2192 n. Chr.

Ich hatte schon lange niemanden dort unten, deshalb fiel es mir von Anfang an leicht, die Santa Maria als mein Zuhause zu bezeichnen. Meine Besatzung tut sich damit schwerer. Wer ich bin? Ich bin der Kapitän dieses Schiffes. Die Santa Maria fasst viertausend Menschen, ihre Begleitschiffe Niña und Pinta fassen je dreitausend. Mir obliegt der Oberbefehl. Wir hatten das schon einmal, vor siebenhundert Jahren. Damals reisten die Schiffe durch den Ozean, heute kreuzen sie durch das All. Wir sind die letzten zehntausend Menschen. Wir verließen die sterbende Erde vor siebzehn Jahren. Wir suchen einen neuen Lebensraum, einen bewohnbaren Planeten. Mein Name ist Christóbal Colón. Es ist mein nom de guerre. Wir kämpfen um unser Leben.

Alles, was wir hier auf den Schiffen verwenden, wird rezykliert, Luft, Wasser, Nahrung durch Körperausscheidungsprodukte. Wir erreichen eine Rate von 99,9 %. Also bleibt ein kleiner Schwund, der unsere Zeit als Schiffsreisende endlich macht. Längst schon gibt es Sparmaßnahmen, es darf höchstens ein Mal wöchentlich geduscht werden, die Essensrationen werden laufend hinuntergesetzt, sogar atmen soll man bedächtig. Trotzdem bleiben uns längstens drei weitere Jahre, wenn man großzügig rechnet, dann müssen wir einen Platz gefunden haben.

Ich bin einer der wenigen, der alleine lebt, die meisten leben in Partnerschaften, viele mit Kindern in Familien. Das will ich nicht, ich will mich auf keine andere Person einstellen müssen, ich bin der Kommandant, Liebe würde mich bloß verwirren, meinen Geist biegsam machen und meine Hand langsam, meine Funktion ist zu wichtig, um mich auf etwas einzulassen, das mich ablenken würde. Ich habe eine geräumige Kajüte, viele elektronische Bücher, das reicht mir. Über eine Familie kann ich nachdenken, wenn wir am Ziel sind.

Gerne hätten wir auf einem der Schiffe einen Zoo eingerichtet, als eine Art moderne Arche Noah, aber wir mussten uns auf einige wenige Kleintiere beschränken. Hätten wir Elefanten, Nilpferde, gar Wale mitgenommen, hätten wir viele Menschen auf der Erde zurücklassen müssen. Beim Fliegen, beim Bewegen durch Luft oder durch annäherndes Vakuum geht es um das zu transportierende Gewicht, immer geht es in der Fortbewegung um das Gewicht. Ohnedies blieben viele zurück. Die zehntausend Reisenden wurden durch ein Auswahlverfahren ermittelt. Mir aber ist nicht bekannt, aufgrund welcher Parameter entschieden wurde. Ich würde es auch gar nicht wissen wollen. Behinderte gibt es hier keine. Krankheiten brechen nicht oft aus. Psychische Instabilitäten sind selten. Die Enttäuschung, wenn ein Planet nicht geeignet ist und auch nicht in absehbarer Zeit urbar gemacht werden kann, ist normal, und auch die teils tiefe Hoffnungslosigkeit hinterher. Es wurde wohl nach Darwins Prinzip the survival of the fittest entschieden. Auch wenn das hart klingt: Schwache kann man auf den Schiffen nicht gebrauchen. Das aber sind nur Vermutungen meinerseits, nie sah ich ein offizielles Schreiben, nie wurde mir etwas mitgeteilt. So kann ich sagen: Ich weiß es nicht. Stark Vermuten bleibt Vermuten und ist noch nicht Wissen.

Uns allen war klar, dass es nicht leicht werden, aber nicht, dass es so schwer werden würde. Noch auf der Erde, als sie mehr und mehr verfiel, nachdem man dieses Projekt als einzig mögliche Rettung der Menschheit, das klingt groß, aber das ist es auch, beschlossen hatte, legte man besonderes Augenmerk auf zwei Dinge: erstens einen möglichst schnellen Antrieb zu entwickeln, der aber gleichzeitig auch fein justierbar zu sein hatte, zweitens nach bewohnbaren oder bewohnbar zu machenden Planeten Ausschau zu halten.

Für den Antrieb fand man nach einigen Versuchen eine elegante Lösung. Sie basiert auf dem zerstörerischen oder besser gesagt auslöschenden Effekt, wenn Materie und Anti-Materie zusammentreffen. Die Wissenschaftler nahmen das Licht und das Gegenteil davon, die Schwärze des Weltalls. Ein Photon plus ein Anti-Photon müsste eine gewaltige Explosion ergeben. Man experimentierte damit. Die Explosion war nahezu nicht zu bändigen, das Wort nahezu aber relativiert das Ergebnis, nach gewaltigen Schäden an Labors bekam man die Wucht der Explosion langsam in den Griff. Der Antrieb auf den Schiffen sind also je zwei Photonen-Anti-Photonen-Triebwerke. Sie sind jeweils an den hintersten Enden der Schiffe eingebaut. Als Treibstoff dienen winzige Würfel, in denen Licht eingeschlossen ist. Leider ist auch die Lichtgeschwindigkeit die für uns maximal erreichbare. Für das Weltall ist das langsam, ein Schneckentempo geradezu.

Bei der Suche nach einem verwendbaren Planeten gab es wenig Neues. Die Astronomie war ziemlich vernachlässigt worden, weil sie teuer war und das Ergebnis unbefriedigend. Man hatte sich auf diese unsere Erde konzentriert, man holte aus ihr raus, was in ihr drin war, und baute darauf, die Schäden an ihr mithilfe der Technik später zu reparieren – was sich als nicht möglich erwies. Als man erkannt hatte, dass es zu spät war und man die Erde würde verlassen müssen, floss viel, viel Geld in die Sternenforschung. Mit einem passenden Antrieb funktionierte es, obwohl die Zeit schon knapp war, aber bei der Planetenerkennung und -auswertung musste man mit bereits bekannten Methoden vorliebnehmen. Die meisten Planeten wurden nicht direkt detektiert, sondern wenn sie zwischen einem Stern und dem Teleskop vorbeizogen, durch Verringerung der Strahlungsintensität des Sterns. Mittels Spektralanalyse untersuchte man den Planeten auf für menschliches Leben wichtige chemische Elemente, Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Silizium. Entscheidend waren das Vorhandensein von Wasser in flüssiger Form, was aus der Ferne aber nicht feststellbar war, und das Vorhandensein einer Atmosphäre um der Planeten, das konnte man messen, auch seine Oberflächentemperatur ließ sich ermitteln. Man fand viele Planeten, fast alle musste man ausschließen, ganz wenige blieben ein Fragezeichen. Die meisten Planeten mit für Menschen fraglicher Lebensmöglichkeit, die in unserer Reichweite liegen, die der Teleskope ist viel weiter als die unserer Schiffe, haben wir bereits angeflogen, mit negativem Resultat.

Die Wissenschaftler haben auch an der Möglichkeit gearbeitet, einen Planeten bewohnbar zu machen – eine Atmosphäre zu schaffen, Elemente umzuwandeln, Sauerstoff zu „züchten“, das heißt zu vervielfältigen, den Boden zu verfestigen und anderes mehr. Anfangen würde es mit einem Habitat für einige wenige, sobald genügend Ressourcen da wären, sollte es in eine Kolonie übergehen, in ein Land und so weiter, träumen darf man. Wir haben dafür Geräte an Bord, aber noch kein Planet war geeignet, sie einzusetzen.

Wir sind nicht bei null. Es ist schlimmer, wir haben siebzehn Jahre hinter uns und maximal drei vor uns. Die Zahl der Reisenden ist seit dem Start auch gestiegen, da die Rate der Geburten die der Verstorbenen überstieg. Nur wenige von höherem Alter verließen die Erde, in erster Linie waren das Menschen mit ganz besonderen Fähigkeiten, Wissenschaftler, Ingenieure, Fachärzte, ein paar Künstler, die herausragend sind in ihrem Metier, oder waren, falls sie inzwischen tot sind. Und sie sind tot, manche von den geschätztesten Schriftstellern, Malern, Bildhauern, Musikern. Viel ist nicht mehr übrig an lebenden Kunstschaffenden. Natürlich wurden vorzugsweise Jüngere mitgenommen, bis zum mittleren Alter, kann man sagen, bis zum Alter von ungefähr fünfzig Jahren. Viele von ihnen sind Handwerker, einige Bauern. Es ist eine theoretisch ausgewogene Gesellschaft, in der jeder seinen Platz und seinen Wert hat und in der Lage ist, sie besser zu machen. Nur ist es so, dass durch die gestiegene Personenzahl auf jedem Schiff mehr Leute sind als vorgesehen. Das System liefert mir die Daten: Auf der Santa Maria sind es zweiundneunzig zu viel, auf der Niña sechsundachtzig und auf der Pinta neunzehn. Noch sind diese Zahlen nicht dramatisch, aber damit sie es auch nicht werden, haben wir vor drei Monaten eine Lebendgeburtenbeschränkung eingeführt. Pro Paar sind zwei Kinder erlaubt, konstante Population also. Bringt eine Frau mehr Kinder auf die Welt, muss entweder das Kind oder jemand anstelle des Kindes aus der Welt scheiden. Das sind harte Maßnahmen, ich weiß, aber es geht um das Überleben der Menschheit, mehr ist ja gar nicht möglich. Solche Fälle sind vorgekommen, in keinem einzigen Fall wurde dem Kind das Leben genommen, in zwei Fällen ging der Vater anstelle des Kindes, in allen anderen Fällen die Mutter, Großmütter oder Großväter waren nicht zugegen.

Manche der während der Reise geborenen Kinder sind schon Teenager. Sie vermissen die Erde nicht, weil sie sie nicht kennen. Das jeweilige Schiff ist ihr sich bewegendes Haus. Wenn sie sich Aufzeichnungen von der Erde ansehen, ist ihnen völlig fremd, was da gezeigt wird. Sie können damit nichts anfangen. Es ist ein ihnen unbekannter Lebensraum. So wie Kinder früher im Zirkus die Raubtiere bestaunten, lassen die Kinder auf den Schiffen die Bilder der alten Erde auf sich wirken. Sie sind fremd, sie leben ganz woanders, hier sind sie nur zu Besuch.

Die Kinder, natürlich sind die Kinder die Zukunft, dieser Spruch gilt immer. Sie werden von Lehrern und Professoren unterrichtet. Wir haben auf den Schiffen das gesamte Wissen der Erde, auf Datenträgern, um Platz zu sparen. Die Kinder können an den Systemeingabegeräten auf jede erdenkliche Information zurückgreifen. Sie sind unbefangen, haben keine Angst vor Neuem, sondern Interesse. Anderseits sind sie nur die Schiffe gewöhnt, sie sind nie auf Lehm gegangen, kennen keinen Himmel, Wasser schon, wir haben Pools an Bord, den Kindern wird Schwimmen beigebracht, sie kennen aber keine Sonne, die lebensspendend am Himmel steht. Wir sind uns nicht sicher, ob sie auf einem Planeten zurechtkommen würden, da besteht eine gewisse Unsicherheit.

Es gibt einen Grund dafür, dass die Zahl der Geburten auf der Pinta denen der anderen beiden Schiffen hinterherhinkt: Wir nutzen einen Teil von ihr als Gefängnis. Wir riegelten dort einen großen Trakt ab und befestigten ihn. Wir verwahren fast nur Männer, hauptsächlich wegen Streitigkeiten um Frauen, die zu Kämpfen ausgeartet waren. Diebstähle sind selten, Geld ist bei uns keines im Umlauf. Es gibt hier schon ein kollektives Bewusstsein, eine gemeinsame Heilssuche. Und eine mittlerweile etablierte starke Security, die bei Vergehen hart durchgreift – man darf es mit dem Idealismus nicht übertreiben.

Wer aufmuckt, macht einen Außeneinsatz ohne Raumanzug. Nein, das ist nur ein Witz. Gerade wenn das menschliche Leben zahlenmäßig so beschränkt ist wie hier, hat man mehr Respekt vor ihm. Noch nie seit Beginn der Reise wurde ein Todesurteil ausgesprochen. Es gab fünf Morde, zwei davon heimtückische, woraufhin wir die Täter auf der Pinta isolierten. Für die Gemeinschaft wäre es sogar das Beste, sie loszuwerden, sie zu töten, aber das wollen wir nicht. Wir sind eine Zivilisation. Wir wollen nicht verrohen.

Ein ständiger Begleiter, ein sehr ungeliebter, ist uns die Langeweile. Man kämpft gegen sie an, man tut etwas, irgendetwas, aber doch weiß jeder, dass das meiste nicht besonders sinnhaft ist. Für viele Besatzungsmitglieder vergeht die Zeit großteils ungenutzt. Ich habe schon etwas zu tun, und viel Verantwortung, trotzdem ringe ich mit der dauernden Langeweile, oder sie sitzt neben mir auf dem Boden, wie auch immer.

Es finden ja keine Schlachten mit Schiffen von Außerirdischen statt, das gibt es nur im Kino. Wir gehen nicht auf Planeten durch üppige Landschaften von Pflanzenlebewesen. Es gibt überhaupt keine Außerirdischen, bis jetzt. Nirgendwo haben wir außerirdisches Leben gefunden. Gar nichts, nicht einmal schwammartige Lebewesen, nicht einmal Einzeller. Es muss nicht nur der Ort passen, sondern auch die Zeit. Auf manchen Planeten war möglicherweise früher Leben, wenn auch nur in sehr einfacher Form. Man kommt ins Philosophieren, hier auf dem Schiff, weil man die Zeit dazu hat, und weil man keinen Ausweg sieht. Man kann nur weitermachen, und die Chancen sinken und sinken. Mit jeder Planetenmessung, jedem Besuch auf einem verringert sich unsere Überlebenswahrscheinlichkeit.

In welchem Zustand jetzt die Erde ist? Was sich auf ihr tut? Wir wissen es nicht. Es gibt keinen Funkverkehr mit ihr, absichtlich nicht. Wir richten unsere Diagnoseinstrumente nicht nach ihr aus. Ihre Atmosphäre war bei unserer Abreise schon sehr durchlässig, die Temperaturen an der Oberfläche stark gestiegen. Vielleicht sind die Meere schon kochend verdunstet. Mag sein, dass sich in Höhlen noch manche alte Menschen verstecken, besonders wahrscheinlich ist das nicht. Die letzten Überlebenden auf ihr werden wohl Küchenschaben sein, oder waren Küchenschaben. Wie gesagt, uns ist nicht bekannt, ob sie noch Leben beherbergt. Tut sie es heute noch, dann morgen nicht mehr, prosaisch gesprochen.

Und auch unsere Zeit an Bord ist beschränkt, ich habe es schon angemerkt. 0,1 % Schwund mag nach nicht viel klingen, aber für uns ist er fatal, schicksalshaft, das kann man wirklich so sagen, er beschließt unseren Aufenthalt auf den Schiffen. Manche der Planeten wirkten anfangs verheißungsvoll, doch immer hat irgendetwas nicht gepasst. Sie waren zu groß, sie würden keine künstlich erzeugte Atmosphäre halten können, sie waren gasförmig, die Temperatur war weit zu hoch oder nahe dem absoluten Nullpunkt. Und auch die Idee, einen Planeten zu formen und vorerst nur einige wenige Menschen auf ihm auszusetzen, ist bloß in der Theorie gut, und womöglich nicht einmal das. Die Schiffe müssten warten, damit könnten andere Planeten nicht untersucht werden. Sozusagen wären wir gezwungen, alles auf eine Karte zu setzen. Nur war es ohnedies folgendermaßen, dass in Betracht gekommene Planeten so weit davon entfernt waren, sie lebenswert machen zu können, dass es viel mehr Energie gekostet hätte, als wir zur Verfügung haben.

Ja, das ist die Lage. Wir können nur hoffen, dass einer der zukünftigen Planeten bewohnbar  oder in absehbarer Zeit bewohnbar zu machen ist. Natürlich sind viele hier an Bord nervös. Manche sagen, es war ein Fehler, die Erde überhaupt verlassen zu haben. Vor ungefähr zehn Jahren war eine Bewegung entstanden, die verlangte, dass die Schiffe zurück zur Erde fliegen hätten sollen. Weniger die Kapitäne der Niña und Pinta und ich als die älteren Wissenschaftler brachten es zuwege, die zahlreichen Mitglieder dieser Bewegung davon zu überzeugen, dass es weit unsicherer war, die Erde anzusteuern als weiterzureisen. Wir sind, logischerweise, weitergereist, und haben nun nichts anzubieten. Jetzt ist eine Rückkehr unmöglich, unsere Ressourcen würden nicht reichen. Niemand fordert sie jetzt mehr. Doch darum geht es nicht, sondern darum, dass diese Menschen uns, der Führungscrew, ihr Vertrauen geschenkt haben, und wir konnten es nicht einlösen.

Die Krankenversorgung ist sehr gut bei uns. Auf den zwei kleinen Schiffen ist jeweils eine Sanitätsanstalt, und auf der Santa Maria befindet sich ein Spital. Auf der Niña und Pinta sind je zwei Operationssäle, auf der Santa Maria vier. Wir verfügen über spezialisierte Ärzte, Anästhesisten, Chirurgen. Wir haben auch einige Pharmakologen an Bord. Falls uns bestimmte Medikamente ausgehen sollten, können sie neue herstellen. Wir sind auf Unwägbarkeiten gut vorbereitet, ich denke, das kann man so sagen. Bei uns wird niemand an Skorbut leiden, wie bei der Entdeckungsfahrt meines Namensvetters vor siebenhundert Jahren.

Was damals die Wellen waren, sind nun die Sonnenstürme. Damals navigierte man mit den Sternen, wir fliegen heute durch die Sterne. Nur traf Señor Colón in alter Zeit auf Eingeborene. Wir sind bislang auf niemand Lebenden getroffen, aber das Buch ist ja noch nicht zu Ende geschrieben. Wir hoffen noch. Wir glauben noch an unser Überleben. Wirklich? Ja, selbstverständlich. Wir müssen daran glauben, sonst ist alles aus.

Der Glaube, ja, das ist so eine Sache. Glaube an die eigene Stärke ist gut, ist vorteilhaft. Der Glaube als Religion wird hier auf den Schiffen nicht öffentlich zelebriert. Es gibt keine Gottesdienste irgendwelcher Art. Wohl einige sind gläubig, manche glauben nicht, doch damit es keine Streitereien unter den verschiedenen Glaubensrichtungen gibt, hielten wir es für richtig, dass sich die Menschen nur privat mit ihrem Glauben, ihrer Religion auseinandersetzen. Wir sind vorsichtig gegenüber selbsternannten Erweckungspredigern, die aufkommen könnten.  Religion kann ein Minenfeld sein. Wir haben nur noch diese eine Reise zur Verfügung, wir dürfen nichts riskieren, alles, was gefährlich werden könnte, wird ausgeschlossen.

Ich verbringe viel Zeit in meiner Kajüte. Wohl bin ich als Kapitän auch Pilot meines Schiffs, aber es gibt einen Co-Piloten, und überdies fliegt das Schiff ja automatisch. Der Navigator, ein Steuerungsexperte und ich programmieren den Kurs, stets für mindestens eine Woche im Voraus. Klarerweise kann sich immer etwas ändern, aber wenn das nicht zu erwarten ist, soundso vertritt mich mein Co-Pilot, ziehe ich mich gerne in meine Kajüte zurück und lese. Besonders gern lese ich Sachtexte, in letzter Zeit habe ich sehr viel über das Mittelalter gelesen. Die Bauern waren die Beine des gemeinschaftlichen Körpers, und sie wurden als Einfaltspinsel verunglimpft. Die Adeligen, der Klerus, sie wären verhungert ohne sie, und das war dafür der Dank. Oder die prächtige Königin von Frankreich und England, Eleonore von Aquitanien, die alles für Pomp und Prunk ausgeben hat: Sah sie wirklich so gut aus wie berichtet, hatte sie blonde Haare? Inzwischen bin ich schon ein kleiner Mediävist. Auch in anderen Themen bin ich sehr beschlagen. Ich las und lese von der untergegangenen Welt. Alles das liegt hinter mir, liegt hinter uns. Schade, schade, wirklich schade. Ich bin ein rational denkender Mensch, doch wo ich sehe, was alles war, was es alles gegeben hat, tut es mir leid, ja wirklich, es tut mir sehr leid.

Ich bin beileibe nicht der Einzige an Bord, der sich Tagträumen ergibt. Viele, sehr viele tun das, vor allem die, die oft allein sind. Was bleibt ihnen denn übrig? Die Wirklichkeit kann grausam enden. Jeder hier weiß das. Aber soll man deshalb dauernd daran denken? Nein, man lenkt sich ab, man sucht Schönes. Auch wenn man nicht dazu neigt, könnte man sonst verrückt werden, oder so hart wie Stein, unfähig, noch etwas zu spüren, auch wenn es nötig wäre.

Stopp! Ich habe jetzt einen Planeten groß auf dem Schirm, den wir begutachten werden. In Kürze werden seine Daten eintreffen. Sind die günstig, werden wir einen Landungsroboter zu ihm losschicken. Wir haben nun eine neue Perspektive. Ich muss jetzt aufhören. Ich werde mich an anderer Stelle wieder melden.

 

Ich bin wieder hier. Es ist jetzt ungefähr zweieinhalb Jahre später. Ich kann es auch genau beziffern. Was sagt das System? Es ist zwei Jahre, fünf Monate und einundzwanzig Tage später. Die Situation hat sich verschlechtert, arg verschlechtert. Es war alles umsonst. „Durch den Fluss meiner Augen / sehe ich das Salz der Tränen. / Planeten über jeder Zahl / und nirgendwo ist möglich Leben“, würde ich schreiben, wenn ich Dichter wäre, aber ich bin kein Dichter, ich bin Kapitän, Pilot, Techniker. Ich entscheide nach dem Kopf, und nicht nach dem Herzen. Kein Planet war auch nur im Entferntesten geeignet, auf ihm in seinem Status quo zu leben oder ihn besiedelbar zu machen. Es sind kaum noch Planeten übrig, der Schwund hat noch zugenommen, auf derzeit 0,15 %. Wir haben nicht länger als höchstens eineinhalb Monate auf den Schiffen zu leben. Einige haben freiwillig ihr Leben beendet. Es ist furchtbar.

Doch der Schrecken muss ein Ende haben. Die Führungscrew, die Wissenschaftler und Ärzte sind zu Rate gesessen. Der nächste Planet, den wir in acht Tagen antreffen werden, ist sehr groß, hat festen Boden, ist also massereich, statt einer Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre wogt Methan, eine schützende atmosphärische Schicht zu erzeugen wird nicht möglich sein. Dieser Planet ist trotzdem noch der, der am ehesten bewohnbar ist. Einen besseren werden wir nicht mehr finden.

Da es uns daher nicht möglich ist, einen Planeten bewohnbar zu machen, haben wir keine andere Wahl, als uns dem Planeten anzupassen. Für diesen Planeten, wir haben ihn Beta 19 getauft, heißt das: viel stärkere, breitere und kürzere Beine, vier statt zwei Lungenflügel, ein Metabolismus, der Methan statt Sauerstoff verarbeitet, eine panzerartige Haut als relativer Schutz vor Gamma-Strahlen, stark vergrößerte Augen, da die Sonne im Drehpunkt weit weg ist, es ist eine dunkle Welt. Unsere Chirurgen stehen bereit, um mit der Umwandlung zu beginnen.

Johannes Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 17001

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