Wiener Hafen

Legst du dich
Mit dem Bauch nach unten
Flach auf die Stadt
Sind die schräggestellten Dächer
Rote Wellenberge
Und im Winter bricht
Ihr Kamm als weißer Rauch
Ist doch die Dächersee zu dieser Zeit
Besonders stürmisch

Doch frag mich nicht, was unter den Wellen
Oder dazwischen
Da tun sich Abgründe auf
Und du wärst nicht der Erste
Dem das Herz so schwer wird vom Gesehenen
Dass es ihn abwärts zieht
Wie einen gekappten Anker

Frag lieber, wo der Wiener Hafen liegt
Denn der ist nicht leicht zu finden
Dort warten nur Schiffe auf Passagiere wie dich
Du weißt schon, solche, welche die ferneren Ziele hatten
Und noch immer nicht in Anspruch nahmen
Ihre Plätze
Im Ober- , Unter- und Zwischendeck

Zahlst du mir meins, rat ich dir eins!

Du musst erstens auf den Höhepunkt
Der niedrigsten Erniedrigung der Stadt steigen
Sagen wir auf irgendeinen Flakturm
Oder den Milleniumstower

Dann muss zweitens die Sonne ganz flach stehen
Und die Dächer anstrahlen, dass sie aussehen wie
Rote Wellenberge
Also am Abend oder besser am Morgen
Nach einer durchzechten Nacht
Denn es hilft, betrunken zu sein
Dann wirst du dich umsehen und erkennen
Du bist schon auf einem Schiff
Das gerade einfährt
In den Wiener Hafen

Und wenn du dann drittens Kurs hältst
Die Augen streng nach Süden
(Es hilft dabei, in Richtung Bug zu geh’n
Und wie erwähnt, nicht nach unten zu seh‘n)
Wird der Hafen vor dir liegen.

Und dann?
Ja, wenn du dann gelandet bist, suchst du dein Schiff.
Ob man dir ohne Karte den Zutritt verwehrt?
Aber nein!
Von allen, denen ich bisher auf die Sprünge half
Hat sich keiner je beschwert.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15134

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