Was kann ich tun?“, fragte er leise und sah mich an. „Mich beachten. Mich nicht als selbstverständlich ansehen. Mich in dein Leben einbeziehen. So wie früher“, flüsterte ich.
Er nickte leicht. Irgendetwas in seinem Blick irritierte mich. „Und was kannst du tun?“, fragte er weiter. Mein Atem setzte kurz aus. Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. War ich etwa schuld? Hatte ich es so weit kommen lassen?

Ich setzte mich aufrecht hin und wich leicht zurück. Er ließ seine Hände sinken und sah mich erwartungsvoll an. „Wenn es so ist, wie es jetzt ist, und es dir nicht gefällt, bin ich nicht allein dafür verantwortlich“, erklärte er mit ruhiger Stimme. „Ich komme offensichtlich nur besser damit zurecht, weil ich diese Art von Ansprüchen nicht habe. Nicht so wie du“, sprach er weiter. Nach wie vor fixierte er mich mit seinem Blick.
Seine Aussagen machten mir Angst. „Würdest du den Rest deines Lebens so weiterleben wollen?“, fragte ich ungläubig. Er zuckte mit den Schultern. „Für mich ist es gut so, wie es ist. Ich liebe dich, und ich denke, dass weißt du auch. Aber soll ich dir nach zehn Jahren immer noch Blumen bringen und mit dir ausgehen? Ich finde, aus dem Alter und dieser Art von Beziehung sind wir draußen.“ Seine Stimme klang liebevoll, aber seine Worte waren kalt.
Er würde so weitermachen. Jeden Tag, einfach so weitermachen. Ihm gefiel es, er war zufrieden. Ich kannte mich nicht mehr aus. „Warum fragst du mich dann, was ich tun kann? Hätte ich überhaupt eine Möglichkeit, irgendetwas zu beeinflussen? Wenn für dich sowieso alles passt, so wie es ist?“ Seine Erklärungen waren für mich widersprüchlich.

Jetzt war er es, der aufstand und durch den Raum wanderte. Er blieb vor dem Bücherregal stehen und las die Buchrücken, die auf seiner Augenhöhe standen. Ich sah ihm nach und wartete auf eine Antwort. Eine Reaktion. Irgendetwas. Eine kleine Ewigkeit saß ich auf der Couch, während er in Ruhe die Büchertitel zu lesen schien.
„Du kannst gerne etwas tun. Etwas anders tun. Dich verändern. Ich habe mich für dich entschieden, egal, wie du dich veränderst. Wenn du dich veränderst. Dasselbe wünsche ich mir von dir. Ganz einfach“, erklärte er. Ohne mich dabei anzusehen.

Ganz einfach. So einfach war das aber nicht. Ich lehnte mich zurück und starrte an die Zimmerdecke. Natürlich akzeptierte ich ihn so, wie er war. Ich wollte ihn nicht verändern. Oder etwa doch? War es so egoistisch, mehr Beachtung in der Beziehung zu verlangen? Was sollte ich jetzt mit seiner Aussage anfangen? Ich bemerkte, dass er sich wieder zu mir drehte. „Ich geh schlafen. Gute Nacht. Hab dich lieb“, beendete er unser Gespräch und verließ das Zimmer.
Perplex blieb ich zurück. Ich konnte mich verändern, und er würde mich weiter lieben. Aber er würde sich nicht verändern, und das musste ich akzeptieren. Er kam mir nicht entgegen. War nicht der Meinung, dass er einen kleinen Kompromiss eingehen könnte. Was hatte ich davon, mit einem Menschen zusammenzuleben, der mich liebte – aber mit dem ich nicht glücklich war?
Wieder poppte ein Gedanke auf: Du liebst ihn auch. Aber plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob es wirklich noch Liebe war. Von draußen hörte ich Geplätscher aus dem Badezimmer und seine Schritte, als er ins Schlafzimmer ging. Er machte so weiter wie immer. Weil es für ihn so in Ordnung war, wie es jetzt war.
Stumm flossen wieder Tränen über mein Gesicht, und ich schloss die Augen. Mein Herz war noch schwerer geworden an diesem Abend. So hatte ich mir den Verlauf des Gesprächs wirklich nicht vorgestellt. Ich presste die Lippen zusammen und versuchte krampfhaft, nicht laut aufzuschluchzen. Das sollte er nicht hören.

Ich wartete ein paar Minuten und ging dann leise ins Badezimmer, um meinen Pyjama anzuziehen und die Zähne zu putzen. Als ich fertig war und ins Schlafzimmer ging, um mich auf meine Seite des Bettes zu legen, traf mich die Ernüchterung wie ein Schlag auf den Kopf. ICH wollte so nicht weitermachen.
Er lag mit dem Rücken zu mir gedreht, und schlief. Er schlief tief und fest. Wie an jedem anderen Tag. Als ob auch die Unterhaltung von vorhin nur ein weiterer Smalltalk von vielen gewesen war. Aufmerksam lauschte ich seinen gleichmäßigen Atemzügen.
Für einen Augenblick beneidete ich ihn. Dafür, dass es für ihn so einfach war. Dafür, dass es nicht an ihm nagte. Dafür, dass es ihm nicht den Schlaf raubte. Aber ich wollte diesen einfachen Weg nicht gehen. Auch wenn es hieß, eine schwere Entscheidung zu treffen. Wobei… Vielleicht hatte ich die Entscheidung schon längst getroffen. Das heutige Gespräch hatte es möglicherweise nur offensichtlich gemacht.
Da lag ich nun, Seite an Seite mit einem Mann, mit dem ich die letzten zehn Jahre meines Lebens verbracht hatte. Der mir oft so nah gewesen war wie kein anderer Mensch in meinem Leben. So nah, dass es weh getan hatte, wenn er nicht da war.
Jetzt tat es auch weh. Doch jetzt war der Grund der, dass wir uns im selben Raum befanden und ich trotzdem das Gefühl hatte, dass er nicht da war. Diese Tatsache schmerzte. Sie schmerzte unendlich. Die Erkenntnis, dass diese Beziehung vielleicht keine Zukunft mehr hatte, zerriss mir das Herz. Aber ich wollte es noch einmal versuchen. Das war ich uns beiden schuldig.

Petra Hechenberger

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 16007

Big Girls Cry

(inspired by Sia’s Song)

„Was heißt, die Verkaufszahlen stagnieren? Das Memo aus der Vertriebsabteilung weist ein Plus von 2,1% aus! Nennst du das Stagnation? Soll ich dir das Wort erklären?“, Susan telefonierte mit ihrem Vorgesetzten, während sie die Treppen zu ihrem Appartement hochging. Ihre Stimme war schrill.
Es war bereits nach neun Uhr abends. Ein anstrengender 12-Stunden-Arbeitstag lag hinter ihr. Unterwegs hatte sie noch Brot, Milch und Katzenfutter besorgt. Ihr Kopf dröhnte. Das Geplapper ihres Chefs war da nicht hilfreich.
„Ich kann mir dir reden, wie ich will, Charlie! Durch wen hast du denn diesen Scheiß-Posten überhaupt bekommen? Denk mal nach! Und jetzt lies dir das Memo nochmal richtig durch und quäl mich morgen wieder! Adios!“ Sie beendete das Telefonat und suchte in ihrer Handtasche nach dem Wohnungsschlüssel.

Um den Tag perfekt zu machen, riss die Einkaufstüte, und die Lebensmittel fielen auf den Boden. Die Milchpackung platzte auf und übergoss das Brot. Ihre Business-Hose und ihre Schuhe waren mit Milch vollgespritzt. „Verdammte Scheiße!“, schrie Susan genervt und trat mit voller Wucht gegen ihre Tür.
Joe, ihr Nachbar, öffnete vorsichtig seine Tür und beobachtete die Szene. Susan stand mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf vor ihrer Tür und atmete tief ein und aus. Er sah das Chaos vor ihrer Tür und griff nach dem Müllsack, den er gerade raus zur Tonne bringen wollte.
„Schätzchen, beruhig dich. Aufregen hat doch keinen Sinn. Ich mach das hier sauber. Geh rein und lass dir ein Bad ein oder mach dir einen Drink. Ich glaube, du hast sowas notwendig“, sagte Joe mit seiner tiefen, sonoren Stimme. Er war bereits im Rentenalter und eine gute Seele.

Susan drehte sich um und musste lächeln. Sie freute sich immer, wenn sie ihn sah. Er strahlte so viel Ruhe und Gelassenheit aus, dass sie sich oft wünschte, sie könnte sich ein paar Scheibchen davon abschneiden. Um ihre Probleme besser handeln zu können.
„Hallo Joe. Das ist echt nicht notwendig“, begann Susan, aber Joe stoppte sie mit einer abwehrenden Handbewegung. „Nichts da, Kleines. Sieh zu, dass du reinkommst und abschalten kannst. Keine Widerrede!“ Seine autoritäre Tonlage duldete keinen Widerspruch. Susan strich ihm kurz dankend über die Schulter und hob anschließend ihre Tasche und das Katzenfutter vom Boden auf.
Joe hatte unterdessen das Brot und die Milchpackung aufgelesen und in seinen Müllsack katapultiert. Dann schob er Susan sanft aber bestimmt Richtung Tür. „Jetzt mach schon. Schönen Abend, Susan“, meinte er freundlich und nickte ihr zu.

Sie öffnete die Wohnungstür. „Ich danke dir, Joe. Ich wünsch dir auch einen schönen Abend!“, sagte sie leise und schloss die Tür hinter sich. In der Wohnung war es für einen Moment still. Im nächsten Augenblick wurde das Vorzimmer von einem lauten Schnurren beherrscht. Maggie, ihre Katze, hatte sich vom Wohnzimmer aus aufgemacht, um Susan wie jeden Abend freundlich zu begrüßen. Oder sie hatte einfach nur Hunger. Wahrscheinlich Letzteres.
„Dein Futter hat es bis hierher überlebt, Süße. Im Gegensatz zu meinem“, sagte sie und hob Maggie hoch, um sie zu streicheln. Das Ritual war Pflicht. Maggie war eine Schmusekatze. Nach so einem Tag wie heute war ihr Schnurren wie Balsam.
Susan gab ihr einen Kuss auf den Kopf und ließ Maggie wieder auf den Boden hüpfen. Sie schmiss ihre Handtasche in eine Ecke des Vorzimmers, die Schuhe flogen in hohem Bogen nach, als sie sie auszog. Anschließend folgte sie ihrer Katze in die Küche, die dort bereits sehnsüchtig vor ihrem Futternapf wartete. Susan versorgte ihre kleine Mitbewohnerin, wie es sich für Katzenpersonal gehörte.

Danach wanderte sie ins Badezimmer. Vor dem Badezimmerspiegel musterte sie sich aufmerksam. Sie war Anfang 30, durchschnittlich hübsch. Wusste, wie sie ihre Vorzüge betonen konnte, ohne niveaulos zu wirken.
Sie tat es nicht gerne. Ihre Vorzüge betonen. Aber das mittlere Management ihrer Firma bestand aus neun Männern und einer Frau – das war sie. Man ließ ihr oft keine Wahl – in einer von Männern dominierten Welt mussten Frauen ihre eigenen Waffen benutzen.
Susan blickte sich selbst in die Augen. Ihr Blick war müde, leer, ausgebrannt. Im Job war sie täglich gefordert, war tough, musste wichtige Entscheidungen treffen. Sie dachte auch zu Hause über dienstliche Angelegenheiten nach. Entscheidungen, die zu treffen waren, To-dos für die nächsten Tage.
Dass sie abends auf der Couch E-Mails beantwortete oder Termine verschickte, war in den vergangenen Wochen tägliche Routine geworden. Abschalten war ein Fremdwort. Das funktionierte maximal am Wochenende.
Sie war zwar seit jeher karrierebewusst gewesen, hatte aber früher immer auf eine ausgeglichene Work-Life-Balance geachtet. Um mehr Zeit für ihre Beziehung mit Robert zu haben, mehr Zeit für ihre Familie, Freunde, für sich selbst.
Aber Robert war weg. Hatte nach fünf Jahren Schluss gemacht. Und die meisten ihrer Freunde mitgenommen. Es gab kaum noch jemanden, der sich bei ihr meldete. Sie hatten sich alle für seine „Seite“ entschieden. Ihre Familie sah sie nun meistens an den Wochenenden. Und für sich selbst? Brauchte sie keine Zeit. So dachte sie zumindest.

Susan schlüpfte in eine schlabbrige Jogginghose und ihr Schlafshirt, erlöste ihre Haare aus dem französisch geflochtenen Zopf und bürstete sie durch. Danach ging sie zurück in die Küche.
Sie fand im Kühlschrank noch ein paar Himbeeren und ein Jogurt. Beides schüttete sie in eine Schüssel, wusch einen bereits benutzten Löffel schnell ab und ging mit diesem Abendessen ins Wohnzimmer, um sich auf die Couch zu setzen. Sie schaltete den Fernseher an und stellte den Ton aus, danach platzierte sie den Laptop auf ihrem Schoß.
Während der Laptop startete, aß sie ihr Himbeerjogurt und starrte durch den Fernseher hindurch. Es war ein einsames Leben, in dem sie momentan festsaß. Ihr Job war ihr neuer Liebhaber geworden. Obwohl sie nie so werden wollte. Aber etwas anderes war da nicht, in ihrem Leben.
Sie vermisste ihn. Er wollte sich selbst finden, hatte er damals gesagt. Sich klar werden, was er von der Welt und sich selbst erwartete. Dazu musste er allein sein. Und hatte damit Susan automatisch dazu verdonnert, ebenfalls allein zu sein.
Susan hatte sich die Trennung nicht großartig anmerken lassen. Im Büro wussten es nicht viele. Persönliche Dinge erzählte sie nur einer Handvoll Kollegen, mit denen sie sich wirklich gut verstand.

Sie blinzelte und sah sich die Bilder bewusst an, die über den Fernsehschirm flimmerten. Nachrichten. Das übliche. Arbeitslosigkeit, Bildungsproblem, Vorwahlen. Das Wetter. Das Brummen ihres Smartphones ließ sie aufzucken. Das LED-Licht blinkte. Eine neue Nachricht.
Es war sechs Wochen her, dass er sie verlassen hatte. Und trotzdem ließ jedes Kommunikationsmedium ihr Herz schneller schlagen. Ein kleiner Teil von ihr hoffte nach wie vor, dass Robert wieder Kontakt aufnahm. Dass er reumütig zurückkehren würde. Dass er erkannt hatte, was für ein Idiot er gewesen war, die Beziehung zu beenden.
Susan stellte die mittlerweile leere Schüssel auf den Couchtisch und räusperte sich, während sie das Smartphone in die Hand nahm. Sie hielt die Luft an, als sie das Display aktivierte. Neue SMS von Charles Berry. Charlie. Ihr Chef. „Du hattest Recht. Sorry. CU“
Genervt schmiss sie das Smartphone in die andere Ecke der Couch und widmete sich ihrem Laptop. Vollidiot. Und so etwas war ihr Vorgesetzter. Ihr Herzschlag normalisierte sich wieder. Sie öffnete das Mailprogramm. Zwölf ungelesene Nachrichten in der letzten Stunde. Susan starrte auf die Tastatur.
Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Was machte sie hier eigentlich? Wer dankte es ihr, dass sie hier saß und weiterarbeitete? In ihrer Freizeit? Bezahlt bekam sie die Stunden, die sie allein hier auf ihrer Couch verbrachte, natürlich nicht. Obwohl ihr das Geld eigentlich egal war.

Sie brauchte Ablenkung. Damit ihre Gedanken nicht 24 Stunden lang um Robert kreisten. Susan spürte, wie ihre Augen glasig wurden. Sie versuchte, ihre Augen aufzureißen und die Tränen zurückzudrängen, aber es gelang ihr nicht.
Also war es heute wieder so weit. Sie sackte in sich zusammen und schloss die Augen. Den Laptop zog sie blindlings von ihren Beinen und legte ihn neben sich auf die Couch. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Leise schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in einem der Zierkissen.
Mindestens drei oder vier Abende in der Woche gewannen die Emotionen Oberhand. Susan ließ es zu. Sie war allein, nur ihre Katze beobachtete sie dabei, wie sie in Tränen aufgelöst auf der Couch oder im Bett lag und vor sich hin schluchzte. Es tat gut, diese Gefühle rauszulassen. Zumindest für den Moment.

Es hätte alles so toll laufen können. Sie war im Job erfolgreich, angesehen, und hatte eine funktionierende Beziehung. Dachte sie zumindest – bis vor sechs Wochen. Seit dem Tag, als Robert seine Sachen gepackt und ausgezogen war, stand sie neben sich.
Ihr ganzer Lebensrhythmus war durcheinandergeraten, und sie hatte nicht das Gefühl, dass sie sich jemals wieder fangen würde. Es war verrückt, wie ein einzelner Mensch so viel Einfluss haben konnte – obwohl er gar nicht mehr hier war.
Vor ihren geschlossenen Augen tanzten Sterne, so fest drückte sie das Kissen gegen ihr Gesicht. Die Kopfschmerzen wurden immer stärker. Aber die Tränen, die Erschöpfung, die Wut, die Ratlosigkeit… das alles musste raus.
War es ein Zusammenbruch? Vielleicht. Ein kleiner. Irgendwann mussten diese Gefühle ja raus. Susan sprach kaum über ihren Gemütszustand. Es ging auch keinen etwas an. Der eine oder andere, der sie besser kannte, vermutete, dass es ihr nicht gut ging. Aber es sprach sie keiner darauf an. Wie gesagt. Es ging niemanden etwas an.

Susan hob langsam ihren Kopf und öffnete die Augen. Sie sah auf das Zierkissen, das Spuren von ihrer Mascara und dem Tages-Make-up abbekommen hatte. War auch nicht das erste Mal. Sie zupfte ein Taschentuch aus dem Behälter, der auf der Couchlehne stand.
Während sie sich die Nase putzte, stupste Maggie sie vorsichtig am Ellbogen an und schnurrte. Sie war satt, hatte ihre Katzenhygiene abgeschlossen und wollte nun weiter ihre Streicheleinheiten. Vielleicht merkte sie aber auch, dass Susan Ablenkung brauchte und gab nicht auf, bis Susan sie auf ihren Schoß stellte und anfing, mit beiden Händen zu kraulen.
Sie musste lächeln. Maggie war sehr anhänglich. Manchmal fast schon zu anhänglich. Aber an Tagen wie diesen war es genau das, was sie brauchte. Nicht auszuhalten, wenn sie die letzten Wochen heimgekommen wäre und es wäre nicht mal ihre Katze dagewesen. Dann hätte sie wahrscheinlich seit Ewigkeiten die Wohnung nicht verlassen oder angefangen, im Büro zu schlafen.
Diese Gedankenräder. Es war immer wieder ein Hin und Her. Trauer über die verlorene Zeit. Optimismus, einen neuen Mann zu finden, der sich selbst gefunden hatte und wusste, was er wollte. Sehnsucht nach Robert, seiner Stimme, seinen Zärtlichkeiten. Der Vorsatz, eine Zeit lang alleine bleiben zu wollen, eine egoistische Phase zu haben. Die Erkenntnis, dass sie sich trotz allem in den letzten Tagen öfter dabei ertappt hatte, auch anderen Männern nachzublicken.

Susan lag seitlich auf der Couch, vor ihr schmiegte sich Maggie an ihre Brust und schnurrte entspannt. Sie streichelte die dösende Katze zärtlich und beobachtete, wie sie langsam einschlief. Das Schnurren wurde leiser, und hörte schließlich ganz auf. Sie schlief. Im Gegensatz zu Susan. Ihre Augen, ihr Körper, waren müde – aber ihr Geist arbeitete fast durchgehend und ließ einen erholsamen Schlaf nicht zu.
Ihr Blick schweifte wieder Richtung Fernseher. Bedingt durch die Tränen, die immer noch flossen, nahm sie nur verschwommen wahr, welche Sendung lief. Irgendeine Sitcom, wahrscheinlich die hundertste Wiederholung einer alten Staffel. Susan seufzte und griff nach der Fernbedienung, um den Fernseher wieder abzuschalten.
Vorsichtig setzte sie sich auf, um ihre Katze beim Schlafen nicht zu stören. Maggie riskierte ein kurzes Blinzeln und breitete sich dann auf der Couch aus, um weiterzuschlafen. Susan stand auf und brachte das Geschirr in die Küche. Anschließend ging sie nochmal ins Badezimmer.
Wieder stand sie vor dem Spiegel und betrachtete sich. Ihre Augen waren rot, ihr Gesicht geschwollen und das Make-Up verschmiert. Da stand sie. Allein. Traurig. Zornig. Enttäuscht. Hilflos. Sie drehte das kalte Wasser auf und wusch sich die Hände. Anschließend beugte sie sich hinunter und fing an, sich das Gesicht zu waschen.
Das kalte Wasser tat ihren erhitzten Augen und Wangen gut. Sie schöpfte das kühle Nass und tauchte ihr Gesicht ein. Ein Blick in den Spiegel ließ sie erkennen, dass ihr das Wasser guttat. Die Schwellungen fingen an, sich zurückzuziehen. Automatisiert erledigte Susan ihre Abendhygiene mit Reinigungswasser und Nachtcreme, putzte sich wie von fremder Hand gesteuert die Zähne.

Der Weg ins Schlafzimmer war nicht weit. Susan trottete zu ihrem Bett und ließ sich darauf fallen. Zudecken musste sie sich nicht, ihr war nicht kalt. Sie starrte an die Decke. Keine Gedanken. Alles mit dem Make-up und der Zahnpasta in den Abfluss gespült.
Das Fenster war gekippt, von draußen hörte sie den Straßenmusiker, den sie vorhin an der Ecke ihres Appartementhauses hatte stehen sehen. Er hatte eine angenehme Stimme, und sang von Liebe und Schmerz. Wie passend.
Susan schloss die Augen. Auf Basis der Melodie des Straßenmusikers zuckten Bilder vor ihrem inneren Auge. Erinnerungen. Schöne. Aber auch böse. Sie atmete ruhig ein und aus. Irgendwann überfiel sie der Schlaf, und sie träumte. Von einem entspannten Urlaub am Strand. Auf einem Sonnen-Liegeplatz für zwei. Sie kuschelte sich an ihn. Die Sonne schien, sie roch sein Aftershave, es ging ihr gut.
Sie fuhr mit dem Finger über seinen Bauch und zog kleine Kreise. Er strich zärtlich mit seinen Fingern über ihren Rücken. Sie schien glücklich. Gerade als sie den Kopf hob und ihm ins Gesicht sehen wollte, gab es einen lauten Krach. Sie wachte auf. Für einen Moment sah sie sich irritiert um. Es war Nacht. Es war kühl. Sie lag in ihrem Bett. Allein.

Susan hörte ein leises Schleckgeräusch. Anscheinend hatte Maggie die Jogurtschüssel in der Küche entdeckt und hatte sie vom Tisch runtergeschoben. Der Krach, als die Schüssel am Fliesenboden aufgeschlagen war, hatte sie wohl geweckt.
Sie seufzte leise und sah auf den Radiowecker. Kurz nach drei Uhr morgens. Sie hatte zur Abwechslung wirklich ein paar Stunden am Stück schlafen können. Ihre Hände tasteten im Dunkeln ihr Gesicht ab. Die Schwellungen waren zurückgegangen, auch ihre Kopfschmerzen waren verschwunden.
Umständlich zerrte sie ihre Decke unter sich hervor und kuschelte sich darin ein. Danach schloss sie wieder die Augen. Vielleicht konnte sie noch einmal weiterschlafen. Ihr Innenleben hatte sich beruhigt. Sie hatte wieder einen klareren Kopf als noch vor ein paar Stunden. Das war doch ein gutes Zeichen.
War sie erfolgreich? Ja. War sie glücklich? Nein. Würde sie wieder glücklich sein? Ja. Irgendwann. Sicher. Das Leben ging weiter. Ein schwaches Lächeln schlich sich in ihr Gesicht, bevor sie wieder einschlief. Sie war schließlich ein großes Mädchen. Und auch große Mädchen weinen. Manchmal.

Petra Hechenberger

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Magenbitter

Ich war so sehr in sie vernarrt
Dass ich von Kopf bis Fuß erstarrte
So hab ich Jahre ausgeharrt
Doch dacht’ ich: Gut, ich warte

Und als der Schmerz vergangen war
Ich bekam schon graues Haar
Ist es mir dann doch gelungen
Bin zu ihr ins Bett gesprungen

Es war des Glücks fast schon zu viel
Vom Warteplatz direkt ans Ziel
Nach all dem hungernden Verlangen
Das Feenkind doch eingefangen

Es atmeten unsere Glieder
Rosenduft und den von Flieder
Wir wogten selig auf und nieder
Und dann wieder

Ich dacht’, was ich noch nie gedacht:
Nachdem du’s schon so weit gebracht
Wird sie auch die Deine bleiben
Dann musst’ ich’s noch mal mit ihr treiben

Am nächsten Tag war sie verschwunden
Hab ein paar Zeilen von ihr gefunden
Da saß ich da – geprellter Ritter –
Sie nahm mich nur als Magenbitter

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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15 Stunden

„In Kürze erreichen wir unsere letzte Station, den Salzburger Hauptbahnhof“, eine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken, ich nehme die Kopfhörer ab, „Vielen Dank, dass Sie sich bei Ihrer Reise für uns entschieden haben. Wir wünschen Ihnen noch einen schönen Abend! Auf Wiedersehen!“ Ohne Pause fährt der unsichtbare Sprecher fort, seine Rede in gebrochenem Englisch zu wiederholen: „In a short while …ehm… we’re reaching our final station: Salzburg … ehm… main station. Thank you for …ehm… choosing… traveling with us … ehm… have a nice evening, good bye!“ Die letzten Worte kamen so schnell, dass man sie kaum verstehen konnte. Irgendwie finde ich die Stimme oder doch eher das Nicht-Beherrschen einer Sprache, die sie wahrscheinlich jeden Tag gebrauchen muss, um die immer gleichen Phrasen zu wiederholen, sympathisch. Irgendwie halte ich diese Menschen für ehrlich. Oder für ehrlicher. Zumindest finde ich sie aufrichtiger als Menschen, die ständig darum bemüht sind, den Schein des Beherrschens aufrechtzuerhalten, obwohl sie absolut kein Gefühl für eine andere Sprache als die eigene haben, vielleicht nicht einmal für die eigene.

Nachdem die Durchsage vorüber war und ich mir kurz Gedanken über Menschen und Sprachen gemacht habe, schalte ich meinen iPod aus, der während der gesamten Fahrt auf ungefähr einem Viertel der vollen Lautstärke lief, und man kann sich vorstellen, dass ich nur wenig von der Musik, aber dafür mehr von der Geräuschkulisse, die sich um mich herum auftat, mitbekam. Natürlich können auch die Klänge der Umgebung einiges hergeben, oft komme ich sogar absichtlich in den Genuss, diesmal allerdings war dem nicht so. Dass ich mir gut zwei Stunden anhörte, wie Elisabeth sich zwischen Leben und Tod bewegt und alle in ihrem Umfeld zurückstößt, außer den Tod selbst, war mir zwar nicht peinlich, aber ich befürchtete belustigte Blicke oder gar eine hochgezogene Augenbraue. Vor allem in dem Moment, als Annemieke van Dam „Ich gehör nur mir“ schmettert, denn spätestens hier wissen die meisten Bescheid, dass es sich um das Musical Elisabeth handelt, und ich befürchte eine Fehleinschätzung meines Charakters. Bin ich kitschig, anspruchslos, hochintelligent oder nichts von alledem? Wahrscheinlich Letzteres. Wahrscheinlich ist es den Leuten auch herzlich egal, was ich in meiner Playlist habe. Wahrscheinlich werde ich die Lautstärke weiter auf einem Minimum halten.

Ich verstaue, besser gesagt ich werfe meinen iPod in meine 20 Euro teure H&M-Handtasche aus braunem, nennen wir es „Leder“. Noch einmal checke ich mein Spiegelbild im Zugfenster, wobei ich eigentlich nur meinen Lidstrich kontrollieren möchte, da ich mir vor kurzem einen neuen Liquidliner gekauft hatte, dem ich noch nicht vertraue – alles bestens. Mit meinen Haaren bin ich nicht ganz zufrieden, aber daran kann ich jetzt nichts ändern. Ansonsten trage ich ein schwarzes, kurzes Kleid, schwarze Schuhe und ein paar Ringe aus Silber. In Schwarz fühle ich mich immer am sichersten. Ich weiß nicht, warum.

Der Zug hält. Ich schnappe meine Reisetasche und bereue es, für ungefähr fünf Tage gepackt zu haben, obwohl ich nur zwei Tage hier bin.
Ich betrete den Salzburger Bahnsteig um 17 Uhr 9. Jetzt heißt es, den mir beschriebenen Ausgang zu finden, was eine nicht sonderlich schwierige Aufgabe sein sollte. Wie sich herausstellt, ist es wirklich keine schwierige Aufgabe. Sofort finde ich den richtigen Ausgang, entscheide mich für den linken Stiegenaufgang und hoffe, es ist der richtige. Es ist der richtige. Drei Minuten, nachdem ich aus der Bahn gestiegen bin, sehe ich ihn zum ersten Mal seit fast vier Wochen. Ohne es kontrollieren zu können, beginne ich zu lächeln. Er steigt aus dem Mini Cooper, den er sich von seiner Nachbarin aus Wien ausgeliehen hat. Mit einem lockeren „Hallo, Anna“, das ich mit einem langgezogenen „Hallo“ erwidere, geht er um das Auto herum, und zum ersten Mal seit fast vier Wochen darf ich ihn berühren. Wie immer begrüßen wir uns wie zwei alte Freunde: eine Art kleine Umarmung mit Küsschen links und rechts auf die Wange. Er verstaut meine Tasche im Kofferraum. Noch bevor ich die Beifahrertür aufmachen kann, eilt er an meine Seite und öffnet sie für mich. Ich bin mir nicht sicher, ob er weiß, wie sehr ich das schätze.

Während der dreißigminütigen Fahrt zu seinem Haus „am Berg“, wie er es selbst nennt, bewegen sich unsere Gespräche zwischen Erzählungen von meiner zweiwöchigen Indienreise, von der ich letzte Woche zurückgekommen war, der starken Darmentzündung, die ich am Tag der Heimreise bekommen habe und meiner langsamen Genesung. Er erzählt mir von seiner jüngeren Schwester und ihrer Familie, die auf Lanzarote leben und ihn besuchen gekommen waren, von ihren Kindern, den damit einhergehenden großen und kleinen Problemen, er spricht über seine Freunde, die ich nur von Fotos kenne, und dann reden wir auch über das Wetter. Wie jedes Mal hoffe ich, nichts Falsches zu sagen. Wie jedes Mal hoffe ich, dass er mich nicht als „Kind“ betrachtet. Wie jedes Mal, wenn er schweigt, frage ich mich, ob er sich die Sache mit uns nochmals überlegt. Jedes Schweigen frage ich mich, warum er mich wollen sollte. Ich bin auf den Tag genau zwanzig Jahre jünger. Er ist 41 und ich bin 21. Ich bin Studentin, er ist Schauspieler. Oft vergesse ich den Altersunterschied, da es ohnehin keine Rolle spielt, was mich viel mehr verunsichert, ist sein Interesse an mir. Warum ich? Ihn zu fragen, hab ich mich bisher nicht getraut. Auch diesmal nicht. Ich sehe ihn an und bin froh, dass er nicht weiß, wie es mir eigentlich geht. Dass er nicht weiß, wie sehr ich ihn mag und wie groß meine Angst ist, ihn zu verlieren.

Endlich kommen wir oben an. Wieder bin ich von dem Ausblick überwältigt, dennoch versuche ich cool zu bleiben. Er holt meine Tasche aus dem Auto und wir gehen ins Haus. Ob ihm auffällt, dass ich viel zu viel eingepackt habe? Falls ja, lässt er sich nichts anmerken.
Das Erste, was er mir drinnen anbietet, ist ein Haselnuss-Schnaps, den ich von meinem ersten Mal hier kenne. Natürlich lehne ich nicht ab. Er selbst gießt sich auch einen Kurzen ein. Vor und während des Trinkens kommt mir vor, als wäre er nervöser als ich. Dieses Gefühl habe ich häufiger. Sicher bin ich mir dessen aber nicht.

Mir fällt ein, dass ich ihm etwas aus Indien mitgebracht habe. Bevor ich ihm den kleinen Smaragd-Ganesha gebe, habe ich das Bedürfnis ihm zu erklären, von wo ich diesen und warum ich gerade dieses Geschenk für ihn ausgewählt habe, doch alles, was aus meinem Mund kommt, ist Chaos. Alles, was ich mir vorher an Erklärungen zurechtgelegt habe, ist aus meinem Kopf verschwunden, sodass ich ihm die Figur einfach in die Hand drücke. Er freut sich mehr darüber, als ich gedacht hätte. Ich bin erleichtert. Mehr als das. Ich bin in diesem Augenblick so glücklich, dass ich mir fast sicher bin, mich mehr als er über mein Geschenk zu freuen.

Nachdem er mir in seinem Schlafzimmer die neue, dunkelbraune Wandfarbe gezeigt hat und die neue LED-Lichterkette hinter seinem Bett, fragt er mich, ob ich Hunger hätte, ich sage ja. Er fragt mich, ob ich gerne ein Bier hätte, auch dazu sage ich nicht nein.
In der Küche holt er die verschiedensten Zutaten aus dem Kühlschrank und erkundigt sich immer wieder bei mir, ob er dies oder jenes machen solle oder lieber nicht. Ich sage zu allem einfach ja. Was Essen betrifft, verlasse ich mich auf ihn, denn im Gegensatz zu mir hat er Ahnung vom Kochen. Während er also mit der Zubereitung von gut fünf verschiedenen Gerichten beschäftigt ist, versuche ich, schon leicht angetrunken, ihn durch Geschichten zu unterhalten. Leider bin ich keine gute Erzählerin und nur die wenigsten meiner Erlebnisse kann ich so wiedergeben, dass sie den gewünschten Effekt erzielen. Meist scheitere ich an witzigen Begebenheiten. Nicht selten endet eine solche Geschichte mit dem Satz: „Du hättest dabei sein müssen, um es lustig zu finden.“ In solchen Situationen wird mir der Altersunterschied doch wieder bewusst. Die Angst, ihn zu verlieren steigt wieder an. Aus Verlegenheit spricht mein Mund weiter. Jedoch ohne Kontrolle von oben. Die nächste Peinlichkeit ist im Anmarsch.

Irgendwann schaffe ich es doch, still zu sein. Ich sehe ihm einfach beim Kochen zu. Er blickt auf und sieht mich an. Er beginnt zu lächeln. Ich tue es ihm gleich.
„Du bist lustig“, sagt er, „Ein bisschen was Katzenhaftes hast du schon.“ Das habe ich von ihm schon ein paar Mal gehört. Ich bin nicht sicher, ob er sich über mich lustig macht, weil zu Hause zwei Katzen auf mich warten, oder es ernst meint.
„Warum?“, ich lache. Wahrscheinlich, um zu verstecken, dass mir die Antwort wichtiger ist als er ahnt. Vielleicht mache ich mich auch nur über mich selbst lustig. Ich finde mein Verhalten lächerlich.
„Nur so“, mit einem Schmunzeln wendet er sich wieder seinen Gerichten zu. Ich bin beruhigt. Er schafft es immer wieder, dass ich mich wohlfühle. Genauso wie er es schafft, das Gegenteil in mir auszulösen.
„Warst du schon mal verliebt?“
Ich zögere. Die Frage überrascht mich. Ich antworte mit „Ja“.
„Und du?“
Er zählt lachend an den Fingern ab, dann sagt er ebenfalls nur schlicht „Ja“. Ich wäre schockiert gewesen, wenn er „Nein“ gesagt hätte. Damit ist das Thema beendet.

Beim Essen reden wir über unsere Familien, die guten, aber auch die schlechten Seiten. Die meiste Zeit spricht er. Ich finde es wunderschön, seine Gedanken zu den unterschiedlichsten Themen zu hören. Im Gegensatz zu mir kann er das, was er denkt, gut in Worte fassen. Das bewundere ich. Ich bewundere viele Dinge an ihm, zum Beispiel seine Selbstsicherheit, ohne überheblich zu sein. Ich wünschte, ich wäre auch nur annähernd so selbstbewusst. Mein Selbstbewusstsein fußt auf der Tatsache, dass es nicht echt ist. Viele Menschen sind der Meinung, ich wäre mir meiner Selbst sicher. Die Fassade aufrechtzuerhalten, ist nicht schwer, außer bei ihm. Er hat schon früh gemerkt, dass ich eher von Unsicherheit und Selbstzweifel getragen werde. Trotzdem (oder gerade deswegen?) hat er mich gern.

Ich helfe ihm, den Tisch abzuräumen. Mehrmals gehen wir hin und her, tragen Teller, Gläser, Schüsseln und Besteck in die Küche. Er berührt mich kurz am Arm und ich spüre, wie mein Herz sich fast überschlägt, aus Freude über dieses Bisschen Nähe. Als er beginnt, all das Geschirr abzuwaschen, habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm dabei nicht helfen kann. Es ist zu wenig Platz, um zu zweit sauberzumachen. Geschichten, bei denen ich mich im Nachhinein sowieso gefragt hätte, warum ich sie erzählt habe, fallen mir nicht ein. Nicht eine. Mein Kopf ist völlig leer. Ich stehe einfach nur da und komme mir unglaublich nutzlos vor. Was er in diesem Moment denkt, ist mir ein Rätsel. Ich hoffe nur, es ist nicht dasselbe wie das, was ich gerade über mich denke.

Er geht unter die Dusche. Ich leg mich auf die Couch. Im Hintergrund läuft Loungemusik. Es gelingt mir, trotz ansteigender Müdigkeit wach zu bleiben. Fünfzehn Minuten nachdem er im Badezimmer verschwunden war, kommt er gutaussehend wie immer, aber deutlich frischer wieder zurück und setzt sich zu mir. Er fragt, ob ich noch ein Bier möchte. Ich verneine, zum einen, weil mir das Abendessen fast zu viel war, zum anderen aber, weil ich mir ein bisschen Gedanken über die hohe Anzahl an Kalorien mache. Selbstverständlich würde ich das nie zugeben. Sogar vor mir selbst versuche ich diese eine Sorge zu verbergen oder sie so gut wie möglich zu verdrängen.

Wir reden. Er philosophiert über das Leben. Ich finde es faszinierend, dass er genau das ausspricht, was ich mir schon seit langem denke. Meine Freude darüber, dass wir die gleichen oder ähnliche Ansichten haben, verstecke ich. Ich schweige. Er sieht mich an. Er nimmt meine Beine und legt sie über seinen Unterkörper. Seine Hände ruhen auf meinem Ober- und Unterschenkel. Er spricht weiter. Innerlich bin ich erleichtert, dass er mich immer noch gern hat, obwohl ich von einem Fettnäpfchen ins nächste trete. Ich mag seine Berührungen. In diesen Momenten fühle ich mich sicher. Oder sicherer.

Wir schweigen. Ich sehe meine Beine an. Er sieht mich an.
„Du magst Berührungen nicht so, oder?“, wow. Wie kann meine Körpersprache so sehr von dem abweichen, was ich tatsächlich empfinde? Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ein unsicheres „Doch“ ist das Einzige, was mir dazu einfällt.
Nach einer kurzen Pause fragt er mich, mit einem Blick auf seine Hände und meine Beine: „Ist das okay?“ Mehr als ein schlichtes „Ja“ kommt auch diesmal nicht raus.
„Ich mag Berührungen. Es ist ja okay, wenn man jemanden gern hat und denjenigen berühren möchte. Du hast aber schon mehr positive Gefühle als negative?“ Das Thema macht mich verlegen. „Ja sicher!“, leider weiß ich immer noch nicht, wie ich mein Verhalten erklären soll. Vielleicht weiß ich das schon, ich kann es nur nicht in Worte fassen.
„Es ist nur“, beginne ich endlich, „Ehm… keine Ahnung… ich…“ Gott sei Dank vibriert in diesem Moment sein Handy. Er fragt mich, ob er kurz rangehen könnte, da er einen Anruf erwartet. Beruhigt darüber, dass das Thema damit ein Ende hat, sage ich, es wäre kein Problem für mich.

Er begrüßt seinen Freund, und eines der ersten Themen, die er anspricht, ist meine Hemmung, ihn zu berühren. Ein humorvoller Seitenhieb. Ich versuche, diesen zu ignorieren und bin froh, als sie über etwas anderes sprechen. Während des Gesprächs steht er auf und verschwindet aus meinem Sichtfeld, in Richtung Tür. Wie vielen Menschen, mich selbst eingeschlossen, fällt es ihm schwer, beim Telefonieren still zu sitzen.
Fünf Minuten später kommt er wieder ins Wohnzimmer, setzt sich neben mich und legt seine Hand auf mein Knie. Wieder spricht er meine Schwäche an. Noch einmal möchte ich mich rechtfertigen.

„Naja… du weißt ja, meine letzte Beziehung war nicht so toll“, ich sehe ihn fragend an. Er nickt. Ich fahre fort: „Ich hab immer das Gefühl gehabt … ehm…, dass jede Berührung irgendwie zu viel war…“
„Von dir?“
„Ja schon… Keine Ahnung. Seitdem tu ich mir schwer.“ Seitdem hab ich Angst vor Ablehnung. Wir haben keine richtige Beziehung. Ich hab Angst, dass ich dich zu nahe an mich ranlasse und du irgendwann einfach gehst. Auf der anderen Seite habe ich auch Angst vor einer festen Beziehung und deinen Erwartungen. Ich wünschte, die Zeit würde stillstehen und mir mehr Raum geben. Ich wünschte, ich könnte meine Barriere aus Distanz abstellen und dir all die Dinge sagen, die ich empfinde und dir meine Gefühle zeigen. Aber das kann ich nicht.
Das alles sage ich natürlich nicht. Das ist mir zu theatralisch.

„Hmmm… aber wenn wir uns so noch näher kommen“, sagt er mit einem kleinen Grinsen im Gesicht, „Hab ich nicht das Gefühl, als würde ich dich überfallen…?“
„Nein, eh nicht. So ist es ja auch nicht“, sage ich schnell.
Nach einer kurzen Pause meint er: „Naja, das ist ja nicht schlimm. Wenn es dich nicht stört, dass ich das mag. Du willst mich halt nicht angreifen.“

Ich sehe ihn schräg an. Ich möchte nicht mehr darüber sprechen. Er lächelt mich an. Ich lächle zurück. Er philosophiert weiter über das Leben. Ich höre ihm zu.
Es wird wieder still. Den Blick, den er mir zuwirft, kenne ich schon gut. Er lehnt sich zu mir und küsst mich, zum ersten Mal seit fast vier Wochen. Es ist der perfekte Kuss. Ich erinnere mich an unseren ersten Kuss, der für mich genauso schön war. Mit meiner Hand halte ich sein Handgelenk fest, erst nach einer Weile fällt mir auf, mit welchem Druck, und ich lasse nach.

Er liegt auf der Couch. Ich sitze mit angezogenen Knien neben ihm. Unsere Kleidung ist am Boden verteilt. Wir schweigen für einige Minuten. Ich frage mich, was er gerade denkt.
„Sollen wir dann rübergehen?“, er deutet mit seinem Kopf in Richtung Schlafzimmer.
„Klingt gut.“
Er streichelt noch einmal meinen Unterschenkel, geht in die Küche und holt mir ein Glas Wasser, bevor er im Badezimmer verschwindet.
Ich sammle meine Sachen zusammen, werfe sie im Vorraum auf meine Tasche und suche darin das T-Shirt und die kurze Hose, die ich zum Schlafen mitgebracht habe. Da der Raum dunkel und mein Pyjama schwarz ist, dauert es entsprechend lange, bis ich ihn gefunden habe. Er streicht mir über den Rücken und geht an mir vorbei ins Schlafzimmer. Ich ziehe mich an und folge ihm.

Seit ungefähr einer Stunde liege ich wach im Bett. Meine Gedanken kreisen. Ich frage mich, wie lange das mit ihm und mir noch so weitergeht. Wie lange es weitergehen kann. Haben wir überhaupt eine Zukunft? Immer mehr muss ich daran denken, wie zerbrechlich die ganze Situation ist. Zumindest empfinde ich es so. Ich wüsste gerne, wie ernst ihm die Sache zwischen uns ist. Was bin ich für ihn? Eine gute Freundin mit Vorzügen oder einfach nur eine Bekannte, die sofort da ist, wenn er ruft, oder bin ich doch mehr? Ich habe ihn noch nie gefragt. Auch diesmal werde ich es nicht tun.

Irgendwann zwischen sieben und acht Uhr früh wache ich auf. Durch den geschlossenen Vorhang scheint die Sonne und taucht den Raum in schwaches Licht. Ich drehe mich um. Er schläft noch. Ich lege meine Hand auf seine Brust und schließe die Augen. Sein Herzschlag ist alles, was ich in diesem Moment wahrnehme. All die Fragen und all die Zweifel, die ich vor ein paar Stunden noch im Kopf hatte, sind vergessen. Es ist egal, ob es morgen vorbei ist oder nicht. Es ist egal, ob ich nur eine Freundin oder seine Freundin bin. Es ist egal, ob wir eine Zukunft haben, oder nicht. In diesem Augenblick ist es perfekt.

Meine Naivität erschreckt mich, als ich einige Wochen später wieder an diesen Moment denke. Er und ich, wir stehen immer noch am selben Punkt. Wir sind in der Küche und er kocht, während ich zusehe. Es ist still. Die Angst vor dem (unvermeidlichen?) Ende wächst ins Unermessliche. Endlich bringe ich die Frage hervor:
„Was bin ich eigentlich für dich?“
Er schweigt.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich es wirklich gesagt oder nur gedacht habe.

Anna Bartl

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Patricia

Auf und zu der Mund
hinein und hinaus die Zigarette
Schluck für Schluck der Alkohol
Gern sehe ich zu
verstehe nicht alles
und doch, wenn du es sagst

Seit ich dich das erste Mal sah
ließest du mich nicht mehr los
du weißt es nicht
nur ich weiß es

Wenn du lachst, ist alles komplett
wie die Sonne strahlt dein Gesicht
und wie der Mond die Form
schöne Rundung

und alles hat seine Natürlichkeit darin

 

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 15106