Auf der Suche nach dem Hotel Savoy

Kurz nachdem ich Paschka Lwowitsch, einen Freund meines älteren Bruders, kennengelernt hatte, überredete ich ihn, mit mir nach Lemberg zu fahren. Eine Unmöglichkeit, zumindest ein Husarenstück.
Die Westgrenze der Sowjetunion war zur Gänze militärisches Sperrgebiet, nicht nur die beiden größeren Städte Lemberg und Tschernowitz. Nicht einmal Russen konnten sich frei rein und raus bewegen, geschweige denn Ausländer, geschweige denn feindliche aus dem imperialistischen Westen. Man brauchte für jede Reise eine Genehmigung des Militärs. Und wer dort nicht lebte und arbeitete, bekam sie nie. Nie im Jahre 1971, unter Breschnew und mitten im Kalten Krieg. Welche und wie viele Waffen, welche und wie viele Truppen - man weiß es nicht, bis heute nicht.

Aber Paschka konnte mir nichts abschlagen, und ich war so naiv wie beharrlich. Es waren ja auch nicht in erster Linie touristische Interessen, die mich so heiß auf Lemberg und Tschernowitz machten, obwohl ich natürlich um ihre Schönheit und Geschichte wusste.
Ich schrieb an einer Hausarbeit über Joseph Roth, der gerade erst wieder aus dem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf geweckt wurde. Es existierte noch nicht einmal eine normative Biographie, und auch seine Werke lagen noch in keiner Gesamtausgabe vor. Vieles von ihm kannte ich nur aus alten Büchern in der Bibliothek meiner Eltern. So auch den Roman „Hotel Savoy“.
Woher ich die Idee hatte, das Vorbild stehe in Lemberg, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich, dass mir der immer in großen historischen Zusammenhängen denkende Dr. Wendelin Schmidt-Dengler, damals jüngster Assistent an der Wiener Germanistik, den Floh ins Ohr gesetzt hatte. Also wollte ich es mit dem Buch in der Hand selbst suchen, bei einer Reise nach Lwow, L‘viv.

Wir lachten darüber, dass sein Name „Sohn von Lwow“ bedeutet.
Wir schmiedeten noch in unseren Uni-Ferien entsprechende Pläne. Von Kiew aus mit Lokalzügen oder Autobussen möglichst unauffällig nach Lemberg fahren. Paschka war noch niemals dort gewesen. Lange ging alles glatt. Auf der letzten Strecke von Iwano-Frankiwsk zog ich mich um und legte die Kleider von Paschkas Mutter an, auf den Kopf ein geblümtes Tuch, das ich in Kiew gekauft hatte. Eine nette kleine Bäuerin. Paschka instruierte mich, möglichst nicht zu sprechen, damit mein Akzent mich nicht verriet. Eine stumme, kleine Bäuerin, nichts Ungewöhnliches. Vielleicht ist es der einzige Vorteil eines Frauendaseins, dass man sich immer dümmer stellen kann, als man ist.
Wir gelangten tatsächlich nach Lemberg, und ich nahm ein Zimmer im schönsten Hotel am Platz gleich neben der katholischen Kathedrale. Er hieß natürlich nicht mehr Marienplatz, sondern Großer Oktober. Wie es gelang, ein Zimmer ohne Reisegenehmigung zu bekommen, ist nicht in meinem Gedächtnis hängen geblieben, aber es gelang. Schließlich wohnte ich dort, kann mich an die heruntergekommen Halle erinnern, das bescheidene Zimmer, und an die alten Frauen, die deschurnije, die in jedem Stockwerk saßen und die Bewohner überwachten. Sie trugen in einem großen, linierten Buch jedes Kommen und Gehen ein. Besucher und Begleiter in die Stockwerke waren in sowjetischen Hotels grundsätzlich nicht erlaubt. Das „Savoy“ war ein großer, achtstöckiger Kasten mit mehr als 800 Zimmern, gebaut im Stil der Gründerzeit, wie sie in jeder Provinzstadt der K.-u.-k.-Monarchie standen. So viel stimmte schon überein. Ich durchstreifte das Hotel immer wieder von unten nach oben und wieder zurück, immer mit dem Roman in der Hand, um Ähnlichkeiten mit Roths Hotel zu finden.

Daniel kehrt nach vier Jahren Krieg für den Kaiser und vier Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause zurück, wo nichts mehr ist, wie es früher war. Im Hotel Savoy bekommt er durch seinen Onkel im vorletzten Stockwerk ein billiges Zimmer und sucht Arbeit. Die Gesellschaft teilt sich in die reich gewordenen Kriegsgewinnler – sie bewohnen die Restaurants, Bars und unteren Stockwerke – und die armen Kriegsheimkehrer und Vertriebenen im 7. und im 8. Stock. Sie leben von fast nichts und werden zwischen rechten und linken Strömungen hin- und hergerissen. Die Hierarchie des Hotels als Symbol für die Gesellschaft. Es ist nach dem „Spinnennetz“ der zweite Roman, in dem Roth sehr früh und hellsichtig die schreckliche Zukunft voraussieht.

Ich werde immer sicherer, dass ich das Hotel Savoy des Joseph Roth gefunden habe.
Roth nennt nirgendwo den Namen der Stadt, sondern gibt nur Andeutungen. Eine alte Stadt, Grenzstadt von zwei verfallenen Reichen, multinational, viele Juden, viele Kriegsgewinnler und verzweifelte Proletarier. Alles schien mir auf Lemberg zuzutreffen.
Paschka und ich verbringen schöne Spätsommertage, streunen durch die Stadt, sehen uns alle Sehenswürdigkeiten an, soweit sie geöffnet sind. Vieles wie die Kirchen ist zweckentfremdet wie etwa die armenische Kirche und die Synagoge, wo Kohlen beziehungsweise Baumaterialien gelagert werden. Paschka ist fasziniert, denn er hat noch nie eine vollständig erhaltene europäische Stadt gesehen.

Er darf als Russe kein Zimmer im Hotel nehmen, daher wohnt er in einem Studentenheim, und wir können uns nur untertags sehen. Das ist natürlich sehr störend, wenn man jung ist und frisch verliebt.
So entsteht der Plan, dass er sich einschleichen soll, wenn die deschurnaja einmal aufs Klo geht oder Wachwechsel ist. Es gelingt tatsächlich, und er kann in das Zimmer Nummer 703 schlüpfen. Aber unser Glück währt nicht lang. Wir wissen nicht, wie wir aufflogen, wer uns gesehen, wer uns verraten hat. Kann aber leicht sein, dass die Wände Augen und Ohren haben. Noch vor Mitternacht ein grobes Schlagen mit Fäusten an die Tür und Geschrei: Aufmachen Genossen, und alle raus!

Wunderbar, das nennt man sowjetische Gastfreundschaft und Hotelkultur. Wir ziehen uns schnell an. Vor der Tür steht die Deschurnaja, stemmt ihre Arme in die fetten Hüften und lächelt uns höhnisch triumphierend an. Na, mich kriegt ihr nicht dran, ihr dummes Junggemüse! Wir werden unter Begleitung von zwei Milizionären in die Direktion gebracht. Paschka wird des Hotels verwiesen, weil er Russe ist, ich, weil ich als Ausländerin gar nicht hier sein dürfte. Aber wir haben Glück. Wir werden nur angewiesen, am Morgen sofort nach Moskau zurückzufahren, personae non gratae. Die Strafe fällt auch milde aus; die vier weiteren Tage, die ich gebucht hatte, verfallen. Das ist zu verschmerzen. Im Gespräch mit dem Direktor gibt es dann noch eine große Überraschung. Es stellt sich heraus, dass ich mit dem angeblichen Hotel Savoy in Lemberg einem kapitalen Irrtum aufgesessen war. Das echte stand und steht im polnischen Lodz und heißt auch noch immer so. Diese westpolnische Stadt hatte sich gegen das Ende des 19. Jahrhunderts mit ihrer Textilindustrie zu einem „polnischen Manchester“ entwickelt. Für die internationalen Gäste brauchte es ein großes und luxuriöses Hotel, eben dieses Savoy. Es hat den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Gestapo und den Sozialismus überlebt und strahlt frisch renoviert in alter Pracht.

Nach Czernowitz weiterzureisen, trauten wir uns aber doch nicht, das Glück sollte man nicht zu sehr reizen.
Im Jahr darauf erschien die bis heute klassische, noch immer nicht übertroffene Biografie Josefs Roths von David Bronnen mit einem großen Kapitel über Lodz und sein Hotel Savoy. Ich konnte gerade noch rechtzeitig meine Hausarbeit korrigieren. Aber mit einer Sensation hatte sie nicht mehr aufzuwarten.

14.7.17

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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Erstveröffentlichung in Literatur und Kritik, Heft September 2017, Nr. 517/518

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