Hundert Jahre Unsterblichkeit

Als Alois Peter 122 Jahre zählte, war die Kraft, die ihn über unmenschlich lange Zeit jugendlich gehalten hatte, am Schwinden und ließ ihn des Morgens kaum aus dem Bett kommen.
Von Tag zu Tag wurde er immer schwächer und lag schließlich da, hingerafft von Alter und Krankheit, weder fähig zu sprechen noch zu essen, und doch nicht willens, sein Leben auszuhauchen.
Man ließ den Pfarrer rufen, der jedoch nach der siebten Nacht in Folge dem Kranken die letzte Salbung verwehrte, mit der Begründung, den Mann in den Tod zu geleiten, liege nun nur mehr in Gottes Hand, er habe seine Schuldigkeit getan.
Selbst im hohen Fieber konnte Alois Peter sein Leben nicht loslassen. Er fantasierte von grässlichen Grimassen und den eiskalten Fingern des Gevatters Tod, die ihn umschmeichelten, aber nie zu fassen bekamen. Er steigerte sich in ruhelose Angst hinein, die ihn immer wieder schreiend aufschrecken ließ und der Familie am Hof schlaflose Nächte bereitete.
Doch kein Weinen, Flehen, Beten und Betteln am Bett des Kranken verschaffte der gebeutelten Familie die Ruhe eines friedlichen Todes.

Karmella, die Jüngste am Hof, gerade sechs geworden, kam eines Abends in die Kammer gestolpert und schreckte aus den fantastischen Tagträumen ihrer kindlichen Welt auf, als sie ihren Ururgroßvater murmelnd auf seiner Liegestätte fand. Sie setzte sich zu ihm, nahm seine eiskalte Hand in ihre warme und blieb sitzen, bis die Schatten im Zimmer immer länger wurden.
Nun geschah es, dass Alois solchen Komfort, solchen Trost in dieser Berührung fand, dass er für kurze Zeit alle Dämonen aus der Umnebelung seines Hirns verjagen und mit klarem Verstand eine Entscheidung treffen konnte: So wollte er nicht mehr leben. Er tat seinen letzten Atemzug und schied dahin.

Sein Tod sollte der letzte für lange Zeit in diesem Dorf sein, denn mit seinem Dahinscheiden ging der Fluch der Unsterblichkeit auf dessen Bewohner über.
Keiner starb mehr, wenn er es nicht aus eigenem Willen tat, und weder Unfälle noch Krankheiten konnten dem kleinen Dorf etwas anhaben. Die Kinder wurden geboren, und die Alten wurden immer älter.
Als dann moderne Schmerzmittel in Form einer eigenen kleinen Dorfapotheke Einzug hielten, wurde das Altsein sogar noch angenehmer und Krankheiten erträglicher. Es schien ein unglaubliches Glück damit einherzugehen.

Die Kirche verlor zunehmend an Einfluss und wurde jeden Sonntagmorgen immer leerer, bis nur noch ein taubstummer Einsiedler bei schlechtem Wetter in ihr Zuflucht fand.
Der Pfarrer suchte Frauen und Männer auf, um mit ihnen über Gott zu reden. Doch Gott existierte nicht in einer Gesellschaft von Unsterblichen, und so traf er nur auf Unverständnis und Spott. Nach fünf Jahren ohne ein Begräbnis oder eine Taufe gab er es schließlich auf und widmete sich ganz seinem Kräutergarten. Zu Hochzeiten wurde er nur mehr formhalber eingeladen. Niemand legte mehr Wert auf den Segen Gottes, denn man fühlte sich emanzipiert, ja, befreit von der Illusion eines allmächtigen Wesens, das seinen einzigen irdischen Beweis, nämlich den des unwillkürlichen Dahinraffens von Menschenleben, eingebüßt hatte.

Nach  zwanzig Jahren gab es den ersten freiwilligen Tod. Eine Urururenkelin Alois‘ hatte sich in den Tod gestürzt. Ein Unglück, das nur eine kurze Phase der Trauer und Besinnung in das Dorf brachte.
Ein Einlenken hielt man für nötig, als der junge Müller im Dorf seinen Arm im Mühlrad zerquetschte, weil sich dort etwas verfangen hatte. Besinnungslos vor Schmerzen griff er zur Axt und schlug sich den Unterarm ab. Er verlor viel Blut, und als man endlich in der Lage war, die Wunde zu stillen, zog er sich eine Blutvergiftung zu. Er brüllte tagelang vor Schmerzen, und jeder im Dorf konnte es kaum mehr ertragen. So pumpten sie ihn mit Schmerztabletten voll, und als das nichts mehr half, redeten sie auf ihn ein, doch endlich das Leben auszuhauchen.
Als dies wieder nichts half,  fügte man ihm zusätzliche Schmerzen zu, um ihn am Weiterleben zu hindern. Sie brachen ihm ein Bein und legten glühendheiße Kohlestücke auf seinen nackten Bauch.
Man zerrte den fast vergessenen Pfarrer herbei, um ihn zu zwingen, den letzten Beistand zu leisten. Doch der besah sich den Verletzten nur und lächelte traurig. „Seine Knochen könnt ihr ihm brechen, doch seinen Willen nicht.“
Und so war es dann auch. Denn die Schmerzen waren nichts im Vergleich zu der unendlichen Angst vor dem Unbekannten nach dem Leben. Der Müller fürchtete sich vor dem Tode, weil er ihn nicht kannte, denn er war geboren worden, nachdem Alois seine letzte Ruhestätte gefunden hatte.
So lebte er in unbeschreiblichem Leid, verbannt von der Dorfgemeinschaft in einer Hütte am Waldesrand, wo niemand seine Schreie hören konnte.

Es dauerte hundert Jahre, bis der Fluch der Unsterblichkeit aufgehoben wurde. Mittlerweile gab es endloses Leid und Krankheit in dem kleinen Dorf und alle Schmerzmittel der Welt halfen nichts mehr dagegen. Und eine neue Unbekannte hatte sich im Laufe der Zeit in die Herzen der Menschen eingeschlichen: die Langeweile.
Wer nicht mit dem Stillen seines eigenen Leides und seiner Krankheit beschäftigt war, hatte nichts zu tun. Genuss und Lebensfreude waren einer immer gleichbleibenden Monotonie von Abläufen gewichen. Die Alten hockten in ihren Häusern, die Jungen bestellten die Arbeit am Hof. Es war ein sinnloses Dahinvegetieren.

Nun kam es, dass ausgerechnet Karmella, Alois‘ Ururgroßenkelin, die ihm in den Tod verholfen hatte, hundert Jahre nach seinem Tod wieder in ihr Heimatdorf zurückkehrte. Sie war mit siebzehn ausgezogen, hatte die Welt bereist und viele Seiten des Leben und Sterbens kennengelernt.
Sie war mit ihren hundertsechs Jahren körperlich und seelisch gesund geblieben und glich in ihrer Lebenskraft ihrem Ururgroßvater bevor dieser in seine schreckliche Welt des Schmerzes versunken war.
Mit Entsetzen betrat sie das ehemals kleine, idyllische Dorf, in dem nun keiner mehr seinen Frieden fand. Sie weinte bitterlich, als sie ihre Mutter wiedersah. Uralt saß diese im Schaukelstuhl, die Haut mit Flechten überzogen, bis auf die Knochen abgemagert und im Wahn vor sich hinredend. Sie musste schon Jahrzehnte hier sitzen, alleingelassen, und mit dem Stuhl verwachsen.

In der darauffolgenden Nacht träumten alle Bewohner den selben Traum und erwachten, bevor die Sonne aufging.
Karmella stand auf, ging zur Türe hinaus in Richtung Westen. Und während hinter ihr die Sonne langsam einen neuen Tag ankündigte, versammelten sich mehrere Dorfbewohner wie von einer unsichtbaren Macht geleitet, um Karmella herum. Der wahnsinnige Lebensdurst und die Angst waren aus ihren Augen gewichen und die Ruhe in ihren Seelen eingekehrt.
Wer wollte, begleitete Karmella an diesem Morgen in den Wald hinein. Sie sollten nie wieder zurückkehren.

Kurz danach erlagen die ersten Bewohner ihrer Krankheit oder ihrem Alter. Sie wurden bestattet und betrauert, es gab nach langer Zeit wieder Kirchengeläut und Nachtwachen. Und das Entsetzen vor dem plötzlich zurückkehrenden Tod wich nach kürzester Zeit wieder dem Alltag und der Menschlichkeit.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 17021

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