Das Mädchen ist fort - Teil II

Die Sonne hatte noch nicht vor aufzugehen. Die Stadt war leer. Unterwegs traf er nur ein Auto, dessen Besitzer, anscheinend betrunken von einem Restaurantbesuch, zu schnell nach Hause fuhr. Saba bemerkte ihn im Rückspiegel und wich ihm aus. Er hatte keine Zeit für einen Autounfall. Er parkte vor dem Haupteingang, aber das massive, schwarze Tor war mit einem Schloss verriegelt. Er dachte nach. Die Autoheizung arbeitete laut und blies ihm die heiße Luft ins Gesicht. Es fing an zu dämmern. Er stieg aus und ging zum Tor, dann vergewisserte er sich, dass ihn niemand beobachtete, und kletterte hinüber. Beim Runterspringen verfing sich seine Jacke und zerriss. Er schaute die verwundete Jacke, in der die Federn wie Blut zu sehen waren, unzufrieden an und ging weiter.

Auf Elenes Grab waren viele Blumen verstreut. Da lag auch ihr Foto im Rahmen. Das Mädchen auf dem Foto sah glücklich aus. Es hat noch sein ganzes Leben vor sich, hätte man denken können. Saba erinnerte sich sofort an seine Mutter, die ganz in der Nähe lag. Neben Elene war noch jemand begraben. Auf dem Grabstein stand Elisabed Gurgenidze 1938-2006.
‚Anscheinend ihre Großmutter‘, dachte Saba und flüsterte: „Und, wie hießest du?“
Er kam zum Grab von der Seite heran, beugte sich und hob das Foto auf, dessen Glas die Morgendämmerung reflektierte und Sabas Gesicht beleuchtete. Saba atmete beschwerlich aus und streichelte Elenes Gesicht mit dem Finger. In der Stille erklangen die Krähen, und er ließ fast das Foto fallen. Er suchte nach den Krähen, aber fand keine, dann legte er das Foto zurück und ging zu seiner Mutter, um ihr alles zu erzählen.
Sie hörte ihm aufmerksam zu und bewertete seine Empfindungen positiv. Das ließ ihn beruhigt nach Hause gehen.

Der Sonntag war gekommen. Saba zitterte wegen der Schlaflosigkeit. Er schlüpfte unter die Decke und schlief sofort ein.
Er stand zum zweiten Mal an dem Tag auf, schaute in den Spiegel und wunderte sich, denn seine Augen hatten sich verändert. Sie waren dunkler geworden und ein neuer Glanz trat von innen nach außen.
Solche Augen dringen sehr leicht in die Seelen anderer Menschen hinein, weil ihr Besitzer die Tiefe seiner Seele erreicht und durchlebt hat.
Die Veränderung gefiel ihm. Endlich konnten die anderen sehen, was er wirklich fühlte. Sie mussten es verstehen, aber wenn nicht, dann wenigstens spüren, dass nichts in diesem Leben oberflächlich und leicht sei.
Er legte den niederländischen Käse auf das Brot und schob es in den Backofen. Der Käse schmolz, und Saba genoss es. Heute musste er den Verwalter des Friedhofs treffen.

Der Verwalter stellte sich als älterer Mann mit vom Tabak verfärbtem Schnurrbart heraus. Er empfing Saba sehr herzlich, denn er dachte, dass Saba jemanden zu bestatten hatte, aber sobald er verstand, dass der junge Mann aus einem anderen Grund hier war, wurde er kalt. Saba ignorierte es und fragte nach dem Namen des gestern begrabenen Mädchens. Der Verwalter sah ihn argwöhnisch an, dann schlug er sein Notizbuch unzufrieden auf und murmelte nach kurzer Zeit.
„Elene Pataraia, 17 Jahre alt.“ Dann machte er das Notizbuch grob zu und schmiss es auf den Tisch.
Saba bedankte sich und verließ eilig das Verwaltungsgebäude.
Ein davorstehender Bettler bat ihn um nichts.
Saba saß lange in seinem Auto mit beschlagenen Scheiben und fuhr nicht los.
„Elene Pataraia, wie jung bist du von uns gegangen!“
Um ihn herum kamen und gingen die Leute.
Der Mensch stirbt nicht, er stirbt nur für die anderen.

Er stieg aus dem Wagen aus und ging wieder zum Verwalter. Seine erste Reaktion war wieder Unzufriedenheit, aber plötzlich erschien Mitleid in seinem Gesicht. Fürsorglich fragte er.
„Was ist passiert, mein Junge?“
„Ich bitte Sie, geben Sie mir die Telefonnummer ihrer Eltern.“
Der Mann tat es unverzüglich.
Saba wählte die Nummer nervös in einer Telefonzelle. Erst beim siebten Summton nahm eine Frau mit heiserer Stimme ab.
„Allo.“
Saba wagte es nicht, was zu sagen, und legte den Hörer langsam auf. Er wusste seit dem Tod seiner Mutter, dass die Angehörigen am neunten Tag nach der Bestattung zum Grab gehen, und entschied sich, auf diesen Tag zu warten. Bis dahin schloss er sich in seiner Wohnung ein.

Er erinnerte sich an das Leben in Deutschland und roch den Duft der Bäckereien. Er lächelte warm, wenn er an seine Tante dachte. Er würde ihr bis zum Ende seines Lebens für ihre Fürsorge dankbar sein. Sie fühlte sich schuldig, weil sie ihre Schwester alleine ließ, um ihr Wohlergehen einzurichten. Irgendwie stimmte es auch. Saba konnte in ihrem Blick Gewissensbisse sehen. Er erinnerte sich an seine Freundin Emma: ‚Wahrscheinlich trifft sie sich schon mit einem anderen, aber was sollte sie noch tun? Ich hoffe, sie wird glücklich sein.‘

Endlich war der Tag gekommen. Saba rasierte sich, zog sich elegant an und verließ die Wohnung. Das Tageslicht tat seinen Augen weh und er erreichte schwerlich seinen Wagen. Der Motor wollte nach der einwöchigen Pause nicht anspringen. Nach vielen Versuchen belebte Saba den Wagen wieder. Die Musik fing an zu spielen, und Saba schloss sich dem Stadtleben an, falls man so zum Friedhof fahren nennen kann.
Er wartete lange, bis er Elenes Angehörige sah. Er beobachtete sie aus der Ferne, dann entschied er sich, ihnen näher zu kommen, um zu hören, worüber die Trauernden sprachen.

Nebenan war ein Grab von einem alten Mann. Saba hockte sich vor das Grab und zog eine traurige Miene. Obwohl er den Mann namens Genadi, der seit 25 Jahren tot war, nicht kannte, konnte er dort sehr deutlich die Worte, die Elenes Mutter sprach, hören. Darin war so viel Schmerz, dass er beinahe anfing zu weinen. Er bemerkte eine auf dem Tannenast sitzende Krähe, die wie er lauschte.
„Sie wollte seit ihrer Kindheit eine Schauspielerin werden. Katharine Ross war ihr größtes Vorbild. Vielleicht, weil sie ihr so ähnlich sah. Seht, wie sie lächelt, als ob sie vor einer Kamera steht.“ Die Frau hörte auf zu reden, dann küsste und umarmte sie das Porträt.

Nach einer längeren Pause fing der Junge, den Saba für Elenes Bruder hielt, an zu reden an:
„Sie benahm sich immer so, als ob sie die Heldin eines Films wäre. Jedes ihrer Worte und jede ihrer Bewegungen war vollkommen.“
Nach dem Jungen fügte ihre Freundin hinzu:
„Sie spielte, aber dabei blieb sie ehrlich.“
Saba stellte sich die lebendige Elene, die energiegeladen und heiter war, vor, aber ihre Energie erschöpfte die anderen Menschen nicht, wie es üblich ist, sondern im Gegenteil, sie bewirkte Lebensfreude in ihnen.
Wer das Leben liebt, der liebt auch die Bewegung, weil das Leben selbst die Bewegung ist. Wenn wir uns regungslos stellen, womit werden wir uns dann von den Toten unterscheiden?

Saba spürte den Blick eines Mädchens, das ihn achtsam beobachtete, als ob sie genau wüsste, dass er täuschte. Saba fing an laut zu sprechen.
„Wieso hattest du es so eilig, Gena? Du hättest uns noch so viel erzählen können!“
Alle außer Elenes Mutter drehten den Kopf zu ihm. Saba verstand, dass seine Lage sich damit noch verschlimmerte. Er stand sofort auf und ging weg.
Beim Laufen versuchte er die Ruhe zu bewahren, um die entstandene Vermutung nicht zu bestätigen, aber seine Füße gehorchen nicht und liefen von allein.
Während er im Auto saß, sah er Elenes Mutter, die in ihren Händen das Porträt hielt. Seine erste Reaktion war die Reue, denn er dachte daran, das Bild zu stehlen, aber er schmiss diese unaufrichtige Idee sofort aus dem Sinn und fing an, Elenes Bildnis zu absorbieren. Wie ein durstiger Mensch saugte er unersättlich alle Einzelheiten ihres Gesichts auf, das bald verschwinden würde. Er schloss seine Augen, und es erschien ihm ganz deutlich aus der Dunkelheit, und nichts konnte es aus seinem Gedächtnis mehr löschen.

Saba wartete im Wagen, bis alles vorbei war, dann verfolgte er den schwarzen Geländewagen und merkte, dass sein Benehmen merkwürdig war. Einige Male wollte er den Wagen wenden, aber die Notwendigkeit einer solchen Handlung kam immer wieder zurück, und er fuhr weiter, obwohl er keine Ahnung hatte, was genau er verfolgte und was er zu tun hatte. Er folgte einfach seinem Trieb.
Der Geländewagen hielt an und in der Nähe von ihm OKA-001. Die Tür ging auf. Elenes Mutter stieg aus dem Wagen aus und ging in den Haupteingang eines fünfstöckigen Hauses. Der Geländewagen fuhr los und Saba folgte ihm wieder, dabei konnte er nicht verstehen, wieso der Fahrer nicht mit der Mutter ins Haus gegangen war. In diesem Moment ließ er die Möglichkeit zu, dass der Fahrer nicht ihr Sohn und folglich kein Bruder von Elene war. Wer war er dann?

Saba hatte neue Fragen und er war bereit, dem Wagen, in dem die Antwort saß, in die Hölle zu folgen, um sie zu kriegen.
Der Junge fing an, sehr schnell und gefährlich zu fahren. Anscheinend wollte er auch ins Jenseits.
In der Wirklichkeit verstand Saba sehr gut, wem er folgte, aber nur der Gedanke daran, dass Elene einen Freund hatte, schmerzte ihn. Abgesehen davon, dass er sich wie ein Verrückter benahm, tauchten bei ihm auch die Anzeichen vom Egoismus auf. Etwas veränderte ihn. Er fühlte es, aber er versuchte es nicht zu bekämpfen, denn es hatte keinen Sinn.

Von Mtatsminda[1] eröffnete sich eine wunderschöne Aussicht auf die Stadt. Saba war seit vielen Jahren hier nicht mehr gewesen, aber für die Aussicht hatte er keine Zeit.
Er hielt direkt hinter dem geparkten Wagen an und entschied rücksichtslos, zum Jungen zu gehen, der immer noch im Wagen saß. Offensichtlich dachte er an dieselbe Person wie Saba. Das war das Einzige, was sie gemeinsam hatten. Gleichzeitig beneidete Saba diesen Jungen, denn er hatte Elene angefasst, geküsst und sie zum Schluss lebend betrachtet.

Saba stellte sich neben den Jungen, nur die Autoscheibe trennte sie. Am Anfang bemerkte der Junge ihn nicht. Saba wartete nicht lange und klopfte an die Scheibe. Der Junge erhob schnell seinen Kopf und schaute ihn verwirrt an, danach drehte er das Fenster runter.
„Du warst doch am Friedhof?“
Saba beantwortete seine Frage mit einer anderen Frage.
„Hat sie dich geliebt?“
Der schockierte Junge stieg aus. „Was?“
Saba machte dreist weiter: „Sag mir, wie sie war. Sag mir alles, was du über sie weißt!“
„Wie kannst du es wagen? Wer bist du überhaupt?“, erhob der Junge seine Stimme.
In diesem Moment bogen vier Jungs um die Ecke und kamen zum Wagen. Einer von denen rief aus.
„Alles in Ordnung, Rezi?“
Der Junge wiederholte seine Frage an Saba: „Wer bist du?“
Saba wandte seinen Blick vom Quartett an Rezi, der schon ziemlich sauer war. Saba verstand, dass er es übertrieben hatte, aber es gab keinen Weg zurück, und er packte Rezi am Kragen.
„Hat sie dich geliebt?“

In seinem Auto kam er zu sich, und er hatte fürchterliche Kopfschmerzen. Das Letzte, an was er sich erinnern konnte, war ein starker Schlag ins Gesicht und das Augenbrennen.
‚So was geschieht, wenn du gegen fünf kämpfst‘, dachte er und versuchte, den Kopf zu erheben. Die Jacke war vom Nasenbluten verschmiert. Er schmeckte den bitteren Geschmack des Blutes und versuchte, ihn runterzuschlucken, aber der blieb fest im Hals. Ringsum war niemand. Er wusste nicht, wie lange er in diesem Zustand gewesen war.
Wenn wir nichts zu verlieren haben, gewinnen wir auch nichts.

Zu Hause brachte eine Eiskompresse seiner Nase die normale Form zurück, obwohl sie vor dem Schlag auch nicht vollkommen gewesen war. Saba saß im Sessel und versuchte, sich an den Namen der Schauspielerin zu erinnern, die erwähnt worden war. Er schloss die Augen und bildete sich ein, dass die Dunkelheit eine Leinwand wäre, auf der der Name stehen würde. Er spannte seinen Verstand mehr und mehr an, bevor der Kopf begann, schrecklich weh zu tun. Um sich von diesem Schmerz zu befreien, floh er in einen tiefen Schlaf, den wir nach großem Stress als kleine Entschädigung bekommen, wie ein kleines, bedeutungsloses Geschenk für den Verlierer.

[1] Mtatsminda - Ein Bezirk in Tbilisi, der am Berg liegt.

 

Giorgi Ghambashidze

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 18164

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