Sieben an der Zahl

Vorgeschmack

Das Zitat zum Morgenkaffee – unbeirrbar prangt es uns entgegen, in der Zeitung, im sozialen Medium unserer Wahl oder auf dem Kalenderblatt; und plump meist sein Versuch, uns gute Laune abzuringen für einen Tag, den das Schicksal für uns bereits mit dem Erwachen als gescheitert abgekanzelt hat; oder uns moralisch zu besseren Menschen belehren will, uns, deren graue Seelen abzuholen selbst dem Teufel zuwider ist – meist geschrieben von Dichtern und Denkern, die uns schon zu Schulranzenzeiten verhasst waren, und von denen wir nicht einmal Traum daran denken, jemals wieder ein Buch zu öffnen, geschweige ein Wort darin zu lesen.

Und dennoch, es gibt sie, diese Sätze, die uns innehalten, uns im Lesefluss innestocken lassen, deren abgrundtief hintersinniger Schalk uns ein Lächeln auf die Lippen treibt, ein Lächeln, das uns in atemberaubender Geschwindigkeit aus der Tiefe der Seele entgegenspringt, schneller als unser Verstand begreift, dass er diesen Satz verstehen will, und ihn andererseits auch nicht verstehen kann, unfähig, ihn in sein Archiv der tausend Schubladen zu pressen, denn immer wieder wird dieser Satz schräg und frech zwischen all den Karteikarten der Rechteckigkeit hervorlugen.

Sieben an der Zahl, die Sätze, aus der sich diese Collage zusammenstellt – mit völliger Absicht aus jedem Zusammenhang gerissen, in Unformen und Unordnung gebracht, mit Vor- und Nachgeschichtchen umgarnt, mit Sicherheit abseits jeder ursprünglichen Intention des jeweiligen Dichters, will sagen: mit einer kräftigen Prise Dada im Nacken …

 

EINS – Sich die Zeit genommen, um die Zeit totzuschlagen

Und die Anzahl der Dosen billigen Bieres verrät es, dass die beiden Nachtschwärmer, die vor dem Würstelstand im Nirgendwo einer Wiener Vorstadt gestrandet sind, nichts unversucht lassen werden, auch zu Morgengrauenschwärmern zu werden – denn allen Grund besitzen sie dazu:

"Kum, gemma endlich."
"Kimma net."
"Wiesodn?"
"Wir woatn auf Godot."
"Ah jo!"

– Samuel Beckett: „En attendant Godot“

[‚Komm, gehen wir.‘ – ‚Wir können nicht.‘ – ‚Warum nicht?‘ – ‚Wir warten auf Godot.‘ – ‚Ach ja.‘]

 

ZWEI – Vor dem eigenen Türhüter in Ungnade gefallen

Und hatte es sich also doch ausgezahlt, dass er in diesem Straßennuttenviertel Roms einige Zeit lang seine Runden gedreht hatte, denn die puttana, die jetzt an dem offenen Seitenfenster seines abgeschabten Fiat Punto lehnte und die er zuvor noch nie wahrgenommen hatte, hatte es ihm angetan, und es waren nicht ihre überbordenden Brüste, die ihr viel zu schmales Top zu sprengen drohten; ihre Stimme war es, die gesenkt zu einem sirenenhaften Flüstern ihn ganz liebestoll werden lassen sollte:

"Ma lei non sa cos'è un uomo medio? È un mostro, un pericoloso delinquente, conformista, colonialista, razzista, schiavista, qualunquista."

– Pier Paolo Pasolini: „La ricotta“

[„Sie wissen wohl nicht, was ein mittelmäßiger Mensch ist? Ein Monster ist er, ein höchst gefährlicher Verbrecher: ein Konformist, Kolonialist, Rassist, Nazist, ein Was-auch-immer-er-ist.“]

Und am nächsten Tag, bei hellem Tageslicht, ist er der Ausgewechselte, adrett im von seiner Frau sorgfältig gebügelten himmelblauen Hemd, und auch seine Krawatte zeigt sich in aller Senkrechtigkeit, während er in der Mittagspause in seiner Stammtrattoria nach dem Menü verlangt, das Liebesspiel der gestrigen, hitzig verschwitzten Nacht längst verdrängt; aber der Satz spukt ihm noch im Geiste um, und so wiederholt er ihn angesichts seines Stammkellners, den er mittlerweile zum Freund wähnt – und der nach kurzem Nachdenken ein verständnisvolles Kopfnicken von sich gibt:

„Sì, sì, signore, allora che prende da bere?“

[„Aber natürlich, mein Herr, und was darf ich Ihnen zu trinken bringen?“]

 

DREI – Der Mut zum kurzgefassten Augenblick

Klein-Toni war es, der den begehrtesten Platz für sich hatte erhaschen können, der mit Ellbogen und Haareziehen sich gegenüber all den anderen Kindern auf dem Spielplatz hatte durchsetzen können und nun auf dem Schoß des Mannes sitzen durfte, den er zuvor noch nie gesehen hatte. Der vielleicht etwas streng roch und auch etwas zu viel schwitzte, in seinem abgeschabten Anzug und der schlecht gebunden Krawatte, aber eine Süßigkeit nach der anderen aus der Tasche zu ziehen wusste, und so manchen Luftballon. Und Geschichten zu erzählen wusste, spannender als all die Kindergartentanten, die wie üblich in einer langgezogenen Kaffee-, Zigaretten- und Tratschpause abhandengekommen waren – und in Bann gezogen hörte Klein-Toni dem fremden, märchenonkelhaften Mann weiter und weiter seiner Geschichte zu:

"Oder wie ein Blinder, der durchbohrende Blicke wirft. Oder wie ein Reiter im vollen Galopp ohne Pferd."

– Alfred Polgar: „Exzentriks“

 

VIER – Die Hand gestreckt zum Sternengriff

Und schon leicht glasig die Augen des etwas aus der Zeit geworfenen kommunistischen Politfunktionärs, schmutzigglasig wie das Glas billigen Rotweins, das er als Salut an diesem Stammtisch einer speckigen Taverne in einem Arbeiterviertel Roms hebt, umringt von seinen letzten Getreuen, alle bereits in einem Alter, in dem sie Arbeitslosigkeit gegen eine schmale Rente getauscht haben, zu wenig zum Leben und erst recht zu wenig zum Sterben – aber sein glühendes Manifest hebt die Gemüter, lässt den alten Kampfgeist aufleuchten, wenigstens für ein Salute! lang:

"Se vogliamo che tutto rimanga com'è, bisogna che tutto cambi. Mi sono spiegato?"

– Tomasi di Lampedusa: „Il gattopardo“

[„Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, wird es notwendig sein, dass alles sich ändert. – habe ich mich klar ausgedrückt?“]

 

FÜNF – Das Elternhaus zur Autobahnauffahrt geglättet

Und viel Zeit gibt er sich für die Antwort, so viel Zeit, dass es fast schon skandalös wirkt, dieser unberechenbare Künstler, der immer für einen Skandal gut ist, wenn es ihn wieder einmal danach gelüstet, in einer dieser Talkshows aufzutreten, weil er das Geld gut gebrauchen kann. Und den Schweiß unter den Achseln vermeint man dem Talkmaster ansehen, abriechen zu können, den Ausdruck seiner Angst, dass seine wohlbedachte Frage in falsche Antwortbahnen gerät – aber heute hat der ansonsten unberechenbare Künstler einen seiner stillen Tage, wirkt in Nachdenklichkeit versunken, nahezu versöhnlich seine Worte, mit der er die ihm gestellte Frage nicht im Geringsten beantwortet:

"Es wäre ja auch undenkbar, dass aus dem kleinbürgerlichen Provinzloch Linz, das seit Keplers Zeiten ein tatsächlich zum Himmel schreiendes Provinzloch geblieben ist, das eine Oper hat, in der die Leute nicht singen können, ein Schauspiel, in dem die Leute nicht spielen können, Maler, die nicht malen, und Schriftsteller, die nicht schreiben können, auf einmal ein Genie hervorgegangen wäre, als welches doch Stifter allgemein bezeichnet wird."

– Thomas Bernhard: „Alte Meister“

 

SECHS – Beipackzettel zur Schachtel Aspirin

Es war das letzte von Medeas Kindern, der Jüngste, der mit den besonders vollen Locken und den fein geschwungenen Lippen, dem sie den zuckersüß warmen Gifttrank verabreicht hatte, dessen Kopf sie nun an ihrer Brust wiegte und mit folgendem Nachtlied in seinen ewigen Schlaf sinken lassen sollte:

"La morte è la curva della strada, morire è solo non essere visti."

– Antonio Tabucchi: „Isabel. Una mandala.“

[„Der Tod ist die Kurve in der Straße; zu sterben heißt nichts anderes, als nicht mehr gesehen zu werden.“]

Generalpause – zwei, drei Takte schweigt alles vor sich hin.

Der Flügelschlag einer auffliegenden Taubenhorde ist es, der wieder Töne in die Landschaft der Sinneswahrnehmungen bringt, auf dieser eintönigen Piazza, auf der ein paar abgeschabte Kaffeehaustische stehen – und an einem von diesen sitzen die beiden Idioten, zwischen denen sich folgender völlig sinnentleerte Gedankenaustausch zum obigen Satz entspinnt, während sie mit den Löffeln klirrend den Zucker in ihre Espressotassen einrühren:

„Non più?“
„Non più.“
„Davvero, no?“
„No.“
„Sei sicuro?“
„Stai zitto – deficiente!“

[‚Mehr nicht?‘ – ‚Nicht mehr.‘ – ‚Wirklich nicht?‘ – ‚Nein.‘ – ‚Bist du dir sicher?‘ – ‚Halt die Klappe, du Trottel!‘]

 

SIEBEN –  Als würde Paris mich interessieren

Und ich sah es ihr an, dass ich sie nicht mehr halten konnte, hier in meinem geliebten Wien, in dieser Stadt, die sie so zu hassen gelernt hatte, in der ihr so viel Abneigung widerfahren war. Ich sah es ihrem Augenglühen an, dass es sie in andere Breiten trieb, zurück nach Barcelona, zurück nach Marseille, oder selbst nach Havanna, alles Städte, in denen sie auch nicht vermocht hatte, jemals heimisch zu werden. Aber einen Stempel wollte ich ihr setzen, in ihrem Gedächtnis, für die Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, hier, wo wir uns gegenseitig abgelitten und abgerieben hatten, bis uns die Wunden zum Lecken zu tief geschnitten geworden waren. Und so brachte ich diesen letzten Toast aus, mit dem Glas Champagner in der Hand, mit dem ich gegen ihres stieß, auf unser gegenseitiges Addio. Und dass sie mich verstanden hatte, konnte ich an ihrem gleichzeitigen Weinen der Versöhnlichkeit und dem Aufschluchzen ihres Lachens ausmalen, und an dem letzten feinen Kuss, den sie mir gab – dass sie ihn in all seiner Fülle verstanden hatte, meinen letzten feinen Satz:

"Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913."

– Robert Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften“

 

Ausklang

Genug der Worte, Schluss mit den Worten, müde bin ich ihrer – wohl an der Zeit, sich die Zeit zu gönnen, sich dem Schweigen hinzugeben, beim Morgenspaziergang durch einen ausladenden Park …

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 17095

 

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert