In der Nähe das Böse

Zum ersten Kaffee am Morgen lese ich üblicherweise fünf überregionale Tageszeitungen, zwei Wochen-Magazine, Beiträge mehrerer Nachrichten-Agenturen und drei Lokalzeitungen, online kostenlos natürlich. Ich stürze mich in die großen internationalen Ereignisse, ob Politik oder Naturkatastrophen, Kultur oder Wirtschaft, manchmal schaue ich noch in Science und People rein. Das Einzige, was ich wirklich nie lese, sind Börsenkurse und Sport. Am längsten bleibe ich bei den vermischten Nachrichten hängen, sei es ein Haiangriff in Australien, tot, mit einem abgebissenen Arm oder Bein, ein brennender Schweinestall in der Steiermark, entlaufene Pferde auf der A1 oder ein Familiendrama im Mühlviertel. Manches notiere ich mir oder kopiere etwas, vor allem wenn die Meldung eine irrwitzige oder komische Note hat. Immer auf Themensuche. Ich kann von mir sagen, dass ich eine recht geübte und abgebrühte Leserin bin.

Und trotzdem komme ich von einem Ereignis nicht los. Der Mord an einer jungen Frau, Amerikanerin, Studentin und Babysitterin in einer Wiener Familie, schreibt die Zeitung unter Lokales. Sie war an einem Montagmorgen nicht zur Arbeit erschienen; die Arbeitgeber informierten die Polizei, die die 26-Jährige tot in ihrer Wohnung fand, erdrosselt oder erstickt. Dazu war ein Foto abgedruckt, das Polizisten auf der Straße vor einem Haus zeigte, das ich sofort erkannte.
Es war mein Nachbarhaus, zweistöckig, gelbes Biedermeier, lange Ruine, kürzlich vorbildlich renoviert, mit einem grünen Innenhof, obenherum zwei Stockwerke bewachsene Pawlatschen-Gänge, genutzt von einem Edel-Italiener und hoffentlich auch den Bewohnern. Ein Juwel, ein Idyll und ein hervorragendes Beispiel für moderne Altstadt-Wiederbelebung. Ich pflegte dorthin öfter meine bevorzugten Gäste auszuführen oder chillte gern dort allein ab. Hier war für mich Wien, wie es von der besten Seite nur Wien sein kann.
Eigentlich liegt das Haus auf meiner Straße zwei Nummern entfernt, aber ein Stück seiner Rückseite ragt in meinen Hof hinein, so dass ich sie hinter den Bäumen immer im Blick habe. Mit einigem Kopfverrenken könnte ich auf die kleinen Klopfbalkone, in die schmalen Fenster der Gangklos und in die Gangfenster hineinsehen. Im Sommer mit den Blättern der Bäume ist alles verborgen, im kahlen Winter allzu deutlich.

Ich muss bekennen, dass mich dieser Mord mehr erschütterte als alles andere in der Welt. Seither denke ich darüber nach, warum das so ist, warum mich das Gefühl des Grauens bis heute in den Krallen hält. Ich spüre es, wie sich mein Herz zusammenkrampft und immer wieder Übelkeit aufkommt. Nimmt die Stärke der Betroffenheit mit der Anzahl der Kilometer ab, und mit der Nähe von ein paar Schritten zu, obwohl ich diesen Menschen gar nicht kenne?

Die Zeitung berichtete, dass Mary Louise M. aus Houston, Texas, seit einem Jahr dort gewohnt hatte und von ihren Arbeitgebern als äußerst verlässlich beschrieben wurde. Ich hätte sie auf meiner Straße gesehen haben können, an der Straßenbahnhaltestelle direkt vor dem Haus, im Supermarkt in einer Schlange mit ihr gestanden, in der Trafik, dem Blumengeschäft oder der Parfümerie. Ein Detail im Zeitungsbericht machte mir besonders zu schaffen: In der Wohnung des Opfers seien alle Glühbirnen herausgeschraubt, aber überall Kerzen aufgestellt gewesen. Eine Romantikerin, eine Ästhetin, ein Sparefroh?
Die ausgeschraubten Fassungen rauben mir die Fassung.

War es notwendig, dass man sogar ihr Passbild abdruckte, das eine hübsche, junge Frau mit langen, blonden Haaren und einem strahlenden Lächeln zeigte? Das pralle Leben, mit viel Hoffnung in den leuchtenden Augen sichtbar, alles vor sich. In mehreren Folgeberichten, die ich alle verschlang, kamen immer mehr Details ans Tageslicht. Die junge Amerikanerin habe nicht nur an der Universität studiert und die Au-pair-Kinder betreut, sondern ein lustiges Nachtleben geführt. Nachbarn wollen beobachtet haben, dass sie oft Besuch hatte und in der Einzimmer-Wohnung gerne Partys feierte. Nach einigen Tagen fällt der Verdacht auf einen neunzehnjährigen Ghanesen, einen Asylwerber, den man in der Schweiz aufgegriffen hat. Es wird seine Auslieferung beantragt. Dann war länger nichts mehr über den Fall zu lesen. Ich war allein mit meinen Überlegungen, warum sie nicht stärker gewesen war als ein unterernährter Flüchtling, sich zu wehren gegen etwas, was sie nicht wollte. Das durchtrainierte mexikanische Girl. Weil sie so etwas nicht in Wien erwartet hat. Aber das ist zu schrecklich. Und daran kranke ich.

Bei meinem nächsten Ausgang zündete ich eine Kerze an und legte ein paar Blumen vor dem Hauseingang nieder. Ich war nicht die Einzige, gut zu wissen, dass es anderen ähnlich ging, mit Grausen, Trauer und Trostsuche. Rechts vom steingemeißelten Torbogen waren im ersten Stock zwei Fenster mit braunem Packpapier verklebt. Davor waren noch immer zwei halb abgebrannte Kerzenstümpfe zu sehen.
Danach konnte ich nie wieder direkt am Haus vorbeigehen, sondern wechselte schon bei meiner Haustüre die Straßenseite, wobei ich immer auf die blinden Fenster blicken musste. Das ist jetzt ein Jahr her; der Ghanese wurde ausgeliefert und erwartet seinen Prozess. Er leugnet, obwohl die forensischen Beweise erdrückend sind. Vielleicht nur ein Unfall, kein Mord? Auch nicht tröstlich. Das Letzte, was ich darüber in der Zeitung las, waren Aussagen aus ihrem Umfeld, dass Mary Louise öfters Flüchtlinge bei sich übernachten ließ. Eine warmherzige, mitfühlende Seele.

Das hätte ich nicht lesen sollen, denn seither wird mir dieses fremde Schicksal vollkommen zur Obsession.
Ich konnte nun nicht einmal mehr dieses Stück der Straße benützen, mied die Trafik, den Bankomaten und den Blumenladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ließ die Straßenbahnstation vor dem Haus aus, nahm einen Umweg über mehrere Gassen zur U-Bahn in Kauf und richtete nie wieder einen Blick auf die verklebten Fenster. Meine Schreibtisch-Sicht auf die Rückseite des Mordhauses deckte ich mit Hilfe des rechten Vorhangteils ab. Das waren natürlich nur hilflose Versuche, diesen Mord aus meinem Sinn und meinen Gefühlen zu vertreiben. Vielleicht sollte ich auch mit aufgeklebtem Packpapier das Grauen draußen halten.

Das Grauen blieb allgegenwärtig. War es die örtliche Nähe, die mir so ins Herz griff? Viel mehr als die hunderttausenden Kriegs- und Hungertoten in aller Welt? Als alle seither im Verkehr Verunfallten oder Lawinenopfer? War es die Vorstellung von einer lebenslustigen, jungen Frau, die Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf gab? Wurde sie auf diese schreckliche Art dafür belohnt, bestraft? Diese himmelschreiende Ungerechtigkeit! Wer macht so etwas, wer lässt das zu? Der Groll, die Wut wird nicht weniger. Groll und Wut, gegen wen eigentlich? Ich haderte mit den kindlichen Vorstellungen von einem barmherzigen oder rächenden Gott. Diese Mary Louise M. aus Texas, die hier selbst eine Fremde war. Vielleicht nannten sie ihre Freunde Malou? Hi Malou! Die Kinder riefen sie vielleicht Malli oder Ma-lo! Und sie sagte, Hallo, my sweety, my honey, my darling. Sie konnte gut singen und spielte Gitarre. Die Kinder liebten sie und verbrachten viel Zeit mit Malli, Mulli, Mallo.

Und der Gedanke an ihre Familie in Houston, die sich nicht vorstellen hatte können, dass ihrer Tochter, Schwester, Enkelin ausgerechnet in Vienna, Austria, eine Gefahr drohte. Ich sehe sie in der Gerichtsmedizin, wie sie sie identifizieren müssen und später weinend am Rückflug nach Houston mit dem Sarg. Ich lege darauf einen spirituellen Blumenstrauß, umarme die Eltern, spende in der Paulaner Kirche ein Requiem, stelle eine Kerze in mein Hoffenster, eine dunkellila Primel dazu und merke, wie der Bann langsam zu wirken beginnt.

Vor einigen Tagen ertappte ich mich dabei, dass ich an dem Torbogen vorübergelaufen bin und nebenan beim Installateur B. eine Klobrille gekauft habe, ohne an Malou zu denken.

23.1.17

Veronika Seyr
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